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Sonderdruck aus Nicht im Handel er haltl ich Miscellanea Mediaevalia Veroffentlichungen des Thomas-Instituts der Universitat zu Koln Herausgegeben von Jan A. Aertsen Band 26 Was ist Philosophie im Mittelalter? Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Andreas Speer Fur den Druck besorgt von Andreas Speer Walter de Gruyter ·Berlin· New York 1998

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale

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Sonderdruck aus Nicht im Handel erhaltlich

Miscellanea Mediaevalia Veroffentlichungen des Thomas-Instituts

der Universitat zu Koln

Herausgegeben von Jan A. Aertsen

Band 26

Was ist Philosophie im Mittelalter?

Herausgegeben

von Jan A. Aertsen und Andreas Speer

Fur den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter de Gruyter ·Berlin· New York 1998

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale

PHILIPP W RosEMANN (Dallas)

1. Einlei tung

Meine Behauptung in diesem Beitrag ist, dafi die Rolle und Bedeutung des Transzendentals aliquid for das Denken des Thomas van Aquin bisher in der thomistischen Llteratur weitgehend unverstanden geblieben ist. Ich stelle ferner die These auf, dafi aliquid uns in die innerste Mitte der Metaphysik des heiligen Thomas fi.ihrt und uns deren fundamentales Strukturprinzip enthi.illt.

Auf meinen Titel keinnte man mit Recht einwenden, daB die Tradition des Thomismus aliquid als solches nie ganzlich ,,vergessen" habe; schlieBlich -so wird man sagen - bieten die alten Handbi.icher der scholastischen Philo­sophie in der Regel eine kurze Darstellung der thomistischen Lehre vom aliquid zusammen mit den anderen Transzendentalien ens, res, unum, verum und bonum. Ich bin der Ansicht, daB diese Darstellungen unbefriedigend bleiben. Es ist wahr, dafi sich auBerhalb der Handbi.icher in der Literatur gelegentlich verstreute Hinweise auf das spekulative Potential der Lehre vom aliquid fin­den. Aber diese Hinweise bleiben, wenn sie nicht gar irrefohrend sind, sum­marisch und bedi.irfen weiterer Ausarbeitung. Einige Beispiele der Behand­lung van aliquid in den Handbi.ichern und anderer Sekundarliteratur mochte ich kurz Revue passieren lassen.

2. Kleine Literaturi.iberschau

Joseph Gredt unterscheidet in seinem klassischen Lehrbuch, ,,Elementa philosophiae aristotelico-thomisticae", drei verschiedene Bedeutungen van aliquid. Was verwundert, ist, daB er die eigentlich thomistische dabei ausschal­tet, namlich aliquid etymologisch verstanden als aliud quid (,,ein anderes Was'') 1: non est proprietas entis, schreibt er2 . Denn aliquid in dies er Bedeutung dri.icke zwar etwas aus, was durch ens als solches noch nicht gemeint sei, und zwar das Seiende, insofern es im Gegensatz zu einem anderen Seienden steht. Dabei handele es sich jedoch um einen von unum abgeleiteten Begriff, der

1 Qu. disp. de ver., qu. 1, art. 1, c (Ed. !eon. XXII: 5): ,,dicitur enim aliquid quasi aliud quid". 2 ]. Gredt, Elementa philosophiae aristotelico-thomisticae, Bd. II: Metaphysica/Ethica, Frei­

burg im Breisgau 1926, 13.

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nicht unrnittelbar aus dem Begriff des Seienden als solchen folge. Gredt zeigt dann, daB sich Andersheit logisch von Einheit ableiten lasse. Ich denke rnir, es hatte ihn stutzig machen sollen, daB Thomas selbst auf der Interpretation von aliquid als aliud quid besteht. Besonders ,,thornisticae" sind Gredts Aus­fiihrungen an dieser Stelle also nicht.

Auch Fernand Van Steenberghen kann aliquid als aliud quid keinen rechten Sinn abgewinnen. Er argumentiert in seiner ,,Ontologie", daB die Unterschie­denheit eines Seienden von anderen sich auf den Bereich des endlichen Seien­den beschranke und deshalb nicht als transzendentale Seinseigenschaft ange­sehen werden konne. So ersetzt Van Steenberghen aliquid kurzerhand durch distinctum oder determinatum3. Wie bei Gredt ist die Einsicht, der Thomas von Aquin durch das Transzendental aliquid oder aliud quid hat Ausdruck geben wollen, darnit etwas zu rasch abgetan.

Es gibt, wie gesagt, auBerhalb der Handbiicher einige Versuche, sich spe­kulativ rnit Thomas' Lehre vom aliquid auseinanderzusetzen. Edith Stein be­geht leider denselben Fehler wie Gredt und Van Steenberghen, wenn sie in ihrem Werk ,,Endliches und ewiges Sein" Thomas von Aquins eigenen Hin­weis, aliquid sei als aliud quid auszulegen, millachtet und aliquid statt dessen eine eigene, nicht-thornistische Interpretation beilegt. Dazu fiihrt sie aus:

Werfen wir auf die bisher erorterten Transzendentalien einen Blick zuriick, so bezeichnet ens das Seiende als Ganzes: ,,das, was ist", unterstreicht aber darin das Sein; res hebt das Was hervor, aliquid das Das; unum ist eine sowohl zum Das ( = Gegenstand) als zum Was und zum Sein gehorige formale Eigenschaft4 .

Die Andersheit des Seienden im Verhaltnis zu anderem halt Stein mit Gredt fiir eine vom unum abgeleiteten Bestimmung: ,,Der Gegenstand als solcher und als seiender ist einer und auf Grund davon im Verhaltnis zu anderen ,ein anderer'5" .

Walter Kerns Ausfiihrungen in seinem Beitrag zur Rahner-Festschrift ge­hen in eine richtigere, fruchtbarere Richtung - sicherlich nicht zuletzt, weil Kern im Gegensatz zu den bisher besprochenen Autoren Thomas' Defini­tion von aliquid als aliud quid ernst nimmt. Kerns faszinierender Hinweis liest sich wie folgt:

Das hinter dem ,Einen' eingereihte ,aliquid' wird von Thomas als ,,quasi aliud quid", als ,was Anderes', gedeutet: vielleicht eroffnet sich hiermit schon die hinter­griindige Interpretationsmoglichkeit des Anderen als unabdingbar allgemeinster Bestimmung aller Selbstheit6.

3 Cf. F. Van Steenberghen, Philosophie fondamentale, Longueuil (Quebec) 1989, 308 (Collec­tion Essais) .

4 E. Stein, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, in: L. Gel­ber/R. Leuven (eds.), Edith Steins Werke, Bd. 2, LOwen-Freiburg im Breisgau 1950, 270.

5 Ibid. 6 W. Kern, Einheit-in-Mannigfaltigkeit. Fragmentarische Uberlegungen zur Metaphysik des

Geistes, in:]. B. Metz et al. (eds.), Gott in Welt. Festgabe for Karl Rahner, vol. 1, Freiburg im Breisgau-Basel-Wien 1964, 207 - 239 (hier 214).

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale 531

Dies ist genau die Interpretation des Transzendentals aliquid, die ich in diesem Beitrag vorschlagen mochte.

Kern selbst hat seine Andeutung nicht weiterentwickelt, doch sie ist von einem Kollegen auf der anderen Seite des Atlantiks aufgegriffen warden, dem amerikanischen Philosophen Robert E. Wood. In seinem Artikel ,,The Self and the Other: Toward a Re-Interpretation of the Transcendentals" entwik­kelt dieser im Dialog mit der Philosophie der Gegenwart eine Neuinterpreta­tion der thomistischen Transzendentalienlehre, in deren Mittelpunkt das Transzendental aliquid steht. Ausgehend von aliquid, das er richtig als aliud quid versteht, entwirft Wood in grofien Ziigen eine Darstellung des thomistischen Denkens als eines dialektischen Systems. Nach Wood baut Thomas' Meta­physik auf dem Grundsatz auf, dafi ,,jedes Seiende ,absolut betrachtet' nur ist, insofern es zu einem anderen in Beziehung steht"7 . Dies aber ist ein echt dialektisches Prinzip, ja man mochte sagen: das Prinzip schlechthin alles dialektischen Denkens. Seine Interpretation zusammenfassend, schreibt Wood:

If what we have said holds true, then Aquinas' division of the transcendentals in terms of being considered in itself (res and unum) and of being considered in relation to another (verum, bonum and afiquid) has to be understood, if it is to accord with experience, in such a way that a being exists ,,in itself" insofar as it stands (internally) related to another - hence ,,outside" itself. Being then is basically ex-sistence 8.

Obwohl Woods Uberlegungen zur Dialektik von Selbst und Anderem von einem thomistischen Text ausgehen (narnlich der beriihmten Liste der Tran­szendentalien in den Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, art. 1) und auch dorthin zuriickkehren, geht es dem Autor nach eigenem Bekunden in seiner Arbeit mehr um ,,die Sache selbst". Deshalb sieht er auch im Hauptteil seines Artikels, selbst wo dies moglich gewesen ware, davon ab, die von ihm in phanomenologischer Analyse aufgedeckten Strukturen des Seins mit thomistischen Texten zu ,,belegen". Woods These etwa einer direkt propor­tionalen Beziehung zwischen Selbstheit und dem Anerkennen von Anders­heit9 ist ganz thomistisch, und ein Vergleich mit Buch IV, Kapitel 11 der Summa contra gentiles hatte dies leicht zeigen konnen 10.

7 ,,We are going to suggest that any being ,considered absolutely' is only as related to another" (R. E. Wood, The Self and the Other: Toward a Re-Interpretation of the Transcendentals, in: Philosophy Today 10 [1966], 48 - 63, hier 48).

8 Ibid., 61. 9 Cf. ibid., 55: ,,The self takes possession of itself in internal relation to the other. Owing to

this relation, it is only when the otherness of the other is fully manifest that the selfhood of the self fully emerges." S. 56 heiBt es dann: ,,Since it is progressively achievable, self­identity must not be thought of as an abstract ,A is A' that perdures throughout many changes, but as a variable factor that is a function of our recognition of otherness."

10 Siehe dazu meine Interpretation in meinem Buch: Omne ens est aliquid. Introduction a la lecture du ,,systeme" philosophique de saint Thomas d'Aquin, L6wen-Paris 1996, 116-139.

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Woods Artikel, <lessen Publikation nun schon mehr als dreilligJahre zuruck­liegt, bleibt bis heute der einzige halbwegs systematische Versuch, die spekula­tive Tiefe des Transzendentals aliquid (als aliud quid') im Werk des Thomas von Aquin auszuloten 11 . Josef Pieper hat in einem jungeren Artikel kurz auf das haufige MiBverstandnis von afiquidin der thomistischen Literatur hingewiesen, ohne jedoch seine eigene Interpretation mehr als nur anzudeuten 12. Jan A. Aertsens neue ausfohrliche Studie zur Transzendentalienlehre bei Thomas von Aquin streift afiquid nur kurz und reduziert es auf den Begriff der muftitudo13.

3 . Aliquid in der Liste der Transzendentalien in den Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, art. 1

In seiner ,,Deduktion" der Transzendentalien im ersten Artikel der Quae­stiones disputatae de veritate fohrt Thomas von Aquin afiquid bekanntlich nach res und unum an dritter Stelle ein. Jedes Seiende (ens), erklart er zunachst, besitzt qua Seiendes, das heiBt unabhangig von seiner spezifischen Seinsart, ein Wesen. Was es auch immer sei, es ist immer ,,etwas". Diesen transzenden­talen Charakter alles Seienden druckt Thomas mit dem Wort res aus. Daruber hinaus aber nichts kann existieren, was jeder Einheit entbehrte. Anders ge­sagt, jenes Etwas, von dem gerade die Rede war, ist immer ,,ein" Etwas; wie vielfaltig auch immer seine Teile und Erscheinungsformen sein mogen, sie bleiben auf ein einziges Zentrum bezogen. Also ist jedes ens ein unum.

Eine res zu sein und unum, sind die transzendentalen Eigenschaften, die jedem Seienden zukommen, wenn man es in sich selbst betrachtet (in se). Nun aber fahrt Thomas fort:

,,Si autem modus entis accipiatur secundo modo, scilicet secundum ordinem unius ad alterum, hoc potest esse dupliciter. Uno modo secundum divisionem unius ab altero et hoc exprimit hoc nomen aliquid· dicitur enim aliquid quasi aliud quid, unde sicut ens dicitur unum in quantum est indivisum in se ita dicitur aliquid in quantum est ab aliis divismn" 14•

,,Dicitur enim afiquid quasi afiud quid, unde sicut ens dicitur unum in quantum est indivisum in se ita dicitur afiquid in quantum est ab afiis divisum." Das ist der

11 S. Breton, L'idee de transcendental [sic] et la genese des transcendentaux [sic] chez saint Thomas d'Aquin, in: Saint Thomas d'Aquin aujourd'hui, Paris 1963, 45 - 75, gibt zwar eine dialektische Interpretation der Transzendentalien, erwiihnt aber aliquid nur ganz kurz im Voriibergehen (cf. 53 Anm. 1). Auf den Beitrag von H. R. Schmitz, Un transcendantal me­connu, in: Cahiers Jacques Maritain 2 (1981) , 21-51, kann ich hier aus Platzgriinden nicht eingehen.

12 Cf. ]. Pieper, Der Philosophierende und die Sprache, in: id., Werke in acht Banden, vol. 3: Schriften zum Philosophiebegriff, ed. B. Wald, Hamburg 1995, 199-211(hier201).

13 Cf.]. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aqui­nas, Leiden-New York-Kiiln 1996, vor allem 98, 110 und 223 sqq. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 52).

14 Qu. <lisp. de ver., qu. 1, art. 1, c (Ed. Jeon. XXII: 5).

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale 533

entscheidende Satz. Genausowenig wie Seiendes vorstellbar ist, das vollig zerstreut, unstrukturiert und also in sich un-geeint ware, kann es Seiendes geben, das sich nicht von anderen Seienden unterschiede. Man kann sagen, jedes Seiende ist gleichurspri.inglich es selbst und anders als die anderen: unum und aliquid. Es ruht in sich, und <loch muB es sich von anderen absetzen; seine innere Einheit konstituiert sich in einer Gegenbewegung zu auBerer Vielheit, einer Gegenbewegung, die aber selbst die Vielheit voraussetzt.

Spinnen wir diese Uberlegung ein wenig weiter. Um aliquid zu sein, ,,ein anderes Was", kann das Seiende nicht vollig in sich verbleiben. Die zentripe­tale Bewegung des Sich-Unterscheidens und Sich-Absetzens vom anderen setzt eine zentrifugale Bewegung des Sich-in-Beziehung-Setzens zum anderen voraus. Das Transzendentale aliquid beinhaltet mithin eine Hin-Ordnung des einen zum anderen. Thomas von Aquin sagt es ja selbst: Aliquid gehort zur ordo unius ad alterum.

Aus der Dialektik von unum und aliquid, die wir soeben entwickelt haben, folgt also: eines, es selbst, ist das Seiende nur als anderes eines anderen. Das Seiende als solches exisiert folglich in einer Kreisbewegung aus sich heraus - in sich zuri.ick, in der es sich mit anderem in Beziehung setzt, um, sich von diesem abgrenzend, es selbst zu sein. Seiendes kann nicht sein ohne diese Kreisbewegung:

aus sich heraus

(\ Seiendes A anderes Seiendes B

~ in sich zuriick

An dieser Stelle wird man mir vielleicht entgegenhalten, ich hatte die Stelle aus den Quaestiones disputatae de veritate, in der Thomas das Transzenden­tale aliquid diskutiert - i.ibrigens die einzige in seinem Werk15 - vollig i.iber­interpretiert. Diesen Einwand halte ich nicht for i.iberzeugend. Denn mehrere wichtige und gut dokumentierbare Lehrsti.icke des Thomas gewinnen ihren vollen Sinn erst vor dem Hintergrund des Transzendentale aliquid. Das mochte ich jetzt erlautern.

4. Das Transzendentale aliquid: Fundament der reditio

Eigentliches Sein, das heillt substantielles Sein, begreift Thomas von Aquin in der Regel als In-sich-Sein, und zwar im Gegensatz zum Im-anderen-Sein

15 Cf. J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals (cf. Anm. 13), 110.

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der Akzidenzien 16. Doch findet sich in seinem Werk auch eine andere, meta­physisch gesehen weitaus fruchtbarere Definition der Substantialitat als refle­xiver Bewegung:

,,( . .. ) redire ad essentiam suam nihil aliud est quam rem subsistere in seipsa" 17 .

Auf den ersten Blick konnte Thomas' Konzeption des Zu-sich-selbst-Zu­ruckkehrens der Substanzen vage und ratselhaft erscheinen: Denn was soil es schon heifien, dafi die Substantialitat einer Substanz wie zum Beispiel eines Steines darin bestehe, ,,zu ihrem eigenen Wesen zuruckzukehren"? Doch Thomas erlautert an verschiedenen Steilen seines Werkes sehr genau, worin die reditio for die verschiedenen Arten von Substanzen jeweils bestehen soil, und unterscheidet in diesem Zusammenhang die unbeseelten Dinge, Pflan­zen, Tiere, Menschen, Engel und Gott. Wir kommen im nachsten Abschnitt auf die verschiedenen Weisen der reditio zuruck. Es ist also nicht wahr, dafi die Lehre von der reditio eine Randerscheinung im Werk des Thomas von Aquin darsteile, wie Andre Leonard meint, eine Idee, die er ,,kaum entwik­kelt" habe 18. Eher schon steilt sich die Frage, warum denn eigentlich for Thomas von Aquin alle Substanzen wesentlich selbstreflexiv sind, das heifit warum Substantialitat und Selbstbezuglichkeit for Thomas synonym zu sein scheinen. Die Antwort auf diese Frage gibt meiner Oberzeugung nach das Transzendentale aliquid Weil die Identitat des Seienden, das heillt seine Selbstheit und Einheit, sich for Thomas nur in einer dialektischen Beziehung zur Nicht-Identitat und Andersheit des anderen konstituieren kann - weil das ens nur unum ist, insofern es gleichursprunglich ein aliud quid ist, das andere eines anderen - , deshalb impliziert Seiendheit oder Substantialitat im thomistischen Denken die Bewegung eines ,,hinausgehenden Zuruck" 19, in der sich das Seiende zum anderen in Beziehung setzt, um, sich von ihm abgrenzend, es selbst zu sein. Diese Bewegung des ,,hinausgehenden Zu­ruck" ist es genau, welche die reditio meint.

16 Cf. e. g. In Sent., lib. I, dist. 23, qu. 1, art. 1, c, § Ideo aliter: ,,(. . .) subsistere autem dicit determinatum 111odu111 · essendi, prout sci/ice! aliquid est ens per se, non in alio, sicut accidens."

17 S. T. P, qu. 14, art. 2, ad 1 (Ed. !eon. IV: 168). Cf. auch Qu. disp. de ver., qu. 2, art. 2, ad 2 und In Sent., lib. I, dist. 17, qu. 1, art. 5, ad 3.

1s Cf. A.-M. Leonard, Metaphysique. Louvain-la-Neuve 21985, 9 (fyposkript): ,,Quant a la sub­sistance, T. la definit surtout negativement: ,nous disons que subsistent ces choses qui exi­stent en soi et non en autre chose' (ST I, 29, 2). T. amorce parfois une definition positive de cet ,en-soi', a savoir le retour sur soi, la reflexivite, mais il ne la developpe guere et ne montre pas comment elle s'applique aux substances materielles."

19 Karl-Heinz Volkrnann-Schluck verwendet diesen Ausdruck im Zusammenhang mit der Dia­lektik Plotins; er paBt aber genausogut auf die thomistische Dialektik - was nicht iiber­rascht, denn Thomas hat den Begriff der reditio aus dem Neuplantonismus iibernommen, eine Tatsache, derer er sich iibrigens voll bewuJ3t ist. Cf. dazu die in Anm. 17 aufgefiihrten Stellen und K. -H. Volkrnann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platas, Frankfurt/ Main 21957, 125 (Philosophische Abhandlungen 10).

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale

5. Die reditio: Fundament der Zirkularitat als kosmologischen Prinzips

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Seit einigen Jahren hat die Thomas-Forschung zunehmend die Bedeutung des Kreislaufmotivs als einer grundlegenden Struktur des thomistischen Den­kens erkannt20. Es ist nicht nur die Konstruktion der Summa theologiae, die - worauf schon Marie-Dominique Chenu hingewiesen hatte21 - dem neuplatonischen Kreislaufschema von Hervorgang und Rilckkehr gehorcht, sondern die Struktur der Summa ist zirkular, weil der thomistische Kosmos selbst es ist, und zwar sowohl als ganzer22 als auch in jedem seiner Teile. Thomas von Aquins Kosmologie stellt sich, darin gleich der Aristotelischen, als ,,ein Ordnungssystem abgestufter Formen von Selbstbezilglichkeit" her­aus23. Ich habe diese ,,abgestuften Formen von Selbstbezilglichkeit" an ande­rer Stelle ausfilhrlich dargestellt24 und beschranke mich hier, schon aus Platz­grilnden, auf einige Hinweise.

Es war eben die Rede davon, wie schwierig es sei, sich vorzustellen, daJ3 die Substantialitat einer ,,toten" Substanz wie etwa eines Steines darin beste­hen konne, ,,zu ihrem eigenen Wesen zurilckzukehren". Redire, ,,zurilckkeh­ren", ist nun einmal eine Bewegung, und da es ja auch auJ3er Steinen unzah­lige unbeseelte Substanzen gibt, die keinerlei erkennbare Eigenbewegung be­sitzen, muJ3 Thomas' Behaptung, alle Substanzen seien durch eine reditio ad essentiam suam charakterisiert, einigermaJ3en abenteuerlich erscheinen.

Mit Bezug auf Steine kann ich die hier gestellte Frage nach der reditio des Unbeseelten nicht beantworten. Thomas gibt uns aber ein anderes Beispiel, wie wir uns das Zu-sich-selbst-Zurilckkehren von ,,toten" Dingen vorzustel­len haben. Im bekannten Kapitel 11 des vierten Buches der Summa contra gentiles, in dem Thomas seine Kosmologie als Hierarchie selbstbezilglicher Substanzen im Aufrill darstellt, beginnt er mit einer Beschreibung der unbe­seelten Substanzen. Sein Beispiel ist das Feuer:

2° Cf. dazu vor allem die Arbeiten von Jan A. Aertsen, The Circulation-Motive and Man in the Thought of Thomas Aquinas, in: Ch. Wenin (ed.) , L'homme et son univers au moyen age. Actes du septieme congres international de philosophie medievale, vol. 1, Louvain-la­Neuve 1986, 432-439 (Philosophes medievaux 26), sowie Nature and Creature. Thomas Aquinas's Way of Thought, Leiden- New York- Kopenhagen- Koln 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 21).

21 Cf. M.-D. Chenu, Introduction a l'ecude de saint Thomas d'Aquin, Montreal-Paris 41984, 266 - 273 (Universite de Montreal, Publications de l'Institut d'etudes medievales 11).

22 Cf. In Sent., lib. I, dist. 14, qu. 2, art. 2, c: ,,in exitu creaturamnz a prinzo principio attenditur quaedanz circulatio vel regiratio, eo quod onznia revertuntur sicut in finem in id a quo sicut a principio prodiemnt."

23 K. Oehler, Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt am Main 1984, 93 (Philoso­phische Abhandlungen 52).

24 Cf. dazu das in Anm. 10 genannte Buch sowie meine Studie: Omne agens agit sibi simile: A ,,Repetition" of Scholastic Metaphysics, Lbwen 1996, 253- 278 (Louvain Philosophical Studies 12).

536 Philipp W Rosemann

,,In rebus enim omnibus inanimata corpora inftmum !ocum tenent: in quibus emanationes a!iter esse non possunt nisi per actionem unius eorum in a!iquod a!terum. Sic enim ex igne generatur ignis, dum ab igne corpus extraneum a!teratur, et ad qua!itatem et speciem ignis perducitur"25.

Die emanatio einer unbelebten Substanz wie des Feuers, das heifit ihre spe-zifische Weise, sich als Substanz zu ,,aufiern"26, ist nur im Zusammenspiel mit seiner anderen Substanz moglich. Und doch ist diese ,,Aufierung" selbst toter Substanzen in und durch ,,anderes" keine vollige ,,Ent-aufierung", die zum Verlust der eigenen Identitat fiihrte. Ein Feuer beispielsweise aufiert sich in seiner Identitat als Feuer dadurch, dafi es andere Dinge in Feuer verwan­delt - ein Sti.ick Holz oder Blatt Papier etwa, das mit ihm in Beruhrung kommt. Dennoch bleibt diese Wirkung nach aufien, auf ,,anderes", auf die Identitat des Feuers bezogen, insofern namlich das andere durch die Wirkung des Feuers zum ,,Selben" des Feuers wird. So bleibt das Feuer in seiner Aufierung als Substanz auf seine eigene Identitat bezogen: Es findet sich in seiner aufieren Wirkung als Feuer wieder. Darin besteht die Selbstbezuglich­keit seiner Emanation, eine Selbstbezuglichkeit, die freilich nur von generi­scher Natur ist. Aile Substanzen, die auf anderes wirken, tun es in dieser Weise, selbstbezuglich also. Dies ist die Bedeutung des so wichtigen thomisti­schen Axioms omne agens agit sibi simile27 .

Die in der Summa contra gentiles IV, 11 diskutierte Hierarchie der Selbst­bezuglichkeiten gipfelt nach einer Analyse der Selbstreflexivitat der Pflanzen, Tiere, des Menschen und der Engel in einer Beschreibung der absoluten Selbstreflexivitat Gottes. Auch Gott kehrt zu seiner eigenen Substanz zuruck; er stellt keine Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz der Synonymie von Substantialitat und reditio dar. In der Summa theologiae lesen wir:

,,Per se autem subsistere maxime convenit Deo. Unde secundum hunc modum !oquendi, ipse est maxime rediens ad essentiam suam, et cognoscens seipsum" 28.

Mehr noch, auch Gott konstituiert seine Einheit und Identitat vermittels der Andersheit eines anderen: Auch in Gott sind unum und aliquid gleichur­sprunglich. Im Unterschied freilich zu den geschaffenen Substanzen ist das aliud Gottes, durch das sich seine Identitat als unus Deus konstituiert, von einer Substanz mit ihm selbst. Dieses aliud ist sein Wort, das die Grunde alles Erschaffenen in sich enthalt. Der Kreis der thomistischen Metaphysik schliefit sich so in der Dreifaltigkeitslehre29:

25 S.c.g., lib. IV cap. 11 (Ed. !eon. XV: 32). 26 Vergessen wir nicht: ,,res unaquaeque dicitur esse propter suam operationenl' (S. T. PIPc, qu. 3,

art. 2, c; Ed. leon. VI: 27). 27 Cf. e.g., neben vielen anderen Stellen, S. T. P, qu. 4, art. 3, c (Ed. !eon. IV: 54): ,,Cum enim

omne agens agat sibi simile inquantum est agens, agit autem unumquodque secundum suam jormam, necesse est quod in efftctu sit similitudo formae agentis". Dazu ausfiihrlich: P. W Rosemann, Omne agens agit sibi simile (cf. Anm. 24) .

28 S. T. I, qu. 14, art. 2, ad 1 (Ed. !eon. IV: 169). 29 Ich stimme also mit Jan A. Aertsen ilberein, daB Thomas' Metaphysik ohne seine Dreifaltig­

keitslehre nicht vollig verstiindlich wird. Cf. J. A. Aertsen, Nature and Creature (cf. Anm. 13), 379-384.

Aliquid: Ein vergessenes Transzendentale 537

,,Nam Deus intelligendo se, concipit verbum suum, quod est etiam ratio omnium intellectorum per ipsum, propter hoc quod omnia intelligit intelligendo seipsum: et ex hoc verbo procedit in amorem omnium et sui ipsius. Unde dixit quidam, quod monas monadem genuit, et in se suum reflectit ardorem. Postquam vero circuius conciusus est, nihii ultra addi potest; et ideo non potest sequi tertia processio in natura divina, sed sequitur uiterius processio in exteriorem naturam" 30.

6 . Schluf3bemerkung

Das Transzendentale aliquid erklart die thomistische Konzeption substan­ziellen Seins als selbstbeziiglichen Seins. Selbstbeziiglichkeit aber ist das Or­ganisationsprinzip des thomistischen Kosmos sowohl als ganzen als auch jedes seiner Teile. Meine anfangliche Behauptung, daf3 aliquid uns zur inner­sten Mitte der Metaphysik des heiligen Thomas fiihrt und uns deren funda­mentales Strukturprinzip enthiillt, halte ich damit fiir bewiesen. Das gesamte System des Thomas von Aquin laf3t sich von dem Transzendentale aliquid her interpretieren, wobei sich neue und interessante Einsichten nicht nur in seine Metaphysik, Theologie und Kosmologie, sondern auch in seine Er­kenntnislehre und Ethik ergeben31 . Darauf kann ich hier aber nicht mehr eingehen.

30 Qu. disp. de pot., qu. 9, art. 9, c. 31 Cf. P. W Rosemann, Omne ens est aliquid (cf. Anm. 10).

Wisdom, Fittingness and the Relational Transcendentals

MICHAEL M. WADDELL (Notre Dame, IN)

Arguments from fittingness (conveniens) were a staple in the dialectical diet of medieval thinkers 1. Today, philosophers often eschew them on the grounds that just because something is fitting does not necessarily mean it is true. Although tempting, this dismissal risks distorting our understanding of medieval thought, and we must oppose it. But why should an argument from fittingness be convincing? I suggest that contemporary philosophers can bet­ter appreciate conveniens arguments and their appeal to medieval authors if we consider them in light of Thomas Aquinas's teaching on the relational transcendentals 2• To show this, I will delineate connections between Thomas's metaphysical teaching on the relational transcendentals and certain psycho­logical and epistemological issues, namely the gift of wisdom and the founda­tion of ,,fitting" arguments. I contend that, with this background in view, modern readers will find conveniens arguments more satisfying. In keeping with the theme of our congress, the picture that emerges will also help determine our image of medieval philosophy, for it will clarify that the truth of argu­ments from fittingness does not depend on human canons of argumentation, but on revealed Truth Itself.

To begin, then, let us recall Thomas's basic description of the relational transcendentals in De veritate I.1 3. Thomas's task here is to define truth. His project is difficult because truth is co-extensive with being. It can not be subsumed under a genus/difference description (as definition usually re­quires) because nothing can add to being in the manner of something extrin­sic to its nature, which is how differences add to genera. Concepts other than being must, then, denote either a particular mode of being (as the categories do) or some property consequent on all being whose notion is not denoted by the term ,,being" (as is the case with the transcendentals).

1 For examples of fittingness arguments, see Thomas Aquinas, Summa Theologiae, III.46.9 and Anselm, Cur Deus Homo, I.3 - 4. I cite these texts because, in addition to providing mere examples of conveniens arguments, they provide insight into their nature and use.

2 In this paper, I will consider the relational transcendentals truth, goodness and beauty, but not aliquid (which could be construed as a relational transcendental through negation) .

3 Or De veritate 21.1. Jan Aertsen seizes on the earlier text as more complete. See J. Aertsen, Beauty in the Middle Ages: A Forgotten Transcendental, in: Medieval Philosophy and Theol­ogy 1(1991),68 - 97. The relationality of truth and goodness is also more prominent in the first question.