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M. Neuber · H. Rieger · A. Joist · E. Brug · Klinik und Poliklinik für Unfall- und Handchirurgie,Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Die knöcherne Avulsion derischiokrualen Muskelgruppemit begleitender Ischialgie
Zusammenfassung
Originäre traumatische Apophysenausrisseder ischiokrualen Muskelgruppe gehören zuden sehr selten auftretenden Knochenläsio-nen. Sie sind Folge eines komplexen Unfall-mechanismus, welcher oft als ¹Spagatfigurªumschrieben wird. In der Regel werden un-mittelbar sich einstellende, gluteal betonteRuhe- und Berührungsschmerzen, sehr sel-ten kombiniert mit Ischialgien angegeben.Entsprechend der funktionellen Anatomieresultiert ein Verlust der kraftvollen Knie-beugung respektive der Hüftstreckung. Dierichtige Diagnose ist nicht immer eindeutigabzuleiten. Wir berichten über einen 42 jäh-rigen Patienten unter Berücksichtigung desuntypischen Unfallalters und der begleiten-den Ischiasreizsymptomatik. Epidemiologie,Symptomatik, Differentialdiagnosen, Dia-gnostik und Therapie werden detailliert dar-gestellt.
Schlüsselwörter
Traumatische Apophysenausrisse · Tuberischiadicum · Ischiokruale Muskelgruppe ·Ischialgie
Traumatisch verursachte Apophysen-ausrisse stellen als ¹quantitØ nØgligea-bleª eine zwar quantitativ verschwin-dend geringe, vom klinischen Leitbildaber charakteristische und deshalb be-achtenswerte Entität der Beckenrand-frakturen dar. Betroffen sind in der Re-gel die Spinae iliacae anteriores supe-riores et inferiores oder selten dasTuber ischiadicum [4]. Typischerweiseist der hierbei zu einer Apophysen-abrissfraktur führende Unfallmecha-nismus die Quintessenz einer dem Spa-gat ähnlichen Beingrätsche [2]: der Hy-perextension im Kniegelenk bei gleich-zeitiger Flexion und/oder Abduktionder Hüfte. Kommt es dabei zwangsläu-fig zu einer Hyperextension des kon-tralateralen Hüftgelenks, so resultiertbei Beckeninklination ein maximalerDehnungsstreû der ischiokruralenMuskelgruppe [12].
Überwiegend handelt es sich beiden bislang dokumentierten Ereignis-sen schlechthin um primär ursächlicheApophysenlösungen, verursacht durchabrupte unphysiologische Beanspru-chungen des Muskelmantels, wie es z. B.häufig bei Hochleistungssportlern be-obachtet wird [2, 7, 12, 13]. Daher rekru-tiert sich das Alterskollektiv vornehm-lich aus jugendlichen Patienten der 2.und frühen 3. Lebensdekade [1, 2, 7],dem Zeitpunkt der apophysären Kno-chenkernverschmelzung mit dem Epi-physenhauptkern [13]. Reine Apophy-senfrakturen spielen sich auch jenseitsdessen ab, sind damit jedoch eher seltendem höheren Alter vorbehalten. Retro-spektiv ist eine sichere Abgrenzung zuroriginären Apophysenfraktur mithinkasuistisch erschwert.
Inapparente Apophysenausrissekönnen die Ursache schmerzhafterApophysenveränderungen sein [14, 15]und bleiben nicht selten ohne nativra-diologisches Korrelat [14]. Ishikawaet al. stigmatisieren hierin sogar dasKrankheitsbild [5], im Widerspruch zufrüheren Ansichten [13]. Das MRT istaufgrund seiner vergleichsweise hö-heren Sensitivität daher heutzutage alsdas mittelfristig geeignetere Diagnosti-kum anzusehen [15].
Der sich dem Unfallereignis unmit-telbar anschlieûende, heftige aber zu-nächst lokal begrenzte und in der Tiefeder kaudalen Glutealregion lokalisierteSchmerz hat pathognomonischen Cha-rakter. Berührungsmiûempfindungenund Druckschmerz distal des Sitzbein-höckers lassen sich spontan provozie-ren. Kennzeichnend sind auch ein Ver-lust der kraftvollen Kniebeugung re-spektive der Hüftstreckung [1, 5]. Diebetroffene Extremität verliert ihreFunktion als Standbein, dauerhafte sit-zende Körperhaltung wird als unerträg-lich beklagt. Affektionen neuralerStrukturen, vor allem des N. ischiadi-cus, werden vereinzelt dokumentiert [2,9], zählen aber zu den absoluten Raritä-ten und stellen somit keine Conditiosine qua non dar.
Zur Frage des therapeutischenVorgehens existieren derzeit unein-heitliche, teils kontradiktorische An-sichten. Limitierend scheinen zunächstdie Fragmentgröûe und das Maû sei-
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Unfallchirurg1998 ´ 101:408±411 � Springer-Verlag 1998 Kasuistik
Dr. M. NeuberKlinik und Poliklinik für Unfall- und Handchirurgie,Westfälische Wilhelms-Universität Münster,Waldeyerstraûe 1, D-48129 Münster
ner Dislokation [16] nach kaudal zusein. Nicht wenige Meinungen [5, 10,11, 13, 16] empfehlen bei ausgeprägtenBefunden zunächst einen konservati-ven Therapieversuch, mittelfristig zurPrävention (oder bei Persistenz [8])chronischer Ischiolumbalgien [2] re-spektive Sitzbeschwerden aber ein ope-ratives Vorgehen. Letzteres bedeutetdie Fragmentfixierung mittels Zug-schraubenosteosynthese [4] über einendorsalen Zugang. Nach konservativerTherapie langstreckig bindegewebigüberbrückte Frakturspalte verursachenebenfalls therapieresistente Beschwer-den und sollten, u. U. unter gleichzeiti-ger Resektion des dislozierten Frag-ments [2, 6, 11], chirurgisch saniertwerden. Verfechter dieser Strategie do-
kumentieren eine komplette restitutioad integrum [16].
Nichtoperative Therapieansätze imSinne einer konsequenten Ruhigstel-lung in Hüftstreckung bei gleichzeitigerKniebeugung [11] erfahren nach vor-herrschender Meinung ihre Berechti-gung bei Minimaldislokation [13]. DerVorschlag, diese Maûnahme generell zupraktizieren wird jedoch eher von Min-dermeinungen vertreten [8]. Ist der An-spruch des Patienten der einer komplet-ten, auch den sportlichen Höchstanfor-derungen genügenden Rehabilitation,wird die operative Intervention propa-giert [3, 12, 16].
Falldarstellung
Der 42 jährige männliche Geschäfts-mann stellte sich etwa 3 Wochen nachdem Ereignis erstmals vor. Er schilderteden Unfallhergang als ein seitlichesAusgleiten des rechten Standbeins wäh-rend des Versuchs, mit dem linken Fuûbeim Aufräumen und Säubern seinesLadens einige übereinander gestapelteKisten beiseite zu schieben. Dabei habesich im Sinne einer daraus resultieren-den Abduktionsbewegung des linkenBeines quasi die Situation eines Spagatsergeben. Ein Schmerzempfinden vonreiûendem Charakter stellte sich unmit-telbar darauf in der ipsilateralen, linkenGesäûhälfte ein. PrädisponierendeGrunderkrankungen konnten nichteruiert werden. Permanente Inan-spruchnahme dieser Körperregion, ins-besondere durch regelmäûige sportli-che Betätigung (Leichtathletik, Gymna-stik), wurde verneint.
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M. Neuber · H. Rieger · A. Joist · E. Brug
Avulsion fracture of the ischialtuberosity causes sciatica
Summary
Avulsion fractures of the ischial tuberosityare rare. They are often caused by a typicalªsplitsº-like accident. In general the patientsfeel sudden severe pain in the buttock withlocalized tenderness in the region of the is-chial tuberosity, rarely in combination withsciatic nerve irritation. According to thefunctional anatomy, flexion of the knee andextension of the hip may be impaired.Roentgenograms often reveal no abnormal-ity and show no evidence of fracture. There-fore, inadequate therapy because of misseddiagnosis can result in avoidable persistentpain. We report on a 42-year-old man withan avulsion fracture of the ischial tuberosity.The epidemiology, symptoms, including irri-tation of the sciatic nerve, differential diag-noses, diagnostic procedures and therapy arepresented in detail.
Key words
Avulsion fracture · Ischial tuberosity ·Sciatica · Hamstring muscles
Unfallchirurg1998 ´ 101:408±411 � Springer-Verlag 1998
Abb. 1~ Röntgennativaufnahme der linken Sitz-beinregion ± die markierte knöcherne Abspren-gung läût sich nicht überzeugend diagnostizieren
Abb. 2~ T1-Meûmodus ohne KM, transversal: die Läsion ist mit Pfeilen markiert
Mit zweitägiger Verzögerung er-folgte die Vorstellung bei einem nieder-gelassenen Kollegen. Bei freier Hüftge-lenkbeweglichkeit beklagte der Patientdort erheblichen Ruheschmerz deskompletten linken Gesäûes, in extremisbei Gelenkstreckung. Das Punctum ma-ximum lag im inneren oberen Gluteal-quadranten. Im Hinblick auf die Ana-mnese wurden, zunächst unter Verzichtauf Röntgenaufnahmen, physikalischeMaûnahmen (Wärme, Interferenz-strom) in Kombination mit intramus-kulärer Antirheumatikagabe unter derPrimärdiagnose ¹Zerrung der linkenGesäûmuskulaturª eingeleitet. Unge-achtet dessen waren die Beschwerdenprogredient. Nachträglich angefertigte,MRT-gestützte Röntgenbilder des Bek-kens wiesen die tatsächliche Läsion imBereich des Sitzbeinhöckers nach(Abb. 1±4).
Nach Zuweisung in unsere Klinikzeigte sich bereits eine nunmehr auchbereits im Ansatz schmerzhaft einge-schränkte Auûenrotation der Hüfte, wo-bei passive Bewegungen in der Ab-/Ad-duktionsebene über das Maû von 60-0-70 � nicht tolerabel waren. Links glutealin Projektion auf das Tuber ischiadicumlieûen sich sowohl lokal als auch rektalDruckschmerz mit bis in die Fuûspitzeausstrahlenden Ischialgien auslösen.Schonhaltung in Hüftbeugung wurdespontan eingenommen. Das Las�gue-Zeichen war positiv auslösbar, ein sen-somotorisches Korrelat fehlte. Bei un-auffälligem Reflexstatus lieûen die Be-schwerden eine radikuläre Zuordnung
vermissen. Eine daraufhin initiierteneurologische Konsultation bestätigtedie Ischiasirritation. Auf neurotechni-sche Zusatzbefunde (EMG, NLG)wurde, aufgrund der eindeutigen Kli-nik, verzichtet.
Eine operative Intervention lehnteder Patient unter Berücksichtigung sei-ner privaten Situation ab. Unter syste-misch analgetisch-antiphlogistischerTherapie und strikter Entlastung derExtremität war die Symptomatik rück-läufig. Ruheschmerz besteht gegenwär-tig lediglich in sitzender Position, indiesem Fall mit ausschlieûlich glutealbeschränkter Ischiasreizsymptomatik;6 Monate nach Traumatisierung wurdeeine ± im Vergleich ± deutliche Be-schwerdereduktion angegeben.
Diskussion
Fallberichte dieses sehr sporadisch auf-tretenden Krankheitsbildes reichen bisin das frühe zwanzigste Jahrhundert zu-rück. Martin et al. [7] verweisen auf eineReihe von Unfallereignissen meist ju-gendlicher Patienten, einer Alterspräfe-renz, die sich i. allg. als scheinbar pa-thognomonischer Grundsatz durch dieLiteratur verfolgen läût. In der Tat re-präsentieren Patienten der 4. oder 5. Le-bensdekade die absolute Minorität.Nach unseren Recherchen lieû sich nurein einziges Unfallgeschehen einer45 jährigen Frau aus dem Jahre 1945 eru-ieren [7].
Zu einigen Referaten, zumindestgegenüber denjenigen aus Zeiten einge-
schränkter apparativer diagnostischerMittel, muû folgerichtig kritisch kon-statiert werden, daû es sich im Einzel-nen auch um miûdeutete ischiale Apo-physiolysen gehandelt haben kann. Die-ses ist bei dem Alter unseres Patientennicht möglich. Anhand der zuvor ge-schilderten Krankengeschichte gelingtes deshalb den Krankheitsverlauf unterkonservativer Behandlung in puris na-turalibus zu verfolgen.
Symptomatische Ischiasreizungwird als begleitendes Stigma nur sehrvereinzelt genannt. Hamada et al. [2]verweisen bereits auf entsprechende Be-schwerden als Folgezustände eines miû-lungenen konservativen Therapieversu-ches. Miller et al. [9] vermochten als er-ste die klinische Diagnose auch durchelektromyo- bzw. elektroneurographi-sche Stimulation zu untermauern. Ausunserer Sicht (und vor dem Hinter-grund der geschilderten Krankheitsge-schichte) erscheinen diese Untersu-chungen jedoch beim Vorliegen eindeu-tiger klinischer Charakteristika als fürden einzuschlagenden therapeutischenWeg weniger relevant zu sein. In diesertopographisch nicht immer übersichtli-chen Region sollte es im Einzelfalle kri-tisch abgewogen werden, ob eine inva-sive EMG oder die NLG nicht nur vonakademischem Interesse sind. Unbeein-fluût davon sind auch wir davon über-zeugt, daû bei persistierender klini-scher, auch apparativ nicht gestützterSymptomatik die Vorgehensweise oh-nehin die einer operativen Sanierungsein sollte. Freilich stellt sich bei demAlter unseres Patienten die Indikationals eine andere im Vergleich zu der einesathletisch ambitionierten Jugendlichen.
Poulsen et al. [10] treten, um prä-therapeutische Zeitverluste zu minimie-
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Abb. 3~ T1-Meûmodus ohne KM, Frontalebene: Befunddemonstration
Abb. 4~ T1-Meûmodus ohne KM, Frontalebene: Befunddemonstration
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ren, für eine möglichst frühe nativra-diologische Sicherung der klinischenVerdachtsdiagnose ein. Sicherlich isteine zügige bildgebende Diagnostikwesentlich für den Therapieerfolg. In-des halten wir im Konsens mit bereitspublizierten Berichten [15] bzw. Quel-len, welche in diesem Zusammenhangdie Unterlegenheit der a.-p.-Röntgen-aufnahme postulieren [5], die compu-tergestützten Verfahren wie CT oderMRT im Hinblick auf ihre vergleichs-weise höhere Sensitivität für aussage-kräftiger. Dieses Defizit lieû sich auchanhand der von uns initiierten Aufnah-men nachvollziehen (Abb. 1 vs. 2±4).Nicht selten stellt sich ein nativradiolo-gisch maskierter Befund im nachhineinals möglicher Apophysenausriû dar[14]. Das MRT als Bestandteil der Pri-märdiagnostik sollte daher eine kriti-sche Diskussionsgrundlage bilden.
Befürworter einer primär operativausgerichteten Therapie stellen die bis-lang meinungsführende, rein konserva-tiv ausgerichtete Behandlungsstrategie[8] nach wie vor in Frage. Beiden Anti-
poden, sowohl einer uneingeschränktnicht-operativen Therapie ohne Prü-fung der Operationsindikation als aucheiner primär operativen Versorgungohne konservativem Therapieversuchkönnen wir uns nicht anschlieûen.Auch hier sollte der Kompromiû, alsoeine konservative Anbehandlung mitder Option einer späteren operativenIntervention, als Modell in der Diskus-sion bleiben. Nicht zuletzt stellt der pe-rianale Zugangsweg für den Patientenein Infektionsrisiko dar. Daher schlagenwir ein primär operatives Vorgehen nurbei Dislokation gröûerer Fragmente vor.
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