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EIN POLITIKUM NAMENS GEOPOLITIK Die internationale Ordnung gleicht seit einiger Zeit eher einer ‚Un-Ordnung‘ ohne klare Konturen, mit widersprüchlichen Tendenzen und hohem Konflikt- und Chaospotential. Die USA ziehen sich aus weltpolitischer Verantwortung zurück und handeln zunehmend nach der Devise ‚America First‘, China hingegen formuliert recht unverhohlen seinen weltpolitischen Führungsanspruch und versucht diesen u. a. mit seiner ‚Seidenstraßeninitiative‘ zu untermauern und Russland denkt mit dem Konzept der ‚Russischen Welt‘ ebenfalls wieder in Kategorien der Beherrschung von Räumen und militärisch abzusichernden Einflusszonen. Zunehmend gerät dabei in Wissenschaft und Politik der Zusammenhang zwischen geographischen Gegebenheiten und politischen Konstellationen wieder in den Blick. Kurzum: Der Begriff ‚Geopolitik‘ erfährt in mancherlei Hinsicht eine Renaissance. In Deutschland hat Geopolitik dabei aus sehr guten Gründen einen schlechten Ruf. Denker wie Friedrich Ratzel (1844 – 1904) oder Karl Haushofer (1869 – 1946) lieferten die argumentative Grundlage für einen ‚Kampf um Lebensraum‘ und die aggressive nationalsozialistische ‚Blut-und-Boden-Politik‘. So sehr Geopolitik in Deutschland nach 1945 tabuisiert wurde, so sehr blieben allerdings geopolitische Denkmuster im angloamerikanischen Sprachraum und darüber hinaus stets wirkmächtig – und geographische Fakten und Tatsachen beeinflussen den Lauf der Geschichte ja auch in mancherlei Hinsicht unbestreitbar. Dass sie das in veränderter Weise tun und im Zuge der Globalisierung eine ‚Neue Geopolitik‘ vonnöten ist – jenseits von geostrate- gischen Konkurrenzreflexen und simplistischen Raumkonzepten –, macht die Auseinan- dersetzung damit spannend. Diese Ausgabe von nimmt diese ‚Neue Geopolitik‘ in den Blick. In zwei Grund- satzbeiträgen wird zunächst aus unterschiedlichen Perspektiven konzeptionell auf Geo- politik geblickt, einmal eher kritisch mit dem Plädoyer für ein postmodernes Verständnis und einmal eher klassisch mit der Begründung für eine Art Ehrenrettung. Zudem werden geopolitische Vorstellungen dreier großer Mächte – USA, China und Russland – analysiert und gefragt, wie sich Deutschland den veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen stellen soll. In einem Interview werden die langen Linien geopolitischen Denkens heraus- gearbeitet und in einem Forums-Beitrag wird argumentiert, dass die EU eine strategische Sensibilisierung benötigt. Johannes Varwick

EIN POLITIKUM NAMENS GEOPOLITIK · EIN POLITIKUM NAMENS GEOPOLITIK Die internationale Ordnung gleicht seit einiger Zeit eher einer ‚Un-Ordnung‘ ohne klare Konturen, mit widersprüchlichen

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EIN POLITIKUM NAMENS GEOPOLITIK

Die internationale Ordnung gleicht seit einiger Zeit eher einer ‚Un-Ordnung‘ ohne klare Konturen, mit widersprüchlichen Tendenzen und hohem Konfl ikt- und Chaospotential. Die USA ziehen sich aus weltpolitischer Verantwortung zurück und handeln zunehmend nach der Devise ‚America First‘, China hingegen formuliert recht unverhohlen seinen weltpolitischen Führungsanspruch und versucht diesen u. a. mit seiner ‚Seidenstraßenini tiative‘ zu untermauern und Russland denkt mit dem Konzept der ‚Russischen Welt‘ ebenfalls wieder in Kategorien der Beherrschung von Räumen und militärisch abzusichernden Einfl usszonen. Zunehmend gerät dabei in Wissenschaft und Politik der Zusammenhang zwischen geographischen Gegebenheiten und politischen Konstellationen wieder in den Blick. Kurzum: Der Begriff ‚Geopolitik‘ erfährt in mancherlei Hinsicht eine Renaissance.

In Deutschland hat Geopolitik dabei aus sehr guten Gründen einen schlechten Ruf. Denker wie Friedrich Ratzel (1844 – 1904) oder Karl Haushofer (1869 – 1946) lieferten die argumentative Grundlage für einen ‚Kampf um Lebensraum‘ und die aggressive nationalsozialistische ‚Blut-und-Boden-Politik‘. So sehr Geopolitik in Deutschland nach 1945 tabuisiert wurde, so sehr blieben allerdings geopolitische Denkmuster im anglo amerikanischen Sprachraum und darüber hinaus stets wirkmächtig – und geographische Fakten und Tatsachen beeinfl ussen den Lauf der Geschichte ja auch in mancherlei Hinsicht unbestreitbar. Dass sie das in veränderter Weise tun und im Zuge der Globalisierung eine ‚Neue Geopolitik‘ vonnöten ist – jenseits von geostrate-gischen Konkurrenzrefl exen und simplistischen Raumkonzepten –, macht die Auseinan-dersetzung damit spannend.

Diese Ausgabe von nimmt diese ‚Neue Geopolitik‘ in den Blick. In zwei Grund-satzbeiträgen wird zunächst aus unterschiedlichen Perspektiven konzeptionell auf Geo-politik geblickt, einmal eher kritisch mit dem Plädoyer für ein postmodernes Verständnis und einmal eher klassisch mit der Begründung für eine Art Ehrenrettung. Zudem werden geopolitische Vorstellungen dreier großer Mächte – USA, China und Russland – analysiert und gefragt, wie sich Deutschland den veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen stellen soll. In einem Interview werden die langen Linien geopolitischen Denkens heraus-gearbeitet und in einem Forums-Beitrag wird argumentiert, dass die EU eine strategische Sensibilisierung benötigt.

Johannes Varwick

Sensibilisierung benötigt.

Johannes Varwick

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SchwerpunktEine diff erenzierte Ehrenrettung der Geopolitik

Geopolitik hat zu Recht keinen guten Ruf. Der Miss-brauch geopolitischer Denkfi guren sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, welche grundlegen-den Herausforderungen geographische Tatsachen für die Politik aufwerfen. Zeit für eine Ehrenrettung.

SchwerpunktRussische Geopolitik in der polyzentrischen Welt

Russisches geopolitisches Denken steht konträr zur Vorstellung von einer multilateralen Ordnung auf Basis geteilter internationaler Normen und Prin-zipien. Eine geopolitische Konkurrenz mit Moskau kann nicht länger ignoriert werden.

SchwerpunktDie Geo-Ökonomie der USA

Das Ziel der USA ist zunehmend die Verhinderung eines chinesischen und europäischen Einfl usses in der Wirtschafts-, Währungs- und Handelspolitik. Konsequenz sollte eine aktive Souveränitätspolitik Europas sein.

SchwerpunktKonnektivitätspolitik: Geopolitik auf Chinesisch

Der chinesischen Führung geht es nicht mehr darum, das Land an die bestehende internationale Ordnung anzupassen, sondern die Welt an China.

SchwerpunktÜber Möglichkeiten, Raum zu denken

Räumliche Bezüge dienen als emotionale Ret-tungsanker und Geländer des Denkens. Klassische Geopolitik reduziert aber politische Konfl ikte auf räumliche Ursachen und Politik wird zum Beifahrer der Geschichte. Das greift deutlich zu kurz.

Seite 4

Seite 14

Seite 22

Seite 38

Seite 30

„Damit kehrt eine machtgestützte Geopolitik nach

Europa zurück, und es wird höchste Zeit für die

Europäer, aus ihren sanften Träumen von einer

rechtsbasierten kontinentalen Ordnung zu

erwachen. Die Welt ist anders, leider.“

Joschka Fischer, ehem. Bundesaußenminister

2 Neue Geopolitik

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Neue Geopolitik

Jan Helmig Konstruktive Geopolitik. Über unterschied- liche Möglichkeiten, Raum zu denken 4

Rudolf G. Adam Geopolitik als politisches Argument. Eine differenzierte Ehrenrettung 14

Josef Braml Die Geo-Ökonomie der USA 22

Stefan Meister Russische Geopolitik in einer polyzentrischen Welt 30

Nadine Godehardt und Paul J. Kohlenberg Konnektivitätspolitik: Geopolitik auf Chinesisch? 38

Pro & Contra

Jan Techau: Deutsche Außenpolitik muss strategischer werden 47

Robert Kappel: In der Falle der Geopolitik. Deutsche Außenpolitik hat sich bewährt 52

Interview mit Herfried Münkler „Von dem Augenblick an waren

geopolitische Fragen wieder da“ Über die langen Linien geopolitischen Denkens 56

Forum

Kai-Olaf Lang Schluss mit strategischer Blindheit. Die EU braucht eine balancierte Geopolitik 62

Rezensionen

Bücher zum Thema 68

Das besondere Buch 72

Bücher zu Politik und politischer Bildung 74

Literaturtipps 78

Impressum 80

Seite 46

Seite 56

Seite 62

Pro & ContraDeutsche Außenpolitik: verkehrt oder bewährt?

Wie soll sich Deutschland den veränderten geopoliti-schen Rahmenbedingungen stellen und was bedeu-tet dies für die deutsche Außenpolitik?

Forum Strategische Blindheit am Ende: Die EU braucht eine balancierte Geopolitik

Lange Zeit war dem europäischen Projekt geopoli-tisches Denken fremd. Doch die EU benötigt eine strategische Sensibilisierung.

InterviewHerfried Münkler über die langen Linien geopolitischen Denkens

Globale Normordnungen dürften in der praktischen Politik an Bedeutung verlieren und geopolitische Fragen sind zurück. Wer fixiert ist auf Wertebin-dung, der hat keinen Blick für die veränderten geopolitischen Konstellationen.

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