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Stefan Meister 125 Russlands Aggression – ein Zeichen innerer Schwäche Stefan Meister Die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im März 2012 markierte ei- nen Paradigmenwechsel in der russischen Innen- und Außenpolitik. In den bei- den ersten Amtsperioden Putins (2000-2008) stabilisierten sich dank steigender Rohstoffpreise die Wirtschaft und das Herrschaftssystem. Während seinerzeit die Außenpolitik Putins noch stärker auf Kooperation setzte, bilden seit dem Frühjahr 2012 der Konflikt mit dem Westen und die wachsende Repression nach innen zentrale Elemente der dritten Amtszeit des Präsidenten. Legitimationsdefizite im Innern … Der 2000 etablierte innerrussische Gesellschaftsvertrag, nach dem ein brei- terer Teil der Bevölkerung Anteil am wachsenden Wohlstand bekam und dafür seine politischen Rechte preisgab, ist aus Sicht des Regimes mit den Massendemonstrationen Ende 2011/Anfang 2012 durch Teile der Gesellschaft aufgekündigt worden. Insbesondere die russische Mittelschicht und der „libe- rale“ Flügel der Machtelite waren frustriert über die Rückkehr Wladimir Putins und das Ende der unter Präsident Dmitri Medwedew (2008-2012) angekündi- gten politischen und ökonomischen Modernisierung. Die fehlende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft und landesweite Korruption zeigen die Grenzen dieses auf Rohstoffexport basierenden Wohlstands. Diese Defizite stellen bei zusätzlichen Herausforderungen für den Staat, wie bei den Waldbränden im Sommer 2010, als auf regionaler Ebene der Brandschutz nicht funktionierte, die Systemfrage. Die Gesellschaft reagierte durch wachsende Selbstorganisation und Kritik an den regionalen Behörden. Diese Entwicklung speiste auch Teile der Demonstrationen 2011/12, die zur Legitimationskrise des Systems Putin führten.

Russlands Aggression - Ein Zeichen innerer Schwäche

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Stefan Meister 125

Russlands Aggression – ein Zeichen innerer Schwäche

Stefan Meister

Die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im März 2012 markierte ei-nen Paradigmenwechsel in der russischen Innen- und Außenpolitik. In den bei-den ersten Amtsperioden Putins (2000-2008) stabilisierten sich dank steigender Rohstoffpreise die Wirtschaft und das Herrschaftssystem. Während seinerzeit die Außenpolitik Putins noch stärker auf Kooperation setzte, bilden seit dem Frühjahr 2012 der Konflikt mit dem Westen und die wachsende Repression nach innen zentrale Elemente der dritten Amtszeit des Präsidenten.

Legitimationsdefizite im Innern …

Der 2000 etablierte innerrussische Gesellschaftsvertrag, nach dem ein brei-terer Teil der Bevölkerung Anteil am wachsenden Wohlstand bekam und dafür seine politischen Rechte preisgab, ist aus Sicht des Regimes mit den Massendemonstrationen Ende 2011/Anfang 2012 durch Teile der Gesellschaft aufgekündigt worden. Insbesondere die russische Mittelschicht und der „libe-rale“ Flügel der Machtelite waren frustriert über die Rückkehr Wladimir Putins und das Ende der unter Präsident Dmitri Medwedew (2008-2012) angekündi-gten politischen und ökonomischen Modernisierung.

Die fehlende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft und landesweite Korruption zeigen die Grenzen dieses auf Rohstoffexport basierenden Wohlstands. Diese Defizite stellen bei zusätzlichen Herausforderungen für den Staat, wie bei den Waldbränden im Sommer 2010, als auf regionaler Ebene der Brandschutz nicht funktionierte, die Systemfrage. Die Gesellschaft reagierte durch wachsende Selbstorganisation und Kritik an den regionalen Behörden. Diese Entwicklung speiste auch Teile der Demonstrationen 2011/12, die zur Legitimationskrise des Systems Putin führten.

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Für die politische Elite um den neuen-alten Präsidenten waren diese Demonstrationen, bei denen zeitweise über 100 000 Menschen allein in Moskau auf die Straße gingen, ein Schock, der den Politikwandel beschleunigte. Die Angst vor einer Farbenrevolution in Russland hat zu einem Umdenken von Putin und seinem direkten Umfeld geführt und die Hardliner in der russischen Elite gestärkt. Denn das System Putin hatte durch seine Unfähigkeit, das Land politisch, ökonomisch und moralisch zu erneuern, an Legitimation verloren und ist infolge innerer Modernisierungsdefizite auf absehbare Zeit nicht mehr in der Lage, wachsenden Wohlstand zu garantieren und den alten Gesellschaftsvertrag zu finanzieren.

… führen zur Konfrontation mit dem Westen

Zum Machterhalt bedarf es deshalb anderer Legitimationsressourcen. Wegen der Gefahr, im Zuge der ins Stocken geratenen ökonomischen Modernisierung die Kontrolle zu verlieren, entschied sich der Kreml, nach innen die poli-tische und gesellschaftliche Opposition unter Druck zu setzen und zu stig-matisieren sowie nach außen den Konflikt mit dem „Westen“ zu schüren. Ein neuer Konservativismus gegen westlichen Liberalismus verbunden mit einer konfrontativen Außenpolitik, die auf die Absicherung des postsowjetischen Einflussraums setzt, führen zur Ideologisierung russischer Politik.

Infolge der Massendemonstrationen in Kiew seit November 2013 und der Absetzung von Präsident Janukowitsch durch das ukrainische Parlament hat Russland den Anschluss der Krim orchestriert und einen asymmetrischen Krieg in der Ostukraine begonnen. Putins Absichten sind es, das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land des postsowjetischen Raumes im russischen Einflussbereich zu halten und die begrenzte Souveränität der Ukraine durch den Westen aner-kannt zu bekommen. Zum Erreichen dieser Ziele ist der russischen Führung fast jedes Mittel recht.

Die Ukraine-Krise ist zur Russland-Krise geworden, die nicht nur die Stabilität des ukrainischen Staates, sondern auch die nach 1991 in Europa entstandene Sicherheitsordnung infrage stellt. Zentrale Ursache für diesen Konflikt zwischen Russland und der EU ist jedoch nicht die westliche Politik im postsowjetischen Raum, sondern das Legitimationsdefizit und die innere Schwäche des Systems Putin. Die Krim-Annexion und insbesondere die harte Rhetorik gegenüber den USA und der EU haben dem russischen Präsidenten Zustimmungswerte von über 80 Prozent beschert. Der Konflikt mit dem Westen wird für Wladimir Putin in den kommenden Jahren eine entscheidende Machtressource bleiben, was zu einer andauernden Konfrontation in Europa führen wird.

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Wandel der Funktionslogik des Machtsystems

Als Erbe der Sowjetunion ist russische Politik durch informelle Strukturen ge-prägt, die hinter den formellen Institutionen die Rechtspraxis und politischen Entscheidungen bestimmen. Zwar ist Russland laut Verfassung ein demokra-tischer Rechtsstaat, in dem formal regelmäßig Wahlen stattfinden und Parteien im Wettbewerb stehen, doch in der Praxis erfüllen die politischen Institutionen diese Aufgaben nur selten, sie imitieren demokratische Strukturen. Russland hat sich nach 1991 zu einem patrimonialen Staat entwickelt, in dem persön-liche Beziehungen und Klientelstrukturen alle staatlichen und wirtschaftli-chen Entscheidungsebenen bestimmen.1 Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft werden nicht nach Qualifikation besetzt, sondern die Herkunft und insbesondere das Verhältnis zum Präsidenten sind ausschlaggebend. Nur Putin kann durch dieses Beziehungsgeflecht die Stabilität des Systems garan-tieren – einer der Gründe, weshalb er 2012 auch auf Druck aus Teilen der Sicherheitselite zurückgekommen ist.

Über ein hierarchisches System (Machtvertikale) regiert der Präsident bis in den letzten Winkel des Landes. Parteien, Rechtsstrukturen, Polizei und Verwaltungen sind Instrumente in den Händen der regierenden Eliten, mit denen sie ihre Macht absichern und sich vor den Interessen anderer Gruppen schützen. Das Parlament dient vor allem dazu, Entscheidungen des Präsidenten und der Elitenzirkel zu bestätigen und nicht, diese zu debattieren. Medien wer-den insbesondere seit der heißen Phase der Ukraine-Krise Anfang 2014 als Propagandainstrument zur Beschaffung von Zustimmung für die Politik des Präsidenten genutzt.

Diese Herrschaftsstrukturen werden auch durch eine Symbiose von Politik und Wirtschaft gestärkt: Wer die politische Macht besitzt und über Einfluss auf die staatlichen Strukturen verfügt, dominiert auch die Zugänge zu wichtigen staatlichen Unternehmen und Banken und kann die Gesetze so anpassen, dass sie den eigenen ökonomischen Interessen dienen. Diese Zugänge wiederum sichern Loyalitäten und Macht ab. Korruption ist in diesem System nicht die Ausnahme, sondern die Regel.2 Denn Privilegien und Bereicherungen schaffen Loyalitäten.

Politische Entscheidungen erfolgen in einem für Außenstehende intrans-parenten Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Elitengruppen, wobei diese keinen westlichen Vorstellungen von Interessengruppen entsprechen, sondern letztlich alle in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Putin stehen. Unter

1 Petra Stykow, Wahlen in autoritären Regimen, die postsowjetischen Länder, in: Steffen Kailitz (Hrsg.), Autokratien im Vergleich, PVS Sonderheft 47, Baden-Baden 2013, S. 237-271.

2 Im Korruptionsindex von Transparency International belegte Russland 2013 Platz 127 von 175 Län-dern. Trotz regelmäßiger Antikorruptionskampagnen gibt es keine maßgebliche Verbesserung in die-sem Bereich. Transparency International, Corruption Percepetion Index 2013, <http://www.trans-parency.org/cpi2013/results> (abgerufen am 1.11.2014).

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der Präsidentschaft von Dmitri Medwedew dominierte der wirtschaftsliberale Teil der russischen Elite die Politik und setzte im August 2012 maßgeblich den Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisatin (WTO) durch. Dabei war jedoch entscheidend, dass Putin seinerzeit die WTO-Integration unterstützte und die Wirtschafts- und Finanzkrise die russische Wirtschaft belastete. Mit Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt kamen dann vor allem Personen aus dem Sicherheitsapparat in seinen engeren Entscheidungszirkel. So hat Putin nach den Massendemonstrationen seit seiner Wiederwahl den wirtschaftsli-beraleren Teil der russischen Elite aus den zentralen Entscheidungszirkeln entfernt und sich mit loyalen Personen aus dem Sicherheitsapparat wie dem Leiter der Präsidialadministration Sergei Iwanow und seinem ersten Stellvertreter Wjatscheslaw Woloschin umgeben. Diese zumeist in den sowje-tischen Sicherheitsstrukturen ausgebildeten Personen ordnen ökonomische Fragen sicherheitspolitischen unter, was auch in der Ukraine-Krise deutlich wurde: Die De-facto-Annexion der Krim war auch eine Kurzschlussreaktion der Sicherheitseliten, weil sie mit der Absetzung von Präsident Janukowitsch ihren Einfluss in Kiew verloren und befürchteten, die auf der Krim stationierte Schwarzmeer-Flotte zu verlieren.

Russlands Isolierung und die westliche Sanktionspolitik gehen auf Kosten der ökonomischen Interessen von wirtschaftsorientierten Teilen der russischen Elite und gefährden deren Loyalität zum System. Hinzu kommt, dass die „Sicherheitsgruppe“ mittlerweile so dominant geworden ist, dass sie auch bisher loyale Personen offen attackiert und sich deren Unternehmen aneignet.3 Wer bis 2012 Teil des Systems war, konnte, solange er loyal gegenüber dem Präsidenten war, trotz Selbstbereicherung nicht bestraft werden. Dieses System erreicht je-doch seine Grenze, da es eine Erneuerung der Elite kaum ermöglicht. Insgesamt scheint seit 2012 die Balance in der russischen Elite zwischen dem eher libe-raleren wirtschaftsorientierten Teil und den Sicherheitspersonen zerstört wor-den zu sein. Manche Experten sprechen sogar von einem Regimewandel.4

Ökonomische Prioritätenverschiebung

2012 wurden dementsprechend auch in der russischen Wirtschaftspolitik neue Prioritäten gesetzt. War Putin bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise

3 Ein Beispiel ist der Hausarrest des Putin-freundlichen Oligarchen Wladimir Ewtuschenkow, des-sen Unternehmensgruppe Sistema laut Anklage Anteile an der unrechtmäßig privatisierten Firma Baschneft besitzt. Laut gerichtlicher Entscheidung gehen diese Anteile zurück an den russischen Staat. Dieses Urteil spielt dem staatlichen Ölkonzern Rosneft in die Hände, der von einem engen Alliier-ten Putins, Igor Setchin, geführt wird und an Baschneft interessiert ist. Vgl. Vedomosti, 30.10.2014, <http://www.vedomosti.ru/companies/news/35428171/sud-udovletvoril-isk-genprokuratury-k-afk-sistema-v-polnom> (abgerufen am 1.11.2014).

4 Kadri Liik, Regime Change in Russia, ECFR Policy Memo, 31.5.2013, <http://www.ecfr.eu/publica-tions/summary/regime_change_in_russia209> (abgerufen am 1.11.2014).

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2008/09 – wegen der hohen Preise für Öl und Gas sowie der Ausrichtung auf Europa als Empfänger russischer Rohstoffe und Lieferant für Technologien und Investitionen – eher an einem guten Verhältnis zur EU interessiert, so hat die Wirtschaftskrise die Schwächen des russischen (und europä-ischen) Wirtschaftssystems offen gelegt und das Interesse an Kooperation zur Absicherung des Systemerhalts geschmälert.

Putins Wirtschaftspolitik, so wie er sie zu Beginn seiner dritten Amtszeit in seinem programmatischen Artikel in der Wirtschaftszeitung Vedomosti angekündigte, war ambivalent:5 Einerseits sollten – verbunden mit dem WTO-Beitritt – mehr privatisiert und die Investitionsbedingungen verbes-sert werden. Andererseits erhöhten sich der Anteil staatlicher Unternehmen und die Bedeutung von Energieexporten für den Staatshaushalt weiter und es gab es keine echten Verbesserungen in den Bereichen Rechtssicherheit und Investitionsbedingungen. Zudem klagte die EU gegen Russland vor der WTO, unter anderem wegen der russischen Importbeschränkungen für europäische Autos.

Bereits 2011 kündigte Putin in einem programmatischen Artikel noch als Premier an, nach sowjetischer Tradition den militär-industriellen Komplex zum Motor der wirtschaftlichen Modernisierung zu machen. Mit der Ukraine-Krise wurde 2014 erneut der Haushalt für die Modernisierung der russischen Armee aufgestockt.6 Seit den im russisch-georgischen Krieg 2008 offen-sichtlich gewordenen Schwächen setzt die russische Führung alles daran, das Militär zu modernisieren. Während in den 2000er Jahren 2,5 bis 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Rüstung ausgegeben wurden, werden die Verteidigungsausgaben 2014 auf 3,5 und die gesamten Militärausgaben auf 4,5 Prozent des BIP steigen. Diese Ausgaben sollen laut Budgetplanung für 2015 bis 2017 auf 4,2 bzw. 5,4 Prozent des BIP steigen.7

Auch wenn die russische Führung trotz hoher Ausgaben infolge der glo-balen Wirtschafts- und Finanzkrise noch über ausreichend Währungsreserven8 und einen gut gefüllten Reservefonds verfügt, kommt dieses Geld durch Korruption und die sich veränderte ökonomische Prioritätensetzung immer

5 Wladimir Putin, Nam Nuzna Novaja Ekonomika, in: Vedomosti, 30.1.2012.6 Das staatliche Rüstungsprogramm 2020 soll zwischen 2011 und 2020 bis zu 573 Mrd. Dollar erhalten.

2014 erfolgt bereits die Ausarbeitung des Anschlussprojekts bis 2025. Vgl. Putin-Rede unter: <http://kremlin.ru/news/46589> (abgerufen am 1.11.2014).

7 Julian Cooper, The Russian Military and the Economy (unveröffentliches Manuskript), 12.10.2014; ‘Defence economics’ (Russia), in: International Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2014, Abingdon, März 2014, S. 165-167.

8 Ende September 2014 betrugen die russischen Währungsreserven 454 Mrd. Dollar. Central Bank of the Russian Federation, International Reserves, 30.9.2014, <http://www.cbr.ru/eng/hd_base/def-ault.aspx?Prtid=mrrf_m> (abgerufen am 1.11.2014).

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weniger bei der Bevölkerung an.9 Insbesondere seit der globalen Finanzkrise waren große Summen aus dem Stabilitätsfonds nötig, um den Rubel zu stützen. Auch Unternehmen, die ihre Kredite im Ausland nicht mehr bedienen konnten, musste der Kreml unter die Arme greifen, was den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft weiter stärkte. In der jüngsten Ukraine-Krise haben die westlichen Sanktionen sogar dazu geführt, dass der russische Staat in den Pensionsfonds greifen musste, um die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft einzudäm-men. Die Reserven des russischen Stabilitätsfonds sind von Beginn des Jahres 2014 bis Oktober um fast 10 Prozent gesunken.

Letztlich haben die Ukraine-Krise und die westliche Sanktionspolitik mit dazu beigetragen, dass sich die protektionistischen Tendenzen in der Wirtschaftspolitik weiter verstärkt haben. Hohe Regierungsbeamte argumentie-ren, dass die westlichen Sanktionen es Russland nun ermöglichen, aus eigener Kraft eine Modernisierung seiner Wirtschaft zu erreichen. Denn Sanktionen schützen die russische Wirtschaft vor Konkurrenz und ermöglichen deren un-gehinderte Entfaltung.10

Dass eine derartige Wirtschaftspolitik zum Bankrott führen kann, sollte die Erfahrung der Sowjetunion gezeigt haben. Russland ist heute jedoch viel stär-ker in die globale Weltwirtschaft integriert, seine Abhängigkeit vom Westen, unter anderem von Technologien zur Erschließung von Rohstoffen und beim Export von Öl und Gas, sind zentral für das Budget und die Handlungsmacht des Staates.

Jedoch werden letzten Endes weniger westliche Sanktionen ein Umdenken der russischen Führung befördern, sondern deren Kombination mit einem niedrigen Ölpreis. Bei derzeit (November 2014) unter 80 Dollar pro Barrel Öl ist das russische Budget unterfinanziert, da das Regime mit seinen enormen Subventionen und Korruptionsverlusten mindestens einen Preis von 110 Dollar benötigt.

Ideologie als Strategie

Die Machtverschiebung innerhalb der russischen Elite wird flankiert durch die Ideologisierung der Innenpolitik, die seit mehreren Jahren im Gange ist und durch die Ukraine-Krise verstärkt wurde. Die Zustimmungsraten für die Politik Putins insgesamt und für seine Wiederwahl war bis 2013 auf ein für ein autokra-tisches System, das auf der Stärke der Führungsfigur basiert, bedrohliches Maß

9 Am 1.10.2014 umfasste der Reservefonds 90 Mrd. Dollar. Mit den Ausgaben im Rahmen der globalen Finanzkrise war er 2011 auf zeitweise unter 30 Mrd. Dollar gesunken. Vgl. Ministerstvo Financov Rossijskoj Federacii, Sovokupnyi obem sredst fonda, 7.10.2014, <http://minfin.ru/ru/reservefund/statistics/volume/index.php?id_4=5796> (abgerufen am 1.11.2014).

10 So argumentierte Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew in einem Zeitungsartikel im August 2014, dass Gegensanktionen die russische Wirtschaft ankurbeln könnten. Vgl. Vedomosti, 25.8.2014, <http://www.vedomosti.ru/newspaper/article/740771/kak-potratit-s-umom> (abgerufen am 1.11.2014).

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gesunken. Trotz massiver Fälschungen konnte Ende 2011 die Partei der Macht, Einheitliches Russland, nur noch knapp 50 Prozent der Stimmen erreichen.11 Auch Putin selbst war in der Wählergunst unter die magische 50-Prozent-Marke gesunken.12 Es tauchten neue politische Gegner wie Alexei Navalny auf, die nicht der marginalisierten liberalen Opposition, sondern dem nationalistisch-populistischen Lager angehören. Navalny erlangte mit der Aufdeckung von be-hördlichen Korruptionsfällen Popularität und konnte bei der Bürgermeisterwahl im September 2013 in Moskau mit 27 Prozent einen Achtungserfolg erzielen.13

Umso wichtiger wurde in der politischen Rhetorik, Feindbilder aus Sowjetzeiten zu bedienen: etwa „Faschisten“, die nunmehr auch in der Ukraine die Zugehörigkeit zur russischsprachigen Welt bedrohen. Die Behauptung des Kremls, dass der Westen schuld an der ökonomischen Stagnation in Russland sei, dass die USA und EU den russischen Einflussbereich zurückdrängen wollten, und die mit der Annexion der Krim demonstrierte Stärke sollen dabei von den Defiziten der eigenen Politik ablenken.

Diese Argumentation passt in das ideologische Muster, mit dem Politik und Gesellschaft „versicherheitlicht“ werden – zumal auch ein fundamentaler Konflikt zwischen dem „dekadenten Westen“ und Russland als dem Hüter der „wahren europäischen Werte“ kreiert worden ist. Der Stimmungsumschwung in der russischen Bevölkerung belegt die Wirksamkeit dieser Propaganda. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada unterstützten im Oktober 2014 neun von zehn (88 Prozent) Russen Putins Politik. 2013 waren es im Durchschnitt nur 64 Prozent seiner Landsleute.14

Teile der Mittelklasse, die 2011/12 noch gegen das korrupte System Putin und die Manipulation von Wahlen auf die Straße gegangen sind, befürworten die Angliederung der Krim. Diese wurde zu einem wichtigen symbolischen Erfolg für das Regime Putins, der seinen Landsleuten demonstrierte, dass Russland wieder in der Lage ist, seine „legitime Einflusssphäre“ zu wahren, seine „Landsleute zu schützen“ und Stärke gegenüber dem Westen zu zei-gen. Die Welle von Patriotismus, verbunden mit massiver Propaganda, konnte nur aufgrund des kollektiven Traumas wegen des Zerfalls der Sowjetunion so erfolgreich sein. Insbesondere die Krim-Annexion hat dem Regime seine Legitimation zurückgegeben und ist deshalb nicht verhandelbar.

11 So lag Einheitliches Russland bei Umfragen 2012/13 konsequent unter 40 und zeitweise unter 30 Pro-zent. Levada, Elektoralny rejting partii i ONF, 25.7.2013, <http://www.levada.ru/25-07-2013/elekto-ralnye-reitingi-partii-i-onf> (abgerufen am 1.11.2014).

12 Levada, Oktjabr’skie rejtingi odobrenia i doveria, 29.10.2014, <http://www.levada.ru/29-10-2014/oktyabrskie-reitingi-odobreniya-i-doveriya> (abgerufen am 1.11.2014).

13 Die Website von Alexei Navalny ist zeitweise zu einem Instrument geworden, was die korrupte russische Elite massiv unter Druck gesetzt hat, <http://navalny.livejournal.com/> (abgerufen am 1.11.2014).

14 Vgl. Levada, Oktjabr’skie rejtingi odobrenia i doveria, a.a.O. (Anm. 12).

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Gleichzeitig werden kritische Stimmen in der russischen Gesellschaft sy-stematisch marginalisiert. Ein zweites NGO-Gesetz stigmatisiert zivilgesell-schaftliche Organisationen, die aus nichtrussischen Quellen finanziert werden, als ausländische Agenten und behindert deren Arbeit mit enormen bürokra-tischen Hürden.15 Gesetze, mit denen das Internet kontrolliert und ausländische Finanzierung von Medien eingeschränkt werden, verhindern, dass sich die Gesellschaft ausgewogen informieren und kritisch austauschen kann.

All diese Maßnahmen können mit Blick auf eine mittel- bis langfristige Perspektive nur zum Schluss führen, dass das Regime sich auf weitere Konflikte mit der russischen Gesellschaft vorbereitet. Mehr Kontrolle und Repression sind zu erwarten. Die Anführer der Demonstrationen von 2011/12 sowie wichtige Oppositionelle wie Navalny stehen bereits unter Hausarrest oder sind zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Damit werden auch in-ternational die Möglichkeiten begrenzt, mit der russischen Zivilgesellschaft zu kooperieren.

Der internationale Kontext

Westliche Sanktionen im Rahmen des Ukraine-Konflikts stärken diese Strukturen eher, da sie Russland isolieren, der sicherheitsorientierten Elite Oberwasser ge-ben und die Wirtschaftsliberalen weiter marginalisieren, die auf ökonomische Beziehungen mit Europa setzten. Für Putin und sein Umfeld wiegen zurzeit die (innen-)politischen Vorteile des Konfrontationskurses die ökonomischen Kosten von Sanktionen auf. Kurzfristig wirken sie ohnehin nur begrenzt, da die Währungsreserven und der Stabilitätsfonds die Wirkung für eine gewisse Zeit abfedern können. Außerdem ist es in einer globalisierten Welt schwierig, ein Land komplett zu isolieren.

Doch mittelfristig werden der Imageschaden, Kapitalabfluss und begrenzte Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten gravierende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben. Das Wirtschafts-„Wachstum“ liegt in die-sem Jahr nahe bei null, und in den kommenden Jahren wird abhängig von der Verschärfung der Krise mit der EU, gegebenenfalls. weiteren Sanktionen und der Höhe des Ölpreises nur eine langsame Erholung erwartet.16

Autarkie in vitalen Wirtschaftsbereichen und die Erschließung neuer Märkte für russische Energieressourcen vor allem in Asien sind wichtige Ziele der dominanten Gruppen in der russischen Elite. Energieabkommen mit China und anderen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea sollen langfristig die einseitige Abhängigkeit vom europäischen Markt begrenzen. Was ökono-

15 Vgl. Jens Siegert, Mehr als eine Art „Agenten-Jagd“ – eine Art Zwischenbericht, in: Russlandanalysen 278, 6.6.2014, S. 25-27, <http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen278.pdf> (abgerufen am 1.11.2014).

16 Bank of Finland, Bofit Forecast for Russia 2014-2016, 16.9.2014, <http://www.suomenpankki.fi/bofit_en/seuranta/ennuste/Documents/brf214.pdf> (abgerufen am 1.11.2014).

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misch sinnvoll erscheint, wird teuer erkauft werden müssen, da Russland bei der Konkurrenz um die asiatischen Märkte unter anderem mit Anbietern von Flüssiggas aus Australien und Katar konkurriert, die bei ihren Investitionen be-reits weiter sind und insgesamt effizienter arbeiten. Ebenso hat Russland durch seine Isolation eine schlechte Verhandlungsposition gegenüber chinesischen Firmen und stimmte bereits aus Gründen des Prestigegewinns Abkommen zu, die ökonomisch wenig sinnvoll sind.17

Das aggressive Auftreten Moskaus hat darüber hinaus dazu geführt, dass postsowjetische Länder den Druck Moskaus durch Kooperation mit ande-ren Partnern ausbalancieren wollen. So wird es zwar am 1. Januar 2015 zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan kommen, gleichzeitig haben Minsk und Astana ein wachsendes Interesse, mit alternativen Partnern wie der EU zu kooperieren. Das hat keinen Politikwandel in diesen Ländern zur Folge, aber höhere Kosten für Russland, um sich deren Loyalität zu erkaufen. Russland wird aber weniger Ressourcen haben, um über ökonomische und energiepolitische Subventionen postsowje-tische Länder an sich zu binden. Zudem bietet es weder ein ökonomisches noch gesellschaftliches Modell für diese Staaten. Die Ukraine-Krise markiert auch das Scheitern russischer Soft Power. Deshalb wird der sicherheitspoli-tische Druck auf diese Länder weiter wachsen, um deren Handlungsspielraum einzuschränken.18

Das Umschalten auf Hard Power im Fall der Krim und der Ostukraine ist ein Paradigmenwechsel, der 2008 in Georgien das erste Mal seit dem Ende der Sowjetunion getestet worden ist. Er zeigt auch, dass je schwächer Russland ökonomisch und politisch ist, desto aggressiver seine Führung reagiert. Die Nutzung von Konflikten im postsowjetischen Raum wird ein Instrument in der zukünftigen russischen Außenpolitik bleiben, um die Länder der Region unter Kontrolle zu halten. Militärische Mittel zum Erhalt der Einflusszone sind nicht mehr ausgeschlossen – eine Entwicklung, auf die EU und NATO reagieren müssen.

Konsequenzen für die deutsche und europäische Politik

Die europäische Politik der Kooperation mit Russland und insbesonde-re die deutsche Modernisierungspartnerschaft sind gescheitert. Das System Putin hatte nie Interesse an einer politischen Modernisierung über ökono-mische Kooperation. Die Hoffnung, dass die russische Mittelklasse einen po-

17 Ewa Fischer et al., The Rising Costs of Getting Closer to Beijing: New Russian-Chinese Econo-mic Agreements, OSW Analysis, 15.10.2014, <http://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analy-ses/2014-10-15/rising-cost-getting-closer-to-beijing-new-russian-chinese-economic> (abgerufen am 1.11.2014).

18 Vgl. David Cartier (Hrsg.), The Geopolitics of Eurasian Integration, Special Report, London School of Economics, Juli 2014.

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litischen Wandel herbeiführen wird, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Die ho-hen Zustimmungsraten für Putins aktuelle Politik auch aus der russischen Mittelklasse belegen das.

Es gibt kritische Stimmen, wie eine Demonstration gegen den Ukraine-Krieg mit über 10 000 Demonstranten in Moskau im September 2014 zeigte, jedoch ist diese Gruppe klein und marginalisiert. Progressive und kritische Teile der Gesellschaft verlassen aufgrund des aggressiven politischen Klimas das Land.19

Für die EU wird es immer schwieriger, den Austausch mit der russischen Bevölkerung zu unterstützen und Zugänge zu relevanten Entscheidungsträgern zu bekommen. Zwar will die Regierung wieder attraktiver für Investitionen und technisches Know-how aus dem Ausland werden. Doch die russische Führung hat massiv in Medienpropaganda über Kanäle wie Russia Today oder Manipulationen im Internet investiert und Debatten zu Sanktionen und dem Verhältnis zum Westen beeinflusst.20 Die EU-Mitgliedstaaten sind gefordert, sich gegen diese Attacken besser zu schützen und trotzdem Offenheit gegen-über der russischen Gesellschaft zu bewahren.

Der Konflikt mit Russland wird andauern und bedarf einer Neu-konzeptionierung europäischer Sicherheit, die auch andere postsowjetische Staaten einbezieht. Die NATO braucht eine Stabilisierungsstrategie für Nichtmitglieder. Die EU kann kein Interesse daran haben, dass die Ukraine von einem schwachen zu einem zerfallenden Staat wird, mit allen negativen Konsequenzen. Dies sollte u.a. durch Institution-Building im Sicherheitsbereich erfolgen. Ihrerseits wird die russische Führung alles dafür tun, damit sich Länder wie die Ukraine, Moldau und Georgien nicht in EU oder gar NATO integrieren können. Sicherheit in Europa wird deshalb in Zukunft mehr kosten.

Deutschland hat immer eine Schlüsselrolle in der europäischen Politik gegenüber Russland gespielt und tut dies auch in der Ukraine-Krise. Die Bundesrepublik ist einer der größten Handels- und Investitionspartner für Russland. Doch die deutsche Politik musste in der Ukraine-Krise lernen, dass ökonomische Interdependenz auch negative Auswirkungen für die eigene Wirtschaft und Politik haben kann.

Sanktionen machen nur dann Sinn, wenn auch positive Alternativen, sprich Anreize aufgezeigt werden. Deshalb sollten, parallel zu den Sanktionen ge-gen zentrale Figuren des Systems Putin, Visaerleichterungen für einen gro-ßen Teil der russischen Gesellschaft eingeführt werden. Selbstschutz ja, aber nur durch einen offenen Dialog kann die EU den autoritären Tendenzen in Russland entgegenwirken. Wandel in Russland kann nur auf lange Sicht erwar-

19 Laut BBC haben 2013 über 186 000 Menschen, vor allem aus der gut ausgebildeten Mittelklasse, Russ-land verlassen. Russian Braindrain After Putin Crackdown, in: BBC Monitoring, 2.10.2014, <http://www.bbc.com/news/world-europe-29450930> (abgerufen am 1.11.2014).

20 Julian Hans, Putins Trolle, in: Süddeutsche Zeitung, 13.6.2014, S. 8. Ein aktuelles Beispiel ist die deutsche Ausgabe des russischen Propagandasenders Russia Today: <http://www.rtdeutsch.com/> (abgerufen am 1.11.2014).

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tet werden; gleichwohl müssen der Austausch mit den derzeit marginalisierten Reformkräften in der russischen Elite und Gesellschaft intensiviert werden und Plattformen für zivilgesellschaftlichen Austausch reformiert und ausgebaut wer-den. Ebenso braucht die EU eine Informationsstrategie für die osteuropäischen bzw. russischen Gesellschaften. Dabei sollte eine Medienplattform im Internet geschaffen werden, die die russische Propaganda enthüllt.

Die russische Führung wird in bestimmten internationalen Konflikten wei-terhin daran interessiert sein, mit dem Westen zu kooperieren. Insbesondere die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus beschäftigt Moskau ebenso wie den Westen. Mit Blick auf die Eurasische Wirtschaftsunion sollte die EU ebenfalls Kooperations- und Kompatibilitätsansätze identifizieren und gleich-zeitig den bilateralen Austausch mit den einzelnen Mitgliedstaaten pflegen. Im Gegensatz zu den gemeinsamen Interessen im internationalen Rahmen wird es im postsowjetischen Raum dauerhaft bei einer Einflusskonkurrenz bleiben, die sich auch durch partielle Kompromisse und Kooperation in anderen Bereichen auf absehbare Zeit kaum lösen lassen wird.