Migranten in Deutschland: Herausforderungen an die Integrationsdebatte

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  • 8/13/2019 Migranten in Deutschland: Herausforderungen an die Integrationsdebatte

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    Migranten in Deutschland:Herausforderungen

    an die Integrationsdebatte

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    Nele Katharina Wissmann

    Januar 2013

    Comit dtudes des relations franco-allemandes

    NNootteedduuCCeerrffaa110000

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    Das Franzsische Institut fr Internationale Beziehungen (IFRI) ist inFrankreich das wichtigste unabhngige Forschungszentrum, das ber groeinternationale Fragen informiert und diskutiert. Von Thierry de Montbrial imJahr 1979 gegrndet, ist das IFRI als gemeinntziger Verein anerkannt

    (Gesetz des Jahres 1901). Es ordnet sich keiner Amtsvormundschaft unter,legt nach eigenem Ermessen seine Aktivitten fest und publiziert regelmigseine Berichte.

    Durch seine Studien und Debatten, die interdisziplinr angelegt sind, bringtdas IFRI Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Forscher und Experten aufinternationaler Ebene zusammen.

    Mit seinem zweiten Bro in Brssel (IFRI-Bruxelles) positioniert sich das IFRIals eines der wenigen franzsischen think tanks im Kern der europischenDebatte.

    Die Verantwortung fr die im weiteren Textgeuerten Standpunkte trgt der Autor.

    Diese Note du Cerfa wird im Rahmen des Deutsch-franzsischenZukunftsdialogs verffentlicht. Der Deutsch-franzsische Zukunftsdialog ist

    ein Projekt des Studienkomitees fr deutsch-franzsische Beziehungen(Cerfa) des Institut franais des relations internationales, der Deutschen

    Gesellschaft fr Auswrtige Politik und der

    Die Aktivitten des Cerfa (Forschung, Editing und Publikationen) werdenvon dem Referat Frankreich des Auswrtigen Amtes und dem Planungsstab

    des Ministre des Affaires trangres gefrdert.

    Herausgeber: Dr. Yann-Sven Rittelmeyer und Prof. Dr. Hans Stark

    ISBN: 978-2-36567-122-4 Ifri2013Tous droits rservs

    Website:ifri.org

    Ifri-BruxellesRue Marie-Thrse, 21

    1000BruxellesBELGIQUETel.:+32(0)22385110Fax:+32(0)22385115

    Email:[email protected]

    Ifri27 rue de la Procession

    75740 Paris Cedex 15FRANCETel.: +33 (0)1 40 61 60 00Fax: +33 (0)1 40 61 60 60

    Email:[email protected]

    http://www.ifri.org/http://www.ifri.org/http://www.ifri.org/mailto:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]://www.ifri.org/
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    Der Autor

    Nele Katharina Wissmann ist seit September 2009 wissenschaftlicheMitarbeiterin im Cerfa. Innerhalb des Cerfa ist sie insbesondere frdie Koordination des Projekts Deutsch-franzsischer Zukunftsdialogverantwortlich, das in Kooperation mit der Deutsche Gesellschaft frAuswrtige Politik (DGAP) luft und von der Robert Bosch Stiftungfinanziert wird. Sie ist Absolventin des MasterprogrammsEuropische Studien der Universitt Paris III Sorbonne Nouvelle.

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    Zusammenfassung

    Die Auseinandersetzung mit der Integrationsfrage ist noch relativjung, da sich Deutschland erst spt als Einwanderungsland perzi-pierte, eine Anerkennung dieses Status war jedoch fr dieEntwicklung einer Integrationsstrategie unabdingbar.

    Lange Zeit war der Status der Gastarbeiter unklar und eswurde so nicht in Ausbildungs- und Weiterbildungsmanahmen

    investiert, Integrationsmanahmen waren so nur vereinzelt undhufig in Modellform vorzufinden. Politische Konjunkturen, die Dis-kussionen ber Leitkultur und Multikulti begnstigten, sind vergn-glich, es ist jedoch Herausforderung der deutschen Integrationspolitik,eine langfristige Perspektive fr den Staat, die deutsche Gesellschaftund die Migranten zu bieten. Die emotional aufgeladene Islam-debatte, die in Deutschland losgetreten wurde, hat jedoch bereitsverstrkend dazu gefhrt, dass sich Trken die Frage nach ihrereigenen Identitt und ihrer Zugehrigkeit stellen.

    Die Analyse zieht die Schlussfolgerung, dass Deutschlandgezielter langfristige Perspektiven entwickeln muss, um Spaltungen

    einer multikulturellen Gesellschaft zu vermeiden und deren Poten-ziale angesichts der demographischen Probleme des Landes zunutzen.

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    Inhaltsverzeichnis

    MIGRANTEN IN DEUTSCHLAND: DIE INTEGRATIONSDEBATTE ................ 4

    WIE RICHTET DEUTSCHLAND SEINE INTEGRATIONSKOMPASS AUS?

    LEITKULTUR VS.MULTIKULTI............................................................... 7

    FRDERN UND FORDERN

    INTEGRATIONSMASSNAHMEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.. 10

    SCHAFFT DEUTSCHLAND SICH AB?DIE DEUTSCHE ISLAMDEBATTE... 14

    SELBSTWAHRNEHMUNG DEUTSCHER MIT TRKISCHEN

    MIGRATIONSHINTERGRUND UND TRKEN DRITTER GENERATION......... 19

    ANTWORTEN AUF AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN

    UND DEFIZITE................................................................................... 23

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    Migranten in Deutschland:Die Integrationsdebatte

    Multikulti ist gescheitert1, so die Einschtzung der BundeskanzlerinAngela Merkel im Jahr 2010. Die Themen Immigration und Integrationwerden von Politik und Medien in Deutschland regelmigaufgegriffen, sind dabei jedoch hufig emotional aufgeladen undsttzen sich nur selten auf wissenschaftlich begrndete Analysen.

    Wenngleich durch die Wirtschaftskrise verstrkt inner-gemeinschaftliche Einwanderung nach Deutschland stattfindet, wirdmit dem Begriff Integration weiterhin vor allen Dingen die Einwan-derung von Migranten aus auereuropischen Staaten mit einembesonderen Fokus auf die Trkei 2 verbunden, auch wenn dietrkische Bevlkerung weniger als ein Viertel des Auslnderanteilsdarstellt.3Deren vermeintliches Scheitern im Integrationsprozess wirdwiederum vereinfacht durch ihre Religionszugehrigkeit erklrt. DieAussage von Angela Merkel, aber auch andere Wortmeldungen wieetwa die vom ehemaligen Bundesprsidenten Christian Wulff, dassder Islam zu Deutschland gehrt4oder eben die Verneinung genau

    dieser These durch andere Politiker5

    , zeigen sehr deutlich dieKomplexitt dieser Debatte aber gleichermaen ihre Zentralitt fr dieGesellschaft auf.

    1 Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Deutschlandtag derJungen Union in Potsdam, 16. Oktober 2010.2 Festzustellen ist in der Debatte eine Vermischung der Begriffe, die zu einersachlichen Ungenauigkeit fhren. So werden auch die Deutsche mit trkischemMigrationshintergrund, hufig Teil der 3. Generation, in die Debatte einbezogen.32011 waren 23,2% der insgesamt 6.930.896 Auslnder in Deutschland trkischer

    Herkunft. Italiener stellten 7,5%, Polen 6,8% des Auslnderanteils dar. 19,1% derAuslnder kamen durch innergemeinschaftliche Einwanderung nach Deutschland(ohne Griechenland, Italien und Polen). Vgl. Bundesamt fr Migration und Flchtlinge(2011): Das Bundesamt in Zahlen 2011, S.103[http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf?__blob=publicationFile].4 Rede von Bundesprsident a.D. Christian Wulff am 3. Oktober 2010 zumzwanzigsten Jahrestag der Deutschen Einheit.5Die Debatte wurde durch verschiedene Politiker aufgegriffen und scheint bis heuteungeklrt. Der im Mrz 2012 ernannte Bundesprsident Joachim Gauck widersprachso seinem Vorgnger: Ich htte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehrenzu Deutschland" (in einem Interview mit DER ZEIT vom 31. Mai 2012).

    http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf?__blob=publicationFilehttp://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf?__blob=publicationFilehttp://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf?__blob=publicationFilehttp://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf?__blob=publicationFile
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    Die Auseinandersetzung mit der Integrationsfrage ist dabeinoch relativ jung, da sich Deutschland erst spt als Einwande-rungsland perzipierte, eine Anerkennung dieses Status war jedoch frdie Entwicklung einer Integrationsstrategie unabdingbar. DieVersumnisse, die durch eine fehlende bzw. versptet einsetzendeIntegrationspolitik entstanden, zeigen heute an verschiedenenBrennpunkten Deutschlands ihre Auswirkungen. Zum Symbol fr diefehlgeschlagene Integration wurde 2006 die Rtli-Schule: In einemBrandbrief an die Berliner Schulaufsicht prangerten die Lehrer derGemeinschaftsschule mit einem Migrantenanteil von ber Zweidrittelndie unhaltbare Situation an ihrer Schule an, die durch Gewalt,Schulabbrecher und Analphabetentum geprgt war.

    Politische Versumnisse sind somit zu groen Teilen Ursachedieses Integrationsdefizits. Aber auch Teile der Migrantengruppehaben den Sprung auf den Integrationszug verpasst: Lange Zeit

    perzipierte man sich als Gastarbeiter, wobei dem Wortteil Gast einbesonderer Stellenwert zugemessen wurde. Wer Gast in einem Landwar, sah sich nicht unbedingt dazu verpflichtet, Sprache und Kulturdes Gastgeberlandes anzunehmen, da es sich nur um einenAufenthalt auf Zeit handelte. Viel zu spt, vermehrt auch erst Jahrenach dem Familiennachzug und in der 2. und 3. Generation, wurdeman sich der Notwendigkeit der Integration in die deutscheGesellschaft bewusst, hufig waren die Grben jedoch schon tief.

    Die vorliegende Analyse setzt es sich zum Ziel Fremd- undSelbstwahrnehmung von Migranten aus auereuropischen Staatennachzuzeichnen, die sich auf ihre Integration in Deutschland aus-

    wirken. Dabei sollen wie oben aufgefhrt einseitige Schuldzu-weisungen an die Politik oder die Migranten vermieden werden.Integrationsdefizite sind vielmehr als Resultat einer zuerst fehlendenund dann fehlgeleiteten Integrationsdebatte einzuordnen, derenKompassnadel mal in Richtung Assimilation, mal in RichtungMultikulturalismus zeigte, da eine Diskussion darber, was Integrationeigentlich bedeutet und was von ihr erwartet wird, nur begrenztstattfand.

    Die Analyse diskutiert somit in einem ersten Schritt diegesellschaftspolitischen Debatten ber die Definition und Aufgabender Integration. Die Definition der Begriffe Assimilation und

    Multikulturalismus ist dabei unabdingbar, da sie in der deutschenDebatte hufig vermischt werden und einer starken Mediatisierungunterlaufen. Nachzuweisen ist, dass sich deutsche Integration genauzwischen diesen beiden Modellen ansiedeln sollte, Grundprmissesollte dabei das Frdern und Fordern 6 sein, bei dem Staat undMigranten eine gleichwertige Verantwortung am Integrationserfolg

    6Es handelt sich hierbei um die Grundforderung des aktuellen Integrationskonzeptsder deutschen Bundesregierung.

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    zukommt. Die Analyse diskutiert dementsprechend in einem zweitenSchritt die aktuellen Integrationsmanahmen der BundesrepublikDeutschland und ihre Erfolge und Grenzen. Sind die Integrations-manahmen inzwischen flchendeckend und auf die vielfltigenLebenssituationen angepasst worden, scheint ein neuer Aspekt indas Zentrum der Integrationsdebatte gerckt zu. Nicht erst seit ThiloSarrazins Buch Deutschland schafft sich ab7, durch dieses Buchjedoch deutlich verstrkt, rckt die religise Zugehrigkeit derMigranten in den Fokus der Debatte. Der Sptsommer 2012 wurde inDeutschland so durch die Beschneidungsdebatte dominiert, dochauch schon vorher beherrschten Kopftuch- und Moscheedebattenund die Frage nach islamischem Religionsunterricht die Berichter-stattung. Whrend sich die politische Elite in diversen Reden undZeitungsbeitrgen darber zerstritt, ob der Islam Teil Deutschlands istoder sein sollte, hielt das Phnomen der Salafisten, die in deutschenStdten den Koran verteilten, fr Medien und Islamkritiker als

    Paradebeispiel dafr hin, dass der Islam die deutsche Gesellschaftunterwandert. Die Islamdebatte ist schliesslich auch einer derGrnde, warum sich gerade Deutsche mit trkischen Migrations-hintergrund bzw. Trken der 3. Generation in Deutschland nicht zuHause fhlen: In dem letzten Teil der Analyse soll diskutiert werden,wie sich diese Personen selbst wahrnehmen, von auen perzipiertwerden und was dies fr ihre Integration bedeutet.

    7 Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spielsetzen. Mnchen: DVA. Dem Thema Zuwanderung und Integration ist das 7.Kapitel gewidmet. Einschlgige Thesen zu den Muslimen Deutschlands werden

    jedoch auch in anderen Kapiteln aufgefhrt (vor allen Dingen im Kapitel Bildung undGerechtigkeit.

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    Wie richtet Deutschlandseine Integrationskompass aus?

    Leitkultur vs. Multikulti

    Die Debatte ber Integration wurde in den letzten Jahren vor allenDingen durch zwei Begriffe geprgt und teilweise dominiert. Gemeintsind die Begriffe Assimilierung, eng verbunden mit dem Begriff derLeitkultur, und Multikulti: Wir wollen, dass die christlich-abendln-dische Kultur die Leitkultur bleibt, und nicht aufgeht in einemMischmasch8, so forderte der CSU-Politiker Edmund Stoiber im Jahr2000. Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ichverstehe sehr gut, dass ihr gegen die Assimilierung seid. Man kannvon euch nicht erwarten, euch zu assimilieren" 9 , sagte TayyipErdoan 2008 zu ber 20000 Trken, die in der Klnarena versam-melt waren, Multikulti ist tot stellte Angela Merkel 2010 fest.

    Fakt ist, dass Integrationsdefizite als Resultat einer unklarenDefinition von Integration einzuordnen sind, deren Kompassnadel malin Richtung Assimilation, mal in Richtung Multikulturalismus zeigte,

    beide Begriffe jedoch polemisch eingefrbt sind: Da der BegriffAssimilation fr die Bundesrepublik Deutschland aus historischerSicht ein Problem darstellt, argumentieren deutsche Politiker mit demBegriff der Leitkultur. Der Begriff wurde im Jahr 2000 vom CDU-Abgeordneten Friedrich Merz zur Diskussion gestellt und lste einegroe Polemik aus. Gefordert wurde, dass die Migranten einenIntegrationsbeitrag leisten sollen, eine Anpassung an die kulturellenGrundvorstellungen Deutschlands wurde so erwartet. Diese Forde-rung grenzt sich durchaus nicht von dem Meinungskonsens andererParteien ab. Problematisch wurde es, als der Begriff unweigerlich mitder christlich-abendlndischen Kultur verbunden und so dem musli-mischen Glauben entgegengestellt wurde. Tendenzen der Assimi-

    lation wurden sichtbar; die Leitkulturfrage wird auch dadurchangreifbar, da versucht wird ber die Integrationsdebatte die Identi-ttsdebatte des Landes zu fhren. Diese Kontroverse schwillt inDeutschland immer wieder an, wie zum Beispiel die uerungen vomehemaligen Bundesprsidenten Christian Wulff und dem derzeitigenBundesprsidenten zum Thema Islam beweisen. Kritisch gesehen

    8 Interview in der Sddeutschen Zeitung vom 23.10.2000.9 bersetzung einer Rede von Tayyip Erdoan vom 10.2.2008 in Kln.

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    wird dies auch in der Trkei, wie es die Rede vom Tayyip Erdoanaufzeigt.

    Das wirkliche Problem liegt in der Tatsache, dass sichDeutschland lange Zeit nicht als Einwanderungsland definierte. Ohneein wirkliches Bekenntnis zur Einwanderungskultur konnte jedochauch keine Integrationspolitik festgelegt werden. 10 Statt konzept-orientierter Integrationspolitik gab es auch nach dem Anwerbestoppfr Gastarbeiter 1973 noch lange Zeit nur Auslnderpolitik, die alsauf Auslnder angewandte Arbeitsmarktpolitik zu definieren ist. Die inDeutschland lebenden Migranten wurde so unbewusst freigestelltsich mit dem deutschen Staat zu assimilieren oder eben nach denPrinzipien der Multikulturalitt zu leben. Dabei ist angesichts dervieldiskutierten Multikulti-Frage darauf hinzuweisen, dass Multikultu-ralismus ganz unterschiedlich ausgelegt werden kann, und somitauch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen der Politiker fhrt. Ist

    fr die aktuelle Bundeskanzlerin Multikulti so gescheitert, steht sie frdie Grnen berhaupt nicht zur Diskussion: Wir haben einemultikulturelle Gesellschaft in Deutschland, ob es einem gefllt odernicht11. Problem ist hierbei die Vermischung von Begriffen und ihrenAuslegungen, die aufeinanderstossen und Polemik verursachen.Festzuhalten ist, dass in Deutschland durchaus von einer multikul-turellen Gesellschaft gesprochen werden kann. Auch wenn dieExistenz verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen anerkanntwird, verlangt der deutsche Staat jedoch die Beachtung desGrundgesetzes und westlicher kultureller Werte, Sprachkenntnissewerden zum Integrationsfaktor. Somit ist auch der Multikulturalismusnicht der treibende Grundwert deutscher Integrationspolitik.

    Diese macht vorsichtige Schritte und richtet ihre Kompass-nadel neu aus. Wichtig war dabei sicherlich, dass man sich alsEinwanderungsland bekannte. Dies wurde vor allen Dingen durch dieStaatsbrgerschaftsreform 12 bekrftigt, die den Zugang zur deut-schen Staatsbrgerschaft sprbar erleichtert und so neue Perspek-tiven fr die Migranten erffnet. Gleichzeitig bekannte sich derdeutsche Staat mit der Reform zum dauerhaften Aufenthalt vonAuslndern und musste dementsprechend eine Politik anbieten, diedieser neuen Realitt gerecht wird. Festzuhalten ist, dass politischeKonjunkturen, die Diskussionen ber Leitkultur und Multikulti

    10 Vgl. hierzu z.B. Antonia Scholz (2012), Migrationspolitik zwischen moralischemAnspruch und strategischem Kalkl. Der Einfluss politischer Ideen in Deutschlandund Frankreich, Wiesbaden: VS-Verlag.11 Claudia Roth, FAZ.net, 20. November 2004.12 Das Einbrgerungsverfahren kann so bereits nach acht Jahren eingeleitetwerden. Ehegatten und Kinder knnen mit eingebrgert werden, auch wenn sie nochnicht seit 8 Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Seit dem 1.1.2000 erwerben fernerauch in Deutschland geborene Kinder, deren beiden Elternteile Auslnder sind, diedeutsche Staatsbrgerschaft. Es besteht fr sie jedoch weiterhin die Optionspflicht;mit dem Erreichen der Volljhrigkeit muss zwischen beiden Staatsbrgerschaftenentschieden werden.

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    begnstigten, vergnglich sind, es jedoch Herausforderung derdeutschen Integrationspolitik ist, eine langfristige Perspektive fr denStaat, die deutsche Gesellschaft und die Migranten zu bieten. DieNotwendigkeit neuer Konzepte begrndet sich zunehmend auch aufwirtschaftlichen berlegungen. 13 Dem demographischen Wandelmuss gezielt durch Einwanderungsstrategien gegengesteuertwerden, denen ebenfalls die entsprechenden Integrationsangebotefr auereuropische Migranten, verstrkt jedoch auch fr die inner-gemeinschaftlichen Einwanderer, beigelegt werden mssen. Durchdie Strategie Frdern und Fordern konnten erste Grundsteinegesetzt werden.

    13 Das Arbeitskrfteangebot wrde sich bei konstanten Erwerbsquoten lautBerechnungen des Instituts fr Arbeitsmarkt- und Berufsforschung allein aufgrundder demographischen Entwicklung von 44,75 Millionen im Jahr 2008 auf 26,7Millionen im Jahr 2050 verringern. (vgl. chs, Johann, Doris Shnlein und BrigitteWeber (2011): Projektion des Arbeitskrfteangebots bis 2050. Rckgang und

    Alterung sind nicht mehr aufzuhalten. IAB-Kurzbericht 16/2011.). Bereits 2025stnden nur noch 38 Millionen Erwerbspersonen zur Verfgung.Bei einer Mobilisierung inlndischer Potenziale, z.B. Frauen und ltere und einemZuzug von 100.000 Zuwanderern, knnte man laut Berechnungen des Instituts fr

    Arbeitsmarkt und Berufsforschung 2025 von einem Erwerbspersonenpotenzial von41,3 Millionen ausgehen. Damit fiele der Rckgang bedeutend geringer aus.

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    Frdern und Fordern Integrationsmassnahmen

    der Bundesrepublik Deutschland

    Das deutsche Aufenthaltsgesetz ermglicht und gestaltet Zuwande-rung unter Bercksichtigung der Aufnahme- und IntegrationsfhigkeitDeutschlands. Dadurch ist Integration nicht mehr wie in derVergangenheit als Sozialarbeit zu verstehen, sondern impliziert dieMigrationssteuerung.

    In Deutschland besteht der Grundkonsens, dass Integrations-arbeit nicht darauf beschrnkt ist, das Zusammenleben vonMenschen unterschiedlicher Kultur zu begleiten, sondern Mindestan-forderungen an die Einwanderer zu stellen sind. Zu diesen Anforde-rungen gehren die Beherrschung der deutschen Sprache und dieAkzeptanz der Grundwerte der Aufnahmegesellschaft. Werden dieseGrundkenntnisse vom deutschen Staat eingefordert, sollen auch dieIntegrationsbestrebungen der Einwanderer angenommen und beglei-tet werden. Die Integrationspolitik der Bundesrepublik folgt so dem

    Grundsatz des Frderns und Forderns.Festzustellen ist somit eine Verschiebung der Selbst- und

    Fremdwahrnehmung der Migranten. Durch die, wenn auch verspteteSelbstwahrnehmung als Einwanderungsland nahm Deutschlandseine Einwanderer nun als Einwohner mit lngerfristiger Aufenthalts-dauer wahr, verstrkend kommt hinzu, dass ihnen in der Diskussionber den demographischen Wandel ein zentraler Platz eingerumtwird. Dadurch werden Potentiale aufgedeckt, die es zu fordern undfrdern gilt. Diese neue Fremdwahrnehmung der Migranten sollte imlogischen Schluss lngerfristig dazu fhren, dass Migranten sich alszentrales Element der Gesellschaft wahrnehmen und so Integrations-

    manahmen offener gegenberstehen.

    Eine Vereinheitlichung dieser Manahmen erweist sich jedochvor allen Dingen dadurch als schwierig, dass in Deutschland durchdas fderale System auf Ebene von Bund, Lndern und Kommunenunterschiedliche Zustndigkeiten bestehen. Ein fr die Integrationzentraler Bereich wie Bildung liegt im Kompetenzbereich der Lnder,Arbeitsmarktpolitik wiederum in dem von Bund und Kommunen.Vielfach stellt diese Kompetenzaufteilung die Bundeslnder jedochvor besondere Herausforderungen, da die Auslnderanteile in deneinzelnen Bundeslndern stark variieren.

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    So liegt der Auslnderanteil in den neuen Bundeslndern(ohne Berlin) bei nur 2,4 % whrend in den alten Bundeslndernjeder zehnte Brger Auslnder ist aber auch gibt es hier starkeUnterschiede und so liegt der Auslnderanteil in Berlin bei 13,7%.14Begegnet werden soll dieser Vielfalt durch gezielte Integrations-frderung und Foren des Integrationsdialogs, die dem Konzept desFrderns und Forderns Inhalt geben.

    Stellvertretend fr die Manahmen zur Integrationsfrderungund die Foren des Integrationsdialogs sollen in dieser Studie dieIntegrationskurse und der Nationale Aktionsplan Integrationvorgestellt werden.

    Nicht-EU-Auslnder sind zur Teilnahme an einem Integra-tionskurs verpflichtet, wenn sie zu Erwerbszwecken, zu Zwecken desFamiliennachzugs oder aus humanitren Grnden eine erste

    Aufenthaltsgenehmigung beantragen und nicht ber ausreichendeKenntnisse der deutschen Sprache verfgen, beziehungsweise inbesonderer Weise integrationsbedrftig sind und die Auslnder-behrde sie zur Teilnahme am Integrationskurs auffordert.15

    Bezglich der Orientierungskurse sind drei Aspektehervorzuheben. Um die individuelle Sprachfrderung der Teilnehmerzu ermglichen, wird der Sprachkurs in sechs Abschnitten vorgenom-men. Dies ist positiv einzuschtzen, da so den unterschiedlichenMigrationshintergrnden besser gerecht werden kann. 16 Positiv istdes Weiteren, dass der Test, der am Ende des Orientierungskursessteht, den Anforderungen des Einbrgerungstest angepasst werden

    soll, und so den Kursteilnehmern auch eine lngerfristige Perspektivebieten kann, die sich motivationsfrdernd auswirkt. Zentral ist jedochder fordernde Charakter der Manahme: Seit der 2011 in Kraftgetretenen nderung des Aufenthaltsgesetzes wird eineAufenthaltserlaubnis nur dann verlngert, wenn der Auslnder seiner

    14 Bundesministeriums des Inneren (2011): Migration und Integration-Aufenthaltsrecht, Migrations- und Integrationspolitik, S. 34.[http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?

    __blob=publicationFile]15 Vgl. Informationen auf der Homepage des Bundesamts fr Migration und

    Flchtlinge zu Integrationskursen. Der Integrationskurs setzt sich dabei aus zweiElementen zusammen und umfasst 600 Stunden Deutschunterricht, bei dem dasNiveau B1 auf Basis des europischen Referenzrahmens erreicht werden muss, und60 Stunden Orientierungskurs zur Vermittlung von Wissen ber die Rechtsordnung,Geschichte und Kultur in Deutschland. Der Integrationskurs wurde dabei an bereitsvorhandene Erfahrungswerte angepasst: Die Stundenzahl des Orientierungskurseswurde im Jahr 2012 von 45 auf 60 Stunden angehoben. Das Niveau B1 desEuropischen Referenzrahmens wurde auf Basis von Erfahrungen in denNiederlanden festgelegt. Hier wurde das Niveau B2 nur von einer geringen Anzahlvon Migranten erreicht.16 Fr Personen mit besonderem sprachpdagogischen Frderbedarf kann dasKursangebot so auf 900 Stunden aufgestockt werden.

    http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFilehttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFilehttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFilehttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFilehttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFilehttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2011/Migration_und_Integration.pdf;jsessionid=0DFA6DF6ACA7B518071C46508830B48A.2_cid287?__blob=publicationFile
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    Teilnahmepflicht nachgekommen ist. Die Erlaubnis wird im Folgendenhchstens um ein Jahr verlngert, bis der Auslnder seiner Kurs-pflicht nachgekommen ist oder einen anderweitigen Beweis liefert,dass er die sprachlichen und landeswissenschaftlichen Kompetenzenbesitzt. Der deutsche Staat fordert somit ein festgelegtes Mindest-niveau an Sprachkenntnissen, liefert fr den Erwerb dieser jedochauch die Strukturen.17

    Der erste Integrationsgipfel der 2006 durch das Kanzleramtorganisiert wurde, fhrte zur Erarbeitung des Nationalen Integrations-plans, der das Prinzip des zielorientierten Frderns verfolgt. Dieserwurde inzwischen zum Nationalen Aktionsplans Integration weiterent-wickelt und umschliesst 11 Dialogforen in deren Rahmen konkreteund zu berprfende Ziele festgelegt werden. Die Ergebnisse wurdenzu Beginn des Jahres 2012 vorgestellt und umfassen Thematiken derBildungspolitik (z.B. frhkindliche Frderung), des Arbeitsmarkts (z.B.

    Erwerbsleben, Migranten im ffentlichen Dienst), sowie der sozialenInklusion (z.B. Sport, brgerschaftliches Engagement). Im BereichArbeitsmarkt soll so zum Beispiel die individuelle Frderung verstrktwerden um somit die Potentiale von Kindern, Jungendlichen undjungen Erwachsenen besser zu erkennen, im Ausland erworbeneAbschlsse besser anerkannt und der Anteil von Migranten imffentlichen Dienst von Bund und Lndern erhht werden. ZuErreichung dieses Ziels werden durch Werbemanahmen im Internetund in der ffentlichkeitsarbeit, durch Kooperationen mit Drittensowie durch Informationen im Bereich des Umfelds (Eltern)18Ideenzur Berufsorientierung gesetzt. Aufgebaut wurde so eine Internetseitezu aktuellen Ausbildungs- und Stellenangeboten. Wir sind bund19

    setzt es sich zum Ziel vor allen Dingen junge Menschen mitMigrationshintergrund fr den ffentlichen Dienst als attraktivenArbeitgeber zu interessieren.

    Es ist somit festzustellen, dass mit den Integrationsma-nahmen ein klares Bekenntnis zur Integration stattfand. Lange Zeitwar der Status der Gastarbeiter unklar und es wurde so nicht inAusbildungs- und Weiterbildungsmanahmen investiert, Integrations-manahmen waren so nur vereinzelt und hufig in Modellformvorzufinden. Auch heute sind jedoch noch Teile der deutschenIntegrationspolitik als defizitr anzusehen, verschiedene wissen-schaftliche Analysen verweisen auf fehlgeschlagene Integration, die

    17 Kursteilnehmer bezahlen pro Kursstunde einen Beitrag von ca. 1(situationsabhngig), der Restbetrag wird durch das Bundesamt fr Migration undFlchtlinge bernommen.18 vgl. Drucksache 17/9268 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der

    Abgeordneten Frank Tempel, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE.19www.wir-sind-bund.de

    http://www.wir-sind-bund.de/http://www.wir-sind-bund.de/
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    auch wirtschaftliche Konsequenzen fr den deutschen Staat hat.20Dadie Manahmen jedoch relativ spt einsetzten, sind die Integrations-erfolge teilweise als geringer einzuschtzen als in anderen Lndern.21Gleichzeitig ergeben sich in den aktuellen Debatten weiterhinParallelen, denen durch einen gesamteuropischen Ansatz begegnetwerden sollte, die jedoch bisher auf nationaler Ebene gefhrt werden.Besonders anzufhren ist dabei die Islamdebatte, die auch in denNachbarlndern virulent gefhrt wird.

    20 Vgl. hierzu Berlin-Institut fr Bevlkerung und Entwicklung (2009): UngenutztePotentialeZur Lage der Integration.[http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdf]21 Vgl. hierzu Migrant Integration Policy Index (MIPEX). Der MIPEX vergleicht denrechtlichen Rahmen fr Integration in 31 Lndern Europas und Nordamerikas. Imaktuellen MIPEX erreichen die 31 Teilnehmerlnder im Durchschnitt 52 von 100mglichen Punkten. Spitzenreiter sind Schweden (83), Portugal (79) Deutschlandliegt mit insgesamt 57 Punkten etwas ber dem Durchschnitt.

    http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdfhttp://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdfhttp://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdfhttp://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Zuwanderung/Integration_RZ_online.pdf
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    Schafft Deutschland sich ab?Die deutsche Islamdebatte

    Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staatablehnt, fr die Ausbildung seiner Kinder nicht vernnftig sorgt undstndig neue kleine Kopftuchmdchen produziert"22, so argumentierteder SPD-Politiker Thilo Sarrazin schon 2009.23 Nur ein Jahr sptererschien sein Buch Deutschland schafft sich ab, in dem er den

    Islam als Ursache vieler Fehlentwicklungen in Deutschlandausmachte, so heisst es in seinem Buch: In keiner anderen Religionist der bergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so flieend.Keine andere Migrantengruppe, so Sarrazin, trete so fordernd aufund betone in der ffentlichkeit so sehr ihre Andersartigkeit,insbesondere durch die Kleidung der Frauen. Die Thesen von ThiloSarrazin, bewiesen sich nicht als Randerscheinung der deutschenGesellschaft, sondern stieen auf sehr breites politisches undmediales Echo. Wichtig ist dabei nicht die Tatsache, dass ber seineAussagen diskutiert, und diese hierbei vielmals abgelehnt wurden,zentraler ist vielmehr die Intensitt und Dauer der Debatte, dieaufzeigte, dass hinter der der Frage, welcher Platz der Islam in der

    deutschen Gesellschaft einnimmt, weiterhin ein grosses Fragzeichensteht. Sehr vorsichtig sollte man dabei mit dem Begriff der Islamo-phobie umgehen, der immer wieder in der Debatte auftauchte. Faktist jedoch, dass viele Deutsche ein zwiespltiges Verhltnis zumIslam haben. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2010wird so aufgefhrt, dass 58% der deutschen Bevlkerung der Ansichtsind, dass fr Muslime die Religionsfreiheit eingeschrnkt werdensollte. 24 Es handelt sich weniger um eine neue Form deutscherFremdenfeindlichkeit, sondern zeigt lediglich auf, dass Kritik an dermuslimischen Kultur salonfhig geworden ist.

    Die Wahrnehmungsverschiebung, die den arbeitenden Trken

    zum nicht-integrierten Muslim werden lie, verlief dabei schrittweise.

    22 Interview in Lettre International, Berlinheft, 30. September 2009.23 Zu vermerken ist, dass es sich nicht um eine parteipolitische Linie derSozialdemokraten handelt. Thilo Sarrazin wurde von seiner Partei stark kritisiert,zwei gegen ihn angestrengte Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel seines

    Ausschlusses aus der Partei scheiterten jedoch.24 Friedrich Ebert Stiftung (2010): Die Mitte in der Krise. RechtsextremeEinstellungen in Deutschland, S. 134. [http://library.fes.de/pdf-files/do/07504-20120321.pdf]

    http://library.fes.de/pdf-files/do/07504-20120321.pdfhttp://library.fes.de/pdf-files/do/07504-20120321.pdfhttp://library.fes.de/pdf-files/do/07504-20120321.pdfhttp://library.fes.de/pdf-files/do/07504-20120321.pdf
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    Ende der 1960er-Jahre wurden die trkischen Gastarbeiterausschliesslich in ihrer wirtschaftlichen Funktion wahrgenommen;unterschiedslos wurden sie der Gruppe der Sdlnder zugeordnet,denen man Arbeitswilligkeit und Disziplin nachsagte. Da es sichbei der Einwanderung der trkischen Gastarbeiter auf Grund desspteren Familiennachzugs um eine Kettenwanderung handelte,konnten ethnische Kolonien25 entstehen, die fr die Migranten zuSackgassen wurden und ihre Integration in die deutsche Gesellschafterschwerten. Mit der rumlichen Konzentration von trkischenMigranten entstanden gleichzeitig jedoch auch neue Vorurteile, Redewar nun von trkischen Ghettos. Erst mit dem Sichtbarwerden desIslams ab den 1980er Jahren durch Moscheen, Minarette undKopftcher nderte sich die Sichtweise auf die Migranten, die vonGastarbeitern zu Muslimen wurden. Dies erklrt warum in denDiskussionen zur Integration, die Islamdebatte inzwischen omni-prsent ist und die Religion eines Migranten strker wahrgenommen

    wird als seine Herkunft.

    Auch wenn verschiedene Politiker der Debatte inzwischen denWind aus den Segeln nehmen wollten, indem sie sich dazubekannten, dass der Islam zu Deutschland gehrt (Wulff) oderzumindest die Muslime (Gauck), zeigt allein dieser feine Unterschiedzwischen den beiden Aussagen deutscher Bundesprsidenten auf,mit welcher Malaise das Thema Islam in Deutschland diskutiert wird.

    Dabei gibt es durchaus Foren, in denen das Thema zumGegenstand gemacht wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei dieDeutsche Islamkonferenz, deren Ziel es ist, den Dialog zwischen

    staatlichen und muslimischen Vertretern (), das Miteinander undden gesellschaftlichen Zusammenhalt zu frdern26. Vielfach habenInitiativen auch dazu gefhrt, dass Muslime die Auslebung ihrerReligion leichter gemacht bzw. an deutsche Standards angepasstwird. Anfang 2012 wurde so das erste Zentrum fr IslamischeTheologie in Tbingen erffnet; auch die Universitten Mnster/Osnabrck, Frankfurt/Gieen und Nrnberg-Erlangen wurden fr dieEinrichtung islamischer Lehrsthle ausgewhlt. Seit dem Schuljahr2012/13 wird in Nordrhein-Westfalen auch islamischer Religionsun-terricht erteilt. 27 Andere Themen bleiben indes sensibel. Als dasBundesverfassungsgericht 2003 entschied, dass einer Lehrerin ihr

    25 Der Begriff der ethnischen Kolonien wird in verschiedenen wissenschaftlichenTexten genutzt, um die Aus- und Abgrenzung der trkischen Bevlkerung inDeutschland zu beschreiben; vgl. z.B. Ceylan, Rauf (2006): Ethnische Kolonien.Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel trkischer Moscheen und Cafs.Wiesbaden: VS Verlag fr Sozialwissenschaften.26 Vgl. Aufgabendefinition auf http://www.deutsche-islam-konferenz.de [Stand5.11.2012].27 Zu verweisen ist hierbei auf die Bildungshoheit der Lnder.Art. 7Abs. 3 Satz 1GG sichert den Bestand von Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach.Religionsgemeinschaften haben daraus unter bestimmten weiteren Voraussetzungeneinen Rechtsanspruch auf die Erteilung von Religionsunterricht.

    http://www.deutsche-islam-konferenz.de/http://bundesrecht.juris.de/gg/art_7.htmlhttp://bundesrecht.juris.de/gg/art_7.htmlhttp://www.deutsche-islam-konferenz.de/
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    Kopftuch nicht untersagt werden kann, solange keine besondereRechtsgrundlage besteht und die Bundeslnder anwies, entspre-chende Gesetze zu schaffen, wurde eine politische und juristischeDebatte losgetreten. Der Sommer 2012 wurde durch die Beschnei-dungsdebatte geprgt, die neben der muslimischen Bevlkerungauch die ber 100 000 Mitglieder jdischer Gemeinden inDeutschland betrifft.

    Der deutsche Staat sieht sich dabei vor allen Dingen demVorwurf eines Double Standards ausgesetzt. Hufig angefhrtesBeispiel hierfr ist, dass Kruzifixe in deutschen Klassenzimmernhngen drfen, Kopftcher jedoch kritisch gesehen werden. Eshandelt sich dabei um ein sehr deutsches Problem, das auch auf denSkularismus des Staates28zurckzufhren ist.

    Der deutsche Staat ist sich durchaus der Signifikanz der

    Islamdebatte fr die deutsche Gesellschaft bewusst. Problematischwird es dann, wenn rationale politische und juristische berlegungendurch Diskussionen berschattet werden, die auf rein emotionalerEbene gefhrt werden oder durch die Komplexitt der verschiedenenmuslimischen Verbnde in Deutschland erschwert werden.

    Der Islamkonferenz, die 2006 durch den damaligenInnenminister Wolfgang Schuble gegrndet wurde, wird sovorgeworfen, ein reiner Debattierclub zu sein. Und in der Tatscheinen die Themen, die die Konferenz zur Diskussion gestellt hat,fr ein jhrlich stattfindendes Treffen umfangreich: deutsche Gesell-schaftsordnung und Wertekonsens, Religionsfragen im deutschen

    Verfassungsverstndnis, Wirtschaft und Medien als Brcke29

    ,Sicherheit und Islamismus. Problematischer ist jedoch, dass sichviele Muslime nicht durch das Plenum, das sich neben Vertretern desBundes, der Lnder, der Kommunen und muslimischenEinzelvertretern auch aus sieben Vertretern von muslimischen Dach-und Spitzenverbnden 30 zusammensetzt, vertreten fhlen und sie

    28 Verflechtungen zwischen Kirche und Staat sind so geduldet, da jedoch zumBeispiel die Kirchensteuer von staatlichen Behrden eingezogen wird und derReligionsunterricht eine staatliche Aufgabe ist, entsteht Konfliktpotential. Dennwhrend Deutschland bis in die achtziger Jahre vor allen Dingen christlich geprgtwar, wurden in 2011 jeweils 29% Protestanten und Katholiken, 2,3% Muslime jedoch

    auch 37,6% Konfessionslose erhoben (vgl. Forschungsgruppe Weltanschauungen inDeutschland, Religionszugehrigkeit, Deutschland Bevlkerung 1970-2011[http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdf].29 Dies umschliesst die Themenbereiche Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt,

    Analyse des Islambildes in Deutschland, Engagement fr eine vorurteilsfreie unddifferenzierte Berichterstattung in den deutschen Medien.30 Verband Islamischer Kulturzentren e. V. (VIKZ), Alevitische GemeindeDeutschland e. V. (AABF), Islamische Gemeinschaft der Bosniaken inDeutschland e. V. (IGBD), Zentralrat der Marokkaner in Deutschland e.V. (ZMaD),Trkische Gemeinde Deutschland (TGD). Die TGD ist kein islamischer Dach- oderSpitzenverband. Mit der Einbeziehung der TGD sollen insbesondere trkisch-

    http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdfhttp://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdfhttp://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdfhttp://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdf
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    entweder als zu konservativ oder als zu modern einstufen. DerZentralrat der Ex-Muslime sieht in der Untersttzung von Moschee-bauten und der Schaffung von islamischem Religionsunterricht andeutschen Schulen die Muslimisierung und die Kommuni-tarisierung der deutschen Gesellschaft, whrend andere Gruppenwiederum die Schaffung eines Deutschen Islams kritisieren, der sichnur noch nach dem deutschen Grundgesetz und nicht mehr nachdem Koran richtet. Die Vielfalt der muslimischen Dachverbnde wirdauch dann zur Problematik, wenn wie in NRW islamischerReligionsunterricht in den Schulen angeboten werden soll, da derUnterricht inhaltlich nach Massgaben der jeweiligen Religions-gemeinschaft konzipiert wird, sich jedoch die Frage stellt wie so dieunterschiedlichen Konfessionen beachtet werden knnen.31

    Die Emotionalisierung der Debatte zeigte sich im Sommer2012, als das Klner Landgericht in einem Berufungsurteil die

    Beschneidung von Jungen als strafbare Krperverletzung wertete,selbst wenn die Eltern einwilligen. Als das Urteil in der Presse lautwurde, begann eine beispiellose Debatte zwischen deutscherffentlichkeit, Politikern und Juristen, die durch emprte Zwischen-rufen der jdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaftverstrkt wurde, dass freie Religionsausbung in Deutschland wohlnicht mehr mglich sei. Dabei handelte es sich lediglich um ein Urteileines Untergerichts, auf bundesweiter Ebene war dementsprechendkeine Rechtssicherheit gegeben. Inzwischen bekam das Beschnei-dungsgesetz, das die religise Beschneidungen unter Auflagenerlaubt32im Bundestag die Mehrheit.

    Die Frage, welcher Platz der Islam in der deutschen Gesell-schaft einnimmt oder einnehmen sollte, ist in der Integrationsdebattevon groer Zentralitt, sie stellt aber auch immer wieder einenBalanceakt dar. Dass Lsungen jedoch durchaus mglich sind, wennman gegenseitige Rechte und Pflichten anerkennt, bewies dasBundesland Hamburg. Im August 2012 wurde so ein Vertrag mit dengrten muslimischen Verbnden ausgehandelt, der die ThemenReligionsunterricht, die Anerkennung von religisen Feiertagen 33 ,Grundrechte und die Religionsfreiheit umschliesst. Die Debatte, soscheint, kann zu Lsungen fhren, wenn die muslimischen Verbndeals Vertragspartner anerkennt werden und konkrete gesetzlicheRechtslinien bestehen. Die Islamdebatte hat jedoch bereits

    stmmige laizistische (skulare) Muslime Deutschlands reprsentiert werden. DerZentralrat der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD) nimmt zurzeit nicht mehr an derKonferenz teil, da er in ihr keinen Mehrwert fr die Debatte ber den Islam sieht.31 In Schulversuchen wurde islamische Religionslehre fr sunnitische und schiitischesowie alevitische Religionslehre fr alevitische Schlerinnen und Schler erteilt.32 Diese Meinung wurde durch das Beratergremium von Bundestag undBundesregierung, dem Ethikrat, der am 23. August 2012 tagte, formuliert.33 Das Land unternimmt hierfr eine Gesetzesnderung: Die hchsten islamischenund alevitischen Feiertage werden den Status kirchlicher Feiertage erhalten.

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    verstrkend dazu gefhrt, dass sich Trken die Frage nach ihrereigenen Identitt und ihrer Zugehrigkeit stellen.

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    Selbstwahrnehmung Deutscher mittrkischen Migrationshintergrund

    und Trken dritter Generation

    Wenn Herr Seluk zu Herrn Seltschukund der Josefsplatz zum Yusufplatz wird34

    Was sind wir denn jetzt? Trken oder Deutsche?, diese Frage stelltCenk Yilmaz, ein sechsjhriger Junge, im Film Almanya Willkom-men in Deutschland35, nachdem ihn whrend eines Fuballspielsweder seine trkischen, noch seine deutschen Klassenkameraden insTeam whlen. Was als unschuldige Frage eines kleinen Jungensverstanden werden knnte, spiegelt auf eklatante Weise dieIdentittskrise wieder, der sich vor allen Dingen Deutsche mittrkischen Migrationshintergrund bzw. Trken der 3. Generationausgesetzt sehen.

    Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Debatten berGhettosierung die Medien prgen: In Stadtteilen von Berlin, so derTenor, wrde kein Deutsch mehr gesprochen. Die Rtli-Schule, in derein groer Anteil der Schler muslimischen Glaubens ist, wrde sodurch patriarchalisch trkisch-arabische Verhaltenskodexe geprgt.Deutschenfeindlichkeit", so einige Zeitungsberichte, prgtzunehmend die deutschen Schulhfe, auf denen deutsch-deutscheSchler durch Schler mit Migrationshintergrund bedroht undteilweise auch geschlagen werden. Zu zitieren ist an dieser Stelleauch Heinz Buschowsky, der Brgermeister von Berlin-Neuklln, derdas Phnomen der Parallelgesellschaften in seinem Stadtteilanprangerte und so viel zitierter Politiker in den deutschen Medien

    wurde.36

    34 Zitiert aus Mein Deutschland - Assimilation der Namen, Kolumne von Celalzcan in der Sddeutschen Zeitung, 7. August 2009.35 Der Film wurde 2011 zum Kassenerfolg in den deutschen Kinos. In derTragikkmodie werden die Themen Heimat und Identitt behandelt.36 Vgl. hierzu auch sein gerade erschienenes Buch: Buschowsky, Heinz (2012):Neuklln ist berall, Berlin: Ullstein Buchverlag.

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    Deutsche mit trkischen Migrationshintergrund oder Trkender dritten Generation so wird kritisiert, sind trkischer als die 2.Generation, die Aufsteigergeneration, und grenzen sich bewusstvon den deutschen Deutschen ab. Ungeklrt bleibt vielmals, woraufsich diese Abgrenzung begrndet: Handelt es sich so um einebewusste Identifikation mit dem Herkunftsland der Eltern bzw.Groeltern, das viele jedoch nicht oder nur durch Urlaubsreisenkennen, oder ist sie als Trotzreaktion auf die deutsche Gesellschaftzu verstehen, in der man nie seinen Platz gefunden hat.

    Strker noch als die Ghettosierung scheint jedoch einanderes Phnomen Beweis dafr zu sein, dass die Nachkommender Gastarbeiter sich nicht in der deutschen Gesellschaft willkom-men fhlen: Erstmals seit 1985 wurde in 2006 ein negativer Wande-rungssaldo (-2.208) bei trkischen Staatsangehrigen festgestellt, der2008 auf -8.190 anwuchs. Insgesamt ist die Nettozuwanderung von

    Staatsangehrigen seit 2002 rcklufig.37

    Besonders betont werdensollte dabei jedoch, dass es insbesondere die neue Zuwandererelite(ist), die trotz eines universitren Abschlusses, erwgt, in die Heimatder Eltern zurckzukehren. 38 Bei Studierenden mit trkischemMigrationshintergrund gaben 2009 36% an, dass sie eine Rckkehrin die Trkei in Erwgung ziehen.39Grund sind hufig die fehlendenZukunftsperspektiven in Deutschland: In einer Studie der UniversittKonstanz40wurde so durch einen Versuch mit 1000 Bewerbungen aufPraktikumsstellen fr Wirtschaftsstudenten nachgewiesen, dassBewerber mit trkischem Namen 14% weniger positive Antwortenerhielten als ihre Mitbewerber. In kleineren Unternehmen war dieAntwortquote sogar um 24% geringer. Es ist zu betonen, dass es sich

    bei den fiktiven Bewerbern durchgehend um deutsche Staatsbrgerhandelte.

    Wir sitzen auf den gepackten Koffern unserer Eltern sobeschreibt die Autorin Hatice Akyn die Tatsache, dass sich viele 2.und 3. Generationstrken zwischen den Sthlen fhlen. Denn ob essich nun um eine Auswanderung auf Grund von Diskriminierung,vermeintlicher Heimatnostalgie oder eben doch neuer wirtschaftlicher

    37 Bundesministerium des Inneren, Bundesamt fr Migration und Flchtlinge (2010) :Migrationsbericht des Bundesamtes fr Migration und Flchtlinge im Auftrag der

    Bundesregierung (Migrationsbericht 2008), S. 29.[http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/876734/publicationFile/55977/Migrationsbericht_2008_de.pdf]38 Sachverstndigenrat deutscher Stiftungen fr Integration und Migration (2010):Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010 mit Integrationsbarometer,S. 110.[http://www.svr-migration.de/content/wp-content/uploads/2010/11/svr_jg_2010.pdf]39 Sezer, Kamerun/Dalar, Nilgn (2009): Die Identifikation der TASD mitDeutschland Abwanderungsphnomen der TASD beschreiben und verstehen,Krefeld/Dortmund.40 Kaas, Leo/ Manger, Christian (2010): Ethnic Discrimination in Germanys LabourMarket: A Field Experiment, IZA Discussion Paper No. 4741.

    http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/876734/publicationFile/55977/Migrationsbericht_2008_de.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/876734/publicationFile/55977/Migrationsbericht_2008_de.pdfhttp://www.svr-migration.de/content/wp-content/uploads/2010/11/svr_jg_2010.pdfhttp://www.svr-migration.de/content/wp-content/uploads/2010/11/svr_jg_2010.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/876734/publicationFile/55977/Migrationsbericht_2008_de.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/876734/publicationFile/55977/Migrationsbericht_2008_de.pdf
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    Perspektiven der Trkei handelt, auch in der Trkei wartet auf dieAuswanderer ein Zwischenstatus: Deutschlnder oderAlmancilar nennt man in der Trkei die Rckkehrer.

    Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Viele Deutsche mitMigrationshintergrund oder Trken 2. oder 3. Generation sehen ihredoppelte Kultur, die sie rechtlich gesehen nicht durch eine doppelteStaatsbrgerschaft untermauern knnen, nicht als Manko, sondernals Mehrwert: Heimat ist ein vielfltiger Ort geworden, Trkischseinin Deutschland Kult oder zumindest Quelle eines groen Selbstsatire.Auch der schon erwhnte Film Almanya Willkommen inDeutschland kann als Erlsungsschlag gewertet wird, der dieklassische Lebensgeschichte einer deutsch-trkische Familienachzeichnet. Der Grovater, der als Gastarbeiter nach Deutschlandkam, singt da schon einmal die deutsche Nationalhymne zuorientalischen Klngen. Schon 2006 wurde die Serie Trkisch fr

    Anfnger von deutschen, aber auch internationalen Medien gefeiert.Die Serie zeigt das Zusammenleben der Patchworkfamilie Schneider-ztrk und spielt dabei mit den deutschen und trkischenStereotypen.

    Gleichzeitig haben trkische Persnlichkeiten den Einzug inverschiedene Sphren der Gesellschaft genommen. Der derzeitigeParteivorsitzende der Grnen Cem zdemir hat einen Migrations-hintergrund, 2010 erhielt mit der Ernennung von Aygl zkan zurSozialministerin von Niedersachsen zum ersten Mal einetrkischstmmige Person ein Ministeramt. Zudem sitzen zurzeit fnftrkischstmmige Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Als

    Paradebeispiel fr eine gelungene Integration wird auch gerne Mesutzil herangezogen, der fr Deutschland seit 2009 in der DeutschenNationalmannschaft spielt.

    Es handelt sich um vorsichtige Schritte, die die deutscheGesellschaft unternimmt, das Fremdbild scheint sich vor allen Dingendann zu verbessern, wenn sich die Trkischstmmigen deutlich zuihrem Deutschsein bekennen. Der Autor Zafer enocak verbildlichtdies sicherlich zugespitzt, wenn er in seinem Buch Deutschsein.Eine Aufklrungsschrift 41 schreibt Schweinefleisch verzehrende,Bier trinkende Muslime, die perfekt Deutsch und kein Trkisch mehrsprechen (wren willkommen). Ein frommer muslimischer Ingenieur,

    der hier friedlich und rechtschaffend lebt, aber darauf achtet, dassseine Kinder zweisprachig und bikulturell aufwachsen, ist es nicht.

    An dieser Stelle ist also auch wieder auf die Islamdebatte zuverweisen. Wie oben angefhrt, kann sicherlich nicht vonIslamophobie, jedoch von einer gewissen Skepsis gegenber dem

    41 enocak, Zafer (2011): Deutschsein. Eine Aufklrungsschrift. Hamburg : editionKrber-Stiftung.

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    muslimischen Glauben gesprochen werden. Diese Wahrnehmungkann indes nur zu einem Konflikt fhren, wenn man bedenkt, dasssich die Muslime in Deutschland durch eine hohe Religiosittgekennzeichnet auszeichnen: 90 Prozent der Muslime inDeutschland ber 18 Jahre sind religis, 41 Prozent davon sogarhochreligis 42 . Es ist zu unterstreichen, dass hufig voreiligeSchlsse gezogen werden, und Religiositt kein Gegenkonzept zumDeutschsein darstellen muss. In einer Studie des Bundes-ministeriums des Inneren wird so deutlich, dass 71% der muslim-ischen Frauen ohne Kopftuch Freundschaftskontakte zu Deutschenpflegen und sich zu 66% stark bzw. sehr stark zu Deutschlandverbunden fhlen. Bei Musliminnen mit Kopftuch liegen dieseProzentzahlen bei 51,5% bzw. 63,6%.43

    Im Abspann des Films Almanya Willkommen inDeutschland wird Max Frisch mit den Worten zitiert Wir riefen

    Arbeitskrfte, es kamen Menschen. Die Identitt dieser Menschensetzt sich in vielen Fllen aus verschiedenen kulturellen Bausteinenzusammen, indem sicherlich der ein oder andere trkische Nameeingedeutscht wird, damit der Behrdengang einfacher wird, derJosephplatz aber auch mal kurzfristig zum Youssef-Platz umgetauftwird. Deutsche Staatsbrger trkischer Herkunft, bezeichnen sichgerne auch selbst als Deutschtrken. Sie haben sogar ihre eigeneFahne bei der auf Schwarz-Rot-Gold der trkische Halbmond undStern aufgetragen wurde. Diese Fahne wehte dann bei der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 und noch viel mehr bei der Fussball-Europameisterschaft 2008, als Deutschland gegen die Trkei antrat.

    42 Bertelsmann-Stiftung (2008): Muslimische Religiositt in Deutschland. berblickzu religisen Einstellungen und Praktiken, S.6. [http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdf]43 Bundesministerium des Inneren (2009): Muslimisches Leben in Deutschland,S.204.[http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_leben_deutschland_.pdf]

    http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdfhttp://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_leben_deutschland_.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_leben_deutschland_.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_leben_deutschland_.pdfhttp://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_leben_deutschland_.pdfhttp://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdfhttp://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdf
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    Antworten auf aktuelleHerausforderungen und Defizite

    Deutschland versteht sich heute als Einwanderungsland und hatdurch die Anerkennung dieser Realitt ein Integrationskonzeptentwickeln knnen. Ist Deutschland dadurch jedoch als erfolgreichesIntegrationsland zu bezeichnen? Deutlich wurde, dass starkemotional aufgeladene Debatten, die zudem konjunkturell sind, den

    Herausforderungen, denen sich das Land stellen muss, nichtentsprechen.

    Durch den Fokus, der durch die Gesellschaft, teilweise auchdurch die Politik vor allen Dingen auf die Integration trkisch-stmmiger Migranten gelegt wird, durch die einseitige Schlussfol-gerung, dass deren Integration mehrheitlich als gescheitert anzu-sehen ist, sowie durch die Geiselnahme jeglicher Diskussion durchdie Begrenzung auf die Islamdebatte, entstand eine fataleKausalkette, die weder den wirtschaftlichen Herausforderungen nochder aktuellen Zuwanderungsrealitt und somit den Integrations-bedrfnissen gerecht wird.

    Deutschland braucht vielmehr langfristige Perspektiven, umSpaltungen einer multikulturellen Gesellschaft zu vermeiden undderen Potenziale angesichts der demographischen Probleme desLandes zu nutzen. So ist es unabdingbar, in die Bildung und Arbeits-marktinklusion der Migranten zu investieren, um dem demo-graphischen Wandel und den Folgen einer alternden Bevlkerungentgegenzuwirken.

    Die heutigen Integrationsmanahmen, die dem Prinzip desFrderns und Forderns folgen, sind als sinnvoll einzustufen. Durchdie relativ spte Definition eines Integrationskonzepts greifen die

    Manahmen jedoch nicht bei allen Empfngern, von denen lange Zeitkeine Integrationsleistungen eingefordert bzw. denen keine Struk-turen zur besseren Eingliederung in die deutsche Gesellschaftangeboten wurden. Parallelgesellschaften, die gerade bei dermuslimischen Bevlkerung Deutschlands vermutet werden, sind einzentrales Thema, die Auseinandersetzung zwischen salafistischenBewegungen mit der rechtsradikalen Gruppierung ProNRWsprechen Bnde und auch der vereitelte Anschlag von Salafisten amBonner Hauptbahnhof ist alarmierend. Die Problematik sollte jedochlosgelst von der Integrationsthematik debattiert werden, da es eine

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    Randgruppe der Muslime in Deutschland betrifft und diese nichtunbedingt einen Migrationshintergund haben.

    Die emotional aufgeladene Islamdebatte, die in Deutschlandlosgetreten wurde, muss durch rationale politische und juristischeberlegungen begleitet werden. Ziel mssen klare Vereinbarungenzwischen dem deutschen Staat und der muslimischen Bevlkerungfr die verschiedenen Bereiche sein, in denen sich Konflikte bildenknnen. Beispiel hierfr gibt die Hamburger Initiative, die aufBundesebene gehoben werden sollte und durch konkreteZugestndnisse, wie sie bisher nicht durch die Deutsche Islam-konferenz geleistet wurden, wie zum Beispiel der Anerkennung vonislamischen Feiertagen, viel zur Annherung beitragen kann.

    Schliesslich sollte die Integrationsfrage weniger durchEmotionen geleitet werden, sondern durch die Politik in die Realitt

    zurckgefhrt werden. Die Arbeitsmigration nach Deutschland,beeinflusst einerseits durch die Wirtschaftskrise, andererseits durchdie demographischen Bedrfnisse des Landes selbst, wird so neueMigrantengruppen, auch verstrkt aus der EU, nach Deutschlandbringen, denen auch bei mittelfristigem Aufenthalt in DeutschlandIntegrationsangebote unterbreitet werden mssen.

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    Notes du Cerfa

    Die Reihe Notes du Cerfa erscheint seit 2003 in monatlichemRhythmus und analysiert die politische, wirtschaftliche und sozialeEntwicklung des heutigen Deutschlands: Auen- und Innenpolitik,Wirtschaftspolitik und Gesellschaftsthemen. Die Notes du Cerfabieten kurze wissenschaftliche Analysen mit einer klaren policy-Orientierung. Die Publikation wird in elektronischer Form kostenlos anetwa 2.000 Abonnenten versandt, ebenso wie die Visions franco-

    allemandes, und ist zudem auf der Internetseite des Cerfa verfgbar,von der die Beitrge ebenfalls kostenlos heruntergeladen werdenknnen.

    Letzte Verffentl ic hungen d es Cerfa

    Alfred Grosser, France-Allemagne : le prsent en perspective, Visions franco-allemandes , n 21, janvier 2013.

    Claudia Major, La France, lAllemagne et la dfenseeuropenne, Visions franco-allemandes , n 20, janvier 2013.

    Roderick Parkes, Les relations germano-britanniques lheurede vrit, Note du Cerfa , n 99, novembre 2012

    Hannes Adomeit, German-Russian Rlations: Balance Sheetsince 2000 and Perspectives until 2025, Note du Cerfa , n 98,octobre 2012

    Stephan Klecha, La mutation du systme des partisallemands : bientt des pirates bord ?, Note du Cerfa , n 97,

    septembre 2012

    Lothar Rhl, Les enjeux du dialogue stratgique lchellefranco-allemande, Note du Cerfa , n 96, juillet 2012.

    Daniela Schwarzer, LEurope face lacrise de la dette : lesdbats politiques allemands, Note du Cerfa , n 95, juin 2012.

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    Das Cerfa

    Das Comit dtudes des relations franco-allemandes (Studien-komitee fr deutsch-franzsische Beziehungen, Cerfa) wurde 1954durch ein Regierungsabkommen zwischen der BundesrepublikDeutschland und Frankreich gegrndet. Die Amtsvormundschaft desCerfa kommt seitens Frankreich dem Ifri und seitens Deutschlanddem DGAP zu. Das Cerfa wird parittisch durch das Ministre desAffaires trangres et europennes und das Auswrtigen Amt

    finanziert. Des Weiteren besteht der Verwaltungsrat aus einergleichen Anzahl an deutschen und franzsischen Persnlichkeiten.

    Das Cerfa setzt sich das Ziel, Prinzipien, Bedingungen undLage der deutsch-franzsischen Beziehungen auf politischer,wirtschaftlicher und internationaler Ebene zu analysieren; Fragen undkonkrete Probleme, die diese Beziehungen auf Regierungsebenestellen, zu definieren; Vorschlge und praktische Anregungen zufinden und vorzustellen, um die Beziehungen zwischen den beidenLndern zu vertiefen und zu harmonisieren.

    Dieses Ziel wird durch regelmige Veranstaltungen und

    Seminare, die hohe Beamte, Experten und Journalisten versammelnsowie durch Studien in Bereichen gemeinsamen Interessesverwirklicht.

    Prof. Dr. Hans Stark leitet das Generalsekretariat des Cerfaseit 1991. Dr. Yann-Sven Rittelmeyer arbeitet dort alswissenschaftlicher Mitarbeiter und ist fr die Notes du Cerfa und dieVisions franco-allemandes zustndig. Nele Wissmann istwissenschaftliche Mitarbeiterin und fr das Projekt Deutsch-franzsischer Zukunfts-dialog zustndig.