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20. JULI 1944 Die zu späte Verschwörung Am 20. Juli 1944, gegen 12.50 Uhr, detonierte im Lageraum des Führerhauptquartiers "Wolfschanze" in Ostpreußen der Sprengsatz des Attentäters Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Demokraten waren die Männer des 20. Juli, für die Führergedanke, Volksgemeinschaft und autoritärer Ständestaat verführerisch waren und blieben, gewi ß nicht. Gleichwohl erscheint das gescheiterte Bombenattentat, so schrieb der Publizist und Hitler-Biograph Joachim Fest als "symbolische Tat". DPA Claus Schenk Graf von Stauffenberg

20 Juli 1944 - Die zu späte Verschwörung

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20. JULI 1944

Die zu späte Verschwörung

Am 20. Juli 1944, gegen 12.50 Uhr, detonierte im Lageraum des Führerhauptquartiers "Wolfschanze"

in Ostpreußen der Sprengsatz des Attentäters Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg.

Demokraten waren die Männer des 20. Juli, für die Führergedanke,

Volksgemeinschaft und autoritärer Ständestaat verführerisch waren und blieben,

gewiß nicht. Gleichwohl erscheint das gescheiterte Bombenattentat, so schrieb der

Publizist und Hitler-Biograph Joachim Fest als "symbolische Tat".

DPA

Claus Schenk Graf von Stauffenberg

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Der Klumpen, der über DeutschlandsSchicksal entschied, wog 975Gramm. Es war rissiger Sprengstoff

der Marke „Plastit W“, hergestellt von derWasag-Chemie AG, darin hineingedrücktzwei englische Zeitzünder, alles einge-wickelt in Packpapier – genug, um AdolfHitler zu töten.

Doch Oberst Claus Schenk Graf vonStauffenberg kam nicht mehr dazu, diehochexplosive Masse in seiner Tasche zu

rief Major Ernst John von Freyend. Hastigschloss der Oberst seine Aktentasche, unddamit nahm das Verhängnis seinen Lauf.Denn während der Adlige mit den anderenzum Lagevortrag beim Diktator eilte, bliebsein Adjutant mit dem zweiten Sprengsatzzurück.

Man benötigt, wenn man zügig schreitet,etwa fünf Minuten für die wenigen hundertMeter zwischen den heute noch erhaltenenResten des OKW-Bunkers und den Trüm-

verstauen, in der bereits ein ähnlicherSprengsatz lag. Denn auf einmal stand einOberfeldwebel in der Tür und meldete ei-nen Anruf für Stauffenberg.

Draußen auf dem Gelände der Wolf-schanze, wie das Führerhauptquartier inOstpreußen hieß, wartete bereits eine klei-ne Gruppe Offiziere, um mit ihm gemein-sam vom Bunker des Oberkommandos derWehrmacht (OKW) zur Lagebaracke zu ge-hen. „Stauffenberg, so kommen Sie doch“,

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Diktator Hitler bei einer Lagebesprechung mit Generälen (im März 1945): Das Scheitern des 20. Juli gehört zu den großen Tragödien des

Helden und MörderVerschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg versuchten am 20. Juli 1944, Hitler zu töten.

Wäre das Attentat gelungen, hätte es Millionen Menschen vor dem Tod bewahrt. Doch erst jetzt erweisen die Deutschen den Widerständlern mit großer Mehrheit Respekt.

samkeit auf sich, wie ein Anwesender später berichtete: „Ich kannte ihn kaum,aber wie er dort stand, das eine Auge durcheine schwarze Binde verdeckt, einen ver-stümmelten Arm in einem leeren Uni-formärmel, hoch aufgerichtet, den Blickgeradeaus auf Hitler gerichtet, der sich nun auch umgedreht hatte, bot er ein stolzes Bild.“

Ein Adjutant bat darum, dem schwerKriegsversehrten einen Stehplatz dicht beiHitler freizumachen. Stauffenberg hattedarum ersucht: „Damit ich für meinen Vor-trag nachher alles mitbekomme.“

Die Tasche mit dem Sprengsatz stellte er unter dem Kartentisch ab. HeusingersMitarbeiter Oberst Heinz Brandt schobsie wohl mit dem Fuß noch ein Stück wei-ter unter den Tisch (siehe Seite 34).

Anschließend wartete Stauffenberg einenAugenblick, ehe er unter dem Vorwand, te-lefonieren zu müssen, den Raum verließ.

Kurz darauf, zwischen 12.40 Uhr und12.50 Uhr, detonierte der Sprengsatz mit ei-ner gewaltigen Stichflamme und einemberstenden Knall, der fast allen 24 Lage-teilnehmern, auch Hitler, die Trommelfel-le zerfetzte.

Die Explosion riss einem Stenografenbeide Beine ab, ein General wurde von ei-nem Holzsplitter durchbohrt, das Gesichtvon Hitlers Chefadjutant verbrannt. ImFußboden, wo Stauffenberg die Aktenta-sche abgestellt hatte, klaffte ein Loch, 55Zentimeter im Durchmesser. Mit teilweisebrennenden Haaren stürzten jene, die nochlaufen konnten, ins Freie.

Vier der Verwundeten erlagen ihren Ver-letzungen, nur zwei Männer erhoben sichleidlich unversehrt aus der Trümmerwüs-te. Einer von ihnen war Adolf Hitler.

Der „Führer“ schlug die Flammen anseiner Kleidung aus. Seine schwarze Hoseund die lange weiße Unterhose hingen inStreifen herab. Helfer brachten den 55-Jährigen in seinen Bunker. „Linge“, sagteer zu seinem Kammerdiener, „jemand hatversucht, mich umzubringen.“

Es war die massive Stütze des schwerenLagetisches, über den sich der Diktator ge-rade gebeugt hatte, die ihn rettete. HätteStauffenberg in seiner Aktentasche auchden zweiten Sprengsatz deponiert gehabt,wäre das Leben Hitlers an diesem Tag zuEnde gegangen – und damit wohl auch das„Dritte Reich“.

Denn die Tat Stauffenbergs bildete denAuftakt eines umfassenden Staatsstreich-versuchs, der – wäre Hitler gestorben – mitgroßer Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabthätte. Einige hundert Militärs (wie derehemalige Generalstabschef des Heeres,Ludwig Beck), Diplomaten (wie derlangjährige Botschafter in Rom, Ulrich vonHassell), Verwaltungsexperten (wie derehemalige Leipziger OberbürgermeisterCarl Friedrich Goerdeler), Sozialdemokra-ten (wie Julius Leber) und Gewerkschafts-führer (wie Jakob Kaiser, später Mitbe-

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mern der Lagebaracke. Um kurz nach 12.30Uhr betrat Stauffenberg an jenem 20. Juli1944 das Lagezimmer, in dem GeneralAdolf Heusinger gerade über die Situationan der Ostfront berichtete.

Der kriegsversehrte Stauffenberg – erhatte im Jahr zuvor das linke Auge, dierechte Hand und zwei Finger an der linkenHand verloren – zog sofort die Aufmerk-

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Lagebaracke nach der BombenexplosionAuftakt zum Staatsstreich

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Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg (1934)„Er bot ein stolzes Bild“

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vergangenen Jahrhunderts

20. Juli 1944,gegen 12.40 UhrDie „Lagebaracke“kurz vor der Explosionder Bombe

1 Adolf Hitler

2 GeneralleutnantAdolf HeusingerChef der Operations-abteilung des Heeres

3 General Günther KortenGeneralstabschefder Luftwaffe

4 Oberst Heinz Brandtengster Mitarbeiter Heusingers

5 GeneralKarl BodenschatzVerbindungsoffizierGörings bei Hitler

6 Oberstleutnant HeinzWaizeneggerGeneralstabsoffizier bei Jodl

7 GeneralleutnantRudolf SchmundtChefadjutant der Wehr-macht bei Hitler

8 OberstleutnantHeinrich BorgmannHeeresadjutant bei Hitler

9 General Walther BuhleChef des Heeresstabesbeim OKW

10 KonteradmiralKarl Jesko von PuttkamerMarineadjutant Hitlers

11 Heinrich BergerStenograf

12 Kapitän zur SeeHeinz AßmannAdmiralstabsoffizier imWehrmachtführungsstab

13 Major Ernst John von FreyendAdjutant Keitels

14 GeneralmajorWalter Scherffführte das „Kriegstagebuch“

15 KonteradmiralHans-Erich VoßVertreter des Oberbefehlshabersder Marine bei Hitler

16 SS-HauptsturmführerOtto GünscheAdjutant Hitlers

17 Oberst Nicolaus von BelowLuftwaffenadjutant Hitlers

18 SS-GruppenführerHermann FegeleinVerbindungsoffizierder Waffen-SS bei Hitler

19 Heinz BuchholzStenograf

20 Major i. G. Herbert BüchsGeneralstabsoffizier bei Jodl

21 MinisterialdirigentFranz von SonnleithnerVertreter des AuswärtigenAmtes im Führerhauptquartier

22 General Walter WarlimontStellvertretender Chef desWehrmachtführungsstabes

23 Generaloberst Alfred JodlChef des Wehrmacht-führungsstabes

24 GeneralfeldmarschallWilhelm KeitelChef des Oberkommandosder Wehrmacht

Taschemitder

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■ tot

■ schwer verletzt

■ leicht verletzt

Quelle: Peter Hoffmann

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gründer der CDU) standen zum Macht-wechsel bereit.

Kabinettslisten für eine Übergangsre-gierung waren ausgearbeitet, AttentäterStauffenberg sollte Staatssekretär in einemKriegsministerium werden. Texte für An-sprachen an Volk und Soldaten, auch eineRegierungserklärung lagen vor.

Obwohl die Verschwörer zunächst nurmit den Westmächten über ein Ende desKrieges verhandeln wollten, wäre mit demTod Hitlers der Kampf wohl an allen Fron-ten rasch zu Ende gegangen. Nur Wochenvor dem Attentat waren Amerikaner undBriten in der Normandie gelandet. Stalins

Divisionen standen hundert Kilometer vorder Grenze Ostpreußens. Der Sicherheits-dienst der SS vermeldete „eine Art schlei-chender Panikstimmung zahlreicher Volks-genossen“. Kaum zu glauben, dass ohneden „Führer“ und den ihn umgebendenMythos die Deutschen bis zum bitterenEnde gekämpft hätten.

Das Scheitern des 20. Juli zählt schondeshalb zu den großen Tragödien des 20.Jahrhunderts. Etwa 4 Millionen Deutsche,rund 1,5 Millionen Rotarmisten und überhunderttausend GIs und Briten starben inder Zeit zwischen dem Attentat und derdeutschen Kapitulation am 8. Mai 1945.

Hunderttausende KZ-Häftlinge wurden inAuschwitz und anderswo ermordet. Al-liierte Bomber zerstörten in den letztenneun Monaten Städte wie Dresden oderKiel. Vielleicht wäre sogar die Vertreibungder Deutschen aus dem Osten unterblie-ben, hätte Stauffenberg Erfolg gehabt.

Gründe genug gab es also, den Männerndes 20. Juli nach Ende des „Dritten Rei-ches“ Respekt zu zollen. Doch im zerstör-ten Nachkriegsdeutschland war dazu nureine Minderheit bereit.

In Deutschland-Ost beschimpfte die SEDdie Männer des 20. Juli als reaktionä-re „Agenten des US-Imperialismus“. In

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Zerstörter Lagetisch nach dem Attentat*: Die massive Stütze rettete den „Führer“

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Deutschland-West waren Stauffenberg undKameraden zwar Thema von Sonntagsre-den, ihr Konterfei fand sich auf Briefmar-ken wieder, die Namen zieren noch heuteHunderte Straßenschilder. Doch 1956 fandknapp die Hälfte der Bundesbürger, dasseine Schule besser nicht nach den Män-nern des 20. Juli benannt werden solle.

Kanzler Konrad Adenauer hintertriebdie Wiedereinstellung des zum Widerstandzählenden Diplomaten Erich Kordt im Aus-wärtigen Amt mit der Begründung, dieserhabe schon einmal seinen Chef „betrogen“.Noch Anfang der sechziger Jahre hielt je-der Vierte Stauffenberg und seine Kamera-den für Verräter. Der Staatsstreich der Min-derheit warf ein zu grelles Licht auf dasMitmachen der Mehrheit.

Später störte sich im Westen Deutsch-lands die Generation der 68er an der poli-tischen Ausrichtung der Widerständler.Unter den Verschwörern gegen Hitler fan-den sich nur wenige Demokraten, wohlaber einige Antisemiten und mancheKriegsverbrecher. Viele hatten zeitwei-se vom Griff nach der Weltmacht ge-träumt.

Doch sechs Jahrzehnte nachdemGoerdeler, Hassell und Leber in derStrafanstalt Berlin-Plötzensee ei-nen qualvollen Tod durch denStrang starben, wenden sich dieDeutschen mit neuem Blick denUmstürzlern zu. Wie eine Um-frage von TNS Infratest imAuftrag des SPIEGEL zeigt,achten oder bewundernheute fast drei Viertel derDeutschen die Attentäter(siehe Grafik Seite 44).Ob Ost oder West, Jungoder Alt – Stauffenbergund die anderen sto-ßen auf Zustimmungwie nie zuvor. Nurjeder Zwanzigsteverachtet die Ver-schwörer.

„Der 20. Juli istangekommen“ – eine

Beobachtung, die derLeiter der Gedenkstätte

Deutscher Widerstand inBerlin, Johannes Tuchel,

schon seit der Jahrtausendwende macht.Tuchel betreut die Dauerausstellung in denRäumen des Bendlerblocks. In dem Regie-rungsgebäude hatten Stauffenberg und Beckam Nachmittag des 20. Juli versucht, denStaatsstreich trotz Hitlers Überleben nochvoranzutreiben. Die Zahl der Besucher hatsich in den vergangenen zehn Jahren ver-doppelt.

Und es sind vor allem die Enkel und Urenkel der Erlebnisgeneration, die freivon deren Schuldgefühlen wissen wol-len, wie es kam, dass überzeugte Natio-nalsozialisten (etwa das NSDAP-MitgliedFritz-Dietlof Graf von der Schulenburg)

Knopp vor wenigen Monaten erzieltenteilweise sensationell hohe Einschaltquo-ten. Zehntausende deutsche Touristen be-suchen jährlich die Wolfschanze in Ost-preußen (siehe Seite 42).

Ausstellungen in Berlin, Frankfurt, Ra-statt und Minden nehmen den Jahrestagzum Anlass, sich mit den Attentätern zubeschäftigen. Die Verlage kommen mit ei-nem Dutzend Neuerscheinungen oderNeuauflagen renommierter Werke zumThema auf den Markt. Stauffenberg, be-obachtete kürzlich die „New York Times“,sei „als Widerstands-Heros fest etabliert“.

Der für Umschwünge mit empfindlichenSensoren ausgestattete Bundeskanzler Ger-

hard Schröder (SPD) trägt dem Wandel be-reits seit einiger Zeit Rechnung. Die rot-grüne Regierung lässt seit 1999 Bundes-wehrrekruten auf dem Paradeplatz amBendlerblock ihr Gelöbnis ablegen.

Die Feier des 60. Jahrestags hat Schröderzur Chefsache erklärt. Am Dienstag nächs-ter Woche will der Kanzler im Ehrenhofdes Bendlerblocks sprechen, wo Stauffen-berg, sein Adjutant Werner von Haeftenund die Mitverschwörer Oberst AlbrechtRitter Mertz von Quirnheim und GeneralFriedrich Olbricht erschossen wurden.

Kürzlich nahm Schröder einen der Über-lebenden des 20. Juli, Philipp Freiherr vonBoeselager, in die Delegation auf, mit derer zu den Feierlichkeiten aus Anlass der al-liierten Landung in der Normandie 1944

und begeisterte Mitläufer (wie ClausSchenk Graf von Stauffenberg) zu erbitter-ten Gegnern Hitlers wurden. Was geschahda, als Offiziere, die sich als preußisch ver-standen, mit der jahrhundertealten Tradi-tion des Kadavergehorsams brachen?

Dabei fasziniert die Nachwachsendennicht nur das politische Ereignis, sondernauch das menschliche Drama. Viele Ver-schwörer hatten lange mit sich gerungen,ob der Tyrannenmord zu rechtfertigen sei.In dunklen Stunden überkamen sie immerwieder Zweifel am Erfolg ihres Vorhabens.„Das Furchtbarste ist zu wissen, dass esnicht gelingen kann“, prophezeite Stauf-fenbergs Bruder Berthold.

Und dennoch nahmen er und die ande-ren das Risiko auf sich und brachten ihreFamilien in Gefahr. Im Sommer 1944 ließGeneral Henning von Tresckow, 43, Vatervon zwei Söhnen und zwei Töchtern, demsechs Jahre jüngeren Stauffenberg, dessenFrau mit dem fünften Kind schwanger ging,die berühmten Worte ausrichten: „DasAttentat muss erfolgen, coûte que coûte.“Denn es komme nicht mehr auf den prak-tischen Zweck an, „sondern darauf, dassdie Widerstandsbewegung vor der Weltund vor der Geschichte unter Einsatz desLebens den entscheidenden Wurf ge-wagt hat“.

Es ist dieser Opfermut, welcher dem An-schlag auf Hitler seine Größe verleiht –und das Interesse enorm beflügelt.

Der Stauffenberg-Film von Jo Baier inder ARD oder eine mehrteilige Serie zumWiderstand von ZDF-Historiker Guido

* Propagandaminister Joseph Goebbels (sitzend), Reichs-marschall Hermann Göring (r.).

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Viele Verschwörer standenden Nazis zunächstwohlwollend gegenüber.

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Hitler bei einer Waffenvorführung in der Wolfschanze (1943): „Findet sich im Führerhauptquartier kein Offizier, der das Schwein umlegt?“

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Ludwig Beck (1880 bis 1944)Aus Protest gegen Hitlers Kriegspoli-tik trat Beck 1938 als einziger Gene-ral noch im Frieden zurück. Zuerst zö-gerlich, beteiligte sich der Ex-Gene-ralstabschef des Heeres an der Ver-schwörung; er sollte Reichsstatthal-ter werden. Am 20. Juli 1944 nachSelbstmordversuch erschossen.

Carl Friedrich Goerdeler (1884 bis 1945) Der nationalkonservative Ex-Oberbür-germeister (1930 bis 1937) von Leip-zig verfasste mehrere Denkschriftenfür eine Neuordnung Deutschlandsnach Hitlers Sturz. Er avancierte zumMittelpunkt des zivilen Widerstandsund war als Reichskanzler vorgesehen.Am 2. Februar 1945 hingerichtet.

Henning von Tresckow (1901 bis 1944)Anfänglich für die Nazis, wurde derBerufsoffizier früh zum Hitler-Gegner.Ab 1942 plante er mehrere Anschlä-ge auf den Diktator. Mit Stauffenbergarbeitete er die „Walküre“-Pläne füreinen Staatsstreich um. Nach demScheitern tötete sich der Generalma-jor mit einer Handgranate.

Helmuth James Graf vonMoltke (1907 bis 1945)Der Jurist arbeitete nach Kriegsaus-bruch als Völkerrechtsexperte imOKW. Auf seinem schlesischen GutKreisau versammelte er wichtige Wi-derständler. Verrat führte Anfang1944 zu Moltkes Verhaftung. Wegenenger Verbindungen zum 20. Juliwurde er Anfang 1945 hingerichtet.

reiste – und erhielt dafür auch von denVerbündeten Zustimmung.

Vor allem Frankreichs StaatspräsidentJacques Chirac bemüht sich, das Wirkender Männer um Stauffenberg seinen Lands-leuten bekannt zu machen. Im vorigen Jahrnahm die französische Verteidigungsminis-terin Michèle Alliot-Marie an dem Gelöb-nis am 20. Juli in Berlin teil. Im Januar die-ses Jahres wurde Boeselager zum Offizierder Ehrenlegion ernannt.

Dabei standen die meisten Verschwörerdem Nationalsozialismus zunächst neutraloder sogar wohlwollend gegenüber. Derbraune Reichskanzler versprach den Wie-deraufstieg Deutschlands und manchemOffizier Aussicht auf Karriere. Auch Stauf-fenberg erlag dem nationalen Rausch.

Der groß gewachsene, gut aussehendeBerufsoffizier, Spross schwäbischen Ur-

adels, hatte die erste deutsche Republikverachtet. Stauffenberg, bei Hitlers Macht-antritt 25 Jahre alt, träumte von einem tau-sendjährigen Reich, das sein Idol, der rhei-nische Dichter Stefan George, verkündete,und verstand sich als Teil einer neuen Eli-te. Nationale Erneuerung statt „Schmachvon Versailles“ – es waren die außenpoli-tischen und militärischen Erfolge Hitlers,von denen sich Stauffenberg blenden ließ.„Welche Veränderung in welcher Zeit“,schwärmte er von Hitlers Siegen über Po-len und Frankreich 1939/1940.

In einem Brief an seine Frau aus dem be-setzten Polen mokierte sich der charisma-tische Offizier, dem viele eine glänzendeKarriere voraussagten, über den „unglaub-lichen Pöbel, sehr viele Juden und sehrviel Mischvolk“: „Ein Volk, welches sichnur unter der Knute wohl fühlt. Die Tau-

senden von Gefangenen werden unsererLandwirtschaft recht gut tun.“

Nach dem Scheitern der deutschen Hoff-nungen auf einen Blitzsieg gegen die So-wjetunion Ende 1941 änderte sich seineHaltung. Einer seiner Brüder berichteteFreunden: „Claus sagt, zuerst müssen wirden Krieg gewinnen. Aber dann, wenn wirnach Hause kommen, werden wir mit derbraunen Pest aufräumen.“

Anfang 1942 erkannte Stauffenberg, dassder Krieg ohne Unterstützung der sowje-tischen Bevölkerung nicht zu gewinnenwar. Als ihm ein Offizier von einem Mas-saker an Juden durch die SS in der Ukrai-ne berichtet, schimpft er bald darauf bei ei-nem Ausritt: „Findet sich da drüben imFührerhauptquartier kein Offizier, der dasSchwein mit der Pistole umlegt?“ Nochhoffte er, dass andere handeln würden. Und

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da es dem ehrgeizigen Militär an Fronter-fahrung mangelte, ihn andererseits sein of-fenes Reden in Gefahr brachte, ließ er sich1943 nach Nordafrika versetzen.

Ein Tieffliegerangriff beendete nach we-nigen Wochen den Einsatz, Stauffenbergwurde schwer verwundet. Noch auf demKrankenbett sagte er zu seiner Frau: „Weißtdu, ich habe das Gefühl, dass ich jetzt etwastun muss, um das Reich zu retten.“

Als ihn General Friedrich Olbricht, Chefdes Allgemeinen Heeresamts in Berlin, frag-te, ob er sich am Staatsstreich beteiligenwolle, stimmte Stauffenberg zu. Am 1. Ok-tober 1943 trat er seine neue Stelle als Chefdes Stabs bei Olbricht im Bendlerblock an.

Olbricht zählte seit dem Vorjahr zum„zivil-militärischen Netzwerk“ (HistorikerThomas Vogel) um den ehemaligen Gene-ralstabschef Beck, einen kühlen, klugenMann mit der Aura eines Philosophen, undden nationalkonservativen Kommunalpoli-tiker Goerdeler.

Das Netzwerk war 1938 entstanden, 1944zählten dazu hohe Beamte, Offiziere, An-wälte, Kirchenleute, Gewerkschaftsführer,Politiker der untergegangenen WeimarerRepublik. Viele waren Einzelgänger, man-che der Verschwörer kannten einander ausKindertagen oder waren – vor allem dieAdligen unter ihnen – miteinander ver-wandt (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 46).

Beck und Goerdeler trafen sich häufig inder Wohnung des Generalobersten in derBerliner Goethestraße; Hassell und derpreußische Finanzminister Johannes Po-pitz kamen in der Mittwochsgesellschaftzusammen, einem elitären Zirkel in derHauptstadt, der reihum in den Privathäu-sern der Mitglieder konferierte.

Im Auswärtigen Amt und einigenDienststellen der Wehrmacht, etwa demStab der Heeresgruppe Mitte um Tresckowoder dem Amt Ausland/Abwehr beim

lose, völlige Vernichtung des Feindes“ be-fohlen oder nach dem Einmarsch in Gali-zien die nicht jüdische Bevölkerung zu Po-gromen angestachelt.

Sicher ist allerdings auch: Allein 20Verschwörer haben in den Verhören derGestapo oder vor dem VolksgerichtshofJudenverfolgungen als Grund für ihrenWiderstand angegeben. Und Goerdeler,der lange Zeit die Diskriminierung vonJuden befürwortet hatte, schrieb in die nieverlesene Regierungserklärung der Atten-täter den reuigen Satz:

„Die Judenverfolgung, die sich in denunmenschlichsten und unbarmherzigsten,tief beschämenden und gar nicht wiedergutzumachenden Formen vollzogen hat,ist sofort eingestellt.“

Mommsen spricht denn auch von einem„Lernprozess“, den „die meisten Ver-schwörer unter dem Eindruck von Hitlersverbrecherischer Politik durchmachten“.

Als Stauffenberg in Berlin eintraf, wareine Grundsatzentscheidung gerade gefal-len. Da sich alle Versuche als vergebenserwiesen hatten, Armeeführern wie Erichvon Manstein die Zusage abzuringen, amTag X auf Seiten der Verschwörer einzu-schwenken, wollten die Widerständler füreinen Staatsstreich das Ersatzheer nutzen.

Das Ersatzheer diente eigentlich dazu,der kämpfenden Truppe Soldaten und neu-es Gerät zuzuführen. Allerdings plante Hit-ler, die Einheiten im Fall eines Aufstandsvon Kriegsgefangenen oder Zwangsarbei-tern im Reich auch im Innern einzusetzen.Die Operation trug den Namen „Walküre“.

Die Zuständigkeit lag bei StauffenbergsChef Olbricht. Und dieser verfiel auf einegeniale Idee. Als im Sommer 1943 der er-bitterte Hitler-Gegner Tresckow sich län-ger in Berlin aufhielt, ließ Olbricht ihn undspäter auch Stauffenberg die Befehlsent-würfe unauffällig so ergänzen, dass sich da-

OKW, bildeten sich „regelrechte Wider-standszellen“ (Joachim Fest).

Die Hitler-Gegner sammelten Informa-tionen über Verbrechen der SS, entwarfenMemoranden zur Zukunft Deutschlandsund überlegten, wie sie Hitler stürzenkönnten. Fast alle ernst zu nehmenden At-tentatspläne vor dem 20. Juli gingen auf ihrKonto (siehe Seite 39).

Die Größe der Gruppe schwankte al-lerdings. Nach dem Frankreichfeldzugschmolz das Netzwerk auf einen kleinenKern Fundamentaloppositioneller zusam-men. Erst als sich die Niederlage gegen dieSowjetunion abzeichnete, wurde es leichter,Männer wie Stauffenberg zu gewinnen.

Der Historiker Hans Mommsen, einerder besten Kenner der Materie, sieht dennauch im „nationalen Interesse“ den „zen-tralen Platz“ für den Hochverratsent-schluss der meisten Widerständler – nichtim Entsetzen über den Holocaust.

Zu den bis heute verstörenden Befundenzählt, dass in dem Netzwerk Kriegsver-

brecher durchaus ihren Platz fanden, etwaGeneralquartiermeister Eduard Wagner,mitverantwortlich für den Tod von Millio-nen gefangener Rotarmisten, oder SS-Gruppenführer Arthur Nebe, der als Lei-ter der Einsatzgruppe B an der Ermordungvon 40000 Juden und unzähliger russischerGeisteskranker beteiligt war.

Auch die Generäle Erich Hoepner, einFreund Becks, und Carl-Heinrich vonStülpnagel – seit 1938 an Umsturzplänenbeteiligt – zählten zu den Frondeuren. Siehatten ihren Soldaten zur „Abwehr des jü-dischen Bolschewismus“ die „erbarmungs-

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Aus Hitlers Operation„Walküre“ wurde der Plan fürden Staatsstreich.

Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904 bis 1944)Der Jurist und Reserveoffizier, imWehrwirtschaftsamt tätig, galt alsHerz des Kreisauer Kreises. In seinerWohnung traf sich der Widerstand,den er aus christlicher Überzeugungunterstützte. Der Vetter Stauffen-bergs wurde am 8. August 1944 ver-urteilt und hingerichtet.

Ulrich von Hassell (1881 bis 1944) Jurist und Diplomat, wurde 1938 alsBotschafter in Rom abberufen. Has-sell vermittelte zwischen den ver-schiedenen konservativen und bür-gerlichen Widerstandsgruppen. AufKabinettslisten des Widerstands alskünftiger Außenminister genannt.Hingerichtet am 8. September 1944.

Julius Leber (1891 bis 1945) Vier Jahre NS-Haft hatte der frühereSPD-Reichstagsabgeordnete bereitshinter sich, als er zum KreisauerKreis stieß und die Widerstandsbe-wegung nach links öffnete. Leberwar als Reichskanzler im Gespräch,wurde aber vor dem 20. Juli verhaf-tet. Am 5. Januar 1945 hingerichtet.

Friedrich Olbricht (1888 bis 1944) Als Chef des Allgemeinen Heeres-amts war der General logistischerKopf der Berliner Verschwörer. Ummit Stauffenberg das Attentat zu pla-nen, holte er ihn als Stabschef zusich. Olbricht löste den „Walküre“-Befehl mit aus. In der Nacht zum 21. Juli im Bendlerblock erschossen.

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mit auch ein Staatsstreich durchführen ließ.Nicht gegen aufständische Polen oder Rus-sen, sondern gegen die SS und andere Hit-ler-Getreue sollten die Soldaten des Er-satzheeres vorgehen. Denen wollten dieVerschwörer vorspiegeln, dass eine „ge-wissenlose Clique frontfremder Parteifüh-rer“ Hitlers Tod ausnutze, um die Macht ansich zu reißen. Die tatsächlichen Umständesollten vorerst im Dunkeln bleiben.

Der Tod Hitlers war Teil des Plans. Dennseit 1934 schworen alle Soldaten einen Eidauf die Person des Diktators, und selbstentschiedene Gegner fühlten sich darangebunden. Die Verschwörer wollten eineneidfreien Raum schaffen.

Als Tresckow im Oktober 1943 ein Kom-mando an der Front erhielt, wurde Stauf-fenberg zur treibenden Kraft des Unter-

nehmens. Unermüdlich überarbeitete er diePläne, tüftelte an den Abläufen, traf sich mitanderen Verschwörern. Was er selbst dach-te, offenbarte er einem Kameraden, dersich nach dem Attentat von der Roten Ar-mee gefangen nehmen ließ. Der russischeHistoriker Boris Chawkin hat die Verhör-protokolle veröffentlicht. Danach strebteStauffenberg eine „vorübergehende Mili-tärdiktatur“ an, „die den Boden für einendemokratischen Staat zu bereiten hat“.

Doch war das Konsens im Netzwerk?Gegenüber der parlamentarischen Demo-

* Mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, HermannGöring und Martin Bormann.

Hauptpunkt war die Wiederherstellung desRechtsstaats. Ansonsten galt die DeviseJulius Lebers: „Was danach kommt, regeltsich von selbst.“

Cheforganisator Stauffenberg hatte alsAttentäter zunächst andere vorgesehen.Doch nur ein kleiner Kreis hatte direktenZugang zu dem Diktator, seit dem 1. Juli1944 auch Stauffenberg, weil er wieder ein-mal befördert worden war: zum Chef desStabs beim Befehlshaber des Ersatzheeres.Er entschloss sich schließlich, selbst zu han-deln, trotz seiner schweren Verletzungen.Allerdings wollte er nach dem Attentat so-fort zurück nach Berlin, um dort dann denStaatsstreich voranzutreiben.

Als der Sprengstoff mit dem Zeitzünderexplodierte und die Lagebaracke verwüs-tete, befand er sich deshalb am Adjutan-turgebäude, das 200 Meter entfernt lag. Erwartete auf den Wagen, der ihn zum Flug-platz bringen sollte.

Es war Stauffenbergs Glück, dass die Mi-litärs im Führerhauptquartier nicht sofortbegriffen, was geschehen war. Ein Nach-richtenoffizier, der neben ihm stand, kom-

kratie und ihrem Parteienwesen hegtennach den Erfahrungen von Weimar fast alleMitglieder des Widerstands Skepsis. Manmüsse das Volk „in eine vom christlichen Geiste getragene autoritäre Ordnung“ ein-binden, empfahl der Legationsrat im Aus-wärtigen Amt, Adam von Trott zu Solz,außenpolitischer Experte des so genanntenKreisauer Kreises.

Seit 1940 diskutierten Konservative undSozialisten auf dem Gut des Grafen Hel-muth James von Moltke im schlesischenKreisau oder in der Berliner Privatwoh-nung von Peter Graf Yorck von Wartenburgüber die Zukunft Deutschlands. 1943 hat-ten sich einige Kreisauer entschlossen,beim Staatsstreich mitzumachen. In dervormodernen Sehnsucht nach einer vonInteressengegensätzen freien Ordnung undeinem starken Staat kamen die Kreisauerden um Goerdeler und Beck versammeltenNationalkonservativen durchaus nahe.

Aber das von Goerdeler angestrebtePräsidialsystem war selbst den Kreisauernzu autoritär. Da einige von diesen die Ver-gesellschaftung der Schlüsselindustrien er-wogen, warf der unternehmerfreundlicheGoerdeler ihnen wiederum Salonbolsche-wismus vor.

Und während Moltke und andere frühauf ein vereintes Europa setzten, verab-schiedeten sich Goerdeler oder Beck erstunter dem Eindruck der deutschen Verbre-chen von der Vorstellung, das Reich könneals hegemoniale Ordnungsmacht wirken.Noch am 25. Mai 1944 erklärte Goerdeler, erwolle einen Teil der Beute Hitlers – etwa dasSudetenland – für Deutschland sichern.

Am Ende konnten sich beide Gruppie-rungen nur auf einige Grundsätze für dieunmittelbare Nach-Hitler-Zeit einigen.

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Zange zum Scharfmachen der Bombe,Überreste, unbenutzter SprengstoffEin rissiger Klumpen spielte Schicksal

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Gegen Parlamentarismus undParteien hegte fast dergesamte Widerstand Skepsis.

Leicht verletzter Hitler nach dem Attentat*: „Hören Sie mich? Ich lebe also!“

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mentierte den Knall mit dem Hinweis, dasWild im Wald löse öfter Minen aus.

Um 12.44 Uhr erreichten Stauffenbergund Adjutant Haeften an diesem schwül-heißen Donnerstag die Wache des so ge-nannten Sperrkreises I, zu dem die Ge-bäude Hitlers und seiner engsten Mitar-beiter zählten. Vom Rang Stauffenbergsund dessen Auftreten ließ sich der wach-habende Leutnant beeindrucken und wink-te den offenen 8-Zylinder-Horch durch.

Der Wagen bog nach einigen Metern indie Straße ein, die zur Außenwache Südführte. Und hier wäre beinahe alles schonzu Ende gewesen. Denn inzwischen warAlarm ausgelöst worden, und der Diensthabende Oberfeldwebel Kolbe ließ sichnicht beeindrucken, als Stauffenberg ihmerklärte, er müsse dringend zum Flugplatz.

Doch als Kolbe die Kommandantur an-rief, nahm Rittmeister Leonhard von Möl-lendorf ab, ein Bekannter des Attentäters.Kolbe fragte, was er tun solle, da OberstStauffenberg unbedingt die Wolfschanzeverlassen wolle. Der ahnungslose Möllen-dorf erlaubte die Durchfahrt. Um 13.15 Uhr

Gesprächswunsch von Popitz vorab infor-mierte und anbot: „Den Kerl bringe ichum.“ Hitler fand, er solle sich Popitz ersteinmal anhören. Doch dieser deutete beidem Treffen seine Intention nur vage an.Wahrscheinlicher ist daher, dass Himmlerden Goerdeler-Kreis unterschätzte, und dasdürfte auch die Ermittlungsschwächen derGestapo erklären.

Nachdem das Attentat missglückt war,hatten die Verschwörer nur noch eineChance: Sie mussten die Truppen des Er-satzheeres rasch auf ihre Seite ziehen. Unddas hing von zwei Faktoren ab: der Ent-schlossenheit und Schnelligkeit der Ver-schwörer und der Haltung der Befehls-haber in den 19 Wehrkreisen.

Fatalerweise erreichten Zweifel am Toddes Diktators den Bendlerblock viel zufrüh. Der Mitverschwörer und Chef derNachrichtentruppen des Heeres, GeneralErich Fellgiebel – er sollte die Fernsprech-und Schreibverbindungen des Führerhaupt-quartiers blockieren –, sah Hitler kurz nachder Explosion in einiger Entfernung vor-übergehen. Seine Nachricht an den Bend-

hob die Heinkel He 111 mit Stauffenbergund Haeften an Bord vom Flugfeld ab.

Der Flug nach Berlin dauerte in der Re-gel um die zwei Stunden, und irgendwo inder Luft muss die Maschine mit Stauffen-berg jenem Flugzeug begegnet sein, mitdem SS-Chef Heinrich Himmler seine Er-mittler aus Berlin herbeibringen ließ.

Über die Haltung Himmlers zum 20. Juliist viel gerätselt worden. Ein knappes Jahrvor dem Anschlag hatte er sich mit demerzkonservativen Finanzpolitiker Popitz ge-troffen – einem Mann des Widerstands, dendie Verschwörer als Reichsfinanzministerin Betracht gezogen hatten. Es ist bekannt,dass Popitz – nach Absprache mit Tresckow– herausfinden wollte, ob der SS-Führer füreinen Staatsstreich zu gewinnen war. Merk-würdig ist auch, dass die Gestapo gegen dieVerschwörer vor dem 20. Juli kaum ermit-telte, obwohl es an Spuren nicht fehlte.

Ließ der Reichsführer-SS Stauffenberggewähren, weil er hoffte, der Oberst wür-de Hitler aus dem Weg räumen?

Gedenkstättenleiter Tuchel verweist dar-auf, dass Himmler den „Führer“ über den

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28. September 1938(„Septemberverschwörung“) Hitler verlangtdie Zerstückelung der Tschechoslowakei unddroht den Westmächten mit Krieg. Offiziereum den Generalstabschef des Heeres FranzHalder und den zurückgetretenen General-oberst Ludwig Beck planen, den Diktator zuverhaften. Einige Verschwörer wollen ihn beider Festnahme erschießen. Stunden vor dergeplanten Festnahme stimmt Hitler über-raschend internationalen Verhandlungenin München zu.

5. November 1939Hitler will nach dem Sieg über Polen Frankreichangreifen. Halder und Beck beabsichtigenihn festzunehmen, sobald er den Angriffsbe-fehl erteilt hat. Doch auf Grund einer Bemer-kung Hitlers fürchtet Halder, dieser sei überdie Verschwörung informiert, und bläst denPutsch ab.

8. November 1939Hitler hält eine Rede im Münchner Bürger-bräukeller. Der mit der KPD sympathisierende

Schreiner Georg Elser hat dort eine Bombedeponiert. Der Auftritt endet früher als er-wartet. Der Sprengsatz explodiert, nachdemder Diktator das Lokal verlassen hat.

13. März 1943Offiziere um Henning von Tresckow schmug-geln bei einem Frontbesuch des „Führers“ inSmolensk eine Bombe in Hitlers Flugzeug,die auf dem Rückflug aus unbekanntenGründen nicht explodiert.

21. März 1943Oberst Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorffwill sich bei einer Ausstellung im BerlinerZeughaus mit Hitler in die Luft sprengen. Derauf zehn Minuten eingestellte Zeitzünder istbereits aktiviert, aber Hitler verlässt dasGebäude schon nach zwei Minuten.

November 1943 bis Februar 1944Hauptmann Axel Freiherr von dem Bussche-Streithorst, von Stauffenberg angesprochen,erklärt sich zu einem Selbstmordattentatanlässlich einer Uniformvorführung bereit.Die Schau wird mehrfach verschoben;Bussche muss schließlich zurück zur Front.Leutnant Ewald Heinrich von Kleist tritt anseine Stelle, doch auch ihm bietet sichkeine Gelegenheit.

11. März 1944Rittmeister Eberhard von Breitenbuch plant,Hitler bei einer Lagebesprechung auf dem„Berghof“ zu erschießen. Aber im Gegensatzzur üblichen Praxis werden Ordonnanzoffizierenicht zugelassen.

Das Glück des Bösen Staatsstreichpläne und Attentatsversuche auf Hitler vor dem 20. Juli 1944B

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Hitler am 21. März 1943 mit kriegsversehrten Soldaten in Berlin

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lerblock – etwas Furchtbares ist passiert:Der Führer lebt – sorgte für Verwirrung.

Denn die Attentäter hatten keinen Not-fallplan. Sie waren immer vom Tod Hitlersausgegangen. Wo war Stauffenberg? Hatteer sich umgebracht, oder war er erschossenworden? Sollte man das Vorhaben abbla-sen, ehe man entdeckt wurde?

Statt die „Walküre“-Befehle heraus-zuschicken, beschloss General Olbricht zu warten. Er fuhr wie immer zum Mit-

re nur kurze Zeit Bestand haben würde –Zeit, welche die Verschwörer nutzen muss-ten, um das Ersatzheer zu mobilisieren,und die der Ex-Chef des Attentäters beimLunchen vertat.

Erst als Stauffenbergs Adjutant Haeftennach der Landung in Rangsdorf bei Berlinkurz nach 15 Uhr vom Flughafen aus anriefund darauf beharrte, dass Hitler tot sei,holte Olbricht die „Walküre“-Befehle ausdem Panzerschrank.

tagessen und kam erst gegen 15 Uhr zu-rück – zwei verlorene Stunden, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann.

Die Verschwörer waren davon ausge-gangen, dass Fellgiebel die Nachrichten-verbindungen des Führerhauptquartiers zu wichtigen Wehrmachtstellen abschnei-den und damit Hitlers Adlaten die Mög-lichkeit zu Gegenbefehlen nehmen würde.Nach dem Scheitern des Attentats war ab-sehbar, dass Fellgiebels Nachrichtensper-

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Titel

Absperrungdes damaligenRegierungs-viertels

Absperrungdes damaligenRegierungs-viertels

Auf den Spuren des 20. JuliOrte des Widerstands undder Staatsmacht in Berlin

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Alexander-platz

Branden-burger Tor

Kurfürstendamm

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KantstraßeTauentzienstr.

Bundesallee

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Unter den Eichen

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BENDLERBLOCK Stauffenbergstraße

HAUS DES RUNDFUNKSMasurenallee 8–14

WACHBATAILLON„GROSSDEUTSCHLAND“Rathenower Straße 10

WEHRKREISKOMMANDO IIIHohenzollerndamm 150

WOHNUNG YORCKSHortensienstraße 50

WOHNUNG BECKSGoethestraße 24

WOHNUNGSTAUFFENBERGSTristanstraße 8–10

BahnhofWannsee

A 115

Potsdamer Chaussee

Nikolas-see

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Gegen 16 Uhr betrat er das im zweitenStock gelegene Büro von GeneraloberstFriedrich Fromm, dem Befehlshaber des Er-satzheeres. Hitler hatte Fromms Machtbe-reich schrittweise beschnitten. Zum Wider-stand vermochte sich Fromm nicht durch-zuringen, aber er deckte Stauffenberg unddie Attentäter, die hofften, ihn im entschei-denden Augenblick auf ihre Seite zu zie-hen. Jetzt war der Augenblick gekommen.Hitler sei tot, erklärte Olbricht, und Frommmüsse die „Walküre“-Befehle erteilen.

Doch Fromm gab sich skeptisch ange-sichts der Nachricht aus Ostpreußen. Undda Olbricht inzwischen glaubte, Stauffen-bergs Attentat sei tatsächlich geglückt, ließer für Fromm eine Verbindung in die Wolfschanze herstellen. Ein fataler Irrtum.Denn Wilhelm Keitel, Hitlers höchster Mi-litär, erzählte, wie es wirklich war. Frommzu Olbricht: „Sie haben ja selbst gehört,der Führer lebt. Es besteht kein Grund zuübereilten Maßnahmen.“

Statt Fromm mit Gewalt zum Mitma-chen zu zwingen oder einfach in seinemNamen das Notwendige zu veranlassen,kehrte Olbricht in sein Büro zurück: „DerFromm will nicht unterschreiben.“

Als großes Manko der Verschwörer er-wies sich, dass nur wenige Männer über dieEntschlossenheit Stauffenbergs verfügten.

Eine Ausnahme war dessen Freund Mertzvon Quirnheim, der Stabschef Olbrichts.Mertz ließ einfach das erste Fernschreiben andie Wehrkreiskommandos absetzen, weiterefolgten. Inhalt: Hitler sei tot, die Reichs-regierung habe den militärischen Ausnah-mezustand verhängt, die Wehrmacht über-nehme die vollziehende Gewalt. Minister, NSDAP-Gauleiter und viele andere Funk-tionsträger des Dritten Reichs sollten verhaf-tet, KZ-Mannschaften festgenommen, stra-tegisch wichtige Punkte besetzt werden.

Allerdings verlief auch Mertz’ entschlos-sene Aktion nicht wie gewünscht. DassFromm nicht persönlich abgezeichnet hat-te, erregte in den WehrkreiskommandosMisstrauen. Noch wichtiger war: Der vonMertz beauftragte Hauptmann FriedrichKarl Klausing eilte zwar mit dem erstenFernschreiben sofort zum Leiter der Nach-richtenzentrale im gleichen Stockwerk. Alsder aber Klausing fragte, ob der Text, aufdem die üblichen Angaben des Geheimhal-tungsgrades fehlten, nicht mit der höchstenGeheimhaltungsstufe behandelt werdenmüsse, antwortete Klausing kurz angebun-den „Ja, ja“ – ohne die Folgen zu bedenken.

Denn nur vier Schreibkräfte durften„Geheime Kommandosachen“ in die Hän-de nehmen. Bei einem niedrigeren Ge-heimhaltungsgrad hätten die Texte über 20 Fernschreiber tickern können. Die „Wal-küre“-Befehle wären infolgedessen nichterst abends, oft nach Dienstschluss, son-dern am Spätnachmittag in den Wehr-kreiskommandos eingetroffen.

Zeitvorteil Hitler. Gegen 16 Uhr mussder noch nicht enttarnte Fellgiebel die

Stauffenberg: „Der Feldmarschall Kei-tel lügt wie immer.“

Fromm: „Graf Stauffenberg, das Atten-tat ist missglückt, Sie müssen sich sofort er-schießen.“

Stauffenberg: „Das werde ich nicht tun.“ Als Fromm die Verschwörer für verhaf-

tet erklärte, entgegnete Stauffenberg kühl:„Sie täuschen sich über die wahren Macht-verhältnisse. Wenn hier jemand in Schutz-haft genommen wird, dann sind Sie es,Herr Generaloberst.“

Adjutant Haeften und ein weiterer Hel-fer hielten dem tobenden Befehlshaber ihrePistolen vor den Bauch und sperrten denhochroten, mit der Fassung ringendenMann ins Adjutantenzimmer. Hitler ließFromm trotzdem später hinrichten.

Es gab nicht viel, was am 20. Juli soklappte, wie es die Verschwörer geplanthatten. Doch am Spätnachmittag gewannder Staatsstreich an Fahrt. Ständig trafeneingeweihte Helfer und Mitverschwörer imBendlerblock ein.

Vor allem aber wirkte der Bluff: Wehr-machteinheiten in und um Berlin richte-ten sich nach den „Walküre“-Befehlen.Einheiten der Heeres-Waffenmeisterschu-le I in Berlin-Treptow besetzten das Stadt-schloss. Panzer der PanzertruppenschuleII in Krampnitz fuhren an der Siegessäuleauf. Major Otto Ernst Remer, Komman-deur des Wachbataillons „Großdeutsch-land“ in der Rathenower Straße, glaubteder Nachricht seines Vorgesetzten, dass derFührer verunglückt und mit Unruhen zurechnen sei.

Wie befohlen, ließ er das Regierungs-viertel sofort absperren.

Es war zwischen 18 und 18.30 Uhr, unddie Weltgeschichte schien doch noch eineandere Richtung einzuschlagen:

Im Bendlerblock gab sich Stauffenbergoptimistisch: „Der Laden läuft ja, mankann noch nichts sagen.“

In der Wolfschanze wartete Hitler ner-vös auf Vollzug seiner Befehle. Er hatte

Nachrichtensperre aufheben. Sofort ver-suchten Keitels Adjutanten aus der Wolf-schanze, die Wehrkreiskommandos vomScheitern des Attentats zu informieren. Dererste Funkspruch Keitels erging um 16.15Uhr an die Dienststelle in Kassel: „DerFührer lebt! Völlig gesund! ReichsführerSS (Himmler zum) OB (Oberbefehlshabervom) Ersatzheer (ernannt), nur seine Be-fehle gelten.“

Experten schätzen den Kreis derjenigen,die von der Existenz der Staatsstreichplä-ne wussten, auf einige hundert Eingeweih-te. Was immer sie von einem Umsturz hiel-ten – nach Stauffenbergs Attentat warenalle in Lebensgefahr, weil sie die Ver-schwörer durch ihr Schweigen gedeckt hat-ten. Ihre einzige Chance lag im Gelingen

der Operation „Walküre“. Doch fataler-weise glaubten viele, sie könnten den Kopfnoch aus der Schlinge ziehen – und trugendamit zum eigenen Untergang bei.

Als Fromm vom Auslösen der „Walkü-re“-Befehle durch Mertz erfuhr, tobte er,brüllte etwas von Hochverrat und Todes-strafe, befahl den Ritter in sein Büro undließ ihn dort festsetzen: „Mertz, Sie befin-den sich in Schutzhaft.“

Wenige Minuten später – um 16.30 Uhr– fuhr Stauffenberg endlich in den Hof desBendlerblocks. Es ist ungeklärt, ob er wirk-lich glaubte, Hitler getötet zu haben, oderdies nur behauptete, um den Staatsstreichvoranzutreiben. Den wartenden Mitver-schwörern verkündete der Attentäter: „Erist tot, ich habe gesehen, wie man ihn hin-ausgetragen hat.“

Sofort eilten Olbricht und Stauffenbergzu Fromm. Doch der nahm auch Stauffen-berg die Nachricht vom Tod Hitlers nicht abund verwies auf sein Telefonat mit Keitel.

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Zerstörtes Dresden (im Februar 1945): Ein geglücktes Attentat hätte Millionen gerettet

Nur wenige Verschwörerverfügten über die Entschlos-senheit Stauffenbergs.

SPERRKREIS II

SONDER-SPERR-KREIS A

SPERRKREIS I

„Führerbunker“Gästebunker,Hitlers zeitweiligeUnterkunft

Unterkunft fürSS-Offiziere

Lagebaracke

DEUTSCHES RE ICH(einschließlich annektierterGebiete, Stand 1944)

BerlinWolfschanze

250 km

150 m

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Titel

Die Wolfsnest GmbHDrei Jahre lang war die Wolfschanze Hitlers bevorzugter Wohnsitz, heute ist sie Touristenziel.

Wenn die Dämmerung in denWald nahe der kleinen polni-schen Stadt K‰trzyn kriecht,

Busse und Autos vom Parkplatz gerolltsind und die Souvenirhändler ihre Lädengeschlossen haben, dann senkt sich einebeklemmende Ruhe über die Ruinen derWolfschanze inmitten des ostpreußischenMasuren.

Matt schimmern moosbewachsene Be-tontrümmer des ehemaligen Hitler-Haupt-quartiers zwischen den Bäumen, nur dasQuaken der Frösche in den umliegendenSümpfen unterbricht die Stille.

„Von hier ist viel Böses ausgegan-gen“, sagt Wolfschanzen-Verwalter JanZaluska, 57, und steigt über eine Treppeins aufgerissene Innere eines Bunkers, des-sen meterdicke Betonwände den früherenReichsmarschall Hermann Göring vorBombenangriffen schützen sollten.

Die Ruinen ragen als stumme Zeugendes nationalsozialistischen Größenwahnsin die Gegenwart.

Vor zehn Jahren hat Zaluskas „Wolfs-nest GmbH“ das Gelände gepachtet, unddie Geschäfte mit der Imagination desBösen laufen, nun ja, nicht schlecht. Je-denfalls was die Besucherzahlen angeht:Rund 200 000 Neugierige zieht es jähr-lich an den historisch so düster belade-nen Ort.

Im Herbst 1940 war Hitlers Bauinge-nieur Fritz Todt mit seinen Leuten („Or-ganisation Todt“) angereist und hatte in dem unberührten Waldstück bei Ras-

tenburg unter dem Decknamen „Chemi-sche Werke Askania“ mit der Errichtungdes Hauptquartiers begonnen. Von dortaus wollte Hitler den Feldzug gegen Russland leiten. Die Lage in Masuren botsich an: von Sümpfen und Seen umge-ben, unweit der russischen Grenze undnahe der wichtigen Bahnlinie Berlin–Kö-nigsberg.

In drei enger werdenden Sicherheits-zonen entstanden nach und nach rund200 Gebäude und Bunkeranlagen für dasNS-Spitzenpersonal. Von außen wurdendie Bauten mit seegrasversetztem Spe-zialputz versehen und die flachen Dächerzur Tarnung bepflanzt.

Arbeiter bauten Tag und Nacht einekleine, nahezu autarke Stadt für mehr als2000 Menschen in den Wald –mit eigenem Heizwerk, eige-ner Wasserversorgung, Ka-nalisation, Strom, eigenemBahnhof und Flugplatz.

Heute drängen sich anmanchen Tagen bis zu 3000Menschen auf den schmalenWegen durch die Anlage. Füracht Zloty, fast zwei Euro,dürfen sie das durch Schlag-baum und Maschendrahtzaungesicherte, rund 20 Hektargroße Gelände besichtigen.

Den Einheimischen sind dieÜberreste des Hitler-Haupt-quartiers in dieser landschaft-lich so reizvollen, aber an tou-

ristischen Sensationen armen Region einewillkommene Attraktion. Ganz und garunsinnig seien die Gerüchte, die Wolfs-nest-Betreiber planten hier eine Art Dis-neyland des Dritten Reichs mit Casino,Wachsfigurenkabinett und nachgestell-ten Szenen vom Stauffenberg-Attentat,mit wahlweise unbekleideten oder Nazi-uniformierten Kellnerinnen im Bunker-restaurant – „alles totaler Quatsch“, sagtGeschäftsführer Zaluska.

Immerhin, an makabren Devotionalien,die neben Mückenspray und allerlei Nip-pes an den örtlichen Kiosken verkauftwerden, mangelt es nicht: Totenkopf-Aschenbecher in vielerlei Variationenetwa oder Bastelbögen vom Hitler-Bunker(„Model Bunkra Hitlera 13“) für 12 Zloty.

Am besten gehen aberdie Bücher, in denen dieAnlage und ihre Ge-

schichte mehr oder weniger historisch genau beschrieben sind. Etliche der 32Fremdenführer, die am Geländeeingangauf Touristen warten, haben eigene Bro-schüren geschrieben und leben von derenVerkauf.

Ihre Kunden kommen vor allem ausDeutschland und Polen. Wer will, kannauch übernachten: In der ehemaligenUnterkunft für SS-Offiziere, einem derwenigen erhaltenen Gebäude, betreibtdie Wolfsnest GmbH ein Hotel mit spartanisch eingerichteten Zimmern. Im Sommer sei die Herberge zu 70 Prozent ausgelastet, und auch eine polnischeHochzeit sei hier schon gefeiert worden –„warum nicht?“, fragt Pächter Zaluska.„Die hatten das ganze Hotel gemietet undmussten wenigstens nicht besoffen nachHause fahren.“

Polnische Kinder vor einem Modell der Wolfschanze: „Mehr will ich nicht wissen“

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Propagandaminister Joseph Goeb-bels aufgefordert, eine Rundfunk-meldung zu verbreiten, derzufolgeer noch lebe. Nun rief er in Berlinan und fragte, was aus der Meldunggeworden sei.

Als Goebbels kurz darauf Solda-ten vor seinem Amtssitz aufziehensah, nahm er eine Schachtel Zya-nid-Tabletten und verschwand insSchlafzimmer.

Hitler vor dem Sturz?Irgendwann am Spätnachmittag

hatte der nicht eingeweihte MajorFriedrich Jakob von der Infante-rieschule in Döberitz bei Berlin den„Walküre“-Befehl erhalten, dasFunkhaus in der Masurenallee zubesetzen. Der Offizier fuhr mitmehreren Lastwagen voller Solda-ten hin, stellte Granatwerfer in denInnenhöfen auf und marschiertezum Intendanten: Der Sender seiabzuschalten.

Der Plan der Verschwörer sah vor, Nach-richtenoffiziere mit der nötigen Expertisean der Besetzung des Funkhauses zu betei-ligen. Doch im allgemeinen Durcheinanderhatten die ausgewählten Fachleute nicht dieentsprechenden Befehle erhalten. Und sokonnte der Rundfunkmann, ein offenbarargwöhnischer Nazi, Major Jakob in denHauptschaltraum führen, wo dem Laienversichert wurde, dass man seiner Anord-nung gefolgt sei. Dabei lief der Sendebe-trieb ununterbrochen weiter.

Um 18.28 Uhr meldete der Deutsch-landdienst des Deutschen Rundfunks, dassHitler „unverzüglich seine Arbeit wiederaufgenommen“ habe; in den folgendenanderthalb Stunden wurde Hitlers Über-leben fünfmal gemeldet.

Und damit, so der Historiker Peter Hoff-mann, der beste Kenner des Ablaufs am 20. Juli, „kam alles ins Stocken“. Denn mitder Nachricht vom Scheitern des Attentatsflog der „Walküre“-Bluff auf.

Vergebens telefonierten vor allem Stauf-fenberg, aber auch Olbricht und Beck bei-nahe ununterbrochen mit den Wehrkreis-kommandos, die zum Teil noch nicht die„Walküre“-Befehle erhalten hatten – wohlaber schon Gegenbefehle aus der Wolf-schanze:

„Hier Stauffenberg … Alle Befehle sindunverzüglich auszuführen. Sie müssen alleRundfunkstationen und Nachrichtenbürosbesetzen … Jeder Widerstand muss ge-brochen werden … nein … Die Wehrmachthat die Vollzugsgewalt übernommen …verstehen Sie … ja, das Reich ist in Gefahr,und wie immer übernimmt in der Stundeder Gefahr der Soldat das Kommando …Sie sollen alle Nachrichtenbüros besetzen… Haben Sie verstanden? Heil.“

Die Befehlshaber der Wehrkreiskom-mandos hätten an diesem Abend Ge-schichte schreiben können. Dafür hättensie sich allerdings nun – nachdem klar war,

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Manche Gäste bleiben, weil die Unter-kunft deutlich billiger ist als in den be-nachbarten Ortschaften, andere schätzendas bizarre Ambiente. Viele, vor allemdeutsche Besucher, wenden sich indes mitGrausen ab bei der Vorstellung, in demehemaligen SS-Gebäude nächtigen zumüssen.

„Einmal habe ich vorgeschlagen, hierStation zu machen, weil die Hotels in derUmgebung überbucht waren“, erzähltFremdenführer Jerzy Szynkowski, 59,„einige Leute weigerten sich schlicht, siewollten lieber auf einen Campingplatz.“

Seit 26 Jahren zeigt und erklärt Szyn-kowski Touristen die Wolfschanze und giltals einer der besten Kenner der Anlage.

„Er stellt auch die Hintergründe dar“,lobt Besucher Ernst Schulze, 77, aus Bochum, der auf einer Erinnerungsrei-se durchs frühere Ostpreußen ist. „Hierwird das Monströse des Hitler-Regimesdeutlich.“

Nicht nur ältere Besucher und „Heim-wehtouristen“ gehören zu SzynkowskisKunden, auch etwa gleich viele jüngereLeute wollen sich den geschichtsträchti-gen Ort, an dem Hitler zwischen 1941 und1944 überwiegend lebte, einmal genaueransehen.

Mit deutschen Touristen habe er nurgute Erfahrungen gemacht, sagt Szynkow-ski. Sie seien interessiert und neugierigund wollten alles über die Wolfschanzewissen. Ihm sei nur aufgefallen, dass sichniemand offen bekenne, damals bei denNazis mitgemacht zu haben – „irgendwiewaren alle im Widerstand“. Die polni-schen Touristen beschäftige hingegen vorallem die Frage, was gewesen wäre, wennHitler gesiegt hätte.

Und manch einer ist einfach nur zumBunkergucken da: „Hier kann man gut

mit den Kindern spazieren gehen“, sagtPiotr Kaminski, 33, „mehr will ich garnicht wissen.“

Die anderen folgen den Fremdenfüh-rern über das weitläufige Gelände. Vorbeian den Grundmauern jener Baracke, inder Stauffenberg das Attentat auf Hitlerverübte – eine 1992 im Beisein der Stauf-fenberg-Söhne enthüllte Gedenktafel er-innert daran.

Ein paar hundert Meter weiter ragt die nahezu unversehrte Rückseite des„Führerbunkers“ steil in die Höhe. Einmonströser Bau aus mit Stahlsträngenversetzten Betonwänden – „von außeneiner altägyptischen Grabstelle ähnlich“,schrieb Hitlers Baumeister Albert Speerin seinen Erinnerungen: „In diesem Grab-bau lebte, arbeitete und schlief er. Es schien, als trennten ihn die fünf Meterdicken Betonwände, die ihn umgaben,auch im übertragenen Sinne von derAußenwelt und sperrten ihn ein in sei-nem Wahn.“

Auf dem Vorplatz stechen in vier Me-ter Höhe Drähte aus den hundertjähri-gen Eichen – daran hatten die Erbauerder Wolfschanze Netze befestigt, um dieBunker aus der Luft zu tarnen.

„Eine dolle Anlage“, findet HansLuczak, 66, aus Hamburg, „wie die sichhier eingebunkert haben.“

Mit seiner Frau Ilse ist auch er auf ei-ner Rundreise durch das storchenreicheLand der Seen, Wälder und Moore, dieHeimat seiner Mutter. Und Luczak nutztdie Gelegenheit zur Völkerverständigung:„Früher hat man ja immer von den Pola-cken gesprochen, aber das sind sehr net-te Leute, die Polen“, sagt er. „Vor 70 Jah-ren hätte man sich gegenseitig besuchensollen, dann wäre uns das alles hier er-spart geblieben.“ Hans-Ulrich Stoldt

Deutsche Touristen vor den Trümmern des Göring-Bunkers: „Das Monströse des Hitler-Regimes“

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dass es um einen Staatsstreich ging – offengegen Hitler entscheiden müssen.

Doch einige Generäle, etwa in Salzburgoder Danzig, ergriffen sofort für die NazisPartei. In Hamburg bat der Chef des Stabsden Gauleiter samt Gefolge in das Wehr-kreiskommando in der General-Knochen-hauer-Straße und erklärte, dass er sie allelaut „Walküre“-Befehl verhaften solle, aberlieber die Entscheidung seines Vorgesetz-ten abwarten wolle. General Wilhelm Wet-zel beruhigte die Nazi-Prominenz: „Gau-leiter, wir beide werden doch nicht aufein-ander schießen.“

Die meisten von Wetzels Generalskolle-gen warteten ab, telefonierten mit denNachbar-Wehrkreiskommandos, setztensich mit Vertrauten in Verbindung, um her-auszufinden, was in Berlin los war.

Es sei ihm „furchtbar schwer“ gefallen,„die alten Kameraden in dieser verzweifel-ten Stunde im Stich zu lassen“, redete sichspäter Infanteriegeneral Werner Kienitz,Befehlshaber im Wehrkreis II (Stettin), her-aus. Doch „nach Lage der Dinge“ sei eineBeteiligung „ganz unmöglich“ gewesen.

Was geschehen konnte, wenn ein füh-render General mitzog, zeigte sich in Paris.Und wohl nichts stellt die Zögerer undZauderer zwischen Kassel und Königsbergso bloß wie das entschlossene Handelnihrer Kameraden an der Seine.

Die Nachricht vom Attentat war in Parisam frühen Nachmittag eingetroffen. Stauf-fenbergs Vetter Cäsar von Hofacker hattesogleich Militärbefehlshaber und Mitver-schwörer General Stülpnagel im Hotel Ma-jestic, seinem Hauptquartier, informiert.Stülpnagel ließ Stadtpläne verteilen, auf de-nen die Unterkünfte der SS eingezeichnetwaren. Die Verhaftungsaktion sollte erst um23 Uhr anlaufen, damit die Franzosen nichtZeuge wurden, wie deutsche Einheiten ge-geneinander vorgingen. Und so geschah es.

Rund 1200 Gestapo- und SS-Männer wur-den mit Lastwagen in das Wehrmachtge-

deur des Wachbataillons „Großdeutsch-land“, Major Remer. Der bis an sein Le-bensende überzeugte Hitler-Anhängerhatte am Nachmittag des 20. Juli zufälli-gerweise einen Referenten aus dem Pro-pagandaministerium zu Besuch, der sofortVerdacht geschöpft hatte, als Remer den„Walküre“-Befehl erhielt, das Regierungs-viertel abzusperren.

Der Mann bot dem Major an, bei seinemChef, Reichsminister Goebbels, nach demStand der Dinge zu fragen. Und Goebbels– eben noch voller Selbstmordgedanken –war klug genug, Remer sofort ins Ministe-rium zu bitten. Gegen 19 Uhr traf dieser ein.

Goebbels ließ eine Verbindung zu Hitlerin die Wolfschanze herstellen. Remer soll-te mit dem „Führer“ persönlich parlieren.O-Ton Hitler:

„Hören Sie mich? Ich lebe also! Das At-tentat ist misslungen. Wir werden mit die-ser Pest kurzen Prozess machen. Sie er-halten von mir den Auftrag, sofort dieRuhe und die Sicherheit in der Reichs-hauptstadt wiederherzustellen, wenn not-wendig mit Gewalt.“

Remer hob die Abriegelung des Regie-rungsviertels auf.

Da er alle seine Soldaten zusammenzie-hen wollte, schickte Remer auch einen Ver-trauten zu jenen Angehörigen des Wach-bataillons in die Bendlerstraße, die dortroutinemäßig Dienst taten. Erst auf dieseWeise erfuhren er und Goebbels gegen 21 Uhr, wo eigentlich das Verschwörer-hauptquartier lag.

Hitler befahl sofort, den riesigen Büro-komplex zu besetzen und alle Generäle zu verhaften. Die 4. Kompanie des Wach-bataillons umstellte das Gebäude und ließvor den Eingängen Maschinengewehr-posten aufziehen.

Der Staatsstreich war endgültig geschei-tert.

Viele der Offiziere im Bendlerblockhatten mehr geahnt als gewusst, was im

fängnis Fresne und zum Fort de l’Est in SaintDenis gekarrt. Der Stadtkommandant ließbereits im Hof der Ecole Militaire Sandsäckeaufschichten, Kugelfang für die zu erwar-tenden Exekutionen der Schergen Hitlers.

Doch dann sprach sich auch in Parisherum, was wirklich los war. StülpnagelsVorgesetzter, Generalfeldmarschall HansGünther von Kluge, fiel seinem Unterge-benen in den Arm: „Ja, wenn das Schweintot wäre.“ Vergebens versuchte Beck den„klugen Hans“, wie der wendige Oberbe-fehlshaber West genannt wurde, in einemTelefongespräch umzustimmen.

Die Entscheidung fiel am Ende in Berlin.Der Militärhistoriker Gerd Ueberschärschätzt die Anzahl der in und um die Reichs-hauptstadt stationierten Soldaten auf 7000bis 8000. Hätte nur eine einzige Einheit wieetwa die Panzertruppenschule in Kramp-

nitz sich auf die Seite der Verschwörer ge-schlagen, dann wäre, glaubt der Experte,„möglicherweise alles anders gekommen“.

Am Spätnachmittag traf der Befehlsha-ber des Wehrkreiskommandos am Hohen-zollerndamm, General Joachim von Kortz-fleisch, im Bendlerblock ein. Für denStaatsstreich war der Mann nicht zu ge-winnen. Einem „Putsch“, erklärte er, füh-le er sich nicht gewachsen. Er habe jetzt nur„noch ein Interesse: nach Hause zu gehenund in meinem Garten Unkraut zu jäten“.An die Stelle von Kortzfleisch trat GeneralKarl von Thüngen, doch der fand die ganzeLage undurchsichtig, vertrödelte wichtigeZeit, erklärte, er wisse nicht, ob Hitler nochlebe. Nur widerwillig fuhr er um 19 Uhr zumHohenzollerndamm und befahl – nichts.

Das Vakuum in der Reichshauptstadtfüllte schließlich der 32-jährige Komman-

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Gedenkfeier im Bendlerblock in Berlin (1998): „Der 20. Juli ist angekommen“

In Paris wurden Sandsäcke alsKugelfang für die Exekutionvon Hitler-Schergen aufgebaut.

Deutsche Helden„Wenn Sie an das Attentat vom20. Juli 1944 denken: Was löstes bei Ihnen aus?“

Achtung

Verachtung

TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 22. bis 24. Juni; rund1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent:

„weiß nicht“/ keine Angabe

Bewunderung

Ablehnung

Gleichgültigkeit

33%

40%

10%

5%

5%

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innerhalb ihrer eigenen Familien, in ihremeigenen Stand isoliert. Sie handelten alsEinzelkämpfer.SPIEGEL: Aber warum beteiligten sich dannso viele Grafen und Barone?Malinowski: Vor allem weil sie im Offiziers-korps so stark vertreten waren. Bei Kriegs-beginn 1939 waren rund 15 Prozent derWehrmachtoffiziere Edelleute, in den höchsten Dienstgraden sogar noch deut-lich mehr. Da sie in der Armee, einem derwichtigsten Machtzentren des „Dritten Reiches“, in den Führungspositionen do-minierten, konnten preußische Adlige dann 1944 eine solche Rolle im Widerstandspielen.SPIEGEL: Das scheint uns keine ausreichen-de Erklärung zu sein.

Malinowski, 38, lehrtNeuere Geschichte an der Freien UniversitätBerlin. Er ist Autor derStudie „Vom König zumFührer“ (Fischer Ta-schenbuch Verlag, Frank-furt am Main 2004).

SPIEGEL: Herr Malinowski, jeder zweite Ver-schwörer des 20. Juli stammte aus dem Adel,obwohl dieser nur 0,15 Prozent der Bevöl-kerung ausmachte. Hitler sagte nach demAttentat, es sei sein „tiefer Glaube, dassmeine Feinde die ,vons‘ sind“. War der Um-sturzversuch ein Aufstand des Adels?Malinowski: Nein. Die adligen Verschwö-rer gegen den Diktator waren oftmals selbst

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Titel

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Beide Geschichten erzählen“Der Historiker Stephan Malinowski über die

Begeisterung im deutschen Adel für den Nationalsozialismus und die Rolle von Grafen und Baronen beim Attentat auf Hitler

Nazi-Funktionär Prinz von Preußen (2. v. r.) in Berlin 1933*: Viele klangvolle Namen in der

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zweiten Stock des Ostflügels geschah, wo heute die Ausstellung der GedenkstätteDeutscher Widerstand residiert. Nun, alsdas Ende bevorstand, wollten sie sich gegen den zu erwartenden Vorwurf desRegimes schützen, dem Staatsstreich nichtentgegengetreten zu sein. Einige vonOlbrichts Stabsoffizieren nahmen Ma-schinenpistolen und Handgranaten; lär-mend zogen sie zu Olbrichts Büro: „HerrGeneral, sind Sie für oder gegen denFührer?“

Als Stauffenberg hinzukam, wollten dieMänner ihn festnehmen, aber der Grafstürzte sofort auf den Korridor. Einem Be-richt zufolge, den jetzt der Potsdamer His-toriker Bernhard Kroener in einem Mos-kauer Archiv gefunden hat, feuerten zweiOffiziere ihm hinterher; der am linkenOberarm verwundete Stauffenberg konntesich in ein Zimmer retten.

Gegen 22 Uhr – noch war die 4. Kom-panie des Wachbataillons nicht eingetrof-fen – erschien der inzwischen befreiteFromm, hinter sich eine Entourage Be-waffneter, in der Tür seines Büros, woBeck, Mertz, der angeschossene Stauffen-berg, Haeften, Olbricht und Hoepner ab-warteten. Auf dem Fußboden brannte Pa-pier – Beweisstücke, die die Verschwörernoch vernichten wollten.

Fromm erklärte alle sechs für verhaftetund forderte sie auf, ihre Waffen abzulie-fern. Beck bat darum, seine Pistole behal-ten zu dürfen, „zum privaten Gebrauch“.

Es passte zu diesem Tag, dass Beck sichmit dem ersten Schuss nur an der Schläfeverletzte und auch der zweite nicht tödlichwar. Ein Feldwebel jagte dem Sterbendenschließlich eine Kugel in den Kopf.

Ob Fromm die anderen fünf Verschwö-rer hinrichten lassen wollte, um seine Mit-wisserschaft zu verschleiern oder aus dün-kelhafter Empörung über seine eigene Ver-haftung durch die rangniederen Offizieream Nachmittag, lässt sich nicht klären.

Jetzt, um kurz vor Mitternacht, drängteFromm jedenfalls zu Eile. Hoepner ließ er abführen; die anderen aber, so behaup-tete er einfach, seien alle durch ein vonihm bestelltes Standgericht zum Tode ver-urteilt.

Die inzwischen am Bendlerblock einge-troffene Kampfgruppe des Wachbataillonsmusste ein Exekutionskommando stellen.Im Hof des Gebäudes befand sich damalsein Bunker, an dem Sand aufgeschüttetwar. Fahrer erhielten den Befehl, mit denScheinwerfern ihrer Fahrzeuge die Szene-rie zu erhellen. Die Delinquenten musstenauf den Sandhaufen steigen. Dann legtendie Schützen an.

Stauffenberg starb als Dritter. Vor sei-nem Tode hat er noch etwas gerufen, undwas das war, ist bis heute umstritten. EineVariante lautet: „Es lebe das heiligeDeutschland!“

Seine Witwe meinte später, das habe zuihm gepasst. Klaus Wiegrefe

SPERRKREIS II

SONDER-SPERR-KREIS A

SPERRKREIS I

„Führerbunker“Gästebunker,Hitlers zeitweiligeUnterkunft

Unterkunft fürSS-Offiziere

Lagebaracke

DEUTSCHES RE ICH(einschließlich annektierterGebiete, Stand 1944)

BerlinWolfschanze

250 km

150 m

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Titel

Die Wolfsnest GmbHDrei Jahre lang war die Wolfschanze Hitlers bevorzugter Wohnsitz, heute ist sie Touristenziel.

Wenn die Dämmerung in denWald nahe der kleinen polni-schen Stadt K‰trzyn kriecht,

Busse und Autos vom Parkplatz gerolltsind und die Souvenirhändler ihre Lädengeschlossen haben, dann senkt sich einebeklemmende Ruhe über die Ruinen derWolfschanze inmitten des ostpreußischenMasuren.

Matt schimmern moosbewachsene Be-tontrümmer des ehemaligen Hitler-Haupt-quartiers zwischen den Bäumen, nur dasQuaken der Frösche in den umliegendenSümpfen unterbricht die Stille.

„Von hier ist viel Böses ausgegan-gen“, sagt Wolfschanzen-Verwalter JanZaluska, 57, und steigt über eine Treppeins aufgerissene Innere eines Bunkers, des-sen meterdicke Betonwände den früherenReichsmarschall Hermann Göring vorBombenangriffen schützen sollten.

Die Ruinen ragen als stumme Zeugendes nationalsozialistischen Größenwahnsin die Gegenwart.

Vor zehn Jahren hat Zaluskas „Wolfs-nest GmbH“ das Gelände gepachtet, unddie Geschäfte mit der Imagination desBösen laufen, nun ja, nicht schlecht. Je-denfalls was die Besucherzahlen angeht:Rund 200 000 Neugierige zieht es jähr-lich an den historisch so düster belade-nen Ort.

Im Herbst 1940 war Hitlers Bauinge-nieur Fritz Todt mit seinen Leuten („Or-ganisation Todt“) angereist und hatte in dem unberührten Waldstück bei Ras-

tenburg unter dem Decknamen „Chemi-sche Werke Askania“ mit der Errichtungdes Hauptquartiers begonnen. Von dortaus wollte Hitler den Feldzug gegen Russland leiten. Die Lage in Masuren botsich an: von Sümpfen und Seen umge-ben, unweit der russischen Grenze undnahe der wichtigen Bahnlinie Berlin–Kö-nigsberg.

In drei enger werdenden Sicherheits-zonen entstanden nach und nach rund200 Gebäude und Bunkeranlagen für dasNS-Spitzenpersonal. Von außen wurdendie Bauten mit seegrasversetztem Spe-zialputz versehen und die flachen Dächerzur Tarnung bepflanzt.

Arbeiter bauten Tag und Nacht einekleine, nahezu autarke Stadt für mehr als2000 Menschen in den Wald –mit eigenem Heizwerk, eige-ner Wasserversorgung, Ka-nalisation, Strom, eigenemBahnhof und Flugplatz.

Heute drängen sich anmanchen Tagen bis zu 3000Menschen auf den schmalenWegen durch die Anlage. Füracht Zloty, fast zwei Euro,dürfen sie das durch Schlag-baum und Maschendrahtzaungesicherte, rund 20 Hektargroße Gelände besichtigen.

Den Einheimischen sind dieÜberreste des Hitler-Haupt-quartiers in dieser landschaft-lich so reizvollen, aber an tou-

ristischen Sensationen armen Region einewillkommene Attraktion. Ganz und garunsinnig seien die Gerüchte, die Wolfs-nest-Betreiber planten hier eine Art Dis-neyland des Dritten Reichs mit Casino,Wachsfigurenkabinett und nachgestell-ten Szenen vom Stauffenberg-Attentat,mit wahlweise unbekleideten oder Nazi-uniformierten Kellnerinnen im Bunker-restaurant – „alles totaler Quatsch“, sagtGeschäftsführer Zaluska.

Immerhin, an makabren Devotionalien,die neben Mückenspray und allerlei Nip-pes an den örtlichen Kiosken verkauftwerden, mangelt es nicht: Totenkopf-Aschenbecher in vielerlei Variationenetwa oder Bastelbögen vom Hitler-Bunker(„Model Bunkra Hitlera 13“) für 12 Zloty.

Am besten gehen aberdie Bücher, in denen dieAnlage und ihre Ge-

schichte mehr oder weniger historisch genau beschrieben sind. Etliche der 32Fremdenführer, die am Geländeeingangauf Touristen warten, haben eigene Bro-schüren geschrieben und leben von derenVerkauf.

Ihre Kunden kommen vor allem ausDeutschland und Polen. Wer will, kannauch übernachten: In der ehemaligenUnterkunft für SS-Offiziere, einem derwenigen erhaltenen Gebäude, betreibtdie Wolfsnest GmbH ein Hotel mit spartanisch eingerichteten Zimmern. Im Sommer sei die Herberge zu 70 Prozent ausgelastet, und auch eine polnischeHochzeit sei hier schon gefeiert worden –„warum nicht?“, fragt Pächter Zaluska.„Die hatten das ganze Hotel gemietet undmussten wenigstens nicht besoffen nachHause fahren.“

Polnische Kinder vor einem Modell der Wolfschanze: „Mehr will ich nicht wissen“

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Propagandaminister Joseph Goeb-bels aufgefordert, eine Rundfunk-meldung zu verbreiten, derzufolgeer noch lebe. Nun rief er in Berlinan und fragte, was aus der Meldunggeworden sei.

Als Goebbels kurz darauf Solda-ten vor seinem Amtssitz aufziehensah, nahm er eine Schachtel Zya-nid-Tabletten und verschwand insSchlafzimmer.

Hitler vor dem Sturz?Irgendwann am Spätnachmittag

hatte der nicht eingeweihte MajorFriedrich Jakob von der Infante-rieschule in Döberitz bei Berlin den„Walküre“-Befehl erhalten, dasFunkhaus in der Masurenallee zubesetzen. Der Offizier fuhr mitmehreren Lastwagen voller Solda-ten hin, stellte Granatwerfer in denInnenhöfen auf und marschiertezum Intendanten: Der Sender seiabzuschalten.

Der Plan der Verschwörer sah vor, Nach-richtenoffiziere mit der nötigen Expertisean der Besetzung des Funkhauses zu betei-ligen. Doch im allgemeinen Durcheinanderhatten die ausgewählten Fachleute nicht dieentsprechenden Befehle erhalten. Und sokonnte der Rundfunkmann, ein offenbarargwöhnischer Nazi, Major Jakob in denHauptschaltraum führen, wo dem Laienversichert wurde, dass man seiner Anord-nung gefolgt sei. Dabei lief der Sendebe-trieb ununterbrochen weiter.

Um 18.28 Uhr meldete der Deutsch-landdienst des Deutschen Rundfunks, dassHitler „unverzüglich seine Arbeit wiederaufgenommen“ habe; in den folgendenanderthalb Stunden wurde Hitlers Über-leben fünfmal gemeldet.

Und damit, so der Historiker Peter Hoff-mann, der beste Kenner des Ablaufs am 20. Juli, „kam alles ins Stocken“. Denn mitder Nachricht vom Scheitern des Attentatsflog der „Walküre“-Bluff auf.

Vergebens telefonierten vor allem Stauf-fenberg, aber auch Olbricht und Beck bei-nahe ununterbrochen mit den Wehrkreis-kommandos, die zum Teil noch nicht die„Walküre“-Befehle erhalten hatten – wohlaber schon Gegenbefehle aus der Wolf-schanze:

„Hier Stauffenberg … Alle Befehle sindunverzüglich auszuführen. Sie müssen alleRundfunkstationen und Nachrichtenbürosbesetzen … Jeder Widerstand muss ge-brochen werden … nein … Die Wehrmachthat die Vollzugsgewalt übernommen …verstehen Sie … ja, das Reich ist in Gefahr,und wie immer übernimmt in der Stundeder Gefahr der Soldat das Kommando …Sie sollen alle Nachrichtenbüros besetzen… Haben Sie verstanden? Heil.“

Die Befehlshaber der Wehrkreiskom-mandos hätten an diesem Abend Ge-schichte schreiben können. Dafür hättensie sich allerdings nun – nachdem klar war,

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Manche Gäste bleiben, weil die Unter-kunft deutlich billiger ist als in den be-nachbarten Ortschaften, andere schätzendas bizarre Ambiente. Viele, vor allemdeutsche Besucher, wenden sich indes mitGrausen ab bei der Vorstellung, in demehemaligen SS-Gebäude nächtigen zumüssen.

„Einmal habe ich vorgeschlagen, hierStation zu machen, weil die Hotels in derUmgebung überbucht waren“, erzähltFremdenführer Jerzy Szynkowski, 59,„einige Leute weigerten sich schlicht, siewollten lieber auf einen Campingplatz.“

Seit 26 Jahren zeigt und erklärt Szyn-kowski Touristen die Wolfschanze und giltals einer der besten Kenner der Anlage.

„Er stellt auch die Hintergründe dar“,lobt Besucher Ernst Schulze, 77, aus Bochum, der auf einer Erinnerungsrei-se durchs frühere Ostpreußen ist. „Hierwird das Monströse des Hitler-Regimesdeutlich.“

Nicht nur ältere Besucher und „Heim-wehtouristen“ gehören zu SzynkowskisKunden, auch etwa gleich viele jüngereLeute wollen sich den geschichtsträchti-gen Ort, an dem Hitler zwischen 1941 und1944 überwiegend lebte, einmal genaueransehen.

Mit deutschen Touristen habe er nurgute Erfahrungen gemacht, sagt Szynkow-ski. Sie seien interessiert und neugierigund wollten alles über die Wolfschanzewissen. Ihm sei nur aufgefallen, dass sichniemand offen bekenne, damals bei denNazis mitgemacht zu haben – „irgendwiewaren alle im Widerstand“. Die polni-schen Touristen beschäftige hingegen vorallem die Frage, was gewesen wäre, wennHitler gesiegt hätte.

Und manch einer ist einfach nur zumBunkergucken da: „Hier kann man gut

mit den Kindern spazieren gehen“, sagtPiotr Kaminski, 33, „mehr will ich garnicht wissen.“

Die anderen folgen den Fremdenfüh-rern über das weitläufige Gelände. Vorbeian den Grundmauern jener Baracke, inder Stauffenberg das Attentat auf Hitlerverübte – eine 1992 im Beisein der Stauf-fenberg-Söhne enthüllte Gedenktafel er-innert daran.

Ein paar hundert Meter weiter ragt die nahezu unversehrte Rückseite des„Führerbunkers“ steil in die Höhe. Einmonströser Bau aus mit Stahlsträngenversetzten Betonwänden – „von außeneiner altägyptischen Grabstelle ähnlich“,schrieb Hitlers Baumeister Albert Speerin seinen Erinnerungen: „In diesem Grab-bau lebte, arbeitete und schlief er. Es schien, als trennten ihn die fünf Meterdicken Betonwände, die ihn umgaben,auch im übertragenen Sinne von derAußenwelt und sperrten ihn ein in sei-nem Wahn.“

Auf dem Vorplatz stechen in vier Me-ter Höhe Drähte aus den hundertjähri-gen Eichen – daran hatten die Erbauerder Wolfschanze Netze befestigt, um dieBunker aus der Luft zu tarnen.

„Eine dolle Anlage“, findet HansLuczak, 66, aus Hamburg, „wie die sichhier eingebunkert haben.“

Mit seiner Frau Ilse ist auch er auf ei-ner Rundreise durch das storchenreicheLand der Seen, Wälder und Moore, dieHeimat seiner Mutter. Und Luczak nutztdie Gelegenheit zur Völkerverständigung:„Früher hat man ja immer von den Pola-cken gesprochen, aber das sind sehr net-te Leute, die Polen“, sagt er. „Vor 70 Jah-ren hätte man sich gegenseitig besuchensollen, dann wäre uns das alles hier er-spart geblieben.“ Hans-Ulrich Stoldt

Deutsche Touristen vor den Trümmern des Göring-Bunkers: „Das Monströse des Hitler-Regimes“

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innerhalb ihrer eigenen Familien, in ihremeigenen Stand isoliert. Sie handelten alsEinzelkämpfer.SPIEGEL: Aber warum beteiligten sich dannso viele Grafen und Barone?Malinowski: Vor allem weil sie im Offiziers-korps so stark vertreten waren. Bei Kriegs-beginn 1939 waren rund 15 Prozent derWehrmachtoffiziere Edelleute, in den höchsten Dienstgraden sogar noch deut-lich mehr. Da sie in der Armee, einem derwichtigsten Machtzentren des „Dritten Reiches“, in den Führungspositionen do-minierten, konnten preußische Adlige dann 1944 eine solche Rolle im Widerstandspielen.SPIEGEL: Das scheint uns keine ausreichen-de Erklärung zu sein.

Malinowski, 38, lehrtNeuere Geschichte an der Freien UniversitätBerlin. Er ist Autor derStudie „Vom König zumFührer“ (Fischer Ta-schenbuch Verlag, Frank-furt am Main 2004).

SPIEGEL: Herr Malinowski, jeder zweite Ver-schwörer des 20. Juli stammte aus dem Adel,obwohl dieser nur 0,15 Prozent der Bevöl-kerung ausmachte. Hitler sagte nach demAttentat, es sei sein „tiefer Glaube, dassmeine Feinde die ,vons‘ sind“. War der Um-sturzversuch ein Aufstand des Adels?Malinowski: Nein. Die adligen Verschwö-rer gegen den Diktator waren oftmals selbst

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„Beide Geschichten erzählen“Der Historiker Stephan Malinowski über die

Begeisterung im deutschen Adel für den Nationalsozialismus und die Rolle von Grafen und Baronen beim Attentat auf Hitler

Nazi-Funktionär Prinz von Preußen (2. v. r.) in Berlin 1933*: Viele klangvolle Namen in der

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zweiten Stock des Ostflügels geschah, wo heute die Ausstellung der GedenkstätteDeutscher Widerstand residiert. Nun, alsdas Ende bevorstand, wollten sie sich gegen den zu erwartenden Vorwurf desRegimes schützen, dem Staatsstreich nichtentgegengetreten zu sein. Einige vonOlbrichts Stabsoffizieren nahmen Ma-schinenpistolen und Handgranaten; lär-mend zogen sie zu Olbrichts Büro: „HerrGeneral, sind Sie für oder gegen denFührer?“

Als Stauffenberg hinzukam, wollten dieMänner ihn festnehmen, aber der Grafstürzte sofort auf den Korridor. Einem Be-richt zufolge, den jetzt der Potsdamer His-toriker Bernhard Kroener in einem Mos-kauer Archiv gefunden hat, feuerten zweiOffiziere ihm hinterher; der am linkenOberarm verwundete Stauffenberg konntesich in ein Zimmer retten.

Gegen 22 Uhr – noch war die 4. Kom-panie des Wachbataillons nicht eingetrof-fen – erschien der inzwischen befreiteFromm, hinter sich eine Entourage Be-waffneter, in der Tür seines Büros, woBeck, Mertz, der angeschossene Stauffen-berg, Haeften, Olbricht und Hoepner ab-warteten. Auf dem Fußboden brannte Pa-pier – Beweisstücke, die die Verschwörernoch vernichten wollten.

Fromm erklärte alle sechs für verhaftetund forderte sie auf, ihre Waffen abzulie-fern. Beck bat darum, seine Pistole behal-ten zu dürfen, „zum privaten Gebrauch“.

Es passte zu diesem Tag, dass Beck sichmit dem ersten Schuss nur an der Schläfeverletzte und auch der zweite nicht tödlichwar. Ein Feldwebel jagte dem Sterbendenschließlich eine Kugel in den Kopf.

Ob Fromm die anderen fünf Verschwö-rer hinrichten lassen wollte, um seine Mit-wisserschaft zu verschleiern oder aus dün-kelhafter Empörung über seine eigene Ver-haftung durch die rangniederen Offizieream Nachmittag, lässt sich nicht klären.

Jetzt, um kurz vor Mitternacht, drängteFromm jedenfalls zu Eile. Hoepner ließ er abführen; die anderen aber, so behaup-tete er einfach, seien alle durch ein vonihm bestelltes Standgericht zum Tode ver-urteilt.

Die inzwischen am Bendlerblock einge-troffene Kampfgruppe des Wachbataillonsmusste ein Exekutionskommando stellen.Im Hof des Gebäudes befand sich damalsein Bunker, an dem Sand aufgeschüttetwar. Fahrer erhielten den Befehl, mit denScheinwerfern ihrer Fahrzeuge die Szene-rie zu erhellen. Die Delinquenten musstenauf den Sandhaufen steigen. Dann legtendie Schützen an.

Stauffenberg starb als Dritter. Vor sei-nem Tode hat er noch etwas gerufen, undwas das war, ist bis heute umstritten. EineVariante lautet: „Es lebe das heiligeDeutschland!“

Seine Witwe meinte später, das habe zuihm gepasst. Klaus Wiegrefe

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Malinowski: Es kommt etwas anderes dazu.In adligen Kreisen kannte man sich, war oftmiteinander verwandt. Es gab ein für Bür-gerliche schwer nachvollziehbares, über-aus enges Beziehungsgeflecht, über dasAdlige sehr diskret und effektiv kommuni-zieren konnten – geradezu ideal, um einVerschwörernetzwerk aufzubauen. Weildieses, anders als etwa der Arbeiterwider-stand, nicht an eine Organisation gebundenwar, konnte es von den Nazis auch nicht soeinfach zerschlagen werden.SPIEGEL: Hitler galt vielen Adligen doch alsParvenü, Henning von Tresckow soll ge-sagt haben, man müsse ihn „wie einen tol-len Hund abschießen“. War der adlige Her-renhabitus eine Wurzel des Widerstands?Malinowski: Zunächst einmal machte erHitler möglich. Denn der Adel unter-schätzte die Nazis aus genau dieser Her-renhaltung heraus – am deutlichsten for-muliert 1933 von Hitlers Steigbügelhalterund Vizekanzler Franz von Papen: Manhabe den NSDAP-Chef „engagiert“, inzwei Monaten sei Hitler „in die Ecke ge-drückt, dass er quietscht“. Bekanntlichkam es dann genau andersherum. DieserHabitus spielte dann aber auch für denEntschluss zum Staatsstreich eine Rolle,denn in einer Gesellschaftsschicht, die tau-

Osten siedeln würden, ob man sich nichtschon mal eine Option für den Kauf„größerer Güter“ sichern könne. Es gibtweitere Beispiele. Hält man sich den ma-teriellen Aspekt vor Augen, ist es wenigererstaunlich, dass viele Adlige so lange mit-gemacht haben.SPIEGEL: Aber vor 1933 hatten die adligenHerren doch allen Grund, sich vor den Na-zis eher zu fürchten. In der NSDAP gab eseinen starken sozialistischen Flügel, undunter Hitlers SA-Schlägern fanden sich vie-le Proletarier und Landarbeiter.Malinowski: Das Verhältnis zwischen Adelund Nationalsozialismus ist die Geschich-te eines Missverständnisses. Was die Adli-gen in der braunen Partei sahen, war nichtdas, was sie dann bekamen. Als Kampf-bewegung stand sie radikal gegen alles, wo-gegen auch der Adel stand: Demokratie,Republik, Parlamentarismus, Parteienstaat,Sozialdemokratie. Aus seiner Sicht war dasalso eine Organisation, mit der man etwasanfangen konnte, die man reiten konntewie ein Pferd – und es dauerte lange, bisder Adel merkte, dass sich das Verhältnisvon Ross und Reiter verkehrt hatte.SPIEGEL: Welchen Anteil hat der Antisemi-tismus?Malinowski: Der größte deutsche Adelsver-band, die Deutsche Adelsgenossenschaft,führte bereits 1920 einen Arier-Paragrafenein. Als Gruppe hat sich der Adel ja immerüber Blut definiert. Dass auch die Nazis inKategorien wie Blut und Rasse dachten,hat nachweislich viele Adlige angesprochen.SPIEGEL: Wie weit spielte der Adel den Na-zis in die Hände?Malinowski: Es gibt ab etwa 1930 eine nach-weisbare Bewegung im gesamten deutschenAdel in die NSDAP hinein. Das fängt mitAugust Wilhelm Prinz von Preußen an, demvierten Sohn des letzten Kaisers, der in Bier-zelten für die Nazis auftrat, und gilt für vie-le andere Geschlechter. Es gibt innerhalbdes preußischen Adels praktisch keine derberühmten Familien, die nicht dabei ist.SPIEGEL: Können Sie Zahlen nennen?Malinowski: In der winzig kleinen Gruppedes Hochadels werden rund 70 Fürsten,

send Jahre lang Herrschaft ausgeübt hatte,gab es kaum absolutes Parteigängertumund Führertreue bis zum bitteren Ende.Für den Adel war das eher eine Art selbstgewähltes Bündnis. Zu den unbestreitbarenEhrentaten der Männer des 20. Juli gehört,dass sie dieses Bündnis von sich aus auf-gekündigt haben.SPIEGEL: Aber was hatte der Nationalsozia-lismus Adligen überhaupt zu bieten?Malinowski: Karrieren und Landbesitz zumBeispiel. Von den rund 10000 adligen Offi-zieren im Kaiserreich wurden nach 1918 nurrund 900 in die stark verkleinerte Reichs-wehr übernommen. Es gab nach dem ErstenWeltkrieg Tausende regelrecht arbeitslosepreußische Adlige, die auf nichts anderesvorbereitet worden waren als eine Karrierebeim Militär – traditionell Absicherung fürnachgeborene Söhne, die keinen Grundbe-sitz erbten.SPIEGEL: Und die Aufrüstung der Nazis öff-nete dieses Tor dann wieder.Malinowski: Richtig. Die Anzahl der adli-gen Offiziere schnellte nach 1933 innerhalbvon zwei Jahren von 900 auf rund 2300hoch. Dazu kamen Karrierechancen alsFolge politischer Säuberungen im höherenVerwaltungsdienst und in der Diplomatie.Nicht zu vergessen auch die Posten bei derSS – fast jeder fünfte SS-Obergruppen-führer, also die zweithöchste Rangstufe,stammte aus dem Adel. Es begegneten sichin der SS viele klangvolle Namen: Alvens-leben, Bülow, Pückler, Steuben, Uslar,Westphalen oder Henckel-Donnersmarck.SPIEGEL: Und andere hofften auf Beutelandaus Hitlers Feldzügen?Malinowski: Die Nazis hatten ja großeSchwierigkeiten, für ihre Ostsiedlungspoli-tik das viel beschworene „Volk ohne Raum“zu finden. Aus Arbeitern wollte HitlerWehrbauern machen, aber die mochtennicht. Ganz anders der Adel: Der Großher-zog von Oldenburg etwa schrieb schon An-fang Juni 1941 an SS-Chef Heinrich Himm-ler, dass einige seiner sechs Söhne gern im

* Mit SA-Führer Karl Ernst und Propagandachef JosephGoebbels.

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SV-B

ILD

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AKG

braunen Partei

Dichter George, Claus und Berthold Stauffenberg: Folgenreicher Herrendünkel

wechseln können. Als die Nazis ansRuder kommen, lässt sich ein „alterKämpfer“ hochhalten, und sobalddie Nazis nicht mehr en vogue sind,wird dann eben jemand gefunden,der mit Stauffenberg oder Schu-lenburg im Offizierscasino einenCognac getrunken hat. Der hattedann „Kontakte“ zum 20. Juli.SPIEGEL: Sie haben auch MarionGräfin Dönhoff Legendenbildungvorgeworfen. Warum?Malinowski: Dönhoff schrieb nichtaus der Perspektive einer Historike-rin, sondern als beteiligte Frau, dieihre Freunde verloren hatte. Sie hat-te kein Interesse daran, die Schat-tenseiten des Widerstands zu be-leuchten. Ihre Schilderungen habenliterarische und atmosphärischeQualitäten, aber wenig Bedeutungfür die Geschichtsschreibung – nursind sie kurioserweise bisher als sol-che gelesen worden.SPIEGEL: Aber dieser Vorwurf gehtdoch mehr an die Historiker als anDönhoff. Was ist ihr denn anzu-kreiden?

Malinowski: Zum Beispiel die Beschreibungder Widerstandsaktivitäten ihres FreundesFritz-Dietlof Graf von der Schulenburg,über die Dönhoff seitenlang erzählt. SeineNS-Vorgeschichte kommt bei ihr nur ganzen passant vor, als Marginalie – dabei warSchulenburg anfangs ein scharfer Nazi. Dasist ein Missverhältnis.SPIEGEL: Aber nicht auch ein Einzelfall?Malinowski: Nein. Es gibt eine ganze Reihevon Beispielen. Sie hat die politische Rol-le des Adels vor und nach 1933 niemalssystematisch dargestellt – was sie wohl ge-konnt hätte. Dönhoff hat in ihren ein-schlägigen Büchern auch nie die NSDAP-Mitgliedschaft ihrer Brüder Dietrich undChristoph erwähnt. Wenn eine liberale Pu-blizistin, die sich intensiv mit dem DrittenReich und der Rolle ihrer eigenen Freun-de darin befasst, so eine Information weg-lässt, bewegt sie sich zumindest am Randeder Legendenbildung. Legenden entstehenja nicht zuletzt durch das, was man widerbesseres Wissen nicht erzählt.SPIEGEL: Wie werten Sie denn, alles in allem,Stauffenberg und seine Mitverschwörer?Malinowski: Für mich bleiben sie Helden.Aber mich stört die Vereinnahmung des20. Juli durch konservative, bürgerlicheoder adlige Trittbrettfahrer, die so tun, alswäre das Verhalten der Widerständler re-präsentativ. Man soll beide Geschichtenerzählen und nicht verschweigen, dass dieadligen Attentäter Einzelgänger waren, vonder moralischen und sonstigen Unterstüt-zung ihres Umfelds weitgehend abge-schnitten. Ihr Heldentum, um das sich dieLegendenbewahrer sorgen, leuchtet da-durch ja eher noch heller.SPIEGEL: Herr Malinowski, wir danken Ih-nen für dieses Gespräch.

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Prinzen und Prinzessinnen noch vor 1933Parteigenossen. Bis 1941 sind es etwa 270.Beim niederen Adel sieht es nicht andersaus. Man findet in den Mitgliedskarteiender NSDAP 34 Bismarcks, 41 Schulenburgs,43 Bredows, 40 Bülows, 43 Kleists, 53 Ar-nims, 78 Wedels – insgesamt allein aus ei-ner Stichprobe von 350 Familien fast 3600Adlige. Und jeder Vierte trat vor 1933 ein.SPIEGEL: Es gab unter den Edelleuten aberauch Demokraten. Wie ging der Adel mitStandesgenossen um, die sich zur Weima-rer Republik bekannten?Malinowski: Sie wurden nicht mehr zur Jagdoder zu Bällen eingeladen, ihre Offizierska-meraden schnitten sie, sie wurden nicht mehrgeheiratet, ihre Töchter wurden nicht mehrzum Tanz aufgefordert. Unter Umständenwurden sie aus ihren Familienverbänden aus-geschlossen. Der schlesische Baron Kurt Frei-herr von Reibnitz etwa, als sozialdemokra-tischer Staatsminister nach 1918 eine adligeAusnahmegestalt, wurde von seinen Stan-desgenossen als „zuckersüßer Reibnitz“ ver-höhnt und gesellschaftlich geschnitten.SPIEGEL: Immerhin waren es dann nicht zu-letzt Adlige, die den Mut aufbrachten, mitHitler zu brechen und sich sogar aktiv ge-gen ihn zu stellen. Malinowski: Ohne Adel hätte es keinen 20.Juli 1944 gegeben – aber eben auch keinen30. Januar 1933. Das Attentat ist der zwei-te Teil, zu dem ein erster Teil gehört. Undder scheint mir der wichtigere Part zu sein.Geschichte verläuft von hinten nach vorn.SPIEGEL: Welche Prägungen ließen Adligedenn zu aktiven Widerständlern werden?Malinowski: Für mich bleibt bei Stauffen-berg und seinen Mitverschwörern eine un-auflösliche, nur biografisch erklärbare Rest-menge. Es waren Einzeltäter, nicht reprä-sentativ für ihre eigene soziale Gruppe.Oft kamen sie durch Damaskus-Erlebnissezum Widerstand – etwa Axel Freiherr vondem Bussche-Streithorst, nachdem er imOktober 1942 Augenzeuge von Judenmor-den in der Ukraine geworden war. AuchStauffenberg hatte zunächst Sympathienfür den Nationalsozialismus.SPIEGEL: Die NS-Vergangenheit vieler Wi-derständler spielt in der Öffentlichkeit bis-her kaum eine Rolle. Wie erklären Sie das?

Malinowski: Wir sind auf die Berichte derÜberlebenden angewiesen, die sich oftnicht überprüfen lassen. Inzwischen er-zählen uns die Enkel, die damals noch nichteinmal geboren waren, in Fernsehdoku-mentationen, wie Großvater war und waser tat. Da kann man natürlich keine kriti-sche Auseinandersetzung erwarten.SPIEGEL: Nach 1945 wurden die durch unddurch braunen Vettern der adligen At-tentäter schnell vergessen. Der erste Bun-despräsident Theodor Heuss beschworetwa 1954 den „christlichen Adel deutscherNation“ als Träger des Widerstandes gegenden Nationalsozialismus …Malinowski: … weil die BundesrepublikSymbole brauchte, die das „andereDeutschland“ darstellen konnten – nichtzuletzt in Konkurrenz zur DDR mit ih-ren Märtyrern aus dem kommunistischenWiderstand. Für Westdeutschland gab esim Grunde nur die „Weiße Rose“, als ro-mantischen Teil sozusagen, und den Auf-stand des 20. Juli. Also wurde Stauffenbergzum Sinnstifter für das offizielle bundes-deutsche Selbstverständnis erkoren. Undder Adel, von jeher Meister im selektivenErinnern, spielt dabei wieder eine Schlüs-selrolle.SPIEGEL: Was meinen Sie mit „Meister imselektiven Erinnern“?Malinowski: Adlige Familien pflegen ausihrem unübersehbaren Reservoir von An-gehörigen und Vorfahren diejenigen nachvorn zu stellen, die gerade in die Zeit pas-sen. Es ist faszinierend, wie sie so je nachpolitischem Regime ihre Außendarstellung

* Oben: in den zwanziger Jahren vor dem Dönhoff-SchlossFriedrichstein in Ostpreußen; unten: Klaus Wiegrefe und Hans Michael Kloth auf dem Dach des HamburgerSPIEGEL-Hauses.

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Malinowski (r.), SPIEGEL-Redakteure*„Für mich bleiben sie Helden“

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Gräfin Dönhoff, Brüder Christoph, Heinrich*„Am Rande der Legendenbildung“

. . . loyal zu ihm zu stehen“: Stauffenberg-Hochzeit 1933

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Witwe Stauffenberg: „Er hatte mir verboten . . .

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SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth über die Witwen des 20. Juli

ein, Heldinnen warensie nicht, die Frauen derNMänner des 20. Juli.

Aber sie hoben sich ab vonder Masse der Frauen, die ih-re verzückten Gesichter demFührer entgegenreckten zummetaphorischen Kuß für einUnrechtssystem.

„Was sind das für schreck-liche Augen“, grauste esFreya Gräfin von Moltke, alssie in einem dunklen Film-theater nur diese Augen ineinem Lichtkegel aufblitzensah. Daß sie dem Mann ge-hörten, der alsbald die Machtin Deutschland ergreifen soll-te, erkannte sie erst nach derPremiere.

Schon als junges Mädchenempfand Clarita von Trott zuSolz, daß „bei dessen Stimmesich bereits alles in mir zu-sammenzog“. Hitler, so er-kannte Emmi Bonhoeffer,„wirkte wie eine Wasser-scheide. An ihm trenntensich diejenigen, die sich denInstinkt nicht verschütten lie-ßen für Gut und Böse“.

Um die „private oder per-sönliche Art von Wider-stand“ zu dokumentieren, in-terviewte die Rundfunkre-porterin Dorothee von Me-ding, wen sie noch vorfandund wer noch reden konntevon den Witwen des 20. Juli:elf Greisinnen, von denendrei gestorben waren, als ihrBuch unter dem Titel „Mitdem Mut des Herzens“ 1992herauskam*. Zum 50. Jah-restag des 20. Juli erschien esals Taschenbuch. Die Erin-nerungen fügen sich zu einemStück weiblicher Sozialge-schichte in einer schwarzenZeit, in der ein Aufstand desGewissens aufleuchtete.

Diese Frauen entsprachenihren gesellschaftlich wohleingebetteten Männern in

* Dorothee von Meding: „Mit demMut des Herzens – Die Frauen des20. Juli“. Siedler Verlag, Berlin; 298Seiten; 39,80 Mark.

der Grundgesinnung, und dasmag schon das Geheimnis ge-wesen sein der Wahl ihrerPartner, die sie rückhaltlos be-wunderten. Sie hatten durch-weg aus dem Bürgertum inden Adel eingeheiratet, abersie waren Geschöpfe jener tra-genden Elite, die als weibli-chen Edelmut die absoluteGefolgstreue dem Gatten ge-genüber kultivierte. Ob sie ih-re als gut oder gar glücklichbeschriebenen Ehen opfernwollten, sie wurden nicht ge-fragt, sie wuchsen gleichsamhinein in den männlichen Wi-derstand, der Teil ihrer Bezie-hungen wurde.

Man muß sich den Alltagdieser Ehen so vorstellen: DerLegationsrat Adam von Trottzu Solz, Oppositioneller imAuswärtigen Amt, sitzt zuHause an seinem Schreib-tisch, aber er mag nicht, daßseine Frau Clarita derweilliest, sie soll jeden Augenblickansprechbar sein, wie es schonseine Mutter für den Vaterwar.

Der GeneralstabsoffizierClaus Graf Schenk von Stauf-fenberg arbeitet in der ihm ei-genen absoluten Konzentra-tion, während die Kinder Ei-senbahn zwischen seinen Bei-nen fahren; oder er liest Zei-tung, während seine Frau Ni-na die Tagesereignisse „so vormich hin plätschert“. Wennwas kommt, das er wissen soll-te, sagt sie: „Claus.“ Er hörtnicht. Sie lauter: „Claus!“ Erhört immer noch nicht. Dar-aufhin sie: „Stauffenberg!“ –„Ja, bitte?“

Für Nina von Stauffenbergbestand die Rolle im Wider-stand „praktisch darin, mei-nem Mann den Rückhalt zubieten, nicht als Klotz an sei-nem Bein zu hängen, sondernmeine Aufgabe zu erfüllen,nicht im Wege zu stehen undihn nicht zu belasten“.

Barbara von Haeften, de-ren Mann Hans-Bernd zu

„Wie ein Damoklesschwert“

Familie Trott zu Solz 1942, Witwe Trott zu Solz 1994: „Sie setzten Maßstäbe“

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Hinrichtungsort Plötzensee: Erinnerung an den letzten Moment

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den ranghöchsten Opposi-tionellen im AuswärtigenAmt zählte, war „nur eineStärkung für ihn“, aber ermuß sie gebraucht haben,denn er suchte von Anfangan „mein ganz naives Mit-denken“.

Während der Jurist Hel-muth James Graf vonMoltke bei der Abwehr inBerlin dienstverpflichtetwar, bewirtschaftete seineFrau Freya das schlesischeGut Kreisau, wo sich dieKonspiration auf dreiTagungen seit Pfingsten1942 verdichtete und als„Kreisauer Kreis“ zu ei-nem historischen Begriffwurde: „Wenn die Männergeplant haben, haben wirzugehört.“

Wie in Kreisau war es in der BerlinerHortensienstraße am Botanischen Gar-ten, wo Peter Graf Yorck von Warten-burg und seine Frau Marion ein offenesHaus führten. Moltke empfand es als„winzig“, aber „sehr nett eingerichtet“.Dort befand sich das eigentliche Zentrumder Kreisauer mit den tiefverbundenenFreunden Peter als „Herz“ und Helmuthals „Motor“, wie sie Marion Yorck sah.

Wie in dem Freundeskreis das „höchstPersönliche“ mit dem Sachlichen verbun-den wurde, wie die „sehr klugen Männer“debattierten und stritten, die „verschie-denen Charaktere“ aber doch in ihrem„Miteinander und Gegeneinander“ nacheinem übergeordneten Nenner suchten,empfand sie als das „Aufregendste“ und„Schönste“ in der schwierigen Zeit:„Angst haben wir nie verspürt“, weil„man gar keine Zeit hatte, über den näch-sten Schritt nachzudenken“.

In der Hortensienstraße pflegte auchMarion Gräfin Dönhoff zu übernachten,wenn sie von ihrem ostpreußischen GutQuittainen nach Berlin kam. Wie sie in ih-rem Buch „Um der Ehre willen“* schil-dert, wurde sie gefragt, wer in Ostpreu-ßen „unser bester Mann“ sei, nannteHeinrich Graf Dohna und warb ihn dannauftragsgemäß an, „aber ohne ihn zumGeheimnisträger zu machen“. Daß ertrotzdem hingerichtet wurde – für die spä-tere Chefredakteurin und Herausgeberinder Zeit war das „ein mich lange quälen-der Vorwurf“.

Obwohl Marion Yorck und Freya vonMoltke promovierte Juristinnen waren,beschränkten sich beide Frauen im Ge-gensatz zu Marion Dönhoff auf ihre „akti-

** Helmuth James Graf von Moltke: „Briefe anFreya“. C. H. Beck Verlag, München; 662 Seiten;68 Mark.

* Marion Gräfin Dönhoff: „Um der Ehre willen –Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli“. Sied-ler Verlag, Berlin; 192 Seiten; 32 Mark.

ve Mithörerrolle“, stellten bisweilen Fra-gen, aber fühlten sich für die politischePlanung nicht kompetent. „Heute, wodie Frauen auf Selbstverwirklichung sol-chen Wert legen, ist das kaum noch zuverstehen“, sagt Marion Yorck, 90, die inder Bundesrepublik als erste Frau ei-ne Jugendstrafkammer übernahm undLandgerichtsdirektorin wurde.

Nach ihrer Emanzipation als Psycho-analytikerin kam Clarita von Trott, 87, zuder Erkenntnis, „daß bedeutsame Lei-stungen für die Allgemeinheit auch vonder Qualität der jeweiligen Ehe abhängigsind. Beide Partner können sich wohlnicht gleichzeitig gleich stark in ihrenVorhaben verausgaben, ohne daß entwe-der die Ehe oder das Vorhaben Schadenleidet. Es fehlt dann ,der ruhende Pol‘“.

Der klassische Gegensatz der Ge-schlechter – im letzten Brief vor seiner

Hinrichtung beschrieb ihnMoltke seiner Frau so:

Aber ohne Dich, mein Herz,hätte ich „der Liebe nicht“.Ich sage gar nicht, daß ichDich liebe; das ist gar nichtrichtig. Du bist vielmehr je-ner Teil von mir, der mir al-lein eben fehlen würde. Esist gut, daß mir das fehlt;hätte ich das, so wie Du eshast, diese größte aller Ga-ben, mein liebes Herz, sohätte ich vieles nicht tunkönnen, so wäre mir somanche Konsequenz un-möglich gewesen . . . Nurwir zusammen sind einMensch. Wir sind, was ichvor einigen Tagen symbo-lisch schrieb, ein Schöp-fungsgedanke.

Freya von Moltke versteckte dieBriefe ihres Mannes („mein größterSchatz“) in ihren Bienenstöcken, rette-te sie als erstes auf ihrer Flucht ausSchlesien und gab sie später als Buchheraus**. Inzwischen 83 Jahre alt,mißt sie ihren Beitrag, ihre Opfer mitsouveräner Größe an den Frauen derRoten Kapelle: „Ich bin doch zu sehreine normale Frau, als daß ich nichtwegen meiner Söhne am Leben blei-ben wollte.“

Während sie intellektuell opponierte(„Wir selbst haben das Wort Wider-stand überhaupt nicht benutzt“), pran-gerten Männer und ebenso aktiv Frau-en der Roten Kapelle die Untaten desnationalsozialistischen Regimes inFlugschriften an. „Das waren Frauen,die etwas tun wollten, die nicht ertra-gen konnten, nichts zu tun“, so hebt

Juristin Moltke 1948, 1989: „Nur wir zusammen . . .

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. . . sind ein Mensch“: Moltke-Gut Kreisau

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die Gräfin deren Tatenhervor. „Daß ich selbstnicht so weit gegangenbin“, sieht sie inzwi-schen „als eine Schwä-che von mir. So warich eben. Ich bedauredas, aber vielleicht wä-re ich dann nicht mehram Leben“.

Als Emmi Bonhoef-fer im Sommer 1942 imGemüseladen agitierteund lauthals von derJudenvergasung be-richtete, reagierte ihrMann Klaus, der tiefverstrickt war in denvielfach verschwäger-ten Opponentenkreisum den AbwehrmannHans von Dohnanyi,aufgebracht: „Bist duvollkommen wahnsin-nig? Verstehe bitte, ei-ne Diktatur ist eineSchlange, wenn du sieauf den Schwanztrittst, wie du dasmachst, dann beißt siedich. Du mußt denKopf treffen. Daskannst du nicht, unddas kann ich nicht, das kann nur das Mi-litär.“

Die nur den Schwanz traten, wurdenumgebracht wie die Frauen von der Ro-ten Kapelle. Ihre todesmutigen Aktio-nen waren winzig und konnten die Ge-schichte nicht bewegen, ihre Namen gin-gen unter, ohne ins kollektive Bewußt-sein einzudringen:� Liane Berkowitz, Studentin, 1943

hingerichtet im Alter von 20 Jahren;� Cato Bontjes van Beek, Keramikerin,

hingerichtet im Alter von 23 Jahren;� Eva-Maria Buch, Buchhändlerin, hin-

gerichtet im Alter von 22 Jahren.Es waren auch noch andere, die sich

aus der klassischen Frauenrolle der Pas-sivität herauswagten und dem Wider-

stand ein weibliches Element hinzufüg-ten. Das Schicksal der Sophie Scholl,wegen Verteilung von Flugblättern hin-gerichtet im Alter von 22 Jahren wieauch ihr Bruder Hans und vier Freunde,bewegte noch während des Krieges dieBriten. Der Emigrant Thomas Mannwürdigte die Weiße Rose in der BBC.

Die erste Frau, die bereits 1938 allenpolitisch kämpfenden Frauen vorange-hen mußte zur Exekution, war Liselotte

Herrmann, 28. Es war ein aufrechterGang: Die Kommunistin hatte keinender illegalen Genossen verraten, ob-wohl ihr die Gestapo durch eine Kinder-stimme vorspiegelte, ihr vierjährigerSohn riefe nach seiner Mutter.

Sechs Jahre später mußte es keinekommunistische Untergrundtätigkeitsein, es genügte ein regimefeindlichesGespräch, um den Solf-Kreis zu liqui-dieren, der auch Juden half. Die Bot-schafterwitwe Johanna Solf führte eineArt Salon zur moralischen und geistigenAufrichtung gegen die Perversion desNazi-Regimes. Dort wurde Gesinnunggemacht, nicht aber ein Staatsstreichoder gar ein Attentat vorbereitet.

Als solch eine „Teegesellschaft“ desoffenen Wortes bei Elisabeth von Thad-den tagte, war ein Spitzel der Gestapounter den Gästen. Daß Moltke vor ihmwarnte, nützte nichts mehr, trug ihmaber die eigene Verhaftung ein.

Johanna Solf überlebte das Kriegsen-de, weil ihr Prozeß mehrfach verscho-ben wurde. Die Pädagogin von Thad-den, Gründerin eines evangelischenLandschulheimes, wurde zum Tode ver-urteilt – 20 Tage vor dem „Tag X“.

So hieß in manchem Haus der Ver-schwörer der Tag, an dem es nach ihremWunsch und Willen Hitler nicht mehrgeben sollte. Allein die Mitwisserschaftwar eine Lebensgefahr, und so ließ derOberst Wessel Baron Freytag von Lo-ringhoven, der den Sprengstoff und den

„Wir können nichtmit Gangstermethoden

arbeiten“

Juristin Yorck 1994, 1940„Aktive Mithörerrolle“

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Zünder für die Bombe beschaffte, seineFrau Elisabeth absolut ahnungslos. DieBaronin war mit ihren vier kleinen Söh-nen ohnehin ausgelastet und grüßte aufAnweisung ihres Mannes korrekt mit„Heil Hitler“.

Auf dem mecklenburgischen GutTrebbow wurde der 35. Geburtstag derCharlotte Gräfin von der Schulenburgam 20. Juli um zwei Tage vorverlegt,und sie wußte sehr wohl, warum. Siekannte die vorbereitete Rundfunkrede,die mit dem Satz anfing: „Der FührerAdolf Hitler ist tot.“ Ihr war „sonnen-klar“, daß ihr Mann, ein enger FreundStauffenbergs, das Attentat forcierte,„coute que coute, koste, was es wolle“.

Als der Graf, genannt Fritzi, überra-schend aus Berlin erschien, wurden diesechs Kinder aus den Betten geholt, derGeburtstagstisch aufgebaut und „wegender Stromsperre“ Kerzen angesteckt.„Die Kinder sprangen in ihren Nacht-hemden fröhlich umher, es war ja immerein Freudenfest, wenn er da war.“ Amanderen Morgen, als sie ihren Mann imPferdewagen zur Bahnstation brachte,sagte er ihr: „Du weißt, es steht fifty-fif-ty.“ Sie aber „dachte nur an die gutenfifty: Vielleicht war das für meinenMann ganz wichtig“. Lange winkte sieihm noch nach: „Und dann habe icheben nie wieder was von ihm gehört.“

In der Berliner Hortensienstraße, wodas ausgebombte Ehepaar Gerstenmai-er untergekommen war, kündigte ein

Witwe HaeftenTraum vom blutigen Schwert

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Familie Haeften in den Schweizer Alpen 1942„Kämpfen, damit ich meinen Kindern erhalten bleibe“

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Brief von Yorck den „Tag X“ für dennächsten Morgen an. Die Yorcks befan-den sich am Vorabend bei einem Polter-abend in Weimar. Auf einem nächtli-chen Spaziergang, vorbei an GoethesGartenhaus, besprach Yorck mit seinerFrau die wesentlichen Dinge, bevor siezurückgingen ins Hotel „Elephant“. ImNachthemd verabschiedete sie ihn zurReise ohne Wiederkehr.

Barbara von Haeften, Mitte Dreißig,hatte sich kaum von der Geburt ihresfünften Kindes erholt, als ihr SchwagerWerner telefonisch das Codewortdurchgab, „eine Wohnung für die Mut-

ter“ sei gefunden wor-den, und er erwarte sei-nen Bruder am näch-sten Tag in Berlin. Ur-sprünglich zählte derDiplomat Hans-Berndvon Haeften wie Moltkezu den Gegnern einesAttentats und bezogauch seine Frau mit einin die moralischen Qua-len: „Wir können nichtmit Gangstermethodenarbeiten.“

Als sein Bruder Wer-ner von Haeften im Ja-nuar 1944, als er geradeStauffenbergs Adjutantgeworden war, eine Pi-stole von ihm holenwollte, weil er am näch-sten Tag Zugang zu Hit-ler hatte, hielt er ihn ab:„Hast du die Sicherheit,daß das deine Aufgabevor Gott und vor unse-ren Vätern ist?“

Gleichwohl träumteseine Schwägerin, wieWerner mit blutigemSchwert, das soebenHitler getötet hatte, ei-ne Freitreppe herab-kam, über die auch Na-

poleon geritten sein soll. Als nach Molt-ke auch noch zwei weitere Kreisauer,der charismatische Sozialdemokrat Juli-us Leber und der ReformpädagogeAdolf Reichwein verraten und verhaftetwaren, machte sich der ältere HaeftenVorwürfe, den Jüngeren von seinemVorhaben abgebracht zu haben, undkonnte, wie er mit seiner Frau besprach,„auch nicht mehr nein sagen“.

Aus dem Schloß der 70 Kilometer vonBerlin entfernten StandesherrschaftNeuhardenberg, wo viele Gespräche zurVorbereitung des Staatsstreiches statt-gefunden hatten, trat eine Maid von 21Jahren und brachte ihrem im Gartenweilenden Vater Carl-Hans Graf vonHardenberg die Nachricht vom morgi-gen „Tag X“. Reinhild, genannte Won-te, war als Sekretärin ihres Vaters in vie-le Details des geplanten Umsturzes ein-geweiht.

Außerdem war sie, wie sie in einemBuch über ihren Vater berichtet*, „bisüber beide Ohren verliebt“ in Wernervon Haeften, der sich mit ihr verlobtfühlte, ohne es ihr zu sagen, weil er sienicht in das Attentat hineinziehen woll-te. So segelten sie zusammen, doch überseine Beteiligung bei dem Anschlag„haben wir nie ein Wort verloren. Wirstimmten in diesen Dingen überein. Esmußte nicht geredet werden“, so Rein-hild von Hardenberg. Die Nachricht,

daß endlich „gehandelt würde nach die-ser langen Zeit des Abwartens und Zö-gerns“, war „eine gewisse Erleichterungfür uns alle“.

Über Nina von Stauffenberg, die An-fang Dreißig war, hing das geplante At-tentat „immer wie ein Damokles-schwert“. Nachdem ihr Mann 1943 inAfrika ein Auge, die rechte Hand undzwei Finger seiner linken Hand verlorenhatte, sagte er ihr auf dem Krankenla-ger: „Es wird Zeit, daß ich das DeutscheReich rette.“ Sie tat diesen Satz, der„wohl der Moment“ seines Entschlusseswar, noch als Witz ab: „Dazu bist du

jetzt in deinem Zustand gerade derRichtige.“

Dann versuchte sie, ihn abzuhalten,aktiv einzugreifen. Als sie aber erkann-te, „daß es ihm wesentlich ist, habe ichzugestimmt: Was er machen mußte, dasmußte er machen“.

Sie wußte von der Bombe, sie hatteAngst vor den „fifty-fifty“: „Da war jaalles drin.“ Was sie aber nicht wußte,war, „daß er es selber machen würde“.So wurde der 20. Juli für die mit ihremfünften Kind schwangere Frau des At-tentäters Stauffenberg ein ganz norma-ler Ferientag in der Sommerfrische, bisein Mädchen aus dem Haus geranntkam und die Radionachricht von demAttentat überbrachte.

Stauffenberg, sein Adjutant Haeftensowie die Mitverschworenen GeneralFriedrich Olbricht und Oberst AlbrechtRitter Mertz von Quirnheim wurdennoch am selben Abend im Hof desBendlerblocks, dem Sitz des Oberkom-mandos des Heeres, erschossen. AufAnweisung von Himmler wurden dieLeichen mit Ritterkreuz wieder ausge-graben und verbrannt, die Asche in dieFelder gestreut. Der Familie Stauffen-berg schwor er Rache „bis ins letzteGlied“.

Da die Häscher sie in der Sommerfri-sche erst am dritten Tag nach dem„ungeheuren Einschnitt“ fanden, hatteNina von Stauffenberg zwei Tage als„Geschenk des Himmels“, um „mit mirins reine zu kommen“ und im Sinne ih-res Mannes zu handeln: „Er hatte mirverboten, loyal zu ihm zu stehen.“

Um ihre Kinder zu schützen, ihre äl-testen Jungen Berthold und Heimeranwaren zehn und acht Jahre alt, sagte sieihnen, ihr Vater habe sich geirrt: „Die

* Günter Agde (Hrsg.): „Carl-Hans Graf von Har-denberg – Ein deutsches Schicksal im Wider-stand“. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin; 292Seiten; 14,90 Mark.

„Was er machenmußte, das

mußte er machen“

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Gräfin von Hardenberg, Schloß NeuhardenbergSchmerz und Trauer mit eiserner Disziplin verborgen

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Vorsehung schützte unseren lieben Füh-rer.“ Die Gestapo verhaftete den gesam-ten Clan der Stauffenbergs einschließlichder Schwiegermutter.

Auf Schloß Neuhardenberg trösteteder Graf seine Tochter Wonte währendlanger Spaziergänge, bereitete sie auf dieMethoden der Gestapo vor und auf sei-nen eigenen Selbstmord. „Schmerz undTrauer“ um Haeftens Tod durfte sie sichin der dörflichen Öffentlichkeit, wo sieanläßlich einer Schmährede auf die Ver-schwörer auftreten mußte, nicht anmer-ken lassen: „Wir waren ja bekanntlichschon so erzogen worden, eiserne Diszi-plin zu haben.“

Als nach „unbeschreiblicher Nerven-anspannung“ die Gestapo erschien,schoß sich Hardenberg aus Rücksicht aufFrau und Kinder nicht in den Kopf, son-dern zweimal in die Brust und konntenicht fassen, daß er noch lebte. Im Laza-rett des KZ Sachsenhausen überlebte erdie Anklageerhebung durch das Kriegs-ende.

Als Nummer 36344 wurde Wonte, ge-schockt auch noch durch den Annähe-rungsversuch eines Gestapo-Mannes, indas Frauengefängnis von Moabit einge-liefert und kauerte sich beim ersten Flie-geralarm mit einer Decke über dem Kopfin eine Ecke. Dort wurden die Frauen dermeisten Widerständler versammelt, wäh-rend ihre Kinder unter falschem Namenin ein Heim kamen. Wo waren sie, wieging es ihnen, ob sie wohl für medizini-sche Zwecke mißbraucht würden? DieMarter der Fragen ohne Antwort lasteteauf den Müttern.

Die kinderlose Marion Yorck sprangdie ersten Tage „wie ein Tiger die Wändehoch: Rein motorisch war ich gar nicht inder Lage, etwas anderes zu tun, als imKreis herumzulaufen“. In dieselbe Zellewurde auch die Baronin Freytag von Lo-ringhoven gesteckt, für die es ein „uner-hörter Segen“ war, daß die Gestapo ihren

Mann „nicht anrühren“ konnte: Er hat-te sich in der Nähe der Wolfschanze um-gebracht.

Während sich ihre Mitgefangene „amliebsten aufgelöst hätte“, bewundertesie, wie „unglaublich standhaft“ MarionYorck durch den Gefängnispfarrer Ha-rald Poelchau die Nachricht von derHinrichtung ihres Mannes entgegen-nahm. Er wurde in Plötzensee, wie diemeisten anderen Widerständler, aufHitlers Wunsch „wie Schlachtvieh“ aneinem Fleischerhaken aufgehängt unddabei gefilmt, damit sich der Führer anseinem Todeskampf weiden konnte.

Charlotte von der Schulenburg, die inTrebbow unter Hausarrest stand, be-kam das Todesurteil über ihren Mannzugestellt. Da aber kein Vollstreckungs-hinweis vorhanden war, fuhr sie mitSondergenehmigung und einem FunkenHoffnung nach Berlin zum Volksge-richtshof.

„Verzeihen Sie, Frau Gräfin“, sagteihr ein Oberstaatsanwalt. „Wird soforterledigt. Nehmen Sie Platz.“ 26 An-schläge: „Das Urteil ist vollstreckt.“

Völlig aufgelöst, laut schluchzend, be-gab sie sich nach Plötzensee und begehr-te den Platz zu sehen, wo ihr Mann ge-storben war. Sie wurde auch eingelas-sen, kam aber nur bis in einen Hof, woalle Häftlinge sie ansahen, und erlebteeine „wichtige Episode in dieser ganzenriesigen Leere nach dem 20. Juli, die ichnie vergesse. Man hörte, der ist tot, derist tot, und zwei Monate später war auchder tot“.

In dieser furchtbaren Zeit lief BrigitteGerstenmaier von „Pontius zu Pilatus“und strengte sich selbst im Gestapo-Hauptquartier an, „schön zu lügen“.Eugen Gerstenmaier, der später Präsi-dent des Deutschen Bundestages wurde,war am 20. Juli auf Anruf von Yorck miteiner Bibel in einer Tasche und einer Pi-stole in der anderen im Bendlerblock er-

schienen und dort nocham selben Tag verhaftetworden.

Als seine Frau eine Be-suchsgenehmigung erlang-te, schob sie dem Häftlingein Brötchen mit einemKassiber unter der Wurstzu, damit er wußte, wernoch lebte. Vor allem aberspielten die Ehefrau unddie Schwester Gersten-maiers die erotische Kartein Gestalt von Liesel Sün-dermann, der Frau vonHitlers stellvertretendemPressechef.

Sie lud den oberstenBlutrichter Roland Freis-ler, der für sie schwärmte,am Abend vor der Urteils-verkündung gegen Moltkeund Gerstenmaier zumEssen ein und stellte ihrenSchützling als weltfrem-den Theoretiker dar. Amnächsten Tag erlebte Bri-gitte Gerstenmaier, als siesich zitternd beim Gefäng-nispfarrer Poelchau nachdem Prozeßausgang er-kundigen wollte, eineübermenschliche Gesteder Freya von Moltke. IhrMann war zum Tode ver-urteilt, aber sie rief durchdas ganze Treppenhaus:

„Sieben Jahre, Brigittchen“ – das Straf-maß für Gerstenmaier.

Die inhaftierten Ehefrauen wie auchWonte konnten sich retten, indem siedie Ahnungslosen oder die politisch be-trogenen Witwen spielten – gegenschwer nachvollziehbare Skrupel durchihre Erziehung zur Wahrhaftigkeit. Ver-geblich versuchte der Pfarrer PoelchauBarbara von Haeften klarzumachen,daß die Wahrheit im Verhör nichtsbringt: „Das ist doch genauso unsinnig,als müßten Sie aus einem verkrautetenKornfeld das Unkraut herausrupfen.“Sie: „Wenn ich nur einen halben Qua-dratmeter säubern kann, würde ich estun.“

Erst die Nachricht von der Hinrich-tung ihres Mannes rüttelte sie auf, „ummein eigenes Leben“ zu kämpfen,„damit ich meinen Kindern erhaltenbleibe“. Als die Gestapo sie mit ihremBrief konfrontierte, in dem sie ihren At-tentatstraum geschildert hatte, hörte siesich wie automatisch sagen, was Poel-chau ihr eingetrichtert hatte, sie aber zu-nächst nicht verwenden wollte: „Damuß ich eben das Zweite Gesicht gehabthaben.“

Die Frauen wurden von den Naziswieder entlassen, nicht aber Nina vonStauffenberg und ihre Angehörigen. Sie

„Die riesige Leerenach dem 20. Juli werde

ich nie vergessen“

Gräfin von der Schulenburg 1944*, 1986: „Wie konnte Ihr Mann so etwas tun?“

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Witwe Bonhoeffer 1981, Verlobungsfoto 1930: „Die sind umsonst gestorben“

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gebar ihr fünftes Kind inGewahrsam, ihre Mutterstarb in einem SS-Strafla-ger.

Nach dem Krieg mußtesie mit ihren Kindern„schauen, wie man sichdurchwuselt und durch-ficht“. Stauffenberg war im-mer dabei. Noch im Altervon 81 Jahren fragt sie sichbei wichtigen Angelegenhei-ten: „Wie hätte er entschie-den?“

Jeden Abend, wenn Mari-on Yorck einschläft, denktsie „als letztes“ an ihrenMann, „wie er alleine dawar“ vor der Hinrichtung. Um eineYorck zu bleiben und stellvertretend„noch für den Peter“ zu handeln, lehntesie ab, ihren Lebensgefährten seit nunschon 48 Jahren, den jüdischen Emi-granten Ulrich Biel, zu heiraten: „Ichgalt immer als die Frau mit den zweiMännern.“

Emmi Bonhoeffer, die außer ihremMann fünf Verwandte durch den 20. Ju-li verlor, wohnte nach dem Krieg siebenJahre mit drei Kindern in einer Mansar-de von 16 Quadratmetern und hatte lan-ge nur eine Schüssel, in der sie alles

wusch, einschließlich der Heringe.Charlotte von der Schulenburg, die ihresechs Kinder mit Verwandten-Almosendurchbrachte, mußte erleben, daß ihreine Witwenpension verwehrt wurde,weil sich ein deutscher Beamter keinesKapitalverbrechens schuldig gemachthaben durfte. Als ihr die Pension siebenJahre nach Kriegsende schließlich dochzuerkannt wurde, war das „ein Freuden-fest für uns alle“.

Es war Eugen Gerstenmaier, der sichfür eine Stiftung zugunsten der Opfer

des 20. Juli stark machte. Angefeindet,weil er sich für eine entgangene Professurin der Nazi-Zeit 281 107 Mark gutschrei-ben ließ, trat er 1969 als Bundestagspräsi-dent zurück. Aus dem Osten kam auchnoch ein Pamphlet, „daß mein Mann, dersich – mit einem genagelten Stock auchnoch – hatte prügeln lassen müssen, ohneauch nur das Geringste preiszugeben, einVerräter gewesen sei“, so die Witwe Ger-stenmaier, 83: „Das war die schlimmstePhase in unserem Leben, beinahe schlim-mer als der Tod.“

In der Nachkriegszeit war Charlottevon der Schulenburg, die Lehrerin wur-de, „geradezu abgestoßen von dem Des-interesse der meisten“, wenn nicht verbit-tert über „herablassende“ Bemerkun-gen: „Wie konnte Ihr Mann denn so et-was tun?“ Seinen letzten Brief, den eineSekretärin heimlich abschrieb, bevor sieihn weisungsgemäß vernichtete, erhieltsie zehn Jahre später und hatte ihn bis zuihrem Tod im Alter von 82 Jahren immerbei sich. Zeit ihres Lebens trug sie das„starke Gefühl bei aller Trauer und Ver-zweiflung“, daß ihr Mann „versucht hat-te, gegen das Unrecht anzugehen“. Dasab und an den Kindern zu sagen machtesie stolz.

Für die meisten Witwen war es nichtleicht, den richtigen Ton den Kindern ge-genüber zu finden. Emmi Bonhoeffer,deren Tochter Cornelie nach dem Krieg

als „armes Verräterkind“ tituliert wur-de, kultivierte mit einer rituellen Verle-sung des Abschiedsbriefs zu jedem Sil-vester und einer fast lebensgroßen Foto-grafie, vor der sie oft Kerzen ansteckte,einen „erdrückenden Übervater“, wiesie später begriff.

Bis zu ihrem Tod im Alter von 86 Jah-ren stellte sie sich die Frage, „ob es ei-gentlich etwas bewirkt, für eine gerechteSache einzustehen“, und manchmaldrängte ihr die Nachkriegsgeschichteden Gedanken auf, „die sind vollkom-men umsonst gestorben“.

Freya von Moltke, die nach demKrieg neun Jahre als Fürsorgerin in Süd-afrika für Behinderte jeder Hautfarbearbeitete, erwähnte die deutsche Ver-gangenheit ihren beiden Söhnen gegen-über nur selten und redete „zu wenig“,wie sie später meinte, von ihrem Mann,„obgleich er mich mein ganzes Lebennah begleitet hat“. Aber sie wollte dieKinder nicht belasten: „Es ist ja nichtleicht, so einen Vater zu haben.“

Elisabeth Freytag von Loringhoven,83, sprach mit ihren vier Söhnen nieüber den Tod des Vaters. Sie haben niedanach gefragt: „Ich warte eigentlichnoch immer.“

In den Familien ihrer beiden Töchterwird das Andenken gepflegt, aber „poli-tische Auswirkungen im Geiste derMänner des 20. Juli“ kann die Psycho-analytikerin Trott zu Solz nicht entdek-ken. Die Sinnfrage lastet nach ihrer Ein-schätzung auf dem historischen Datum,so daß „fast alle um diesen Komplexherumgehen wie um den heißen Brei“.

Mit der rationalen Logik konnte siedas Opfer der Männer nicht verkraften,sie brauchte die irrationale Tröstung ei-nes höheren Sinns: „Sie hatten keinenErfolg. Aber sie setzten Maßstäbe.“Fragt sich – da zu ihrem Bedauern „die-ser Freundesbund im Bewußtsein unse-res Volkes keinen Platz gefunden hat“ –für wen? �

* Mit ihren Kindern an ihrem Geburtstag am20. Juli.

„Ob es eigentlich etwasbewirkt, für eine gerechte

Sache einzutreten?“

Alleintäter ElserPlanvoll und akribisch

„Speer-Baracke“ in der Wolfschanze nach dem Attentat: „ . . . vergeßt mir den Keitel nicht“

Rudolf Augstein über die Verschwörer des 20. Juli 1944

er Krieg Hitlers und der Kriegder Wehrmacht waren ein undD derselbe Krieg. Wer Hitler in den

Arm fallen wollte, mußte ihn töten.Wer das vorhatte, mußte bereit sein,auch selbst zu sterben.

Dazu war Gelegenheit, aber es fehl-te den Deutschen, außer vielleicht ei-ner Handvoll, an der nötigen Kamika-ze-Gesinnung, wie sie ehedem die Ja-paner aufbrachten und neuerdings ara-bische Rebellen aufbringen.

Keine Geschichtsschreibung kommtum die unbequeme Tatsache herum,daß nur der Schreiner Johann GeorgElser Hitler ernsthaft und planvollnach dem Leben trachtete. Er war einakribischer und konsequenter Alleintä-ter.

Vom 5. August bis zum 6. Novem-ber 1939 hielt er sich, wie er aussagte,„30- bis 35mal“ nachts im Saal desMünchner Bürgerbräukellers auf. AmAbend des 8. November, während deralljährlichen NSDAP-Veranstaltungzum Gedenken an den Marsch auf dieFeldherrnhalle 1923, explodierte dergünstig angebrachte Sprengkörper.

Aus ungeklärten Gründen hatte aberHitler, der regelmäßig teilnahm, denSaal vorzeitig verlassen, angeblich, umseinen Sonderzug nach Berlin zu errei-

chen. Elser, von derGestapo befragt, sagte:„Wenn sie mich erwi-schen, dachte ich, mußich eben die Strafe aufmich nehmen.“*

Sicherlich waren tau-send bis zehntausendDeutsche, Männer undFrauen, während desKrieges mit regime-feindlichen Tätigkei-ten beschäftigt. Dieschließlich das Atten-tat 1944 ausführten,waren Berufsoffizieredes Heeres und 1939fröhlich in den schonbei Beginn verlorenenKrieg hineingeritten.

Von der Marine warohnehin nichts zu er-warten. Sie hatte die Schmach von 1918noch im Gehirn und schämte sich derdamaligen Meutereien. Und GöringsLuftwaffe?

Der „Eiserne“ war beim Marsch aufdie Feldherrnhalle an der empfindlich-

* Elser bekam im KZ Sachsenhausen eine eigeneWerkstatt eingerichtet, in der er seine Fähigkei-ten fortentwickeln konnte – sicher eine IdeeHimmlers. Im April 1945 wurde er ermordet.

sten Stelle des Mannesgetroffen worden undkonnte danach nurnoch mit Morphiumexistieren.

Wahr ist, er hat die-sen Hitler-Krieg nichtgewollt, dachte aberniemals an Verschwö-rung. Juwelen und Bil-der waren ihm ebensowichtig wie der – miß-lungene – Aufbau sei-ner Luftwaffe. Zweiseiner höchsten Unter-gebenen begingenSelbstmord, ErnstUdet, der Jagdflieger,und Hans Jeschonnek,der Chef seines Stabes.

Die Art, wie Hitlerseine höchsten Offizie-

re behandelte, war schmachvoll. Aberalle wollten sie in den Krieg, alle, nurnicht die von ihm bereits verabschiede-ten, wie etwa der Generaloberst LudwigBeck, eher ein Denker als ein Täter, einangesehener Mann. Er sollte nach Hit-lers Tod Reichsstatthalter werden, starbaber, nachdem der befohlene Selbst-mord mißlungen war, durch die Handeines Feldwebels.

Deutschlands längster Tag

„Sichelschnitt“-General Manstein an der Front (1942): Was ist mit den Uhren?

Nazi-Größen mit Kriegsbeute*Jüdische Barschaft gegen Quittung

34 DER SPIEGEL 28/1994

Hitlers militärischer Höhepunkt warsein Frankreich-Feldzug 1940. Derstärkte die an ihm Zweifelnden, auchder spätere Attentäter Graf Stauffen-berg lobte ihn damals.

Wie verkommen die hohe Generalitätwar, bewies zum Beispiel der „Sichel-schnitt“-General Erich von Lewinski,adoptierter von Manstein, Sohn einesGeneralmajors. Der „Sichelschnitt“durch Frankreich war Mansteins Erfin-dung. Er galt als der operative Kopf Hit-lers, solange es um Angriff ging.

Als er, auf dem Wege zum Marschall-stab, die Krim eroberte, mußte er sichmit dem Nationalökonomen und Juri-sten Otto Ohlendorf darüber auseinan-dersetzen, wie weit das Operationsge-biet reiche und wo das Hinterland be-ginne, in dem der 34 Jahre alte Kom-mandeur der SS-Einsatzgruppe D seine„Säuberungen“ durchführen könne. Die11. Armee Mansteins stellte Ohlendorf

für den Abtransport Lastwagen und Ben-zin zur Verfügung. Dafür wollte Man-stein aber belohnt werden. Ohlendorfließ allein auf der Krim an die 23 000 Ju-den ermorden. Da er aber vor Gericht dieRolle der Armee genau ausbreitete, wäreer von den Amerikanern beinahe nochbegnadigt worden. Natürlich behaupteteManstein später, von der Ausrottung derJuden nie etwas gehört zu haben. Sonsthätte er diese „Schweinerei“ abgestellt.Seinerzeit aber kam ihm lediglich die Ideezu fragen, was mit den Uhren der angeb-lich „Umgesiedelten“ geschehen sei?Besseres hatte er damals wohl nicht zutun.

** Ohlendorf selbst wurde gegen Ende des Krie-ges, gewissermaßen im Nebenberuf, noch Staats-sekretär im Reichswirtschaftsministerium, wo erfür einen gewissen Ludwig Erhard ein Forschungs-stübchen einrichtete, damit der die Nachkriegs-zeit vorbereiten konnte.

* 1944 in den Tresorräumen der Reichsbankin Berlin. Goebbels (2. v. l.), Funk (r.), Ohlendorf(2. v. r.).

Der große Manstein undder kleine Ohlendorf** re-sidierten in der Hauptstadtder Krim, Simferopol. DerGeneraloberst pflegte aberkeinerlei persönlichen Ver-kehr mit der SS-Polizei,schließlich war er kein Na-zi, obwohl er einen Befehlzur „harten Sühne am Ju-dentum“ gebilligt hatte.Wollte er etwas von Ohlen-dorf, so schickte er denOrtskommandanten, wasden ohnehin mürrischenSS-Mann erbitterte.

Ohlendorf genehmigtesich die Bosheit, MansteinsWunsch nach den Uhrenpedantisch per Regie-rungsdekret abzufertigen.

In seiner Antwort an „Armee-oberkommando 11“ schreibt er:

Durch einen Anruf des Ortskommandan-ten von Simferopol erfuhr ich, daß derHerr Oberbefehlshaber die aus der Ju-denaktion noch vorhandenen Uhren fürdienstliche Zweckeder Armeeanfordert.Ich übergebe hiermit der Armee 120 Uh-ren, die inzwischen durch Reparatur ge-brauchsfähig geworden sind. Es befin-den sich noch etwa 50 Uhren in Repara-tur, von denen ein Teil wiederhergestelltwerden kann. Sollte die Armee die restli-chen Uhren noch brauchen, bitte ich umMitteilung. Ohlendorf. SS-Oberführer.

Da auch die jüdische Barschaft von der11. Armee ins Auge gefaßt wurde, ver-wies Ohlendorf ölig auf die Reichskredit-kasse. Der Armee zahle man selbstver-ständlich Rubel aus, „gegen Quittung“.

Wie konnte es zu dieser grauenhaftenSymbiose zwischen dem deutschen Heerund Hitlers Mord-Maschinerie kommen?

Man war dem „jüdischen Bolschewis-mus“ auf der Spur, und da man ihn nichtfand, weil es ihn nicht gab, wurden Judenzu Bolschewiken umfunktioniert.

Es kann nur verwundern, daß die ehr-geizigen Berufsoffiziere und Revanche-Generäle Hitlers den Krieg in seinenKonsequenzen erst erkannten, als er ganzsichtbar, auch für die Öffentlichkeit sicht-bar, verloren war. Sie wollten die Wahr-heit nicht sehen. Franz Halder, Chef desGeneralstabs des Heeres, hatte noch1941 in seinem Tagebuch vermerkt, bin-nen 14 Tagen habe man die Sowjetuniongeschlagen. Vor dem Nürnberger Ge-richt bekannte er später, er selbst habeHitler sagen hören: „Meine wirklichenAbsichten werden Sie nie erfahren.“

So war es. Hitler hatte keinen Gesamt-plan für seinen Angriffskrieg. Er hat deneinen Fehler gemacht, einen solchen zubeginnen. Durchaus mußte er Dänemarkund Norwegen überfallen, um Churchillstrategisch zuvorzukommen. Grübelndsaß ein verzweifelter Hitler damals auf ei-nem Stühlchen. Admiräle und Generäleflößten ihm Adrenalin ein.

Warum brauchte er Norwegen? Weiler das schwedische Erz brauchte. Schwe-den lieferte dem Reich im Januar 1940fast die Hälfte des nötigen Eisenerzes.Ohne Erz kein Krieg. Wollte man mitHitler Frieden schließen? In Londonnicht, in Paris nicht. Die erlösende Idee:Manstein mit seinem „Sichelschnitt“,dem Operationsplan für den Frankreich-Feldzug.

In Paris glaubte der GeneralstabschefGamelin, man müsse Hitler nach Hollandund Belgien locken, weil diese beidenLänder ihm als Neutrale bessere Diensteleisten könnten. Das war nicht nach Hit-lers und erst recht nicht nach EnglandsGeschmack. Noch war England derHauptgegner. Aber Hitler fühlte sich als

Hitler-Attentäter Olbricht, Stauffenberg, Mertz von Quirnheim, Haeften: „In Berlin muß gehandelt werden“

35DER SPIEGEL 28/1994

der Mittelpunkt der Welt. Immerhinkommt ihm der Gedanke, auch die So-wjetunion zu erledigen, mit der er 1939einen Pakt geschlossen hatte, vielleichtum die Chefs der Wehrmacht über seinewahren Absichten zu täuschen.

Der Überfall auf die Sowjetunion 1941war der erste als „Blitzkrieg“ konzipierteFeldzug, den Hitler ohne nennenswerteEinwände von seiten des deutschen Ge-neralstabs durchführte, obwohl bereitsin den ersten Kriegsmonaten deutlichwurde, welche Orgie der Zerstörung Hit-ler damit anzettelte. Daß er diesen Krieganfing, ist logischer als manchmal darge-stellt. Hier standen sich zwei betrogeneBetrüger gegenüber. In Stalin sah Hitlernicht den Ideologen, sondern den östli-chen Imperator (mit arischen Ohrläpp-chen). Es lag in Hitlers, nicht in StalinsNatur, den sperrigen und gefährlichenPartner einfach anzufallen.

Viele, wie etwa der Staatssekretär imAuswärtigen Amt Ernst von Weizsäk-ker, hielten diesen Überfall für falsch,ebenso die Admiralität. Aber man konn-te mit Hitler ja nicht mehr ernsthaft dis-kutieren, der diesen Gegner unterschätz-te und auf das Überraschungsmomentsetzte.

Der „Blitzkrieg“ stellte sich als einPhantom heraus. Zwar wütete die deut-sche Kriegsmaschinerie äußerst erfolg-reich, aber sie erreichte das Ziel nicht.Der von Hitler insgeheim bewunderteStalin sollte ja hinter den Ural geworfenwerden, aber das wußte der Diktatorzu verhindern. Die Deutschen muß-ten zurück. Die Generalität machteHitler keine Vorwürfe, sondern hieltihm sogar zugute, daß er durch seineBefehle die Front stabilisiert hatte.Auch seine Feinde mußten das wi-derwillig anerkennen.

Bevor sein ehrlicher Rüstungsmini-ster Fritz Todt bei einem Flugzeugab-sturz ums Leben kam, riet er Hitler zueinem Verhandlungsfrieden, aber werhätte noch mit ihm verhandeln wollen?Churchill? Keinesfalls. Roosevelt standhinter Churchill. Stalin? Der am wenig-sten. Hitler war zum Outlaw geworden,von der Völkergemeinschaft geächtet.Er mußte und wollte siegen oder ster-ben.

Sieg oder Niederlage, das hätte einenEinzeltäter sowenig stören dürfen, wiees den Johann Georg Elser gestört hat.

Henning von Tresckow, Generalmajorund wohl der „moralischste“ der hohenAktiven, riet dem OrdonnanzoffizierEberhard von Breitenbuch, der Zugangzum Führerhauptquartier hatte, Hitlermit der Pistole zu erschießen.

Den strahlend siegreichen Führer um-zubringen schien unmöglich. Alleintechnisch schien es fast undurchführbar.Seit Elsers Attentat wurde der Führerscharf bewacht.

So sind die Skrupel der Attentäter des20. Juli gut zu verstehen. Unter den vierbeim Attentat in der Wolfschanze Getö-teten befand sich auch General Rudolf

Schmundt, Hitlers Chefadjutant. Mitseiner Hilfe hatte Tresckow vergebensversucht, Chef der künftigen Abteilungfür psychologisch-politische Kriegfüh-rung zu werden und somit Zugang zuHitler zu erhalten. Damit hätte er Gele-genheit zum Attentat bekommen. Deruns schon von seiner Uhren-Jagd be-kannte und inzwischen zum General-feldmarschall beförderte Manstein, die-ser arrogante Nicht-Nazi, bezweifelte ineinem Votum die nationalsozialistischeGesinnung Tresckows. Ein schäbigesVerhalten.

Als Stauffenberg seine Bombe in derFührer-Baracke abgestellt hatte, kanner seinen Offizierskameraden Schmundtnicht übersehen haben. Aber hier ginges ums Ganze.

Wer sich am Widerstand nicht betei-ligt hat, kann deswegen nicht gescholtenwerden. Ein Volk von Märtyrern warenauch die Deutschen nicht. Und dochmachte man sich in der Spitze des Er-satzheeres um Friedrich Fromm, die inder Bendlerstraße residierte, Gedan-ken, wie der Krieg schnell zu beendenund Hitler zu beseitigen sei.

1943 entstand so die abenteuerliche,nahezu clowneske Idee, einen „Walkü-re“ genannten Plan von Hitler absegnenzu lassen, angeblich, um den Ausnah-mezustand auszurufen, wenn die Millio-nenheere der in Deutschland zur Arbeitgezwungenen Ausländer den Aufstandproben sollten. In Wahrheit aber woll-

ten die Verschwörer dem Hitler-Regime ein Ende machen und dienoch verbliebenen Streitkräfte zuFriedensverhandlungen mit denFeinden im Westen oder Osten nut-zen.

Abenteuerlich war dieser Planaus mehreren Gründen:

Den siegreichen Führerumzubringen

schien unmöglich

Generaloberst Fromm (1944)Spur verwischt

Oberst Stauffenberg (l.), Hitler*Ein Coup, der nicht gelingen konnte

36 DER SPIEGEL 28/1994

�Man hätte von den Alliiertenschwerlich bessere Bedingun-gen erlangen können, weildiese durch wechselseitigesMißtrauen aneinander ge-schmiedet waren, in ihremMißtrauen gegen das Deut-sche Reich aber einig.

� Gegen einen lebendigen Hit-ler hätten die Regimegegnersich nicht durchsetzen kön-nen. Sogar Stauffenberg hättees, wäre am 20. Juli wieder ir-gend etwas dazwischenge-kommen, nicht noch einmalversucht.

� Stauffenberg war als Seeleder Verschwörung in derBendlerstraße unentbehrlich.Doch nur er, der in AfrikaSchwerstverwundete, kam alsVortragender bei Hitler inBetracht.

� Ein toter Hitler wäre mora-lisch ein Erfolg gewesen. Obund wie die Alliierten das honorierthätten, bleibt sehr die Frage. Denn:

� Auch der zivile Kopf der Verschwö-rung, Leipzigs früherer Oberbürger-meister Carl Friedrich Goerdeler,wollte die „Judenfrage“ lösen, in Ka-nada oder Südamerika, und „demdeutschen Volk die Führung“ des eu-ropäischen Blocks sichern. Kolonienbrauche man nicht aus wirtschaftli-chen Gründen, sondern um der deut-schen Seele zu schmeicheln (1941!).Oberst Stauffenberg wäre ohne seine

gebieterische Haltung wohl gar nicht

erst zum Tatort durchgedrungen. Am 20.Juli gegen zehn Uhr war er mit sei-nem Adjutanten, Oberleutnant Wernervon Haeften, auf dem Flugplatz desostpreußischen Rastenburg gelandet.Haeften hatte die beiden Sprengsätze inseiner Tasche, Stauffenberg seine Papie-re. Beide Taschen sollten vor der „Mit-tagslage“ im Führerhauptquartier ausge-tauscht werden.

Haeften hielt sich, so gut er konnte, inder Nähe seines schwerbeschädigtenVorgesetzten. Sie erfuhren, daß die„Mittagslage“ wegen des angekündigtenMussolini-Besuchs vorverlegt wordenwar, auf 12.30 Uhr.

Der 20. Juli war ein heißer Tag. Stauf-fenberg bat, sich frisch machen und dasHemd wechseln zu dürfen. Die beiden

* Am 15. Juli 1944 im Hauptquartier Wolfschan-ze, mit Konteradmiral von Puttkamer und General-feldmarschall Keitel.

Komplizen zogen sich in den Aufent-haltsraum des Keitel-Bunkers zurück.

Man hat wohl hieraus die Legendekonstruiert, das Attentat hätte ge-klappt, wenn die „Mittagslage“ im üb-lichen Bunkerraum stattgefunden hät-te. Sie fand nun aber stets in dernicht verbunkerten (Hitler sah nurmühsam), der sogenannten Speer-Ba-racke statt, 300 Meter von Hitlers Bun-ker entfernt.

Nur zu gut kann man die Nervositätder beiden Attentäter nachfühlen, nichtaber so ganz, was dann passierte. DieZeitzünder der beiden Sprengkörperwaren nämlich unterschiedlich einge-stellt, der eine mit einer Verzögerungvon 10 Minuten, der andere mit einerVerzögerung von 30 Minuten. Warumdiese nicht mehr erklärlichen 20 Minu-ten Unterschied? Und warum hatteStauffenberg nur einen Sprengkörper inseiner Aktentasche?

Stauffenberg warkein Artillerist. Manmuß, wie Joachim Festin seinem glänzend ge-schriebenen neuenBuch anmerkt, „wohleine unzureichendeKenntnis der Wir-kungsweise solcherExplosivstoffe anneh-men“. Der zweiteSprengkörper wäre au-tomatisch mit in dieLuft gegangen, wennder erste zündete, unddie Wirkung wärenicht zweifach, son-dern ein Vielfaches ge-wesen.

Daß Stauffenbergdie Zündung selbst

scharf machen und dieses nichtseinem Adjutanten überlassenwollte, obwohl der nicht drei,sondern zehn Finger hatte, ent-spricht seinem herrisch-elitärenWesen. Stefan George hatte erim schweizerischen Minusiomitbegraben, den Krieg Hitlersgegen das gesamte Auslandmitgewollt. Die Generälenannte er gelegentlich „Tep-pichleger“.

Minuten vor der Explosionreichte er einem wortlosen Hit-ler wortlos seine Hand mit dendrei Fingern.

Ob er wirklich geglaubt hat-te, daß er Hitler getötet habe,wie er nach seiner Rückkehr indie Bendlerstraße beteuerte,muß dahingestellt bleiben. Nurdank seiner herrischen Persön-lichkeit durchquerte er in Ra-stenburg nach der Tat die bei-den Sperrkreise und gelangte

zu seinem Flugzeug. Eine verlorene Sa-che hätte er nie verloren gegeben. SeinLeben sah er ohnehin als verwirkt an.

Praktisch veranlagt war er auch. Hattenoch wenige Wochen vorher alles nachder Normandie gestarrt, wo die LandungEisenhowers beinahe an einem widrigenWind gescheitert wäre, so ließ Stauffen-berg nach gelungener Invasion bei Hen-ning von Tresckow anfragen, ob das At-tentat jetzt, da der Krieg sich seinem En-de näherte, noch stattfinden solle.

Graf Lehndorff von Gut Steinort über-brachte ihm die berühmte Antwort:

Das Attentat muß erfolgen, coute quecoute. Sollte es nicht gelingen, so mußtrotzdem in Berlin gehandelt werden.Denn es kommt nicht mehr auf den prak-tischen Zweck an, sondern darauf, daßdie deutsche Widerstandsbewegung vorder Welt und vor der Geschichte unterEinsatz des Lebens den entscheidenden

Wurf gewagt hat. Al-les andere ist dane-ben gleichgültig.

Bei Stauffenberghatte es länger gedau-ert, bis er sich das ver-brecherische Wesendes Hitler-Regimeseingestand. Dann aberließ er nicht mehr lok-ker.

Seine ohnehin wun-dersam verlaufeneReise zur Wolfschanzehatte noch einen wei-teren Schönheitsfeh-ler. Der 36jähri-ge Stauffenberg wardurch seine Energieund seine Tüchtigkeit

Er reichteeinem wortlosen Hitler

wortlos die Hand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin: „Niemanden ausgrenzen“

37DER SPIEGEL 28/1994

Chef des Stabes beim Oberbefehlshaberdes Ersatzheeres, dem GeneraloberstFriedrich Fromm, geworden, der jeman-den brauchte, der die Arbeit tat. Dergroße, schwere Mann behauptete vonsich selbst, daß er schlau sei und immerrichtig liege.

Nur Fromm konnte die Aktion „Wal-küre“ auslösen, und auch nur dann,wenn Hitler handlungsunfähig oder totwäre. Mit Fromm aber konnte man nichtrechnen. Zu General Olbricht, seinemStellvertreter, hatte er vor dem Attentatzwar halb im Scherz gesagt: „Na, wennihr schon euern Putsch macht, dann ver-geßt mir wenigstens den Wilhelm Keitelnicht“, den er haßte. Am 20. Juli arg-wöhnte er schnell, daß Hitler gar nichttot sei, und ließ sich in das Zimmer seinesAdjutanten Bartram unter Mitnahme ei-ner Flasche Cognac abführen.

Der lange Tag wurde immer bleierner.Nach seiner Ankunft im Berliner Bend-lerblock rannte Stauffenberg von Tele-fon zu Telefon. Da gab es eine Schieße-rei, bei der die Verschwörer hoffnungs-los in der Minderheit waren. Fromm,

plötzlich wieder Oberbefehlshaber desErsatzheeres, wollte seine Spur verwi-schen. Er ließ die ihm bekannten Rädels-führer kurzerhand exekutieren: GeneralOlbricht, Oberst Stauffenberg, OberstMertz von Quirnheim und Oberleutnantvon Haeften.

Aber die Lauen pflegt der Herr auszu-speien aus seinem Munde. Fromm kam inHaft und wurde im März 1945 umge-bracht, einzige Vergünstigung: Er wurdenicht gehenkt, sondern erschossen. Fürimmer lag er nun richtig.

Ob Stauffenberg vor seiner Erschie-ßung noch gerufen hat: „Es lebe das heili-ge Deutschland!“, ist nicht gesichert.Aber diese Apotheose hätte zu ihm ge-paßt.

Das Stauffenberg-Attentat und die Last der doppelten Vergangenheit

ängst sind Diffamierung und Heroi-sierung der Männer des 20. Juli 1944L einer abgewogenen Betrachtung des

Widerstands gegen den Nationalsozialis-mus gewichen.

Dem Regime trotzten Sozialdemokra-ten, Kommunisten und Christen eben-so, wie, allerdings zumeist erst sehr vielspäter, nationalkonservative Kräfte ausAdel und Bürgertum. Doch nur drei Wi-derstandskreise fanden in einer für Hit-ler gefährlichen Weise zusammen:� die deutschnationale Gruppe um den

ehemaligen Leipziger Oberbürger-meister Carl Goerdeler und den zu-

rückgetretenen Generalstabschef desHeeres, Ludwig Beck, der es um denErhalt Deutschlands als europäischerGroßmacht ging;

� der „Kreisauer Kreis“ des GrafenHelmuth James von Moltke, dessenidealistische Vordenker sich am wei-testen vom Herrenmenschentum derNazis entfernten;

� der militärische Widerstand mit denVerschwörern Claus Schenk Graf vonStauffenberg und seinem Vertrau-ten Generalmajor Henning vonTresckow, die Hitler beseitigen undden Krieg beenden wollten.Demokraten waren die Männer des

20. Juli, für die Führergedanke, Volks-gemeinschaft und autoritärer Stände-

staat verführerisch waren und blieben,gewiß nicht. Gleichwohl erscheint dasgescheiterte Bombenattentat, soschreibt der Publizist und Hitler-Bio-graph Joachim Fest in seinem neuenBuch, aus dem der SPIEGEL Auszügedruckt (Seite 42), als „symbolische Tat“.

Dennoch droht bei der 50. Wieder-kehr des 20. Juli Streit. Politiker be-mächtigen sich des historischen Ge-denktags, den das vereinte Deutschlandals Ost und West verbindendes Ereignisbegehen könnte.

Eine Kontroverse ist darüber ent-brannt, wer und wie geehrt werden soll.Der Kanzler, Sinnstifter aus Überzeu-gung und Neigung, will ein historischesMachtwort sprechen.

Am 20. Juli wird Helmut Kohl die of-fizielle Rede in der Berliner Gedenk-stätte Deutscher Widerstand halten. Erdüpierte damit den frisch gekürten Bun-despräsidenten Roman Herzog, der aufseine „erste große Bewährungsprobe“(Herzog) gehofft hatte.

Kohl-Vertraute berichten, daß erschon als Oppositionsführer Publizistenund Intellektuelle gedrängt habe, „dasThema ,Widerstand‘ konservativ zu be-setzen“. Kein Wunder, daß einige Hin-terbliebene der Widerständler befürch-ten, da werde das Erbe einseitig verein-nahmt.

Kohl stehe, kritisiert etwa Clarita vonTrott zu Solz, Witwe des im August1944 hingerichteten NS-OpponentenAdam von Trott zu Solz, „für eine be-stimmte politische Strömung“. Er reprä-sentiere nicht die Vielfalt des Wider-stands. Rosemarie Reichwein, derenMann, der Pädagoge Adolf Reichwein,im Oktober 1944 in Plötzensee gehenktwurde, wirft dem Kanzler vor, mit demGedenken Wahlkampf zu treiben: „Esgibt viele, die nicht hingehen wollen,weil Kohl spricht.“

Der Historiker Peter Steinbach, Lei-ter der Gedenkstätte in Berlin, beklagt„eine unheimliche Politisierung“. Daßdie Bundeswehr 140 Soldaten im Bend-lerblock, wo Stauffenberg und seineMitstreiter nach dem Attentat erschos-sen wurden, das Gewehr präsentierenlassen will, empfindet der Wissenschaft-ler als makaber. Vielen Angehörigender Opfer, so Steinbach, werde es „kaltden Rücken runterlaufen“.

„Wem gehörtder Widerstand?“

Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin: „Niemanden ausgrenzen“

37DER SPIEGEL 28/1994

Chef des Stabes beim Oberbefehlshaberdes Ersatzheeres, dem GeneraloberstFriedrich Fromm, geworden, der jeman-den brauchte, der die Arbeit tat. Dergroße, schwere Mann behauptete vonsich selbst, daß er schlau sei und immerrichtig liege.

Nur Fromm konnte die Aktion „Wal-küre“ auslösen, und auch nur dann,wenn Hitler handlungsunfähig oder totwäre. Mit Fromm aber konnte man nichtrechnen. Zu General Olbricht, seinemStellvertreter, hatte er vor dem Attentatzwar halb im Scherz gesagt: „Na, wennihr schon euern Putsch macht, dann ver-geßt mir wenigstens den Wilhelm Keitelnicht“, den er haßte. Am 20. Juli arg-wöhnte er schnell, daß Hitler gar nichttot sei, und ließ sich in das Zimmer seinesAdjutanten Bartram unter Mitnahme ei-ner Flasche Cognac abführen.

Der lange Tag wurde immer bleierner.Nach seiner Ankunft im Berliner Bend-lerblock rannte Stauffenberg von Tele-fon zu Telefon. Da gab es eine Schieße-rei, bei der die Verschwörer hoffnungs-los in der Minderheit waren. Fromm,

plötzlich wieder Oberbefehlshaber desErsatzheeres, wollte seine Spur verwi-schen. Er ließ die ihm bekannten Rädels-führer kurzerhand exekutieren: GeneralOlbricht, Oberst Stauffenberg, OberstMertz von Quirnheim und Oberleutnantvon Haeften.

Aber die Lauen pflegt der Herr auszu-speien aus seinem Munde. Fromm kam inHaft und wurde im März 1945 umge-bracht, einzige Vergünstigung: Er wurdenicht gehenkt, sondern erschossen. Fürimmer lag er nun richtig.

Ob Stauffenberg vor seiner Erschie-ßung noch gerufen hat: „Es lebe das heili-ge Deutschland!“, ist nicht gesichert.Aber diese Apotheose hätte zu ihm ge-paßt.

Das Stauffenberg-Attentat und die Last der doppelten Vergangenheit

ängst sind Diffamierung und Heroi-sierung der Männer des 20. Juli 1944L einer abgewogenen Betrachtung des

Widerstands gegen den Nationalsozialis-mus gewichen.

Dem Regime trotzten Sozialdemokra-ten, Kommunisten und Christen eben-so, wie, allerdings zumeist erst sehr vielspäter, nationalkonservative Kräfte ausAdel und Bürgertum. Doch nur drei Wi-derstandskreise fanden in einer für Hit-ler gefährlichen Weise zusammen:� die deutschnationale Gruppe um den

ehemaligen Leipziger Oberbürger-meister Carl Goerdeler und den zu-

rückgetretenen Generalstabschef desHeeres, Ludwig Beck, der es um denErhalt Deutschlands als europäischerGroßmacht ging;

� der „Kreisauer Kreis“ des GrafenHelmuth James von Moltke, dessenidealistische Vordenker sich am wei-testen vom Herrenmenschentum derNazis entfernten;

� der militärische Widerstand mit denVerschwörern Claus Schenk Graf vonStauffenberg und seinem Vertrau-ten Generalmajor Henning vonTresckow, die Hitler beseitigen undden Krieg beenden wollten.Demokraten waren die Männer des

20. Juli, für die Führergedanke, Volks-gemeinschaft und autoritärer Stände-

staat verführerisch waren und blieben,gewiß nicht. Gleichwohl erscheint dasgescheiterte Bombenattentat, soschreibt der Publizist und Hitler-Bio-graph Joachim Fest in seinem neuenBuch, aus dem der SPIEGEL Auszügedruckt (Seite 42), als „symbolische Tat“.

Dennoch droht bei der 50. Wieder-kehr des 20. Juli Streit. Politiker be-mächtigen sich des historischen Ge-denktags, den das vereinte Deutschlandals Ost und West verbindendes Ereignisbegehen könnte.

Eine Kontroverse ist darüber ent-brannt, wer und wie geehrt werden soll.Der Kanzler, Sinnstifter aus Überzeu-gung und Neigung, will ein historischesMachtwort sprechen.

Am 20. Juli wird Helmut Kohl die of-fizielle Rede in der Berliner Gedenk-stätte Deutscher Widerstand halten. Erdüpierte damit den frisch gekürten Bun-despräsidenten Roman Herzog, der aufseine „erste große Bewährungsprobe“(Herzog) gehofft hatte.

Kohl-Vertraute berichten, daß erschon als Oppositionsführer Publizistenund Intellektuelle gedrängt habe, „dasThema ,Widerstand‘ konservativ zu be-setzen“. Kein Wunder, daß einige Hin-terbliebene der Widerständler befürch-ten, da werde das Erbe einseitig verein-nahmt.

Kohl stehe, kritisiert etwa Clarita vonTrott zu Solz, Witwe des im August1944 hingerichteten NS-OpponentenAdam von Trott zu Solz, „für eine be-stimmte politische Strömung“. Er reprä-sentiere nicht die Vielfalt des Wider-stands. Rosemarie Reichwein, derenMann, der Pädagoge Adolf Reichwein,im Oktober 1944 in Plötzensee gehenktwurde, wirft dem Kanzler vor, mit demGedenken Wahlkampf zu treiben: „Esgibt viele, die nicht hingehen wollen,weil Kohl spricht.“

Der Historiker Peter Steinbach, Lei-ter der Gedenkstätte in Berlin, beklagt„eine unheimliche Politisierung“. Daßdie Bundeswehr 140 Soldaten im Bend-lerblock, wo Stauffenberg und seineMitstreiter nach dem Attentat erschos-sen wurden, das Gewehr präsentierenlassen will, empfindet der Wissenschaft-ler als makaber. Vielen Angehörigender Opfer, so Steinbach, werde es „kaltden Rücken runterlaufen“.

„Wem gehörtder Widerstand?“

Kontrahenten Steinbach, Stauffenberg: Exemplarischer Streit

38 DER SPIEGEL 28/1994

Druck kommt jedoch auch aus ande-rer Ecke. Seit Wochen machen konser-vative Steinbach-Kritiker Stimmung ge-gen die der Gedenkstätte angeschlosse-ne Ausstellung zum Widerstand. Feder-führend dabei: der Sohn des Hitler-At-tentäters und frühere CSU-Bundestags-abgeordnete Franz Ludwig Schenk Grafvon Stauffenberg.

Die Ausstellung, so Stauffenberg, be-ziehe auch Kommunisten mit ein, unteranderem die Propaganda-Aktivitäten

des von Moskau gesteuerten „Natio-nalkomitees Freies Deutschland(NKFD)“ sowie des „Bundes Deut-scher Offiziere (BDO)“. Das warenZusammenschlüsse deutscher Kriegsge-fangener in der Sowjetunion, die, un-ter Leitung der KPD-Funktionäre Wal-ter Ulbricht und Wilhelm Pieck, deut-sche Soldaten an der Ostfront zur Ka-pitulation und zum Sturz des NS-Re-gimes aufriefen.

Für Stauffenberg eine Schande, denn„Pieck und Ulbricht gehören zu denübelsten Schuften der deutschen Ge-schichte“. Der Nachfahr des Hitler-At-tentäters möchte die Spu-ren kommunistischen Wi-derstands aus der Ausstel-lung getilgt sehen, weil erseinen Vater auf keinenFall „in die häßliche Kum-panei von Tyrannen undTotschlägern“ geraten las-sen wolle.

Verständnis bekundeteder CDU/CSU-Fraktions-vorsitzende WolfgangSchäuble. Er könne es gutnachfühlen, daß Stauffen-berg dagegen sei, „daß dasBild seines Vaters nebendem von Pieck und Ul-bricht hängt“. Dennschließlich habe der 20. Ju-li „nichts mit den Kommu-nisten zu tun“.

Berlins Regierender BürgermeisterEberhard Diepgen, dessen CDU/SPD-Senat die Gedenkstätte untersteht,schaltete sich letzte Woche ein. In ei-nem Schreiben forderte er Steinbachauf, bei der Präsentation der Wider-standsgruppen dem „Eindruck vonGleichstellungen“ entgegenzuwirken.

Der Streit ist exemplarisch für dieLast der doppelten Vergangenheit, dersich die Deutschen, nach dem Dahin-scheiden der zweiten Diktatur aufdeutschem Boden, nunmehr stellenmüssen.

Ist der Widerstand gegen die NS-Ter-rorherrschaft teilbar? Ist der Wider-stand gegen Hitler ehrbar, unabhängigdavon, wer sich dazu aufraffte? Undwem gehört er?

Dem stellvertretenden SPD-Vorsit-zenden Johannes Rau ist vor einem„Kult der Gerechten“ bang. Er erinnertdaran, daß „wir heute niemanden ausunserer Erinnerung ausgrenzen“ dürf-ten. Das gelte auch für die Kommuni-sten, „die den höchsten Blutzoll er-bracht haben“. Vor einem Rückfall indas Denken der fünfziger Jahre warnteunlängst der Bochumer Historiker HansMommsen: „Das Erbe wird wieder par-teipolitisch zerredet.“

Wie widersprüchlich und wie weniggeradlinig der Weg zum 20. Juli verlief,ist hinreichend beschrieben worden. Diemeisten Verschwörer waren Verächterder Weimarer Republik. Sie bliebendeutschnational gesinnt und erhofftensich anfangs Ruhm und Größe fürs Va-terland von Hitler.

In der preußischen Tradition bedin-gungslosen Gehorsams gedrillt, durchEid auf den Führer eingeschworen, folg-ten sie ihm, solange er Schlag auf Schlagerfüllte, was sie stets ersehnten: die Re-vision des Versailler Vertrags von 1919,den Wiederaufbau einer Militärmacht,schließlich Deutschlands Aufstieg zurkontinentalen Hegemonialmacht.

„Ein Spezifikum“ des nationalkonser-vativen und militärischen Widerstandssei es gewesen, urteilt der HistorikerKlaus-Jürgen Müller, „daß er sich ausder Anpassung an das System, gar auseiner Kooperation mit ihm und in ihmentwickelte.“

Daß der „Narr“ – Hitler – Krieg füh-ren wollte, hatte Claus Schenk Graf vonStauffenberg schon vor 1939 geahnt.Gleichwohl war er, als es dann wirklichlosging, zunächst „erfüllt von jenemSiegesgefühl, das damals in Deutsch-land die meisten Menschen erfaßt

hatte“ (so sein Biograph Joachim Kra-marz).

Drei Jahre später, im Herbst 1942, alsdie deutschen Greuel im Osten ruchbarwurden und die Rote Armee dem Ag-gressor schwere Schläge versetzte, zeig-te er sich desillusioniert und sah nurnoch einen Ausweg: „Findet sich dennda drüben im Führerhauptquartier keinOffizier, der das Schwein mit der Pistoleerledigt?“

Es vergingen zwei weitere Jahre, eheStauffenberg („Ich bin dazu bereit“)Gelegenheit zum Handeln bekam. Im-mer wieder hatten die Widerständler ge-zögert, teils weil ihnen der letzte Willefehlte, teils weil sich allzu viele der trü-gerischen Hoffnung hingaben, mit demgeplanten Attentat ein Pfand für einenKompromißfrieden mit den Westalliier-ten in die Hand zu bekommen, um densowjetischen Vormarsch zu stoppen.

Daß die Alliierten Deutschland als„einen im Spiel der Kräfte einsetzbarenMachtfaktor“ in Verhandlungen „aufgleicher Ebene“ akzeptieren würden,wie sich Stauffenberg noch am 20. Juli1944 einredete, war pures Wunschden-ken. Die Forderung der Anti-Hitler-Ko-alition nach bedingungsloser Kapitulati-on ließ keinen anderen Ausweg, als denAufstand des Gewissens zu wagen, un-abhängig von „jener Rücksicht auf dieäußeren Bedingungen, die den Ent-

schluß zur Tat so oft ge-lähmt hatte“ (Fest).

Hitler, der Überlebende,schäumte: „Eine ganz klei-ne Clique ehrgeiziger, ge-wissenloser und zugleichverbrecherischer, dummerOffiziere hat ein Komplottgeschmiedet, um mich zubeseitigen“. Sein Propa-gandaminister JosephGoebbels kündigte ein„Strafgericht“ an, das„geschichtliche Ausmaße“haben müsse. Rund 5600Verdächtige gerieten in dieFänge der Gestapo, etwa200 Todesurteile fällte derVolksgerichtshof unter sei-nem berüchtigten Präsi-denten Roland Freisler.

Daß die Männer des 20. Juli den An-schlag gewagt haben, bleibt ihr Ver-dienst. Und hätten die Verschwörer Er-folg gehabt, wären den Deutschen zu-mindest viele Kriegsopfer erspart ge-blieben.

Bis zum Juli 1944 waren rund 2,8 Mil-lionen deutsche Zivilisten und Soldatenumgekommen. Als Hitler zehn Mo-nate später durch Selbstmord dem tau-sendjährigen Wahn ein Ende setzte,hatte der Diktator noch einmal 4,8Millionen Deutsche mit in den Abgrundgerissen. �

„Das Erbe wirdwieder parteipolitisch

zerredet“

42 DER SPIEGEL 28/1994

Joachim Fest über den Rachefeldzug des Nazi-Regimes gegen die Männer, die Hitler beseitigen wollten

och in der Nacht auf den 21. Juli 1944 setzte eine ausge-dehnte Fahndung ein. Die Nachforschungen erstrecktenN sich auf sämtliche Personen, die mit den Beteiligten pri-

vat oder dienstlich in Berührung gekommen oder früher schonins Blickfeld der Überwachungsbehörden geraten waren.

Im Hauptquartier wurde gegen Mitternacht GeneralmajorHellmuth Stieff verhaftet. Um die gleiche Zeit erhielt GeneralErich Fellgiebel, während er nach Philosophenmanier in einGespräch mit seinem Ordonnanzoffizier, Oberleutnant Hell-muth Arntz, über ein Jenseits vertieft war, „an das er nichtglaubte“, den lange erwarteten Anruf. Er sagte nur: „Ich kom-me!“, und als Arntz ihn beim Abschied fragte, ob er eine Pi-stole habe, erwiderte er: „Man steht, man tut das nicht.“

Am folgenden Tag wurde der SS-Obersturmbannführer Ge-org Kießel zum Leiter einer „Sonderkommission 20. Juli“ er-nannt, die bald auf 400 Beamte anwuchs. Die Stichworte fürdie justizförmige Erledigung des Staatsstreichs gab Hitler in ei-ner Lagebesprechung aus: „Diesmal werde ich kurzen Prozeßmachen. Diese Verbrecher sollen nicht die ehrliche Kugel be-kommen. Ein Ehrengericht soll sie aus der Wehrmacht aussto-ßen, dann kann ihnen als Zivilisten der Prozeß gemacht wer-den. Und innerhalb von zwei Stunden nach der Verkündungdes Urteils muß es vollstreckt werden! Diemüssen sofort hängen ohne jedes Erbar-men! Und das wichtigste ist, daß sie keineZeit zu langen Reden erhalten dürfen.Aber der Freisler wird das schon machen.Das ist unser Wyschinski.“

Doch mit jedem folgenden Tag dehntesich der Kreis der Verdächtigen weiteraus. Generalfeldmarschall Erwin vonWitzleben, der nach den Plänen der Put-schisten den Oberbefehl über die Wehr-macht hätte übernehmen sollen, war einerder ersten, die verhaftet wurden, morgensgegen fünf Uhr hatte die Gestapo denpreußischen Finanzminister Johannes Po-pitz aus der Wohnung geholt, dann traf esHans Oster und Wilhelm Canaris von derAbwehr, den konservativen PolitikerEwald von Kleist-Schmenzin und viele an-dere. Noch kurz vor dem 20. Juli hatte diefür die Wehrmacht zuständige Observati-onsstelle der Gestapo keine besonderenAnhaltspunkte gemeldet und nur beiläu-fig den „Defätismus“ der Gruppe um Lud-wig Beck und Carl Goerdeler erwähnt.

Auch Hitler selber scheint zunächst nuran jene „ganz kleine Clique ehrgeizigerOffiziere“ geglaubt zu haben, von der inseiner Rundfunkansprache die Rede ge-wesen war. Jetzt zeigte sich zu aller Be-stürzung, daß hinter der Tat Stauffenbergseine breite, weit über das Militär hinaus-reichende und linke wie rechte Kräfte um-fassende Bewegung stand, deren Ver-zweigungen bis in vermeintlich partei-treue Kreise reichten.

© 1994 Siedler Verlag, Berlin.

Graf Helldorf, Polizeipräsident von Berlin und SA-Führer,hatte noch am Abend des 20. Juli selbstbewußt versichert,man werde es nicht wagen, Hand an ihn zu legen, doch jetztgriffen die Verfolger ohne langes Zögern zu. Andere, wie Ge-neral Wagner, begingen Selbstmord.

Major Hans Ulrich von Oertzen, der das Wehrkreiskom-mando am Hohenzollerndamm zum Umsturz gedrängt hatte,war es im Verhaftungsdurcheinander gelungen, zwei Gewehr-sprenggranaten zu verstecken, von denen er die eine, kurz be-vor er abgeführt werden sollte, dicht an seinem Kopf zündete.Als er schwerverletzt zusammenbrach, schleppte er sich mitletzter Kraft zum Versteck der zweiten Granate, preßte sie inden Mund und zog ab. Doch auch diese Toten weiteten nurden Kreis der Verdächtigen auf ihre Mitarbeiter, Freunde undAngehörigen aus.

Die strengen Maßstäbe, die dem Widerstand seit je den selt-sam wehrlosen Zug vermittelt haben, behaupteten sich auch inder Niederlage. Die wenigsten versuchten zu fliehen. Sie ord-neten ihre persönlichen Dinge und warteten gelassen, stand-haft und, wie sie glaubten, auf alles vorbereitet. Viele forder-ten ihre Verhaftung sogar heraus. Im Vordergrund stand da-bei der Gedanke, Freunde und Angehörige vor der drohenden

Erpressung zu bewahren, doch stets hat-ten solche Entschlüsse auch mit jener ka-tegorischen Moralität zu tun, die für na-hezu alle der feste Grund unter den Fü-ßen war.

„Nicht fliehen – standhalten!“ begrün-dete Stauffenbergs Adjutant FriedrichKarl Klausing seine Entscheidung, sichfreiwillig zu stellen; er wolle „die gefan-genen Kameraden nicht im Stich lassen“.Auch der Ordonnanzoffizier Fabian vonSchlabrendorff lehnte die Flucht ab, des-gleichen Adam von Trott zu Solz von derWiderstandsgruppe Kreisauer Kreis,„seiner Frau und der Kinder wegen“, wieer sagte. Generalmajor Henning vonTresckows Bruder Gerd, der zwar einge-weiht, aber als Oberstleutnant einer Di-vision an der italienischen Front viel zuweit vom Geschehen entfernt war, umVerdacht erregt zu haben, offenbartesich seinen Vorgesetzten, wurde abge-wiesen, beharrte aber auf seiner Selbst-bezichtigung, sah sich schließlich verhaf-tet und in das Gestapo-Gefängnis in derLehrter Straße eingeliefert. Dort nahmer sich Anfang September, physisch undpsychisch zermürbt, das Leben.

Immer wieder kam es vor, daß die Ge-suchten ihren Verfolgern geradezu ent-gegengingen, erfüllt von einem Gefühlzwischen Stolz und Müdigkeit, unfähigoder ungewillt, sich weiterhin zu verstek-ken und jenes allzulang geführte Doppel-leben fortzusetzen, dessen Preis, wie sieglaubten, die Selbstachtung war. Der Ju-rist Ulrich von Hassell machte sich vonseinem bayerischen Wohnsitz aus auf die

Joachim Festwar in den sechziger JahrenChefredakteur beim NDR-Fernsehen. 1973 trat er mit ei-nem erfolgreichen, wenngleichumstrittenen 1200-Seiten-Wäl-zer als Hitler-Biograph hervor.„Staatsstreich. Der lange Wegzum 20. Juli“, das neue Buchdes gebürtigen Berliners, 67,bis 1993 Herausgeber derFrankfurter Allgemeinen, er-scheint diese Woche im SiedlerVerlag, Berlin (416 Seiten; 44Mark). Der SPIEGEL druckteinen Auszug.

„Aufgehängt wie Schlachtvieh“

Volksgerichtshof-Präsident Freisler (M.)

43DER SPIEGEL 28/1994

umständliche, von vielen Zwischenaufenthalten behinderteReise nach Berlin, wanderte einige Tage lang ruhelos durchdie Straßen und erwartete dann, gefaßt an seinem Schreibtischsitzend, das Kommando der Gestapo. Theodor Steltzer wie-derum weigerte sich, von Norwegen aus nach Schweden hin-überzuwechseln, sondern kam statt dessen nach Berlin zurückund bestand sogar auf seiner Auffassung, daß man als Christnicht einmal vor den Vernehmungsbeamten oder vor demVolksgerichtshof die Unwahrheit sagen dürfe.

Zu den Beweggründen hinter allen diesen ebenso wirklich-keitsfremden wie bewegenden Verhaltensweisen zählte sicher-lich auch die Absicht, das bevorstehende Gericht als Tribüneeiner vielstimmigen An-klage zu nutzen, um amEnde doch noch, vorgleichsam schon gefalle-nem Vorhang, jene gro-ße Entlarvung des Re-gimes vorzunehmen, dieviele von ihnen sich vondem sehnsüchtig herbei-gewünschten Prozeß ge-gen Hitler erhofft hat-ten. Aber diese Illusionzerstob rasch.

Den jenseits des eng-sten Täterkreises zu-nächst im dunkeln tap-penden Ermittlern ge-lang es im Lauf der fol-genden Monate rund600 Verdächtige festzu-nehmen. Eine zweiteVerhaftungswelle MitteAugust („Aktion Gewit-ter“) erfaßte noch ein-mal rund 5000 vermute-te Regimegegner vor-nehmlich aus den Rei-hen der Weimarer Par-teien und Verbände.Auch in den Vernehmungen haben einige der Angeschuldig-ten eher Ernst und Ethos ihres Tuns bezeugen als ihr Lebenretten wollen. Der Leiter der Sonderkommission erklärteschon bald, „der männliche Standpunkt der Idealisten (habe)sofort einiges Licht in das Dunkel“ gebracht.

ie arglos-mutig und in vielen Fällen geradezu zumSelbstopfer drängend dieses Auftreten sich auch aus-W nehmen mag, so war es vielleicht doch die einzige Ver-

teidigung, auf die das Regime keine Antwort hatte. Wenn Hit-ler anfangs offenbar eine spektakuläre, den sowjetischenSchauprozessen der dreißiger Jahre nachgebildete Inszenie-rung der Verhandlungen mit Film, Rundfunkübertragungenund ausgedehnten Presseberichten im Auge gehabt hatte, gaber den Gedanken daran bald auf. Fritz-Dietlof Graf von derSchulenburg beispielsweise erklärte vor Gericht: „Wir habendiese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem na-menlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich darauf-hin gehängt werde, bereue meine Tat aber nicht und hoffe,daß sie ein anderer in einem glücklicheren Augenblick durch-führen wird.“

Dergleichen Äußerungen, die von vielen Angeklagten ka-men, drängten die Regie der Verfahren zunehmend in die De-fensive. Am 17. August 1944 untersagte Hitler jede weitereBerichterstattung, und am Ende wurden nicht einmal mehr dievollstreckten Hinrichtungen bekanntgemacht.

Im ganzen blieb die Aufklärung des weitläufigen Hinter-grundes der Verschwörung mühsam. Von Stieff und Fellgiebel

weiß man, daß sie selbst unter der Folter mindestens sechs Ta-ge lang keine Einzelheiten hergaben. Entgegen einer verbrei-teten Legende wurden auch keine Namensregister oder Kabi-nettslisten gefunden.

Desgleichen hat Schlabrendorff, von dem eine ins einzelnegehende Schilderung der vier Stufen der Folter stammt, ange-fangen von Dornenschrauben auf den Fingerwurzeln über diesogenannten Spanischen Stiefel bis zum Streckbett und ande-ren Torturen, keinen Mitverschworenen der HeeresgruppeMitte preisgegeben. Selbst als man ihn zuletzt vor die nocheinmal aus dem Grab gezerrte, verstümmelte Leiche seinesFreundes Tresckow führte, schwieg er, und auch aus Oster,

Kleist-Schmenzin oderdem SozialdemokratenWilhelm Leuschner wartrotz aller Quälereiennur das mehr oder min-der schon Bekannte her-auszubringen.

Doch was die Gefol-terten nicht hergaben,leistete nun die Gegen-seite. Als wollten sie Hit-ler einen letzten Diensterweisen, veröffentlich-ten englische Rundfunk-sender ständig Namenvon Leuten, von denensie behaupteten, daß sieauch am Staatsstreichteilgenommen hätten.

Am 4. August trat un-ter dem Vorsitz des Feld-marschalls von Rund-stedt der von Hitler ver-langte „Ehrenhof“ zu-sammen, dem als Beisit-zer Feldmarschall Kei-tel, Generaloberst Gu-derian sowie die Generä-le Schroth, Specht, Krie-

bel, Burgdorf und Maisel angehörten. Ohne Einvernahmen undohne Beweisverfahren schlug die Runde 22 Offiziere zur Aus-stoßung aus dem Heer vor und entzog sie damit, dem Willen Hit-lers entsprechend, dem gesetzlich vorgeschriebenen kriegsge-richtlichen Verfahren.

Zuständig für alle Beschuldigten war damit der 1934 für„Staatsverbrechen“ eigens errichtete Volksgerichtshof, undHitler befahl, die Verhandlung in beschränkten Räumlichkei-ten und vor einem ausgewählten Zuhörerkreis zu führen. Er batden Präsidenten des Gerichts, Roland Freisler, sowie, wenn derBericht darüber zutreffend ist, den Scharfrichter ins Führer-hauptquartier und bestand darauf, daß jeder geistliche Beistandversagt werde. „Ich will, daß sie gehängt werden, aufgehängtwie Schlachtvieh“, lautete seine Anweisung.

Am 7. August begannen im großen, mit Hakenkreuzfahnenausgehängten Saal des Berliner Kammergerichts die Prozesse.Angeklagt waren Witzleben, Stieff, Klausing, Yorck sowie derEx-General Erich Hoepner, der Berliner StadtkommandantPaul von Hase und die Offiziere Robert Bernardis und Albrechtvon Hagen. Um die Beschuldigten schon äußerlich zu entwürdi-gen, führte man sie ohne Kragenbinde, Witzleben sogar ohneHosenträger und Hoepner in einer Strickjacke in den Verhand-lungsraum. Allen waren, wie ein Augenzeuge überliefert hat,die Spuren der „erlittenen Quälereien der Untersuchungshaft“anzusehen. Unter einer Hitler-Büste präsidierte im roten TalarRoland Freisler.

Zwei Jahre zuvor war er zum Präsidenten des Volksgerichts-hofs berufen worden, und sicherlich war er der Jurist nach dem

„Die ungeheuerlichste Anklage in derGeschichte des deutschen Volkes“

Angeklagter Witzleben vor dem Volksgerichtshof

45DER SPIEGEL 28/1994

Bilde des Regimes. Ein gewisses Mißtrauen auf seiten Hitlersschwand gleichwohl nie, und der Hinweis auf den Hauptanklä-ger der Moskauer Prozesse, Andrej Wyschinski, deutete dieUrsachen an. Denn nachdem Freisler während des ErstenWeltkriegs in russische Kriegsgefangenschaft geraten war, hat-te er es im Verlauf der Oktober-Revolution zum Kommissargebracht und rühmte sich, seine Laufbahn als überzeugterKommunist begonnen zu haben. 1925 hatte sich Freisler dannder NSDAP angeschlossen.

Seine lärmende, herrische Verhandlungsführung mit demZiel, wie er gelegentlich bekannte, die Angeklagten zu „ato-misieren“, hatte nicht zuletzt mit seinem theatralischen Tem-perament zu tun, den radikalen Posen, die er liebte, dem aus-gekosteten Nachweis, Herr über Leben und Tod zu sein, demdie Unterwürfigkeit gegenüber Hitler nur zu genau entsprach.Trotz aller abstoßenden Züge, seiner offenen Lust an der Infa-mie und der Herabwürdigung der Angeklagten, haben sichnur wenige der merkwürdigenFaszination entziehen kön-nen, die er verbreitete. Hel-muth von Moltke hat nach sei-ner Verhandlung geschrieben,Freisler sei „begabt, genialund nicht klug, und zwar allesdreies in der Potenz“.

Freisler eröffnete den er-sten Sitzungstag mit dem Be-merken, das Gericht habeüber „die ungeheuerlichsteAnklage (zu befinden), die inder Geschichte des deutschenVolkes je erhoben wordenist“, und setzte die Entwürdi-gungspraktiken fort, indem erdie Beschuldigten durchwegals „Lumpen“, „Verbrecher“,„Verräter“ oder „Charakter-schweine“ bezeichnete undStauffenberg immer wieder„den Mordbuben Stauffen-berg“ nannte. Gezielt be-schränkte er die Vernehmungauf den bloßen Tathergangund schnitt alle Versuche der Angeklagten ab, sich zu ihren Mo-tiven zu äußern. Die Verteidiger schlugen sich, bei allen Aus-nahmen, die es auch gab, vielfach offen auf die Seite der Ankla-ge. So vertrat der Verteidiger Witzlebens, Dr. Weissmann, inseinem Plädoyer die Auffassung, das Urteil sei im Grunde schongesprochen durch „das göttliche Schicksal in der Form des Wun-ders der Errettung, als es dem deutschen Volke den Führer vorder Vernichtung bewahrte“.

Am Ende verurteilte Freisler alle acht Angeklagten zum Toddurch den Strang und beendete die Verhandlung mit den Wor-ten: „Wir kehren zurück in das Leben, in den Kampf. Wir habenkeine Gemeinschaft mehr mit Ihnen. Das Volk hat sich von Ih-nen befreit, ist rein geblieben. Wir kämpfen mit unserem Füh-rer, ihm nach für Deutschland!“

o war es von nun an Mal um Mal. Schon am 10. August folg-te die nächste Verhandlung mit den Angeklagten Fellgie-S bel, Berthold von Stauffenberg (Bruder des Hitler Atten-

täters Claus von Stauffenberg) und vor allem Fritz von der Schu-lenburg, der Freisler mit Ernst und Hohn zusetzte. Ebenso tratspäter der Jurist Josef Wirmer auf, der einer Äußerung Freis-lers, er werde sich bald in der Hölle wiederfinden, mit einerknappen Verneigung entgegnete: „Es wird mir ein Vergnügensein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident.“

Nicht immer gelang es dem Vorsitzenden, den Vorgeladenendas Wort abzuschneiden. Der Jurist Hans Bernd von

Haeften, Mitglied des Kreisauer Kreises, sprach von der„weltgeschichtlichen Rolle Hitlers als eines großen Vollstrek-kers des Bösen“. Ewald von Kleist-Schmenzin bekannte sichzum Hochverrat seit dem 30. Januar 1933 als einem „gottver-ordneten Gebot“.

Cäsar von Hofacker, Adjutant des Militärbefehlshabers inFrankreich, General von Stülpnagel, hatte schon im Verhörerklärt, er habe am 20. Juli mit dem gleichen Recht gehandeltwie Hitler am 9. November 1923, und sein Bedauern über dasScheitern des Attentats ausgedrückt. Jetzt fiel er dem Vorsit-zenden bei einer der zahlreichen Unterbrechungen seinerseitsins Wort: „Sie schweigen jetzt, Herr Freisler. Denn heute gehtes um meinen Kopf. In einem Jahr geht es um Ihren Kopf.“Und Fellgiebel riet ihm, er möge sich mit dem Aufhängen be-eilen, sonst werde er eher hängen als die Verurteilten.

Am Nachmittag des 8. August, unmittelbar nach dem Endeder Gerichtsverhandlung, wurden die Verurteilten zur Hin-

richtungsstätte Plötzenseeüberführt.

In der Haftanstalt wurde denVerurteilten nur die Zeit zumUmkleiden gewährt. Einzeln,im Zuchthausdrillich und inHolzschuhen überquerten sie,vorbei an einer laufenden Ka-mera, den Gefängnishof undbetraten dann durch einenschwarzen Vorhang den Hin-richtungsraum. Auch hier wareine Kamera aufgestellt, die je-dem ihrer Schritte folgte, vonder Ankunft bis hinüber unterdie Haken, die an einer querüber die Decke laufendenSchiene befestigt waren. EinFilm, im Auftrag des Führersgedreht, sollte den gesamtenProzeß in allen seinen Phasenausführlich und in allen Einzel-heiten zeigen.

Grelles Scheinwerferlichtlag über der Szenerie, ein paarBeobachter standen herum:

der Generalstaatsanwalt, Gefängnisbeamte, Fotografen. DieHenker nahmen den Verurteilten die Handschellen ab, legtenihnen eine kurze, dünne Schlinge um den Hals und entkleidetensie bis zur Hüfte. Und auf ein Zeichen hin hoben sie die Delin-quenten in die Höhe, ließen sie teils plötzlich, teils behutsam indie Schlingen fallen und zogen ihnen, noch bevor das Ende kam,die Hosen herunter. Nach jeder Exekution gingen der Scharf-richter und seine Gehilfen zu dem Tisch im vorderen Teil desRaumes und stärkten sich mit Schnaps, bis von draußen dieSchritte des nächsten Opfers zu hören waren.

Hitler hatte schon die Berichte über die Verhaftungen, überneu auftauchende Verdachtsgruppen sowie die Protokolle derVernehmungsbeamten „gierig verschlungen“. Noch in der frü-hen Nacht trafen jetzt die Filme vom Prozeß und von der Exeku-tion in der Wolfsschanze ein, und Hitler ließ auch seine Umge-bung daran teilhaben. Der Putsch sei „vielleicht das segensreich-ste Ereignis für unsere Zukunft gewesen“, sagte er und konntesich an den Bildern seiner überwundenen Gegner nicht satt se-hen. Aufnahmen der Erhängten lagen noch Tage später auf demgroßen Kartentisch in seinem Bunker. Es waren, vor einem aufallen Seiten einstürzenden Horizont, große Befriedigungen, dieer daraus zog, seine letzten Triumphgefühle.

Das exzeßhafte Wesen des Regimes trat aber nicht nur in derIntensität zutage, mit der es seine Vergeltungsbedürfnisse be-friedigte, sondern auch in der Breite der einsetzenden Verfol-gungen: Eine mit altgermanischem Brauchtum verbrämte

„Wir wollten Deutschland vornamenlosem Elend bewahren“

Hitler-Attentäter Stauffenberg, Nachkommen

47DER SPIEGEL 28/1994

Rachsucht traf auch die entfernten Angehörigen der Verdäch-tigten. Zwei Wochen nach dem 20. Juli, auf einer Gauleiterta-gung in Posen, erklärte Heinrich Himmler, der ReichsführerSS, in einer Rede, die sich in aller Breite mit dem gescheiter-ten Staatsstreich befaßte, er werde „hier eine absolute Sippen-haftung einführen“, wie sie „sehr alt und bei unseren Vorfah-ren gebräuchlich gewesen (ist). Sie brauchen bloß die germa-nischen Sagas nachzulesen. Dieser Mann hat Verrat geübt, dasBlut ist schlecht, da ist Verräterblut drin, das wird ausgerottet,bis zum letzten Glied in der ganzen Sippe. Die Familie GrafStauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied“.

Dieser Androhung entsprechend ließ Himmler alle Angehö-rigen der Gebrüder Stauffenberg, von den Ehefrauen bis zumdrei Jahre alten Kind einerseits und zum 85jährigen Vater ei-nes Vetters andererseits festsetzen. Auch der Bruder Alexan-der, der nicht eingeweiht war, wurde aus Athen nach Berlingeschafft und im Anschluß an ausgedehnte Verhöre in ein La-ger eingeliefert, der Besitz der Verwandten „insgesamt“ ein-gezogen. Gräfin Stauffenberg kam nach ergebnislosen Ver-nehmungen ins Konzentrationslager Ravensbrück, ihre Mut-ter desgleichen, während die Kinder unter dem von der Gesta-po erdachten, denkbarerweise als Anspielung auf den George-Kreis gemeinten Namen „Meister“ einem Heim übergebenwurden. Ähnlich erging es den Angehörigen der FamilienGoerdeler, Tresckow, Lehndorff, Schwerin, Kleist, Oster,Trott, Haeften, Popitz, Hammerstein und vielen anderen.

Einen neuen Schub undneue Hinweise erhielt die Ar-beit der Ermittlungsbehör-den, als es am 12. August ge-lang, Carl Goerdeler zu ver-haften. Drei Wochen langhatte er sich bei ergebenenFreunden meist in oder naheBerlin versteckt und, wie be-sessen vom Glauben an seineauch jetzt nicht endende Be-rufung, noch einmal eineDenkschrift verfaßt.

Auf seine Ergreifung warein Kopfgeld von einer Milli-on Mark ausgesetzt, und nachlangem, erschöpften Schwan-ken, ob er sich weiterhin ver-bergen oder ins Ausland flie-hen solle, hatte er schließlichalle Hoffnung fahrenlassenund sich aufgemacht, um einletztes Mal seine westpreußi-sche Heimat zu sehen. Nacheiner abenteuerlichen Reisevon drei Tagen, in Wäldernund Warteräumen kampierend, war er bis nach Marienwer-der gelangt, wo er auf dem Weg zum Grab seiner Elternerstmals von einer Frau erkannt und so ausdauernd verfolgtworden war, daß er umkehren mußte. Nach einer weiterenNacht im Freien hatte er am folgenden Morgen, am Endeseiner Kraft, eine Gastwirtschaft aufgesucht, war aber voneiner Luftwaffen-Angestellten, die einst im Hause seiner El-tern verkehrt hatte, erkannt und weniger aus Bosheit oderGeldgier als aus wichtigtuerischem Eifer denunziert worden.

Seine Beteiligung an den Umsturzplänen hat er gleich imersten Satz des ersten Verhörs eingeräumt, doch vom Atten-tat rückte er auch jetzt wieder ab und bezeichnete das Schei-tern Stauffenbergs als „Gottesurteil“. „Du sollst nicht tö-ten!“ hatte er mahnend einer Bekannten zugerufen, mit derer wenige Tage nach dem 20. Juli auf einer U-Bahn-Stationzusammengetroffen war. Welche führende Stellung er je-doch im Kreis der Regimegegner eingenommen hatte und

wie weit die Verbindungen in die zivile Welt reichten, erfuh-ren die Ermittler, die noch immer vornehmlich auf das Bildvom Militärkomplott festgelegt waren, zu ihrer eigenen Über-raschung erst jetzt, und zwar durch keinen anderen als durchGoerdeler selbst.

ie Bereitwilligkeit, mit der er Namen von Unterneh-mern, Gewerkschaftsführern und Kirchenleuten, auchDMotive, Absprachen und Ziele preisgab, hat ihm nicht

nur bei einer Anzahl von Mithäftlingen den Ruf eines „Verrä-ters“ eingetragen, sondern auch seine Biographen vor beunru-higende Fragen gestellt. Gewiß wird man den Schock berück-sichtigen müssen, den die Einkerkerung ihm zugefügt hatte.Hinzu kam im Lauf der Zeit die nervliche Zerrüttung einesMannes, der weitaus länger als alle anderen Verurteilten in ei-ner Einzelzelle isoliert war, an schwere Ketten gefesselt, durchnicht endende Verhöre gezerrt, und Nacht für Nacht in grel-lem Scheinwerferlicht bei offener Tür, mit einem Posten da-vor, zugebracht hatte.

Gleichwohl ist er in der Sache keinen Schritt zurückgewi-chen. Noch in seinen Aufzeichnungen während dieser Wochenhat er Hitler einen „Vampyr“ und „Schänder des Menschen-tums“ genannt, von der „viehischen Ermordung von einer Mil-lion Juden“ gesprochen und über die Feigheit derer geklagt,die solche Verbrechen „teils unwissend, teils verzweifelnd“ ge-schehen lassen. Nachweislich hat er zahlreiche Freunde und

Mitverschwörer vor dem Zu-griff der Gestapo bewahrt undwohl auch die Taktik der Irre-führung durch eine verwir-rend gemeinte, Tatsache aufTatsache und Detail auf De-tail häufende Gesprächigkeitverfolgt.

Aber aufs Ganze gesehenist Goerdeler sichtlich auchvor den Vernehmungsbeam-ten seinem lebenslangenWahrheits- und Vernunftglau-ben auf geradezu todbringen-de Weise treu geblieben.Nichts dispensierte ihn, wie erglaubte, von der Pflicht zu ei-nem letzten Versuch, demverblendeten, das Land zumAbgrund reißenden Hitler dieAugen zu öffnen und viel-leicht doch noch zu einemDialog mit ihm zu kommen.

Am 8. September standGoerdeler zusammen mit Ul-rich von Hassell, Josef Wir-

mer und Wilhelm Leuschner vor dem Volksgerichtshof. DieVerhandlung verlief wie alle vorausgegangenen auch: mit ei-nem tobsüchtigen Freisler, der keinem der Angeklagten eineGelegenheit gab, sich zu seinen Motiven zu erklären, undGoerdeler am Ende als „ehrgeizzerfressenen, ehrlosen, feigenVerräter und politischen Kriegsspion“, als „Verräter durchund durch“ zum Tode verurteilte.

Doch während Wirmer und Hassell am gleichen Tag hinge-richtet wurden und Leuschner 14 Tage später, blieb Goerdelerfast noch 5 Monate am Leben. Teils wollte man wohl weitereInformationen aus ihm herausholen, teils auch von dem Ver-waltungsfachmann Memoranden über die Reformen und denWiederaufbau nach dem Kriege ausarbeiten lassen, aber dieeigentliche Absicht war vermutlich, ihn als letzte Karte bereit-zuhalten, falls Himmler doch noch jenes aberwitzige Spiel ver-suchen würde, über Hitler hinweg Verbindung zum Gegneraufzunehmen. Dafür spricht unter anderem, daß auch Popitz,

„Verräterblut wird ausgerottetbis zum letzten Glied“

Angeklagter Goerdeler vor dem Volksgerichtshof

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der am 3. Oktober zum Tode verurteilt worden war, zunächstverschont blieb.

Goerdeler hat in jenen Wochen auch gehofft, daß sich dieDinge hinauszögern ließen und der Krieg zu Ende gehen wer-de, so daß er und seine Mitgefangenen doch noch gerettetwürden. Aber der alliierte Vorstoß ins Innere Deutschlandskam nicht voran, und inzwischen erhob der JustizministerThierack immer dringlichere Vorstellungen, warum Goerdelerund Popitz noch am Leben seien. Als am Mittag des 2. Febru-ar 1945 SS-Leute unter Geschrei in Goerdelers Zelle drangen,zerbrach, wie so vieles andere zuvor, auch diese letzte Hoff-nung.

Am 15. September meldeteder Chef des Reichssicher-heitshauptamtes, Ernst Kal-tenbrunner, daß die Untersu-chungen im wesentlichen ab-geschlossen und weitere Ge-sichtspunkte nicht mehr zu er-warten seien. Nur acht Tagespäter jedoch fiel dem Amt einAktenbestand in die Hände,der das gesamte Bild umwarf.

Nach dem Selbstmorddes Abwehr-OberstleutnantsWerner Schrader, eines engenVertrauten Osters, hatte des-sen Fahrer sich, unglücklichund erfüllt von dem Gefühl, al-lein gelassen zu sein, an denKommissar Franz Xaver Son-deregger gewandt und ihn aufein Konvolut von Akten hinge-wiesen, das 1942 in die Preußi-sche Staatsbank und späternach Zossen geschafft wordenwar. Als Sonderegger, neugie-rig geworden, nach Zossen fuhr und den Panzerschrank öffnete,kam das gesamte von Hans von Dohnanyi zusammengetrageneMaterial der von Beck, Oster und General Franz Halder organi-sierten Staatsstreichunternehmen aus den späten dreißiger Jah-ren zum Vorschein: Protokolle, Einsatzpläne, Adressen, Noti-zen zur Affäre Blomberg-Fritsch, lose Blätter, alles sorgfältigarchiviert, und sogar einige Seiten der schon lange gesuchten Ta-gebücher des Admirals Canaris.

eit bestürzender als dieser Quellenfund war die plötzlicheinbrechende Erkenntnis, daß die bislang allen Aufklä-W rungsbemühungen zugrunde liegende Ausgangsüberle-

gung falsch und die Verschwörung des 20. Juli nicht das Werk ei-niger unzufriedener, zurückgesetzter oder abgehalfterter Offi-ziere aus den Zeiten des niedergehenden Kriegsglücks war.Vielmehr trat jetzt zutage, daß ihre Anfänge bis ins Jahr 1938 zu-rückreichten, die höchsten Wehrmachtsspitzen darin verwickeltund überdies die Motivkomplexe weitaus breiter waren, als ir-gend jemand je vermutet hatte: In dem von Kaltenbrunner ange-fertigten Protokoll war von der Absicht zur Verhinderung desKrieges die Rede, von verbreiteter Kritik an der „Behandlungder Judenfrage“, von der Kirchenpolitik sowie dem generell„verderblichen Einfluß“ Himmlers und der Geheimen Staats-polizei.

Hitler war so betroffen, daß er befahl, keines dieser Doku-mente ohne seine besondere Genehmigung in den Prozessen vordem Volksgerichtshof zu verwenden. Zudem ordnete er an, dieAufklärung dieser Vorgänge streng abzusondern und die Ver-haftung General Halders und dessen Anwesenheit in der Prinz-Albrecht-Straße vor allen übrigen Gefangenen geheimzuhal-ten. In der Tat brach mit diesem Dokumentenfund und den Auf-schlüssen, die er vermittelte, die selbstverfertigte Legende der

Einheit von Führer und Volk zusammen, und es war offenbardiese Einsicht, die einen hohen Beamten des Justizministeriumsverzweifelt sagen ließ: „Der 20. Juli wächst uns über den Kopf.Wir werden der Sache nicht mehr Herr.“

Auch hat es den Anschein, als habe der Fund von Zossen aufHitler selber eine fast schockartige Wirkung gehabt. Jedenfallsließ er den Prozeß über die neu ans Licht gekommene Verschwö-rung zurückstellen und die damit belasteten Häftlinge AnfangFebruar, als ein amerikanischer Luftangriff Teile der Gestapo-Zentrale zerstörte, nach Buchenwald und anschließend nachFlossenbürg in der Oberpfalz bringen. Womöglich hat er sogardaran gedacht, die Angelegenheit totzuschweigen und dem all-

mählichen Vergessen anheim-zugeben.

Da kamen am 4. Aprildurch einen Zufall, wiederumin Zossen, die legendenum-wobenen Tagebücher von Ca-naris zum Vorschein. DerFund schien Kaltenbrunner sowichtig, daß er die schwarzenHefte schon am folgendenTag zu Hitler nach Rasten-burg brachte. Und jetzt, wäh-rend der Lektüre dieser Auf-zeichnungen, verdichtete sichin diesem der Eindruck, beiseinem großen und von allenSeiten bedrohten Werk seitBeginn von Intrigen, Mein-eid, Täuschung und Verratumgeben gewesen zu sein. Ineinem maßlosen Ausbruchentluden sich sein Zorn, seinHaß und die Gefühle derOhnmacht. Dann gab er demSS-Brigadeführer Hans Rat-

tenhuber, dem Chef der für seinen persönlichen Schutz zustän-digen SS-Einheit, den Befehl: „Vernichtung der Verschwörer!“

Kaltenbrunner rief augenblicklich zwei Standgerichte zusam-men, die aber als SS-Gerichte nicht einmal die formale Zustän-digkeit besaßen und den Schein des Rechts, den sie herstellensollten, sogleich wieder zerstörten. Das eine begab sich ins Kon-zentrationslager Sachsenhausen, wo Hans von Dohnanyi festge-setzt war. Er hatte sich einige Zeit zuvor, um den Folterungendurch die Vernehmungsbeamten zu entgehen, mit Diphtherie-bazillen infiziert und davon ein schweres Herzleiden, anhalten-de Krampfzustände und Lähmungen zurückbehalten. Auf einerBahre „halb besinnungslos“, wurde er vor seine Richter getra-gen und ohne weitere Umstände, ohne selbst das zwingend vor-geschriebene Protokoll, zum Tod durch den Strang verurteilt.

Ähnlich war es in Flossenbürg, wo zwei Tage später, am 8.April 1945, das andere Standgericht zusammentrat, um Canaris,Oster, Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, den Abwehr-HauptmannLudwig Gehre sowie den Heeresrichter Karl Sack zu verurtei-len. Von Oster wird berichtet, daß er dem noch immer nach Aus-wegen suchenden Canaris während der Gegenüberstellung ent-gegenhielt: „Ich kann nichts anderes aussagen, als was ich weiß.Ich bin doch kein Lump!“, und sich leidenschaftlich zu seiner Tatbekannte. Am Ende wurden alle zum Tode verurteilt.

Im Morgengrauen des folgenden Tages fanden die Hinrich-tungen statt. Die Verurteilten wurden in die Badezelle geführt,wo sie sich nackt auszuziehen hatten, und dann einzeln über denHof zum Galgen getrieben. Im Gebälk eines offenen Holzdachswaren Haken angebracht worden, darunter standen Trittbret-ter, die sie auf ein Kommando hin bestiegen. Dann wurde ihnendie Schlinge um den Hals gelegt und das Trittbrett weggestoßen.Die Leichen wurden verbrannt. Je aussichtsloser die Kriegslagewurde, desto summarischer war auch die große Abrechnung, die

Hoffnung bis zuletzt, Hitlerim Dialog die Augen zu öffnen

Angeklagter Moltke vor dem Volksgerichtshof

52 DER SPIEGEL 28/1994

damit einsetzte, und das Strafgericht traf Beteiligte wie Ent-fernte.

Während der gesamten Zeit, im Abstand von zunächst einerWoche und später von jeweils etwa 14 Tagen, hatten die Pro-zesse ihren Fortgang genommen.

Am 9. und 10. Januar 1945 stand Moltke zusammen mit Al-fred Delp, Eugen Gerstenmaier und einigen weiteren Kreisau-er Freunden vor Gericht, und es war eher ein prozeßtechni-scher als ein innerer Zusammenhang, der den schon am 19. Ja-nuar 1944 verhafteten Juristen jetzt so eng mit dem gescheiter-ten Staatsstreich in Verbindung brachte. Schon unmittelbarnach dem 20. Juli hatte er bemerkt: „Wenn ich frei gewesenwäre, wäre das nicht passiert“, und ganz entsprechend hat erauch im Verlauf der Verhandlung an seinen Vorbehalten ge-gen jeglichen Gewaltakt festgehalten.

rotz dieses Abstands hat womöglich kein anderer so wie erdas tiefste Dilemma des Widerstands zum Ausdruck ge-Tbracht. Die Protokolle auch dieser Gerichtssitzung sind

verlorengegangen. Aber es gibt zwei Briefe von Moltke, beidekurz nach der Verhandlung am 10. und 11. Januar 1945 an sei-ne Frau geschrieben und durch Gefängnispfarrer Poelchau ausder Zelle gebracht, die mehr als nur persönliche Bekenntnissesind. In ihrer Mischung aus Gedankenstolz, Tatverachtungund ins Religiöse gewendetem, fast Kleistschem Todesjubelverweisen sie auf größere Zusammenhänge und sind, wie einerder frühen Chronisten des Widerstands nicht ohne Grund be-merkt hat, nur „mit Grausen und Bewunderung“ zu lesen.

Sie beginnen mit einer ausführlichen Schilderung der Ver-nehmungen, in deren Verlauf Freisler bemüht war, nichtGoerdeler, sondern den Kreisauer Kreis, „diese jungen Män-ner“, als geheimen „Motor“des 20. Juli auszugeben. Undes fand nicht nur Moltkes Zu-stimmung, sondern machtesein ganzes, wieder und wie-der hervorgehobenes Glückaus, daß Freisler zuletzt allekonkreten, auf praktischeoder organisatorische Anstal-ten zielenden Vorwürfe fal-lenließ und statt dessen den„Defätismus“ des Denkens,die christlichen und ethischenGrundsätze, zu denen er undseine Freunde zurückwollten,als das eigentlich strafwürdigeVerbrechen bezeichnete.

„Letzten Endes“, schriebMoltke, „entspricht diese Zu-spitzung auf das kirchlicheGebiet dem inneren Sachver-halt und zeigt, daß Freislereben doch ein guter politi-scher Richter ist. Das hat denungeheuren Vorteil, daß wirnun für etwas umgebrachtwerden, was wir a) getan ha-ben und was b) sich lohnt. Wir haben keine Gewalt anwen-den wollen – ist festgestellt; wir haben keinen einzigen orga-nisatorischen Schritt unternommen, mit keinem einzigenMann über die Frage gesprochen, ob er einen Posten über-nehmen wolle – ist festgestellt; in der Anklage stand es an-ders. Wir haben nur gedacht, und zwar eigentlich nur Delp,Gerstenmaier und ich. Und vor den Gedanken dieser dreieinsamen Männer, den bloßen Gedanken, hat der NS einesolche Angst, daß er alles, was damit infiziert ist, ausrottenwill. Wenn das nicht ein Kompliment ist. Wir sind nach die-ser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus

jeder praktischen Handlung heraus, wir werden gehenkt,weil wir zusammen gedacht haben. Freisler hat recht, tau-sendmal recht; und wenn wir schon umkommen müssen,dann bin ich allerdings dafür, daß wir über dieses Themafallen. Vivat Freisler!“

Es ist hier auf wenigen Zeilen zusammengerafft, was amWiderstand gegen Hitler erinnerungswürdig bleibt, doch sei-ne Schwäche und der tiefste Grund seiner Vergeblichkeitauch. Denn der „Goerdeler-Mist“ war nichts anderes als daspragmatische Verhältnis zur Welt, zu den Menschen undden Kräften, kurzum zur Wirklichkeit. Diese Emphase derDistanz war eigentlich allen oppositionellen Gruppen eigen,den einen mehr, den andern weniger, und hat sie auch umihre Wirkungsmöglichkeiten gebracht, zumal die Gegenseitedie Unterscheidung nicht mitmachte und das Denken immerzugleich als Tun erachtete.

Am 12. Januar erging das Todesurteil, und am 23. Januarwurde Moltke zusammen mit neun weiteren Häftlingen hin-gerichtet. Nur einige Tage später, als Freisler soeben dieVerhandlung gegen Fabian von Schlabrendorff aufgerufenhatte, heulten die Alarmsirenen. In dem schwersten Luftan-griff, der im Verlauf des Krieges auf Berlin niederging, be-schädigte eine Bombe das Gebäude in der Bellevuestraße,in dem die Sitzungen des Volksgerichtshofs unterdessenstattfanden.

Ein herabstürzender Balken traf Freisler am Kopf, er hieltdie Akte Schlabrendorff umklammert, sonst war niemandverletzt. Ein von der Straße herbeigerufener Arzt stellte nurseinen Tod fest; es war der Bruder Rüdiger Schleichers, denFreisler am Tag zuvor zum Tode verurteilt hatte. Die Ver-handlung mußte ausgesetzt werden, und als der Fall Mitte

März erneut aufgegriffenwurde, erreichte Schlabren-dorff unter Hinweis auf dieerlittenen Foltern einen Frei-spruch.

Wie Fabian von Schlabren-dorff überlebten einige wei-tere Beteiligte, darunter na-hezu alle Freunde Tresckowsaus der Heeresgruppe Mitte:Philipp von Boeselager,Gersdorff, Breitenbuch; vonden Angehörigen des Krei-sauer Kreises unter anderemEinsiedel, Trotha, von derGablentz und der Jesuitenpa-ter Rösch, ferner Gersten-maier, der die Rolle des nai-ven, durch die fremde Weltder Politik stolpernden Theo-logen derart überzeugend ge-spielt hatte, daß Freisler ihnzu lediglich sieben JahrenZuchthaus verurteilte. HansGisevius gelang es, dank sei-ner Auslandsverbindungen,insbesondere durch das Ein-

greifen von Allen W. Dulles, des Leiters der Organisationfür Strategische Dienste „OSS“ in Bern, in die Schweiz zufliehen, die Brüder Hammerstein überlebten in Verstek-ken.

Als einen Monat später die Rote Armee zum Angriff aufBerlin ansetzte, ging der Rachefeldzug zunächst ungestörtweiter. Denn noch immer waren die Gefängnisse überfülltmit politischen Häftlingen, die entweder bereits verurteiltwaren oder ihren Prozeß erwarteten. Am 14. April gabHimmler den Befehl, daß keiner der Inhaftierten überlebendürfe.

„Wir werden gehenkt, weilwir zusammen gedacht haben“

Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee

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Aber die Ereignisse schlugen jetzt über Himmler und derGestapo zusammen. Am 21. April, dem Tag, an dem Hitler,aufs höchste erregt, General Koller in Wildpark-Werder an-rief und ihm mitteilte, daß das Stadtzentrum schon unter Feu-er liege, wurden elf noch nicht Verurteilte freigelassen. Am23. April folgten weitere Entlassungen.

Im Gefängnis an der Lehrter Straße hatte die SS bereits mitder Auflösung der Anstalt begonnen. Auch hier waren 21 we-niger Belastete freigesetzt worden. Den übrigen hatte manversichert, sie würden vom Prinz-Albrecht-Palais aus auf frei-en Fuß gesetzt werden, und zog mit ihnen gegen ein Uhrnachts bei regnerischem Wetter los. An der Invalidenstraßebogen die begleitendenSS-Mannschaften je-doch unter einem Vor-wand von der Straße ab,führten die Häftlingeauf ein Trümmergelän-de und gaben ihnen al-len auf das Kommando„Fertigmachen, los!“den Genickschuß. Un-ter den Ermordeten be-fanden sich Klaus Bon-hoeffer, Rüdiger Schlei-cher, Friedrich-JustusPerels und AlbrechtHaushofer.

Von den Zurückge-bliebenen wurden amfolgenden Tag noch ein-mal einige freigelassenund die übrigen an-schließend den Justizbe-hörden übergeben.Aber nach Mitternachterschien erneut ein SS-Kommando, nahm dreider Gefangenen mit undermordete sie: Albrechtvon Bernstorff, Karl-Ludwig von Guttenberg und den Gewerkschaftsführer ErnstSchneppenhorst.

In den Debatten der zurückliegenden Jahre hatte Goerdelerstets die Auffassung vertreten, die erste und erfolgverspre-chendste Aufgabe der Verschwörer sei es, die Bevölkerung überdie Verbrechen des Regimes aufzuklären: über die vorsätzlicheEntfesselung des Krieges, die weit über alle Begriffe hinausrei-chende Korruption, die Praktiken der Einsatzgruppen, die Vor-gänge in den Vernichtungslagern und anderes mehr. Ein Schreider Entrüstung, so hatte er geglaubt, werde laut werden und Hit-ler mitsamt seinen Komplizen wie von selbst beseitigen.

Das Scheitern des Attentats und das Unvermögen der Betei-ligten, mit einer Kundmachung vor die Öffentlichkeit zu treten,haben es dazu nicht kommen lassen. Es war nun nicht mehr diegläubige Bewunderung von einst, die die Massen an Hitler band,sondern das dumpfe, fatalistisch getönte Gefühl einer Verket-tung, aus der es kein Entrinnen gab.

o blieben Opposition und Widerstand, was sie von Beginnan gewesen waren: eine Stimmung womöglich bei nicht we-S nigen, aber die Tat und die Konsequenz einer geringen

Minderheit. Der Vereinzelung, die sie stets begleitet hat, ent-kam sie auch nach dem Ende der Hitler-Jahre nicht. In fatalerÜbereinstimmung haben die Propagandatechniker des Regimesund die Wortführer der gegnerischen Mächte im Verlauf derletzten Phase des Krieges ihre Tat verkleinert und ihre Beweg-gründe herabgesetzt. Churchill beschrieb den 20. Juli im Unter-haus als inneren, mörderischen Streit um die Macht, und aus

Moskau begrüßte Rudolf Herrnstadt das Scheitern dieses letz-ten Versuchs von „Herrenclub, Reaktion usw.“

Das setzte sich über das Ende des Regimes im Mai 1945 hin-aus fort. Der Widerstand scheiterte noch einmal. So wenig wiein den zurückliegenden Jahren stieß er auf Zustimmung odernur Verständnis, weder von außen noch im Innern.

Geraume Zeit untersagten auch die Besatzungsbehörden al-le Veröffentlichungen zum Widerstand oder stellten ihnendoch Hindernisse in den Weg. Ulrich von Hassells Tagebüchererschienen zuerst in der Schweiz, dann in Schweden, Fabianvon Schlabrendorffs „Offiziere gegen Hitler“ stand ebenso aufdem Index wie Rudolf Pechels „Deutscher Widerstand“.

Abwehr und Vernei-nung waren überall ver-breitet. In den amerika-nischen Gefangenen-und Internierungslagernsahen Offiziere aus demWiderstand sich unter-schiedslos mit nach wievor Hitler-treuen Gene-rälen oder Angehörigender SS zusammenge-sperrt: Die These vonder Identität zwischenFührer und Volk bliebweiterhin gültig. Wer imKampf gegen das Re-gime sein Leben aufsSpiel gesetzt hatte, wur-de über Jahre und oft-mals länger als seine Ge-genspieler von gesternfestgehalten.

Im Sommer 1947 ent-ließ die amerikanischeMilitärverwaltung Hit-lers Heeresadjutanten,General Gerhard Engel,und eine Anzahl von Ge-neralstabsoffizieren aus

der Kriegsgefangenschaft. Den zurückgehaltenen Generalma-jor von Gersdorff, der sich im März 1943 mit Hitler hatte in dieLuft sprengen wollen, belehrte der Lagerkommandant, warumer weiterhin im Lager bleiben müsse: „Der General Engel hat inseinem ganzen militärischen Leben gezeigt, daß er stets nur dieihm gegebenen Befehle ausführt. Er wird uns auch im Zivillebenkeinen Widerstand leisten und ist daher für uns keine Gefahr.Sie aber haben bewiesen, daß Sie gegebenenfalls Ihrem Gewis-sen gehorchen und dann unter Umständen unseren Anordnun-gen nicht Folge leisten würden. Deshalb sind Leute wie Sie oderauch der (ebenfalls weiterhin gefangengehaltene, d. Verf.) Ge-neral von Falkenhausen für uns gefährlich. Aus diesem Grundemüssen wir Sie noch weiterhin in Gewahrsam behalten.“

Zur Überlieferung des Widerstands gehört das Bild des in ei-ner Zelle im Keller des Reichssicherheitshauptamts vereinsam-ten Carl Goerdeler. Zu Beginn des Jahres 1945 unternahm ernoch einmal einen Versuch, das Schweigen zu durchbrechen,das über allem zusammenzuschlagen begann, was er und seineMitverschworenen gedacht und gewollt hatten.

In seiner letzten Denkschrift meldet sich die Ahnung, ob ernicht doch in die Irre gegangen und seine Anstrengung vergeb-lich gewesen sei, Hitler von der Katastrophe abzuhalten. Erhoffte auf Freunde, die längst hingerichtet waren, notierte Erin-nerungen, wandte sich an die Jugend, die Nachwelt und unter-brach die Niederschrift gleichsam mitten im Satz, einem Kata-rakt verzweifelter Grübeleien über den „gleichgültigen Gott“,die Verlorenheit der guten Sache und den Triumph des Bösen,„über Schuld und Gerechtigkeit“. �

Eine Kamera verfolgte jeden Schritt derVerurteilten bis unter die Haken