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Veröffentlicht 2010 in: Hierdeis, Helmwart, Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis, Vandenhoeck und Ruprecht Dietmut Niedecken Ein Gegenübertragungstraum Der Traum „Der Traum spielt in einem fremden Haus in einer fremden Gegend. Wir machen dort mit der Wohngruppe Urlaub. Zwei Zimmer nebeneinander, in einem befinde ich mich beim auspacken, in dem anderen liegen P. (m) und K. (w (a) ) in einem Doppelbett. Sie sind indisch gekleidet, die Kleidung weist auf eine höhere Kaste hin. K. spricht mit P. darüber, dass er für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen müsse. Sie erklärt ihm dafür, wie er später oben auf der Straße die Schuhe putzen soll. Plötzlich entfacht aus der Ritze meines Doppelbettes eine riesige Stichflamme und verschwindet wieder. Ich wunderte mich und war über diese Aktion verwirrt. Bald darauf beginnt mein Bett am Fußende zu brennen. Ich bin in großer Aufregung. A.(m) kommt herein und stellt mir einen Hometrainer aufs Bett. K.(w (b) ) kommt ins Zimmer, reibt abwesend und unbeteiligt ihre Finger und dreht ‚ihre Runden’. E.(w) kommt ins Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl, raucht eine Zigarette und ist ebenso unbeteiligt am Geschehen. G.(m) höre ich vom Gang herein in Selbstgesprächen über Unternehmungen. Ich nehme schließlich einen Kübel und lösche selbst. Dabei wird alles naß und mein Koffer voller Wasser.“ Ein Gegenübertragungstraum, der im Rahmen eines von mir geleiteten Supervisionswork- shops berichtet wurde. 1 Es handelte sich um eine jährlich stattfindende Fortbildung für das Betreuungsteam einer Wohngruppe Erwachsener mit geistiger Behinderung. Die Wohngruppe lebt in einer süddeutschen Kleinstadt, d.h. an einem Ort, zu dem ich jeweils eigens anreise. (Die Träumerin, die mir diese Traumbeschreibung zur Verfügung stellt, ist Betreuerin und Wohngruppenleiterin. K (a) und K (b) sind eine Kollegin und eine WG-Bewohnerin gleichen Namens, alle anderen sind WG-BewohnerInnen. (m) und (w) bezeichnen das Geschlecht der auftretenden Personen.) Die seit Jahren regelmäßig stattfindende Zusammenarbeit wurde im Zuge des um sich greifenden „Qualitätsmanagements“ immer drängender mit der Forderung nach Vorzeigbarkeit und Dokumentierbarkeit der Betreuungsarbeit konfrontiert. Während auf diese Weise das Sichtbare und Handgreifliche zu Werten per se hochstilisiert wurden und werden, kamen in unseren workshops grundsätzlich andere Dinge zur Sprache: Erlebnisse, die sich im Innenraum der Phantasie abspielen. Sie werden von den Maßnahmen zum Qualitätsmanagement oftmals nur verstellt, wenn der erzwungene Aktionismus nicht gar verhindert, dass sie überhaupt noch wahrgenommen werden. Die „Arbeit, die man nicht sieht“, wie ich sie zusammen mit der Gruppe genannt habe, ergibt sich aus dem massiven, tief ins je Private eingreifenden emotionalen Affiziertsein, den Gegenübertragungen, die in der Betreuungsarbeit entstehen. Sie stellen eine enorme Belastung dar, wenn der reflektierende Umgang mit ihnen nicht ausdrücklich erlernt und darüber hinaus als Arbeit benannt und anerkannt wird. Eine solche Anerkennung hat es freilich kaum je gegeben, geschweige denn dass die pädagogischen und heilpädagogischen Ausbildungen den Umgang mit der Gegenübertragung mehr als allenfalls beiläufig streiften. In den letzten Jahren wird sie durch die Konzentration auf das Dokumentierbare der Betreuungsarbeit ausdrücklich entzogen. Der Umgang mit Phantasien und Träumen ist von 1 Ich danke der Träumerin W. dafür, dass sie mir diese Traumerzählung aufgeschrieben hat, und ihr und dem Team für die intensive und sehr lehrreiche Zusammenarbeit. Betreuerin K. danke ich für ihr Protokoll unserer Fortbildung. Zu danken habe ich auch dem ersten Masters-Studiengang am Institut für Musiktherapie Hamburg, für die eingehende und anregende Diskussion des Traumes. Wolfgang Leuschner verdanke ich wertvolle Hinweise zum Traum und zur Literatur über das Träumen.

Ein Gegenübertragungstraum

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Veröffentlicht 2010 in: Hierdeis, Helmwart, Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen

Theorie und Praxis, Vandenhoeck und Ruprecht

Dietmut Niedecken

Ein Gegenübertragungstraum

Der Traum „Der Traum spielt in einem fremden Haus in einer fremden Gegend. Wir machen dort mit der Wohngruppe

Urlaub. Zwei Zimmer nebeneinander, in einem befinde ich mich beim auspacken, in dem anderen liegen P. (m)

und K. (w(a)) in einem Doppelbett. Sie sind indisch gekleidet, die Kleidung weist auf eine höhere Kaste hin. K.

spricht mit P. darüber, dass er für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen müsse. Sie erklärt ihm dafür, wie er

später oben auf der Straße die Schuhe putzen soll.

Plötzlich entfacht aus der Ritze meines Doppelbettes eine riesige Stichflamme und verschwindet wieder. Ich

wunderte mich und war über diese Aktion verwirrt. Bald darauf beginnt mein Bett am Fußende zu brennen. Ich

bin in großer Aufregung.

A.(m) kommt herein und stellt mir einen Hometrainer aufs Bett.

K.(w(b)) kommt ins Zimmer, reibt abwesend und unbeteiligt ihre Finger und dreht ‚ihre Runden’.

E.(w) kommt ins Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl, raucht eine Zigarette und ist ebenso unbeteiligt am

Geschehen.

G.(m) höre ich vom Gang herein in Selbstgesprächen über Unternehmungen.

Ich nehme schließlich einen Kübel und lösche selbst. Dabei wird alles naß und mein Koffer voller Wasser.“

Ein Gegenübertragungstraum, der im Rahmen eines von mir geleiteten Supervisionswork-

shops berichtet wurde. 1 Es handelte sich um eine jährlich stattfindende Fortbildung für das

Betreuungsteam einer Wohngruppe Erwachsener mit geistiger Behinderung. Die Wohngruppe

lebt in einer süddeutschen Kleinstadt, d.h. an einem Ort, zu dem ich jeweils eigens anreise.

(Die Träumerin, die mir diese Traumbeschreibung zur Verfügung stellt, ist Betreuerin und

Wohngruppenleiterin. K(a) und K(b) sind eine Kollegin und eine WG-Bewohnerin gleichen

Namens, alle anderen sind WG-BewohnerInnen. (m) und (w) bezeichnen das Geschlecht der

auftretenden Personen.)

Die seit Jahren regelmäßig stattfindende Zusammenarbeit wurde im Zuge des um sich

greifenden „Qualitätsmanagements“ immer drängender mit der Forderung nach

Vorzeigbarkeit und Dokumentierbarkeit der Betreuungsarbeit konfrontiert. Während auf diese

Weise das Sichtbare und Handgreifliche zu Werten per se hochstilisiert wurden und werden,

kamen in unseren workshops grundsätzlich andere Dinge zur Sprache: Erlebnisse, die sich im

Innenraum der Phantasie abspielen. Sie werden von den Maßnahmen zum

Qualitätsmanagement oftmals nur verstellt, wenn der erzwungene Aktionismus nicht gar

verhindert, dass sie überhaupt noch wahrgenommen werden.

Die „Arbeit, die man nicht sieht“, wie ich sie zusammen mit der Gruppe genannt habe, ergibt

sich aus dem massiven, tief ins je Private eingreifenden emotionalen Affiziertsein, den

Gegenübertragungen, die in der Betreuungsarbeit entstehen. Sie stellen eine enorme

Belastung dar, wenn der reflektierende Umgang mit ihnen nicht ausdrücklich erlernt und

darüber hinaus als Arbeit benannt und anerkannt wird. Eine solche Anerkennung hat es

freilich kaum je gegeben, geschweige denn dass die pädagogischen und heilpädagogischen

Ausbildungen den Umgang mit der Gegenübertragung mehr als allenfalls beiläufig streiften.

In den letzten Jahren wird sie durch die Konzentration auf das Dokumentierbare der

Betreuungsarbeit ausdrücklich entzogen. Der Umgang mit Phantasien und Träumen ist von

1 Ich danke der Träumerin W. dafür, dass sie mir diese Traumerzählung aufgeschrieben hat, und ihr und dem

Team für die intensive und sehr lehrreiche Zusammenarbeit. Betreuerin K. danke ich für ihr Protokoll unserer

Fortbildung. Zu danken habe ich auch dem ersten Masters-Studiengang am Institut für Musiktherapie Hamburg,

für die eingehende und anregende Diskussion des Traumes. Wolfgang Leuschner verdanke ich wertvolle

Hinweise zum Traum und zur Literatur über das Träumen.

der Qualitätssicherung nicht vorgesehen. Das innere Erleben, die Gegenübertragung in der

Betreuungsarbeit, ist in steter Gefahr, als private Schwäche, ja als Fehler und Vergehen

diffamiert zu werden.

Aus der supervisorischen Zusammenarbeit (nicht nur) mit diesem Team entstand daher die

Vorstellung, dass es notwendig sei, für diese Arbeit eine Gegen-Öffentlichkeit herzustellen.

Wir hatten dies verschiedentlich angesprochen, und ich hatte in Aussicht gestellt, dass ich, als

einen Beitrag dazu, einen Aufsatz über die „Arbeit, die man nicht sieht“ schreiben wolle.

Diese Vorgeschichte steht nun mit der Entstehung des vorgestellten Traumes in engem

Zusammenhang. Ich hatte nämlich vorgeschlagen, mir Träume zu berichten, weil damit die

„Arbeit, die man nicht sieht“ in besonderer Weise sich zu erkennen geben könne. Auf diesen

Vorschlag hin war die erste Reaktion eine Verneinung: Die Gruppe konnte sich an keine

Träume über ihre Klienten erinnern. Zum nächsten workshop freilich wurde der hier

vorangestellte Traum berichtet.

Traumsymbolik und die kulturelle Dimension von Träumen

Eine Reise vom Alltag weg ins Fremde hat stattgefunden, in der Fremde ereignet sich das

Traumgeschehen. Etwas Befremdliches geschieht im Zimmer der Träumerin.

Es geht um „Sehen und Gesehenwerden“ – als Gesehenwerden der beiden, die auf dem

Doppelbett liegen, als Schauen der Träumerin und als Weg-Schauen der im Folgenden

auftretenden Traumpersonen.

Sodann betont der Traum die Zweizahl. Zweimal taucht im ersten Satz das Wort „fremd“ auf,

im weiteren Verlauf werden zwei (weibliche) Personen als „unbeteiligt“ beschrieben; zwei

Zimmer, Doppelbetten, auf einem davon liegen zwei Menschen miteinander im Gespräch;

zwei weitere Männer und zwei weitere Frauen treten auf, zwei Feuer entstehen; der Name

„K“ kommt zweimal vor.

Zwei unterschiedliche Szenarien werden dargestellt: Im einen ereignet sich etwas zwischen

zwei Personen, im anderen packt eine Person aus, es „entfacht eine Stichflamme“, es beginnt

das Bett, von selbst zu brennen, es kommen und gehen unterschiedliche Personen. Die beiden

Szenarien sind durch das Schauen der Träumerin aufeinander bezogen: eine

Urszenensituation – von hüben beobachtet eine ein Geschehen, das zwischen zweien drüben

stattfindet. Das beobachtete Geschehen präsentiert sich freilich wenig spektakulär als

pädagogisch-edukativer Alltag, während im Zimmer der Beobachtenden sich Dinge ereignen,

die deutlich aufs Sexuelle anspielen.

Der Traum liest sich wie ein Kompendium der Sexualsymbole, die von Freud in der

„Traumdeutung“ und noch einmal in der Nr. X der „Vorlesungen zur Einführung in die

Psychoanalyse“ aufgezählt werden.2 Mit den dort vorgeschlagenen Symbolübersetzungen

gelesen stehen die Zweizahl, die Zimmer, der Koffer für weibliche Genitalien, die besondere

Bekleidung, das Paar aus der höheren Kaste für die elterliche Urszene, die Stichflamme, der

Brand des Doppelbettes, das Ein und Aus der Personen im Zimmer der Träumerin für sexuelle

Erregung und Geschlechtsverkehr, der Koffer voller Wasser steht für den Inbegriff des

weiblich Kreativen. Demnach stellt uns der Traum – im ersten groben Überblick – die

Situation einer Urszenen-Beobachtung vor, die in der beobachtenden Traumperson zu

sexueller Erregung und eigener sexueller Betätigung führt.

Dass das Thema „Sehen und Gesehenwerden“, mit seiner Umkehrung in das

„Unbeteiligtsein“ der vier Personen im Zimmer der Träumerin, im Traum eine Rolle spielt,

verwundert nicht – es liegt darin eine direkte Bezugnahme auf die Übertragungssituation, aus

der heraus der Traum entstand – auf das Thema der „Arbeit, die man nicht sieht“. Und auch

die stattgefundene Reise verweist auf die Übertragung – nicht die Träumerin verreist

2 Ich verwende hier der Einfachheit halber den naiven Freudschen Begriff der Traumsymbolik. Die Diskussion

des Symbolbegriffs ist in der Psychoanalyse seither weit vorangeschritten, worauf ich im vorliegenden

Zusammenhang aber nicht eingehen werde.

allerdings, sondern ich werde zum workshop anreisen. Dieser Übertragungsaspekt, und die

jeweils damit verbundene Umkehrung ins Gegenteil, wird uns noch beschäftigen. Wenden wir

uns hier zunächst der Frage nach der Sexualsymbolik zu.

Freud räumte bekanntlich den Symboldeutungen wiederholt in seinem Denken einigen Platz

ein. Traumsymbole verweisen, so Freud, über das Individuelle des Traumvorgangs hinaus auf

ein Allgemeines, einen kulturellen Aspekt: „Das Gebiet der Symbolik ist ein ungemein

großes, die Traumsymbolik ist nur ein kleiner Teil davon; es ist nicht einmal zweckmäßig, das

ganze Problem vom Traum aus in Angriff zu nehmen. (....) Man bekommt den Eindruck, dass

hier eine alte, aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt, von welcher sich auf

verschiedenen Gebieten Verschiedenes erhalten hat, das eine nur hier, das andere nur dort, ein

drittes vielleicht in leicht veränderten Formen auf mehreren Gebieten. Ich muss hier der

Phantasie eines interessanten Geisteskranken gedenken, welcher eine ‚Grundsprache’

imaginiert hatte, von welcher all diese Symbolbeziehungen die Überreste wären.“

(Vorlesungen, W. 168f, Bd. XI) In der “Neuen Folge der Vorlesungen über Psychoanalyse”

betont Freud diesen kulturellen Aspekt der “Grundsprache” noch einmal: “Im manifesten

Inhalt der Träume kommen recht häufig Bilder und Situationen vor, die an bekannte Motive

aus Märchen, Sagen und Mythen erinnern. Die Deutung solcher Träume wirft dann ein Licht

auf die ursprünglichen Interessen, die diese Motive geschaffen haben“. (W.25, Bd. XV) Eine

“Grundsprache”, “ursprüngliche Interessen” – Freuds Diktion verweist hier auf etwas

Überindividuelles, auf ein Jenseits des Diskursiven, das sich über Traumsymbolik zur Geltung

bringe.

Freud hatte freilich durchaus Bedenken gegen die Verwendung von Symboldeutungen. Er sah

sie lediglich als letztes Mittel, wenn die Assoziationen verstummen. Diese Bedenken sind

nach Freud eher noch gewachsen. Fritz Morgenthaler (1990) erkennt in der

Symbolverwendung Anzeichen einer besonderen Art von Zensur im Traum: „Die

Umformung durch Symbole ist ein besonders raffinierter Eingriff der Traumzensur, um die

Bewegungen der ungerichteten Triebregungen des Es in eine Objektvorstellung

einzuschließen und zum Verschwinden zu bringen.“ (W.81). Diese Überlegung steht vor dem

Hintergrund von Morgenthalers Unterscheidung zwischen dem Sexuellen und der Sexualität.

Ersteres begreift er als Bewegung des Primärprozesses, die sich aller Ordnung und Festlegung

(auch der denotativen auf bestimmte Bedeutungen) entzieht, letztere als eine dem

Sekundärprozess folgende gesellschaftskonforme Ordnung der Objektwahl, der alles

Triebhafte unterworfen wird und die einen Wiederholungszwang konstituiert. Zur Illustration

beschreibt er in einer Metapher den Sekundärprozess als einen starr konstruierten Apparat, ein

Triebwerk, das die chaotisch-ungerichtete Bewegung des Primärprozesses auffängt und ihr

eine Richtung gibt.

Sexualsymbolik im Traum wird von Morgenthaler demnach als ein Moment dieses Trieb-

werks angesehen. Sie stellt sich der anarchischen Tendenz des Primärprozesses im Träumen

entgegen und bietet ihr ein gesellschaftskonformes Darstellungsmuster. Diese Auffassung

wird u.a. von der Beobachtung gestützt, dass die Traumsymbolik weitgehende

Gemeinsamkeiten mit den in der Umgangssprache üblichen Bildern für sexuelle Vorgänge

und Genitalien zeigt (vgl. Calvin Hall 1964). Die „besonders raffinierte“ Technik besteht

demnach darin, dass mit öffentlich verfügbaren, (wenn auch vielfach sozial verpönten)

Bildern eine Form geboten wird, in der das Anarchische des Primärprozesses gezähmten

Zugang zum Bewußtsein erhält. Die Bilder, die im Slang und in der Traumsymbolik

verwendet werden, entsprechen Phantasmen, in denen ein bestimmter Umgang mit dem

Sexuellen präformiert ist.

Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk trifft in ihrem Buch „Die unbewusste

Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum“ (1983) eine

Unterscheidung, die der Morgenthalers sehr nahe kommt. Von der „Dialektik der Aufklärung“

ausgehend unterscheidet Lenk zwei Seinsweisen, an denen die Menschen unserer Kultur

teilhaben, die zweckrationale und eine dieser entgegengesetzte, die Lenk als „mimetisch“

bezeichnet, und die ich im gegebenen Zusammenhang der Einfachheit halber mit dem

gleichsetzen will, was Morgenthaler das „Sexuelle“ nennt.3

Beide sind einander nicht kompatibel. Die zweckrationale entspricht dem, was Morgenthaler

als festgelegte, sekundärprozessgesteuerte Objektbezogenheit der Sexualität bezeichnet; sie

zielt auf einen stabilen Rahmen und gründet sich auf psychologischer Ebene auf die Einheit

des mit-sich-identischen „autonomen Subjekts“, auf sozialer Ebene unterwirft sie es den

Gesetzen der Ökonomie; das (von Lenk so genannte) „Mimetische“ hingegen ist – wie bei

Morgenthaler das „Sexuelle“ des Primärprozesses – dionysischen Charakters, ekstatisch,

zerstreuend, verschwendend, auflösend, identitäts-verwirrend; die Einheit des Subjekts wird

von ihm in Frage gestellt, bedroht. Träume sind, so die Autorin, neben Literatur und Kunst ein

Ort, in welchem dieses Grenzauflösende gegen den Hegemonialanspruch der

Zweckrationalität sich behauptet, wo also das, was im Zuge der Aufklärung auf der Strecke

bleibt, sich äußert.

Das Aufbegehren des „Mimetischen“ im Traum blieb, so Lenk, nicht unbemerkt. Die zu allen

Zeiten populären wohlfeilen Deutungsanleitungen und Traumbücher stehen in der Pflicht

eines Bemühens, auch da noch einen Rahmen der Zurechnungsfähigkeit einzurichten, wo das

„Mimetische“ sein Reservat hat. In solchen Traumbüchern wurden Traumsymbole notiert und

gemäß einem Code festgelegter Bedeutungen interpretiert. Diese Bedeutungszuschreibungen

entspringen nach Lenk einem Bedürfnis, das sich im Traum zeigende „Mimetische“, dessen

Beweglichkeit und Unfaßbarkeit, auf eine festgelegte Ordnung zu verpflichten.

Nun sind nicht nur die schon von Freud selbst ambivalent gesehenen Symboldeutungen Lenk

Anlass zu Kritik. Sie kritisiert darüberhinaus die Traumdeutung Freuds insgesamt als einen

Versuch, das Unbotmäßige des Traumes auf die Eindeutigkeit einer Kausalreihe festzulegen.

Dazu wird das Gebilde selbst – so ihre Kritik – zerpflückt, zerlegt, rationalisiert, ohne

Rücksicht auf seine sinnlich-ästhetischen Qualitäten. Freuds Zurückführung aller Träume auf

eine quasi-kausale Ordnung mit dem Ausgangspunkt des unbewussten Wunsches entspringt

nach Lenk dem Bedürfnis, die Oberherrschaft des Sekundärprozesses gegen das

„Mimetische“ zu sichern. Die Traumdeutung ziele auf eine Einheit des Subjekts, anstelle der

verwirrenden Vielfalt der Rollen, die sich im Traum abspiele; der, die Träumende solle durch

die Traumanalyse diese Vielfalt seiner Identität unterwerfen, sich als AutorIn des

unbewussten Wunsches identifizieren, statt sich der dionysischen Tendenz, der „gewaltlosen

Synthesis des Zerstreuten“ (Adorno 1970, S.215) anheimzugeben, die im Traum zum

Ausdruck komme.

Lenks Kritik legt den Finger auf eine Wunde: auf die unaufgelöste immanente

Widersprüchlichkeit im psychoanalytischen Denken, das die erzwungene Einheit des

Subjekts, Identitätszwang und Subjekt-Objekt-Trennung als latent gewaltvoll entlarvt,

während es zugleich sich auf die Demarkationslinie der Subjekt-Objekt-Trennung in seinen

Begriffen noch immer stützt. Indem aber Lenk einseitig das Affirmative der Freudschen

Theorie ankreidet, gerät ihr die andere Seite aus dem Blick. Schon Freud warnt ja vor der

vorschnellen Virtuosität des Symboldeutens. In der Möglichkeit von Symboldeutungen liege

eine Verführung zu exhibitionistischer Selbstgefälligkeit. „Ein solches Kunststück

schmeichelt dem Traumdeuter und imponiert dem Träumer“, so heißt es in Vorlesung X. Dies

sei nicht Sinn der Psychoanalyse: „Lassen Sie sich aber hierdurch nicht verführen. Es ist nicht

unsere Aufgabe, Kunststücke zu machen.“ (S.152, Bd. XI).

Freud erkennt also eine Gefahr in der Anwendung der Traumsymbolik. Sie bietet die

Möglichkeit, sich selbst virtuos deutend in Szene zu setzen. Traumdeutung kann auf diese

Weise in einen Akt von Exhibitionismus gewendet werden. Überhaupt liegt bei der

Auseinandersetzung mit Träumen – und dies gilt in besonderer Weise bei

3 Diese Gleichsetzung ist vorschnell und dient der Vermeidung einer Diskussion des mir problematisch

erscheinenden Begriffsgebrauchs von Lenk, die im hier gegebenen Kontext aber zu weit führen würde.

Gegenübertragungsträumen – die Thematik von Exhibitionismus und Voyeurismus nahe, als

sexualisierte Varianten des Themas „Sehen und gesehen Werden“, welches nicht umsonst im

vorangestellten Traum betont wird. Masochistisch-exhibitionistische Selbstzerfleischung auf

Seiten des Träumers, der Träumerin und voyeuristische Häme auf der deutenden Seite sind

den Umgang mit Träumen ständig begleitende Gefahren. Was sorgt für die hurtige

Übersprungsreaktion, mit der solche zu bezeugenden inneren Wirklichkeiten der Regie einer

Sexualitätsordnung unterworfen werden können? Was sorgt dafür, dass der Voyeurismus das

Schauen sexualisiert und in den Mittelpunkt rückt, anstelle des Gesehenen; dass der

Exhibitionismus das Schauen des Anderen funktionalisiert, statt sich ihm hinzugeben?

Voyeurismus bannt die Gefahr, die von dem „Mimetischen“, oder spezifischer: vom

Ekstatisch-Sexuellen4 ausgeht, als Haltung des hämischen Beobachtens eines Ausgleitens,

eines Versagens vor der Forderung nach Autonomie und Zurechnungsfähigkeit;

Exhibitionismus kann als ein Versuch verstanden werden, durch zwanghaftes Sich-

Präsentieren eine Identität gegen deren bedrohliches Zerfallen zu erzwingen.

Freud war, als er die Traumdeutung schrieb, die Gefahr von voyeuristischer Abwehr und

deren exhibitionistischem Gegenstück durchaus gegenwärtig. In seiner Analyse des Irma-

Traums – jenem ersten uns bekannten Gegenübertragungstraum der psychoanalytischen

Literatur – kommen eine Menge kleine Niederträchtigkeiten zutage. Freud berichtet diese

nicht in exhibitionistischer Absicht; vielmehr geht es ihm darum, zu diesen

Niederträchtigkeiten „ich“ zu sagen. Dies ist etwas anderes als der Hegemonialanspruch des

Subjekts, vor dem Lenk zu Recht warnt: Es geht nicht um Beherrschung und Kontrolle,

sondern um die Übernahme von Verantwortung. Was passieren kann, wenn kein „ich“ die

Verantwortlichkeit für das im Traum zum Ausdruck Kommende übernimmt, hat die

Geschichte immer wieder demonstriert. Das Mimetische, das Lenk zu idealisieren tendiert,

oder mit Morgenthaler: das Sexuelle, wird da, wo niemand bereit ist, „ich“ zu sagen, ihm sein

„ich“ zu leihen, zum beängstigend Fremden, wird potentiell destruktiv. Als Entfremdetes

muss es in Reservate verbannt, projiziert werden. Projektionsfiguren lassen sich immer

finden. An ihnen wird dann die Ausrottung des Projizierten vollzogen – und paradoxerweise

wird das entfremdete Triebhafte im Bemühen, sich seiner zu entledigen, zugleich allzu häufig

auf destruktive Weise in Aktion gesetzt. Auch hierauf verweist uns der vorangestellte Traum

mit seiner Betonung des Fremden und Befremdlichen.

Die Aufgabe psychoanalytischer Traumdeutung wird es also sein, diese Projektionen

aufzuheben und eine immer wieder vom Scheitern bedrohte, fragile und verletzliche

individuelle Verantwortlichkeit zu suchen, mit der dem Menschlichen in seiner Schwäche

Raum gegeben werden kann. Es steht dann am Schluß einer Traumdeutung, die sich dieses

Ziels innebleibt, nicht ein triumphierendes „hab ich dich erwischt“, nicht projektiv-

voyeuristische Häme, und auch nicht masochistisch-exhibitionistische Selbstzerfleischung,

vielmehr ein die Scham überwindendes „nichts Menschliches ist mir fremd“.

Wichtig an der Kritik Lenks ist, dass sie den kulturellen Aspekt des Träumens hervorhebt und

den Traum gegen eine Tendenz zur Privatisierung verteidigt, die dem Freudschen Denken in

der Tat innewohnt. Damit eröffnet sie den Blick auf etwas, was Freud in seinen Überlegungen

zur Traumsymbolik zu ahnen scheint: In der Traumsymbolik bringen sich Phantasmen zu

Geltung, zwingen – zensierend, präformierend – das Anarchische des Träumens immer schon

unter ihre Kontrolle. In der Traumzensur allgemein, insbesondere jedoch in der

Traumsymbolik wird deutlich, dass der Traum selbst schon, und nicht erst seine Deutung

vergesellschaftet ist.

Die Traumzensur ist bekanntlich doppelgesichtig: Indem sie verbirgt, macht sie auf das

Verborgene aufmerksam. Sie schränkt die Bewegung des Primärprozesses ein und an ihrem

4 Die Bedeutung des Terminus „Mimesis“ ist vielschichtig und wird im Rahmen der hier vorgelegten

Untersuchung nicht weiter ausgelotet werden. Ich ziehe es daher vor, im Folgenden die Morgenthalersche

Terminologie zu verwenden, die spezifischer auf das paßt, worum es hier geht.

Resultat lässt – in einer Umkehrung ins Gegenteil – sich ablesen, welche Kräfte da hemmend

einwirken. Dies gilt in besonderem Maße für die Traumsymbolik. Sie gießt das Anarchische

des Primärprozesses in phantasmatische Gebilde und macht so das Phantasma in seinem

Wirken sichtbar.

Somit rückt Lenks Kritik einen Aspekt des Träumens in den Blickpunkt, der von besonderer

Wichtigkeit ist, wenn es um Gegenübertragungsträume geht: Überschreiten diese doch ganz

ausdrücklich das je Private. Gegenübertragungsträume sind nichts Anderes als gewöhnliche

Träume – Freud etwa hat seinen Irma-Traum nicht in Bezug auf seine Gegenübertragung,

sondern als seinen privaten Traum analysiert. Gegenübertragungsträume werden jedoch aus

anderer Perspektive gelesen. Sie werden zur Erkenntnis eines Fremdpsychischen

herangezogen und damit in ihrer das je Private überschreitenden Dimension anerkannt.

Der soziale Kontext: Institutionelle Gegenübertragung

„In jedem Einzelnen muss die gesamte Gesellschaft mitsamt ihren Regeln präsent sein, damit

sie funktionieren kann, da aber jedes Individuum doppelt ist, da es an zwei Zuständen

partizipiert, da es eine Dimension mehr hat als die flächige Gesellschaft, bleibt es der ewige

Unsicherheitsfaktor. Stabile Gewohnheiten sollen dies kompensieren; und für den Ernstfall

hat man eben das zurechnungsfähige Subjekt geschaffen als Bollwerk gegen die fundamentale

Unsicherheit.“ (Lenk, S.25)

Wie ich andernorts (1989) gezeigt habe, stellen geistig Behinderte einen solchen „Ernstfall“ –

vielleicht den Ernstfall par excellence – dar. Sie sind gewissermaßen der verkörperte

Unsicherheitsfaktor; in sie wird das Unzurechnungsfähige, der Rest, der dem zweckrationalen

Kalkül sich nicht fügt, projiziert, in ihnen kann es manipuliert werden. Mit vielfachen

Veranstaltungen (den Organisatoren des „Geistig-Behindert-Werdens“; vgl. a.a.O.) ist in der

Gesellschaft dafür Sorge getragen, dass die Betroffenen sich in diese Rolle einfinden, und

dass damit zugleich das von ihnen verkörperte Unzurechnungsfähige unter Kontrolle gebracht

wird. Entscheidender Faktor bei diesem Geschehen ist das, was ich, im Anschluß an Maud

Mannoni (1982) und Mario Erdheim (1982), die gesellschaftlichen Phantasmen des Geistig-

Behindert-Werdens genannt habe.5

Phantasmen können mit Ernst Boesch (1976) definiert werden als „Bezugssysteme,

übergreifende Kategorien also, denen Einzelsituationen und Objekte wahrnehmend und

vorstellend zugeordnet werden.“ Diese Bezugssysteme sind „funktionaler Art, sie definieren

unsere Handlungspotenz gegenüber bestimmten Situationen“ (S.293) in Form von

„übergreifende(n), im Einzelnen unspezifizierte(n) Tendenzen der Bewertung und

Handlungsregulation.“ (S. 297) Dies gilt auch für die in der „Institution Geistigbehindertsein“

virulenten Phantasmen. Die Steuerung durch Phantasmen geschieht subtil und ist nicht auf

den ersten Blick ersichtlich. Auf ihrer Grundlage prägen sich spezifische Gegenübertragungen

aus, die sich als private Reaktionen und Phantasien verkleiden und die überindividuelle

Konfiguration verschleiern. Ich nenne sie die „institutionelle Gegenübertragung“.

Im psychoanalytischen Setting kann, wie wir heute wissen, die Wahrnehmung der

Gegenübertragung zum Instrument der Erkenntnis werden. Dass dies auch weit darüber

hinaus möglich ist, hat Georges Devereux in „Angst und Methode in den

Humanwissenschaften“ (1973) anhand reichhaltiger Beobachtung dargestellt. Jeder

Arbeitsgegenstand löst affektive Reaktionen aus, und es kann auch jenseits der Couch zu

entscheidenden Erkenntnissen führen, wenn diese affektiven Reaktionen reflektiert werden.

Gegenübertragung ist ebensowenig rein privater Natur wie die Zensur im Traum. Aus dem

5 Johannes Picht machte mich darauf aufmerksam, dass meine Verwendung des Subjekt-Begriffs eine Unschärfe

enthält – einerseits verwende ich ihn für das Subjekt, das einem Auflösenden, Dionysischen sein Identischsein

entgegensetzt, andererseits für das Subjekt als Individuum, das in seinem Nichtidentischen der (projektiv)

identifizierenden Gesellschaft gegenübersteht. Inwiefern diese Unschärfe sich in der Sache gründet, kann ich

hier nicht entscheiden. Weitere Überlegungen müssen sich anschließen.

Mythos des Privaten befreit und als gesellschaftlich/kulturell bestimmtes Phänomen begriffen,

kann sie zu Erkenntnissen über die Mechanismen der gesellschaftlichen Produktion des

Unbewussten führen.

Die institutionelle Gegenübertragung, die speziell in der Arbeit mit geistig Behinderten sich

Geltung verschafft, ist von den Phantasmen des „Geistigbehindertseins“ gesteuert und

unterwirft das individuelle Handeln deren Gesetzmäßigkeiten. Wie ich in „Namenlos“

dargestellt habe, sorgt die Virulenz von Phantasmen in der Betreuungsarbeit dafür, dass sich

dyadische Konfrontationen konstellieren. In solchen Beziehungskonstellationen sind

Betreuende und Betreute in einer Weise unmittelbar aufeinander fixiert, die alles Dritte

ausschließt und systematisch der Wahrnehmung entzieht. Gesten und Handlungen des

Gegenübers werden nicht mehr auf ihren Bedeutungsgehalt hin wahrgenommen, sondern

stehen zueinander in einem Reiz-Reaktions-Zirkel.

Der vorangestellte Traum nimmt die Konstellation der dyadischen Konfrontation auf und

thematisiert sie, indem er das Ausschließen des Dritten in Szene setzt. Die Träumerin

beobachtet zwei, die drüben miteinander im Bett liegen: eine – eigentlich – eindeutige

Situation; im manifesten Text jedoch ist alles Erregende, Sexuelle, aus der beobachteten

Szene ausgeblendet. Auf dem Doppelbett liegend sind zwei damit beschäftigt, sich über

alltägliche Betreuungsfragen zu unterhalten. Sie sind in indischer Manier vornehm bekleidet

und gehören offenbar einer höheren Kaste an. Die Bedeutung des Miteinander auf dem Bett

Liegens ist in diesem Geschehen ins Gegenteil umgekehrt und damit der Wahrnehmung

entzogen – es geht nicht etwa um Nacktheit, Unterleib, niedere Triebe, vielmehr um

Zugehörigkeit zur „höheren Kaste“, um Schuheputzen „oben“ auf der Straße6.

Hüben im Zimmer der Träumerin scheint das Ausgeschlossene seinen Platz zu finden: Ein

lebhaftes Treiben, ein Ein- und Ausgehen verschiedener Personen findet statt, eine

Stichflamme „entfacht aus der Ritze“, ja das Bett gerät – am Fußende – in Brand. Während

also die beiden miteinander auf dem Bett Liegenden sich auf eine desexualisierte Weise

aufeinander beziehen, verlagert sich das Sexuelle ins Abseits, ins Nebenzimmer, und versetzt

die Träumerin „in große Aufregung“.

Aber auch hier noch setzt sich die Tendenz, das Erregende auszuschließen, fort. Was

geschieht, bezieht sich wiederum ausdrücklich nicht auf diese Erregung, die doch eine

Antwort sucht. Die Beziehungslosigkeit ist auf unterschiedlichen Ebenen dargestellt – in

direkter Handlung, die so tut, als sei nichts los; als der home-trainer, ein Gerät, das zum

Löschen eines Feuers denkbar ungeeignet ist, während es zu monoton-ungerichteter

Bewegung anleitet; als das „Abwesend-“ und „Unbeteiligtsein“ von K. und E., als die

Selbstgespräche von G., schließlich als das Feuer, symbolische Darstellung sexueller

Erregung, das völlig beziehungslos zustande kommt, für dessen Entstehen niemand

verantwortlich zu sein scheint. Auch sprachlich wird diese Beziehungslosigkeit unterstrichen:

Die Träumerin übertritt hier in ihrer Traumerzählung auf bezeichnende Weise eine

grammatikalische Regel: „Plötzlich entfacht eine Stichflamme“ – das transitive Verb

„entfachen“ wird zum Intransitivum.

Bei Beachtung einer latenten, metaphorischen Bedeutungsebene lässt sich schon im ersten

Zimmer das Thema einer masturbatorischen Kanalisierung und Entschärfung von Sexuellem

erschließen. In eine Sonderstellung versetzt der manifeste Trauminhalt die Figur von P. Er

und Betreuerin K. sind die einzigen, die einen Beziehungsaspekt darstellen, indem sie

zusammen auf dem Bett liegen. P. erhält freilich, wiederum umgekehrt ins Gegenteil, eine

Anleitung zum autonom Werden durch Schuheputzen, eine Anleitung also zum „Wichsen“ –

Betreuungsarbeit als Anleitung zur Onanie. Im Zimmer der Träumerin findet das Sexuelle

direktere, symbolische Darstellungen. Auch sie stellen es phantasmatisch fest, indem sie es zu

einer beziehungslosen, rein masturbatorischen Sexualität erstarren lassen: ein hometrainer auf

6 Wobei das Schuheputzen wiederum eine niedere Dienstleistung ist, die der höheren Kaste angeboten wird.

dem Doppelbett, Fingerreiben, eine Zigarette Rauchen, „Selbstgespräche über

Unternehmungen“ im Gang, im „Vorhof“ sozusagen. Der Beziehungsaspekt kommt im

Zimmer der Träumerin als „unbeteiligtes“ Aus- und Ein zum Ausdruck, als Bewegung, die zu

nichts führt, als Flamme, die von sich aus entfacht. Es ist, als wolle der Traum grell

herausstreichen: „Es entfacht“, aber wir „haben nichts (sexuelles) miteinander.“

Die Anknüpfung an die betreuerische Realität ist hier eindeutig: Eine Anleitung zur Onanie

findet in der Arbeit mit P. tatsächlich statt.

P. ist manifest pädophil. Seine Pädophilie wird vom Team wie eine tickende Zeitbombe

erlebt. Auf Anraten der psychiatrischen Administration soll er dazu ermutigt werden, zu

onanieren, um seinen potentiell gefährlichen Trieb zu erschöpfen. Dies tut er ausgiebig –

allerdings nicht zurückgezogen in seinem Zimmer, sondern sich massiv exhibierend. Mit

erigiertem Penis präsentiert er sich nackt in der WG, lässt die Tür zu seinem Zimmer

sperrangelweit offen, wenn er onanierend auf dem Bett liegt, oder er lehnt sie nur leicht

an, um Anklopfende dann ausdrücklich zum Hereinkommen aufzufordern. Entsetzt sind

die Teammitglieder von der Haltung, die er auf dem Bett beim Onanieren einnimmt – sie

beschreiben sie als die eines hilflos mit angezogenen Beinen auf dem Rücken liegenden

Säuglings.

Der latente Traumgedanke sagt also das Gegenteil von dem, was der manifeste Traum

vorführt: Hier findet in der Tat etwas Sexuelles statt. Wenn wir die Zeitbombe P. entschärfen

sollen, müssen wir unseren Voyeurismus aktivieren, wir müssen ihn scharf beobachten. Was

wir zu sehen bekommen, erfüllt uns mit erregtem Entsetzen. Was „wir miteinander haben“, ist

diese ständige Erregung, die unter der Oberfläche der ordentlichen Betreuungsarbeit das

Team ergriffen hält. Sie ist als exhibitionistische Provokation von P. in Szene gesetzt und auf

Seiten des Teams als Abwehr voyeuristischer Geilheit kanalisiert.

In einer ersten Intervention sprach ich an dieser Stelle an, dass die Betreuenden es offenbar

als unvermeidbare Begleiterscheinung der Arbeit ansehen, ihren Unterleib anästhetisieren zu

müssen – eine Intervention, die das bisher sehr stockende Gespräch ein wenig in Fluss

bringen konnte.

Ein Pandämonium der sexuellen Festschreibungen, personifiziert in A., K., E. und G., defiliert

im Traum und präsentiert die Phantasmen, die der Stillstellung des „wir haben etwas

miteinander“ dienen:

A. war zweimal rechtskräftig wegen versuchter Vergewaltigung verurteilt, aber als leicht

geistig Behinderter wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zunächst in der Psychiatrie,

statt im Gefängnis untergebracht. Seither wird er, zur Drosselung und Kanalisierung

seines Triebes, einer Hormonbehandlung unterzogen. In letzter Zeit äußert er des Öfteren

und mit zunehmender Dringlichkeit das Verlangen, die Medikation absetzen zu können.

Auch verlangt er, eine Prostituierte aufsuchen zu dürfen.

K. ist schwer geistig behindert. Sie verbringt ihre Tage damit, als eine Art alternde Lolita

tänzelnd „ihre Runden zu drehen“ und „an den Fingern zu reiben“. Auffällig ist, dass ihre

Mutter K. an Besuchs-Wochenenden regelmäßig auf eine entstellende Art und Weise

kleidete und frisierte, also dafür sorgte, dass K. unattraktiv und in betonter Weise

behindert aussah.7 K.s Mutter hat sich auch wiederholt darüber beklagt, K.s wegen ihren

Mann (den Vater K.s) und dann auch ihren Partner verloren zu haben und so ihres

Lebensglückes beraubt zu sein. In vorangegangenen workshops hatte sich der Verdacht

aufgedrängt, dass die Beziehung der Mutter zu ihrem Freund gescheitert sein könnte, weil

K. ihn verführt haben bzw. von ihm mißbraucht worden sein könnte.

E. ist psychotisch, leicht geistig behindert und potentiell gewalttätig. Sie bewohnt eine

eigene kleine Wohnung im Obergeschoß, in die sie sich oft zurückzieht, und wenn man in

7 Die Arbeit des Teams hat dazu geführt, dass diese Verkleidungsaktionen, die regelmäßig zu schweren

Verstimmungszuständen bei K. geführt hatten, aufhörten.

ihr Zimmer eindringt, was die Arbeit gelegentlich erforderlich macht, kann sie mit

massiven Drohungen und körperlichen Angriffen reagieren. Einer permanenten

Übererregung sucht sie durch süchtiges Rauchen mächtig zu werden, dem die

Triebhaftigkeit deutlich anzusehen ist. Das Team ist gehalten, ihren Zigarettenkonsum

streng zu rationieren, ihr also die Ersatzbefriedigung zu versagen, was aufgrund der

latenten Gewalttätigkeit E.s, vor der alle Angst haben, nicht leicht ist.

G. gehört wie K. zu den schwerer geistig behinderten Bewohnern der Gruppe. Er spricht

wenige Sätze, und zwar mit der aufreizend hohen Stimme eines Kastraten. Seine üblichen

Selbstgespräche drehen sich immer wieder um seinen Penis, den er „die Pfeife“ nennt:

„Du sollst die Pfeife nicht anfassen!....“ Er hat in unseren Supervisionssitzungen nie einen

eigenen Raum erhalten, weil er eben „keine Probleme macht“ (wobei es dem Team

durchaus bewusst ist, dass genau dies sein Problem ist). Und so bleibt er auch im Traum

„außen vor“.

Wir können aus diesen Darstellungen, geradezu grotesk überzeichnet, Phantasmen der

männlichen und der weiblichen Sexualität herauslesen: Hie der vergewaltigende Mann, dort

„dumm-fickt-gut“, die alternde Lolita, hie die männermordende Mänade, dort der verblödete

Kastrat: Dämonisierung des Sexuellen vs. Sexuelle Dummheit und „Unschuld“, jeweils in

männlicher und weiblicher Version. Die Frage, warum sich die realen Personen zu solchen

karikierenden Überzeichnungen tatsächlich anbieten, kann hier nicht verfolgt werden. Unsere

Frage geht dahin, zu ergründen, was der Traum uns über das „wir haben etwas miteinander“

noch weiter mitteilen kann.

Urszene

Das manifeste Geschehen im Traum zeichnet die situative Struktur einer Urszene nach.

Entsprechend finden sich auch im assoziativen Material, das den Traumbericht begleitet,

situative Aspekte eines Urszenengeschehens. Vor dem Traumbericht waren im workshop

zwei weitere Konstellationen des Urszenen-Themas berichtet worden, die sich als

Assoziationen auf den Traum beziehen lassen:

Die Situation einer Bewohnerin wurde als ein klaglos ertragenes Abgeschoben- und

Ausgeschlossenwerden beschrieben. Die Eltern der jungen Frau leben seit Langem

getrennt. Zu ihrem Vater hat sie nur Kontakt, weil sie ihn von sich aus anruft, und er ist

immer, deutlich schuldbewusst und zugleich ungeduldig, bemüht, das Telefonat schnell

hinter sich zu bringen; die Mutter holt sie gelegentlich zu Unternehmungen ab, aber auch

hier entsteht das Gefühl, dass weniger wirkliche Affektion, als irgendein Pflichtgefühl

dazu den Anlass gibt. Anläßlich ihres jüngsten Anrufes beim Vater fragte dieser die junge

Frau, ob sie eigentlich wisse, dass ihre Mutter demnächst neu heiraten werde. Sie wußte es

in der Tat nicht; als sie die Mutter darauf ansprach, erfuhr sie, dass sie zu dieser Hochzeit

ausdrücklich nicht eingeladen sei. Auf diese Zumutungen reagierte die junge Frau nicht

etwa mit Empörung; vielmehr nahm sie des Vaters Methode, seine Schuldgefühle auf die

Mutter abzuschieben; nahm sie insbesondere den Ausschluss von Mutters Hochzeit

klaglos hin mit der Erklärung: Die Mutter habe recht, sie werde von diesem Fest ja

„sowieso nichts haben“. Die von den Eltern betriebene Delegation von Schuldgefühlen –

der Vater „entschuldigt“ sein Desinteresse, indem er die Mutter vorschiebt, die Mutter

„entschuldigt“ ihr Abschieben der Tochter mit deren „naturgemäßer“ Unfähigkeit, eine

solche festliche Situation zu begreifen – wird von der Betreuerin K., die in einem

Rollenspiel während des workshops die Rolle der jungen Frau übernommen hat,

beschrieben als das Empfinden: „Alle putzen sich an mir die Schuldgefühle ab“.

Es wurde die Möglichkeit der Beziehungen der Bewohner untereinander thematisiert.

Dabei kam zur Sprache, dass sich in der WG eine Paarbildung ergeben hat. Zwei schwer

geistig behinderte WG-Bewohner sind ein Liebespaar geworden. Ich selbst hatte sie am

Vortag erlebt, wie sie beieinander saßen, miteinander in eigenartige, von mir als zärtlich-

lustvoll empfundene Tändeleien vertieft. Ich war erfreut und beeindruckt, weil ich den

Eindruck hatte, dass hier die gute Arbeit des Teams Früchte trug, indem sie etwas so

Schönes ermöglichte. Es stellte sich freilich heraus, dass diese Beziehung ganz anders

wahrgenommen wurde: Das Team war von Sorge erfüllt. Die Frage wurde gestellt, ob der

Mann des Paares nicht übergriffig sei, ob er seiner Freundin nicht weh tue, wenn er ihr mit

der flachen Hand auf Bauch oder Brust schlage. Sie wehre sich doch ohnehin nie, und

man wisse nie so genau, was ihr recht sei und was nicht. Es wurde berichtet, dass die Frau

des Paares einmal von den Nasenstübern, die für beide miteinander offenbar ein Substitut

fürs Küssen darstellen, Nasenbluten bekommen habe. Sie sei blutüberströmt gewesen,

zum großen Schrecken der anwesenden Betreuerin, die hätte eingreifen müssen.8 Es steht

die Frage unausgesprochen im Raum, ob man nicht nachts dafür sorgen müsse, dass die

Frau vor des Mannes Übergriffen geschützt sei.

Diese beiden Szenen – sie werden hier nicht in ihren je eigenen Implikationen verfolgt – sind

als Assoziationen im Kontext der Traumerzählung bedeutungsvoll, denn sie verweisen auf

einen Zusammenhang zwischen geistiger Behinderung und Urszene, der die Inhalte des

Traumes zentral bestimmt.

Wie ich in „Versuch über das Okkulte“ (2001) dargestellt habe, ist die Verarbeitung der

Urszene wesentliches Moment der Subjektkonstituierung. Die Urszenensituation besteht

darin, dass ein erregtes Geschehen meist zwischen zwei Beteiligten beobachtet (oder

phantasiert) wird, an welchem der/die Beobachtende in bestimmter Weise teilhat. Die

Verarbeitung der damit verbundenen Erregungen wird zur wesentlichen Grundlegung des

sekundärprozessgebundenen Denkens.

Diese Verarbeitung fällt je kulturell unterschiedlich aus9. In der für unsere Kultur typischen

Verarbeitungsweise wird der Sekundärprozess und mit ihm das Denken in der Subjekt-

Objekt-Trennung eingerichtet. Die beobachtende Teilhabe des Kindes an der elterlichen

Urszene wird als Situation des Ausgeschlossenseins verarbeitet. Inzestverbot und

Kastrationsdrohung spielen dabei eine wesentliche Rolle, insofern eine identifikatorische

Teilhabe als Inzestvergehen interpretiert und vermittels der Kastrationsdrohung ein Ertragen

des Ausgeschlossenseins erzwungen wird. Das Destruktive der Drohung hinterlässt im

Resultat der Verarbeitung deutliche Spuren.

Typischerweise wird aus einem (masturbatorisch umgesetzten) „ich-kann-allein“ auf

metaphorischer Ebene die „dritte Position“ – und zwar als eine Position des „Ich-denke“.

Dieses „Ich-denke“ findet nun, metaphorisch übersetzt, den Weg zurück, insofern es sich

selbst aus der Ausgeschlossenheit heraus identifikatorisch als Subjekt der Urszene bestimmt,

das Gegenüber als das Objekt, über welches es als Subjekt der Urszene qua Prädikat verfügt.

Vermittels säuberlicher grammatikalischer Trennung wird so das Ekstatische dingfest

gemacht, wird identifikatorisch die Subjektrolle als aktives Bestimmen, und davon durch

einen Hiatus getrennt die Objektrolle als passives Bestimmtsein festgeschrieben. Dergestalt

begründet sich die von Morgenthaler benannte, im Sekundärprozess festgelegte Sexualität,

begründet sich das „zurechnungsfähige“ „autonome Subjekt“, auf das Lenk im

Zusammenhang ihrer Kritik an Freuds Methode der Traumdeutung rekurriert.

Unter der Herrschaft dieser kulturtypischen Verarbeitungsform des Urszenenerlebens ist das

Ekstatische in seiner grenzauflösenden Macht tendenziell nur noch als Verfügungsgewalt des

Subjekts über das Objekt denkbar – zugespitzt zur Gewalt eines (i.d.R. männlichen) Täter-

8 Dies liest sich als Verschiebung von unten nach oben: eine Entjungferungsphantasie. Der

Verschiebungsmechanismus und die Thematik unten-oben können in der hier vorgestellten Deutung nur

beiläufig thematisiert werden. 9 In meinen in 2001 angestellten Überlegungen habe ich die Kulturspezifität der dort beschriebenen

Verarbeitungsform noch nicht hinreichend deutlich gemacht. Der hier gegebene Zusammenhang ermöglicht es

mir, dies nachzuholen.

Subjekts über sein (weibliches) Opfer-Objekt. Exemplarisch dafür sind die Phantasien,

welche von der Liebesbeziehung der beiden schwer geistig behinderten WG-Bewohner im

Team angeregt werden.

Die Figur des „autonomen Subjekts“ begründet mit ihrem Identitätszwang eine Figur des

Ausschließens: Alles, was sich den Zwängen der Zurechnungsfähigkeit, des mit sich

identischen Subjekts, nicht fügt, wird als Abweichung, Perversion, Minderwertigkeit

gekennzeichnet und in entsprechend zugerichtete Objekte projiziert. In Gestalt der Verfügung

über diese Objekte kann es dem Identitätszwang doch noch unterworfen werden.

Der hier vorgestellte Traum bietet sich ausdrücklich an, im Lichte der Problematik des

„autonomen Subjekts“ gelesen zu werden. In mancherlei Hinsicht ist darin dessen

Identitätszwang und die dazugehörige Ausschlussfigur thematisiert. Deren Grundlegung ist

darin in der für unsere Kultur spezifischen Verarbeitung des Urszenen-Erlebens schon vom

manifesten Text dargestellt: Die Träumerin beobachtet vom Nebenzimmer, wie K., mit P. auf

dem Doppelbett liegend, diesem erläutert, wie er „für sich selbst sorgen“, also sozusagen

„autonomes Subjekt“ werden solle.

Insofern Subjekt-Autonomie in intellektueller Verfügung über das Objekt gründet, sind

diejenigen, denen eine intellektuelle Potenz weniger oder gar nicht zu Verfügung steht, per se

ausgeschlossen, sind sie Projektionsobjekte par excellence für das Ausgeschlossene. Der

Traum führt vor, in welcher Weise die Projektionen durch Phantasmen kanalisiert werden,

indem er im bzw. vor dem Zimmer der Träumerin die allegorischen Gestalten von A. dem

Vergewaltiger, K. der Lolita, E. der Mänade und G. dem Kastraten defilieren lässt. Der

Zusammenhang von Dummheit und Kastration wird schon von Karl Landauer (1929) als eine

phantasmatische Konfiguration beschrieben, und der Traum streicht auch die Gegenposition

des „harmlos Dummen“, das Phantasma vom unkontrollierbar monströsen, dämonisch

Sexuellen, heraus. Der Satz „alle putzen sich an mir die Schuldgefühle ab“, der von K. in der

Rolle der Bewohnerin, die sie während des workshops in einem Rollenspiel angenommen

hatte, ausgesprochen wird, fasst diese Projektionsfigur in ihrer Doppelgesichtigkeit

zusammen: „Ich bin Fußabtreter für alles Monströse, Dämonisch-Sexuelle, von dem ich doch,

dumm und kastriert wie ich bin, gar nichts weiß.“

Der in P. verkörperte Traumgedanke lässt sich auf vielschichtige Weise interpretieren.

Zunächst steht das Pädophile für ein totalitäres Verfügen über das Sexualobjekt (das zugleich

der Identifikation dient). Im Traum ist es doppelt angedeutet: zum Einen in Gestalt von P.

selbst, zum Andern jedoch auch in der Situation von K. und P. auf dem Doppelbett. Ein realer

sexueller Akt zwischen Betreuerin und Betreutem würde wohl einer quasi-inzestuösen

Ausnutzung von Abhängigkeit gleichkommen, phantasmatisch ausgedrückt einer „Unzucht

mit Abhängigen“. Aber auch die im Traum von P. repräsentierten perversen

Interaktionsformen von Exhibitionismus und Voyeurismus werden – wie wir bereits weiter

oben erkannten – der Petrifizierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses dienstbar gemacht,

insofern sie zur sexualisierenden Selbstvergewisserung bzw. zur projektiv identifizierenden

Häme verwendet werden.

Von Bedeutung ist auch noch eine Doppeldeutigkeit in der Anweisung, die P. von K. erhält:

P. soll „wichsen“, bzw. er soll „oben auf der Straße“ Schuhe putzen, also „niedere Dienste“

anbieten. Damit wird angedeutet, dass das „Wichsen“ auch in der Phantasie der BetreuerInnen

eben doch nicht nur einsames Tun P.s ist – dass es eine erregende Wirkung hat, dass es auf

die „Schuhe“ (die für das weibliche Genital stehen können) einwirkt. Auch wird darin noch

einmal die Hierarchie von oben und unten betont, die das Subjekt-Objekt-Verhältnis

bestimmt.

Vom manifesten und latenten Gehalt des Traumes wird uns also ein Kompendium der

Techniken vorgestellt, die geeignet sind, der in der Betreuungsarbeit bedrohlich virulenten

Bewegung des Sexuellen ein Triebwerk der Sexualität aufzuzwingen. Aufgeführt wird die

Entkopplung des Sexuellen aus einem Beziehungsgeschehen – als hometrainer, als „wichsen“;

bzw. als Stillstellung – als hormonelle Behandlung, als Dummstellen. Aufgeführt wird die

sexualisierende Selbstvergewisserung im hämisch-projektiven Voyeurismus; ebenfalls

aufgeführt wird der Exhibitionismus, der latent von den Forderungen zur Qualitätssicherung

geschürt wird, als sich präsentierendes Bestehen.

Das Endergebnis all dieser Maßnahmen zur Kanalisierung und Einbetonierung der

grenzauflösenden Tendenzen des Sexuellen führt uns der manifeste Traum mit dem Paar K.

und P. vor: Vornehm gekleidet auf dem Doppelbett liegend führen sie eine ihres ekstatischen

Momentums beraubte, geradezu bürokratisch wohlgeordnete, eine „qualitätsgesicherte“

Urszene auf.

„Auspacken“: Zwei Frauenzimmer

Die Träumerin ist in einem fremden Haus in einer fremden Gegend am Auspacken: Mit

diesem Beginn verweist der Traum auf den Übertragungsaspekt im Rahmen der

supervisorischen Arbeit. Nicht allerdings die Träumerin, sondern ich bin gereist, ich komme

aus der Fremde, und zwar nicht in Urlaub, sondern um mit dem Team zu arbeiten – eine

Umkehrung ins Gegenteil, die sich im Traum mehrfach wiederholt.

Das Thema „Sehen und Gesehenwerden“, das im manifesten Traum eine so zentrale Rolle

spielt, verweist ebenfalls auf die Übertragungsbeziehung: Die Aufforderung, einen Traum

öffentlich zu machen und sich darin zu zeigen, kann grundsätzlich als ein voyeuristisches

Verlangen und Verführung zum Exhibitionismus erlebt werden. In diesem Sinn verstand ich

die anfängliche Verneinung von Seiten der Supervisionsgruppe auf meine Anfrage nach ihren

Gegenübertragungsträumen. Es sprach sich darin die Befürchtung aus, sich zu entblößen,

„auszupacken“, d.h. das Fremdartige, das verwirrend Ungeregelte der täglichen

Betreuungsarbeit öffentlich zu machen und sich damit meiner voyeuristischen Häme

auszuliefern. Durch die Mitteilung ihres Traumes im Rahmen unseres Workshops kehrt die

Träumerin diese Verneinung ins Gegenteil. Sie begibt sich damit allerdings in eine prekäre

Situation:

Die Träumerin W. muß als Leiterin der Wohngruppe die oft ungeliebten administrativen

Vorgaben und „Qualitätssicherungs“-Maßnahmen im Team durchsetzen, wie immer auch

kritisch sie selbst zu ihnen steht. Die Wertschätzung der Gruppe für ihre Arbeit ist daher

durchsetzt von Ressentiments, die das Administrative ihrer Arbeit betreffen. Damit

bedeutet es für sie einen besonderen Aufwand an Mut, sich hier mit ihrem Traum zu

präsentieren.

Das allgegenwärtige „Qualitätsmanagement“ ist darauf ausgerichtet, das

Unzurechnungsfähige, das verkörperte Ausgeschlossene, so zu verwalten, dass es diesen

Verwaltungsakt dokumentieren, nachweisen, exhibieren kann. Damit wird das Augenmerk

von der Not der verkörperten Unzurechnungsfähigkeiten verschoben auf die potente

Verwaltungsarbeit. Zu diesem Zweck wird eine Umkehrung ins Gegenteil veranstaltet: vom

intensiven Verwickeltsein in leibliche Not zum sauberen Katalogisieren und Präsentieren. So

wird ein seines sexuellen Ursprungs entkleideter Exhibitionismus gefördert, wird die

Schaulust der Betreuenden instrumentalisiert.

W. läuft mit ihrem Traumbericht Gefahr, sich bloßzustellen als eine, die an genau den

Normen scheitert, für die sie einstehen soll. Es paßt dazu, dass vielfache Hinweise auf

Verbrechen und Komplizenschaft den Traum durchziehen. Auspacken – metaphorisch

verstanden heißt dies: Sie will ein Geständnis machen und Verrat begehen. Im manifesten

Traum treten A. – manifest eines versuchten Verbrechens überführt – und P. – besessen von

potentiell verbrecherischer Begierde – auf. Es brennt. Die Träumerin bekommt nicht „kalte

Füße“, vielmehr in der Umkehrung ein brennendes Fußende: Etwas wird ihr zu heiß. Es geht

um eine Mit-Schuld, um eine gefährliche Komplizenschaft.

Nun tritt auch die Kollegin der Träumerin, die im ersten Zimmer mit P. auf dem Doppelbett

liegt, nicht von Ungefähr im Traum auf:

K., die Betreuerin, ist eine enge Freundin der Träumerin. Beide sind mit den

administrativen Zwängen sehr unzufrieden, und aktuell träumen sie miteinander davon,

einmal eine alternative WG gründen zu können, in denen das menschliche Miteinander

und Beziehungsarbeit im Mittelpunkt stehen.

Mit K.s Vorkommen im Traum werden also zunächst die bewussten Wünsche thematisiert,

welche die Träumerin zur Zeit ihres Träumens bewegten: Wünsche, den Alltag des

Durchsetzens ungeliebter administrativer Vorgaben und des Festschreibens der Hierarchien

und Verfügungsgewalten zu verlassen. Das Reiseziel Indien kann für Phantasien von flower

power stehen, für Wünsche, auszubrechen aus den Zwängen der Zweckrationalität, für

Sehnsucht nach ekstatischer Aufhebung von Grenzen.

Die vielfachen Anspielungen auf Verbrecherisches und Komplizentum im Traum zeigen, dass

dieser phantasierte Aufbruch ins idealisierte Fremde mit Ängsten und Schuldgefühlen

verbunden ist. Eine Art Urszene konstelliert sich auch im Rahmen des Übertragungsgesche-

hens im Workshop, in dessen Verlauf der Traum berichtet wird. Während der Entfaltung der

latenten Traumgedanken durch die Gruppe, die den Traum bereitwilligst als einen

gemeinsamen adoptiert, traut nämlich die Träumerin sich schließlich, eine Begebenheit zu

erzählen und mich und die Gruppe zu deren Zeugen zu machen, die sich leicht als der

auslösende Tagesrest des Traumes zu erkennen gibt.

W. erzählt, wie sie – ausnahmsweise, insofern das nicht zu ihren Aufgaben als WG-

Leiterin gehört, aber aus der Not des Personalmangels sich häufig genug ergibt – die

Aufgabe übernahm, C., eine ältere, sehr gebrechliche und taubstumme WG-Bewohnerin,

zu baden. C. genießt das Gewaschenwerden sehr. Als W. ihre Scheide wäscht, wölbt sie

ihr in plötzlich aufwallender Lust den Unterleib entgegen. Ein tiefer Schreck durchfährt

W., und in großer Scham und voller Schuldgefühle bricht sie die Situation ab.

Dies ist das Ausgepackte. Hier erfahren wir von dem Vorbild der Stichflamme, die „aus der

Ritze“ plötzlich aufsteigt und wieder verschwindet. Diese Urszene zwischen der Träumerin

und der taubstummen Bewohnerin ist alles andere als ein vornehm-verhaltenes

Beieinanderliegen zweier Mitglieder einer „höheren Kaste“. Ein ekstatisches Miteinander, das

plötzlich für einen Moment „entfacht“ – mündet nicht in eine in ekstatischer Verschmelzung

erlebte Lust, vielmehr in angstvolle Erstarrung und schwere Schuldgefühle bei W. – die

Stichflamme „verschwindet wieder“. C.s Lust muss versiegen.

Die Träumerin benützt ihren Traum und das sich daran anschließende Gruppengespräch, um

im Schutze meiner Gruppenleitung „auszupacken“. Sie braucht diesen Schutz, denn die

Gruppe kann, bei aller ihr eigenen Solidarität, nicht umhin, mit verhaltener Häme das

Ausgleiten derjenigen zur Kenntnis zu nehmen, die für das Administrative zuständig ist und

also im „höheren Dienst“ steht. Die Übertragungen der Gruppe auf sie enthalten eben auch

Befürchtungen, mit ihren „niederen Diensten“ nicht der administrativen Qualitätskontrolle

standhalten zu können, und so bietet die Umkehrung der Situation eine Gelegenheit, sich zu

rächen. Das, was W. zu berichten hat, ist Arbeit, die niemand sehen soll, die, wenn es im

Sinne des Qualitätsmanagements geht, in der Heimlichkeit der intimen Situation verborgen

bleiben soll. Alle im Team kennen solche Situationen – und hier ist es derjenigen passiert,

deren offizielle Zuständigkeit es ist, dafür zu sorgen, dass das, was alle am meisten belastet,

zur Arbeit wird, die man nicht sieht.

Wäre das Team weniger solidarisch, und weniger geübt im psychoanalytischen Reflektieren

gewesen, hätte es an dieser Stelle leicht zu einer dyadischen Konfrontation innerhalb des

workshops kommen können. Stattdessen konnte es gelingen, eine dyadische Konfrontation,

die das Team in seiner Arbeit in ihren Zwingen hielt, sichtbar zu machen, sie zu hinterfragen

und tendenziell aufzulösen. Die Einsicht „....und bin nun selbst der Sünde bloß“ war möglich,

ohne dass W. gerichtet wurde.

Die Interaktion zwischen W. und C. kann als ein Paradigma für das genommen werden, was

als das Damoklesschwert „Unzucht mit Abhängigen“ unausgesprochen über aller

Betreuungsarbeit hängt. Die ständig zu überschreitende Intimitätsschranke führt zu sexuellen

Erregungen auf beiden Seiten, und in dem geschilderten Moment bricht sich diese Erregung

Bahn. Einen Moment lang sind W. und C. in einem ekstatischen Miteinander verbunden; dann

aber greift sofort das Phantasma: W. erstarrt in Schuldgefühl. Sie reagiert, als sei sie als

Komplizin eines Verbrechens entlarvt, bloßgestellt als diejenige, die „Schuhe putzt“, die

„niedere Dienste“ auf der Straße (dem potentiell öffentlichen Raum der Betreuungsarbeit)

anbietet; als müsse sie befürchten, dass nun alle an ihr sich die „Schuldgefühle abputzen“

werden. Die Erregung und Lust C.s kann sie nicht als das zulassen, was sie sind: Sexuelles

Entzücken einer älteren Frau; sie werden ihr vielmehr unmittelbar zum Zeichen einer

untragbaren Schuld, und lösen so den phantasmen-gesteuerten Reiz-Reaktions-Kreis aus:

Sexuelle Erregung führt zu Erstarrung und Anästhetisierung des Unterleibs.

Im Workshop konnte das „Auspacken“ von einem Schuldeingeständnis gewendet werden in

eine Frage: „Was ist falsch daran, C. Lust zu bereiten?“ Als ich diese rhetorisch klingende

Frage formulierte, machte ich zugleich deutlich, dass ich darauf keine Antwort wisse. Es gibt

darauf keine Antwort; kein Rezept für richtiges Handeln in einer solchen Situation. Die

Arbeit, die man nicht sieht, besteht darin, solche Ungewissheit zu ertragen und darauf zu

verzichten, für solche Situationen qualitätssichernde Vorschriften zu besitzen.

Betreuungsarbeit als Ensemblespiel

Was ist falsch daran, C. Lust zu bereiten? Nichts, wäre die spontane Antwort. Was aber

können wir uns als Realisierung einer nicht-abwehrenden Haltung vorstellen? Was würde aus

der Angewiesenheit C.s auf die körperliche Pflege werden? Wie hätte W. die Situation

verarbeiten können? Hätte das Geschehen überhaupt eine Begegnung werden können, an der

zwei mit ihrer je eigenen Lust teilhaben?

So sicher, wie es nicht angemessen ist, ob einer solchen Situation in Schreckstarre zu

verfallen, so sicher ist auch, dass eine einfache Umkehrung ins Gegenteil ebenso falsch wäre.

Das Thema „Unzucht mit Abhängigen“ ist nicht per Dekret aus der Welt zu schaffen. Und

doch: Auch auf allgemeinerer Ebene kann und muss gefragt werden, was falsch daran ist,

Menschen, die auf uns angewiesen sind, gleichwohl in ihrer Sinnlichkeit wahrzunehmen und

sich daran zu freuen, auf diese Sinnlichkeit also mit der eigenen zu antworten; muss gefragt

werden können, ob masturbatorische Tätigkeit nicht auch in einer Beziehung lustvoll erlebt

werden könnte, dergestalt, dass zwischen P. und dem Team ein lustvoller Austausch von

Zeigen und Schauen denkbar wäre, in welcher er sich in seiner Männlichkeit und Potenz

bestätigt und bewundert erleben könnte, während das Team sich daran erfreute.

Durch die Maßnahmen zur Qualitätssicherung wird die Trennung zwischen denjenigen, die

sie auszuführen haben, und denjenigen, die deren Objekt sind – eine Trennung, die tendenziell

in der Betreuungsarbeit immer schon bestand – zugespitzt. Ein latenter Voyeurismus: der

kontrollierende Blick, und Exhibitionismus: das Präsentieren der qualitätsgesicherten Arbeit,

wird in den Dienst der Subjekt-Objekt-Hierarchie genommen und kann daher nicht mehr für

spielerische Interaktionen zur Verfügung stehen. Damit werden auf latenter Ebene

Phantasmen festgeschrieben: das von „niederen Diensten“ und „käuflicher Liebe“, und mehr

noch das der „Unzucht mit Abhängigen“: Die Erregungen, die von der täglichen Arbeit

ausgehen, müssen angesichts einer „unbeteiligten“ Welt „selbst gelöscht“, müssen durch

Anästhetisierung des Unterleibs von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden.

Unbewusst werden sie dann zwar noch immer registriert, können aber nur noch

phantasmatisch verbucht werden. Auf diese Weise putzt eine ganze Kultur sich hier „die

Schuldgefühle ab“.

Unser Traum kehrt diesen Prozess um. Seine manifeste Aussage „wir haben nichts

miteinander“ verweist in der Umkehrung ins Gegenteil auf den latenten Sinn: doch, wir haben

etwas miteinander, und dieses etwas macht „alles naß und füllt unsere Koffer mit Wasser“.

Dieses, trotz aller traurig-enttäuschter Konnotationen, wunderschöne Bild von weiblich-

verschwenderischer Sinnlichkeit, mit dem der Traum abschließt, liest sich wie eine Utopie.

Eine solche Utopie für die Betreuungsarbeit habe ich in (2006) als „zwangloses Miteinander

im Ensemblespiel“ beschrieben – in Absetzung von der Formulierung „zwangloses

Miteinander des Selbst“, die von Whitebook (2003) vorgeschlagen und zu recht wieder

zurückgenommen wurde. Für das Zustandekommen und Gelingen solchen Ensemblespiels ist

es unerläßlich, dass die Angewiesenheit auf Betreuung nicht mit familialer Abhängigkeit

verwechselt, und also als inzestuöse Gefahr phantasiert wird, denn damit wird das

kulturtypische Urszenenkonstrukt mit seiner Ausschlussfigur auf den Plan gerufen, wird die

Subjekt-Objekt-Hierarchie festgeschrieben und jede Möglichkeit, sich auf das Gegenüber in

seiner Fremdheit und Andersheit einzulassen, abgeschnitten.10 Im Ensemblespiel sind alle auf

unterschiedliche Weise aufeinander angewiesen und zugleich eigenständig; ist die

Bereitschaft aller Beteiligten angesprochen, sich auf die Besonderheit und Fremdheit der

Mitspielenden einzulassen. Dabei kommt es auch darauf an, die je eigenen Möglichkeiten des

Sich Einlassens und Mitspielens aufzunehmen. Die Betreuungsarbeit ist und bleibt

asymmetrisch: Es geht darum, sich den vielfach beschädigten und geschwächten subjektiven

Impulsen der Betreuten zur Verfügung zu stellen – etwa wie in einem Orchesterlied der

riesige Orchesterapparat sich der menschlichen Stimme, die gegen die entfesselte

Klanggewalt von sich aus keine Chance hätte, zur Verfügung stellt und sie trägt, damit sie,

was nur sie kann, etwas zur Sprache bringt.11

Qualitätsmanagment mit seinem Focus auf das Planbare engt den Raum für solches

Ensemblespiel systematisch auf ein Minimum ein. Hier zählt das, womit gerechnet werden

kann – und das ist zuallererst der dingfest zu machende Defekt der Betreuungsobjekte.

Betreuungsarbeit als Ensemblespiel kann nicht geplant und kann nicht sichtbar gemacht

werden, weil dieses Spiel ständig im Fluss ist, weil es keine festen Bestimmungen gibt, weil

immer nur aus dem Moment entschieden werden kann.

Das Wort „fremd“ zweimal im ersten Satz der Traumerzählung, die Reise ins ferne Indien, die

Betonung der Zweizahl, der Koffer voller Wasser: all dies sind Signaturen der Utopie im

Traum. Der Traum sagt gleichsam: Hier sind wir zwei (zwei gleiche – wie die

Namensschwestern K./Betreuerin und K./Bewohnerin vom Traum zu Gleichen gemacht

werden) und haben etwas miteinander, und in Utopia wäre das, was wir miteinander haben,

wunderschön. Aber wir sind nicht in Utopia, sondern im Land der dyadischen

Konfrontationen, im Land des Kastensystems der Subjekt-Objekt-Hierarchie und des

ausgeschlossenen Dritten. Es muss also das Dritte zu uns reisen: Diejenige, die mit ihrer

Schaulust und Neugierde auf die Urszene der Betreuungssituation die Zeigelust der

Träumenden angeregt hat, möge kommen und diese Urszene – das, was man an der Arbeit

nicht sehen soll – bezeugen: Voyeurismus, aus der dyadischen Konfrontation gewendet in die

dritte Position des Bezeugens; Exhibitionismus, gewendet in Überwindung der Scham und

Anerkennung des eigenen Ausgleitens.

Epilog

Dieser Nachtrag entstand erst nach einer Pause, genauer: nach einem Verstummen. Zunächst

war, mit den abschließenden Sätzen des vorigen Abschnittes, mein denkerischer Impuls

plötzlich versiegt. Zwar wußte ich, dass ich den Aufsatz nicht mit solch plakativen

Wendungen enden lassen und dass ich die Übertragungssituation, in der der Traum von mir

induziert und von der Träumerin stellvertretend für die Gruppe mir präsentiert wurde, nicht

10 Vgl. dazu meine Ausführungen in Niedecken, Lauschmann, Pötzl 2003 11 dass dies nicht heißen muss: sich unterordnen, sich opfern, zeigt eine von M. Pötzl (2003, W.60) berichtete

Szene

derart en passant abfertigen wollte. Alle Bemühungen jedoch, mir abschließende Reflexionen

einfallen zu lassen, gerieten verkrampft und wirkten aufgesetzt.

Erst nachdem ich den Aufsatz in einer Arbeitsgruppe12 vorgestellt hatte, konnte mir deutlich

werden, dass dieses Versiegen meiner Gedanken einer Reinszenierung entsprach: Was ich

beschrieben hatte, hatte sich eben auch ereignet – was der Träumerin mit C. passiert war, war

mir, auf metaphorischer Ebene, mit der Träumerin und dem Team geschehen. Ich hatte die

Träumerin sozusagen aufs Glatteis geführt und zum Ausgleiten gebracht, indem ich sie und

das Team dazu anregte, mir Träume mitzuteilen, und die Mitteilung dieses Traumes, in

Zusammenhang mit der sehr offenen Diskussion im Team, erlebte ich, als wölbte sich mir da

ein Unterleib entgegen. Für meine subtile Verführung fühlte ich mich ähnlich schuldig,

ähnlich angreifbar wie W. in der Situation mit C. Gerne hätte ich diese Vorgeschichte

ausgespart.

Noch eine andere grammatikalische Eigentümlichkeit des Traumes wiederholte sich beim

Schreiben13. Der Tempuswechsel, den die Träumerin unternimmt, als sie vom Bericht im

Präsens über ein Geschehen übergeht zur eigenen Stellungnahme „ich wunderte mich und war

verwirrt“, läßt einen Bruch in der Gesamterzählung entstehen; ein entsprechender Bruch

ergab sich hier im Text an der Stelle, an der ich von meinem deutenden Eingriff über die

Anästhetisierung des Unterleibs berichte. So wie die Träumerin durch die unvermittelt

verwendete Vergangenheitsform sich zum Geschehen im Traum in Distanz setzt, so setze ich

mich mit dem Wechsel zwischen historischem Präsenz und Imperfekt zum Geschehen im

Workshop schreibend in Distanz, und zwar an genau der Stelle, als es um mein Beteiligtsein

am Gruppengespräch geht. Es ergibt sich eine formale Inkonsistenz in der Diktion, die sich im

Zusammenhang aufdrängt, und die durch das Absetzen nur notdürftig abgemildert wird. Auch

ich sage schreibend quasi „es entfacht“, aber „wir haben nichts miteinander“.

Der Traum mit all seinen Implikationen war wie eine „Flamme, die entfacht“, für deren

Entfacht-Sein Verantwortung zu übernehmen mir schwer wurde. Mein Verstummen entsprach

dem Erstarren W.s angesichts dessen, was sie in C. ausgelöst hatte; entsprach zugleich dem

Versiegen der Lust C.s angesichts der Schreckstarre ihrer Betreuerin.

Den von Phantasmen beherrschten Mechanismen des Geistig-Behindert-Seins und den Folgen

der Subjekt-Objekt-Trennung, die ihnen zugrunde liegen, ist nicht zu entrinnen. Das macht

diese Reinszenierung, die sich noch im Schreibvorgang ereignete, deutlich. Einen anderen

Weg als den, den die Träumerin mit ihrem Traumbericht beschreitet, gibt es nicht. Es gilt,

sich der Scham zu stellen.

Literatur

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Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den

ethnopsychoanalytischen Prozess, Suhrkamp Frankfurt 1982

12 Den Mitgliedern der Kultur-AG (Arbeitsgemeinschaft Psychoanalyse und Kulturtheorie des Instituts für

Musiktherapie, Musikhochschule Hamburg) danke ich vielmals für ihre hilfreiche Diskussion meines Referats. 13 In einem Gespräch mit dem Komponisten Hauke Berheide, in welchem er die Lektüre dieses Aufsatzes zum

Anlaß nahm, um über Ähnlichkeiten von Traumarbeit und Komponieren nachzudenken, wurde ich auf diese

formale Entsprechung aufmerksam.

Freud, Sigmund: Traumdeutung GW Bd. II, III,

ders.: Vorlesungen zur Einführung in der Psychoanalyse, GW Bd. XI

ders.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW Bd. XV

Hall, Calvin (1964): Slang and Dream Symbols. Psychoanalytic Review 51A: (1) 38-48

Landauer, Karl (1929): Zur psychosexuellen Genese der Dummheit, Nachdruck in:

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Lenk, Elisabeth: Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der

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Mannoni, Maud (1964): Das zurückgebliebene Kind und seine Mutter, Olten, Syndikat-

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Morgenthaler, Fritz: Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung,

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Niedecken, Dietmut (1989): Namenlos. Geistig Behinderte verstehen, Weinheim, Beltz 20034.

diess.: Versuch über das Okkulte. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen, edition diskord

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diess.: zusammen mit Irene Lauschmann and Marlies Pötzl): Psychoanalytische Reflexion in

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Weinheim, Beltz 2003

diess.: Gewaltlose Integration des Divergierenden. in Psyche – Z Psychoanal 60/2006: 625-

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