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Einleitung Sind die modernen Zuschreibungen der Geisteskrankheiten lediglich das Produkt der Entwicklung einer rationalen Methode und wissenschaftlichen Sprache, oder steckt mehr hinter diesen Manifestationen, die uns teilweise Angst machen, da sie andeuten, wie zerbrechlich die Vernunft ist. In traditionellen Gesellschaften ist der Wahn in Feste und Heilungsrituale eingebunden, wohingegen wir diese Formen der kollektiven Exaltation nicht mehr kennen, weil wir sie aus unserer vom Nützlichkeitsdenken bestimmten Gesellschaft verdrängt zu haben scheinen. Diese Arbeit folgt von einem persönlichen Dokument ausgehend den Fährten, die von der Trance und der Besessenheit im rituellen Rahmen bis hin zu den Geisteskrankheiten in der Moderne führen, um zu rekonstruieren, was unter dem Konzept der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu verstehen ist. Im ersten Teil wird hierfür ausgehend von einem Brief, den Bastide an Duvignaud richtete die Konzeption der Geisteskrankheiten als Fest dargestellt, in der Bastide seinen eigenen Ansatz wieder erkannte (S. 2- 9). In einem zweiten Schritt wird anschließend ausführlich Bastides Beitrag zur Soziologie der mentalen Krankheiten (S. 9- 12) mit besonderem Fokus auf das Sakrale (S. 12- 21) skizziert. Hierbei wird sich herausstellen, dass das Sacré ein recht vager Begriff ist und das Konzept der Krankheiten des Sacré sich nicht unmittelbar erschließen lässt. Aus diesem Grund war es nötig die Verwendung des Terminus im Werk von Bastide zu erläutern (S. 21- 24). Dieser Umweg scheint den Schlüssel zum Verständnis des Konzeptes der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu liefern, das trotz allem recht vage zu bleiben scheint und nicht ohne zu Hilfenahme von Interpretationen verständlich wird. Ziel der vorliegenden Arbeit besteht vorrangig darin, die Ausführungen Bastides zu einer sakralen Soziologie der mentalen Krankheiten herauszustellen und die Argumentation zu entschlüsseln. Auf eine ausführliche Kritik der Konsistenz der Thesen wurde hierbei verzichtet, da es bedeutender schien ein Verständnis zu bahnen, als zu dekonstruieren. Anstatt einer methodologischen Kritik findet sich in der Zusammenfassung (S. 24- 27) ein Vergleich der Thesen von Bastide und Duvignaud, die auf jeweils eigene Weise versucht hatten einen Zugang zum Problem der Geisteskrankheiten in der Moderne zu bahnen. 1

Roger Bastide und das Konzept des Sacré sauvage

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Einleitung

Sind die modernen Zuschreibungen der Geisteskrankheiten lediglich das Produkt der

Entwicklung einer rationalen Methode und wissenschaftlichen Sprache, oder steckt

mehr hinter diesen Manifestationen, die uns teilweise Angst machen, da sie andeuten,

wie zerbrechlich die Vernunft ist. In traditionellen Gesellschaften ist der Wahn in Feste

und Heilungsrituale eingebunden, wohingegen wir diese Formen der kollektiven

Exaltation nicht mehr kennen, weil wir sie aus unserer vom Nützlichkeitsdenken

bestimmten Gesellschaft verdrängt zu haben scheinen.

Diese Arbeit folgt von einem persönlichen Dokument ausgehend den Fährten, die von

der Trance und der Besessenheit im rituellen Rahmen bis hin zu den Geisteskrankheiten

in der Moderne führen, um zu rekonstruieren, was unter dem Konzept der mentalen

Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu verstehen ist.

Im ersten Teil wird hierfür ausgehend von einem Brief, den Bastide an Duvignaud

richtete die Konzeption der Geisteskrankheiten als Fest dargestellt, in der Bastide seinen

eigenen Ansatz wieder erkannte (S. 2- 9).

In einem zweiten Schritt wird anschließend ausführlich Bastides Beitrag zur Soziologie

der mentalen Krankheiten (S. 9- 12) mit besonderem Fokus auf das Sakrale (S. 12- 21)

skizziert. Hierbei wird sich herausstellen, dass das Sacré ein recht vager Begriff ist und

das Konzept der Krankheiten des Sacré sich nicht unmittelbar erschließen lässt. Aus

diesem Grund war es nötig die Verwendung des Terminus im Werk von Bastide zu

erläutern (S. 21- 24). Dieser Umweg scheint den Schlüssel zum Verständnis des

Konzeptes der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu liefern, das trotz

allem recht vage zu bleiben scheint und nicht ohne zu Hilfenahme von Interpretationen

verständlich wird.

Ziel der vorliegenden Arbeit besteht vorrangig darin, die Ausführungen Bastides zu

einer sakralen Soziologie der mentalen Krankheiten herauszustellen und die

Argumentation zu entschlüsseln. Auf eine ausführliche Kritik der Konsistenz der Thesen

wurde hierbei verzichtet, da es bedeutender schien ein Verständnis zu bahnen, als zu

dekonstruieren. Anstatt einer methodologischen Kritik findet sich in der

Zusammenfassung (S. 24- 27) ein Vergleich der Thesen von Bastide und Duvignaud, die

auf jeweils eigene Weise versucht hatten einen Zugang zum Problem der

Geisteskrankheiten in der Moderne zu bahnen.

1

1. Duvignauds Konzeption der Geisteskrankheiten als Fest

Am 9. Oktober 1973 sandte Bastide einen Brief an Duvignaud, in dem er sich für die

Zusendung von „Fêtes et Civilisations“1 bedankt und bezüglich des Inhalts ausführt:

„Mein werter Freund!

Ich schreibe Ihnen aus Andiye, wo ich mich nach unserer Reise durch Brasilien erhole, solange dieschönen Tage andauern. Vielen Dank für Ihre „Fêtes“. Sie waren für mich ein wahrliches Fest, weilbestimmte Bücher ebenso Feste sein können, die einen trunken machen, einen in die wonnigstenVerzückungen eintauchen lassen (ist das nicht eine Halb- Trance, da man danach nicht mehr arbeitenkann und wenn man die Lektüre der Thesen wieder aufnimmt, so sehr tanzen die Ideen im Geist undlassen einen in außerordentlicher Verzückung ausharren). Ich danke Ihnen wahrhaftig für diese Freude,die ich empfunden hatte, als ich Sie las, es gibt so viele Dinge und neue Dinge über den Barock, über denCandomblé, über die mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré (eine mir altbekannte Vorstellung,die erklärt, warum ich mich aus Ermangelung des Candomblé in Paris der Psychiatrie zugewandt hatteund ich freue mich darüber, dies in Ihrem Text bestätigt zu finden) und viele andere Dinge noch, dieeinem den Kopf verdrehen.

Gewiss war ich mit Ihnen nicht immer einer Meinung, wenn Sie mich entgegen meines Willensnicht in Ihr Fest der Intelligenz miteinbeziehen. Beispielsweise hinsichtlich dem Fest als Zerstörung (dasist nicht seine letztgültige Definition, das ist der Charakter eines Festes in einem bestimmten Moment,reklamiert der Soziologe in mir)- oder die Entdeckung der Unschuld der Natur (das ist für mich dieEntdeckung des Sacré, doch ist das keine Frage der Wörter, denn wir wissen nicht mehr, so denke ich,weder was die Natur ist, noch das, was das Sacré ist: vielleicht wäre es besser von einer Andersartigkeitoder einer Transzendenz zu sprechen? Ich ziehe es jedoch vor, mich dem Vergnügen hinzugeben, das Sieuns in dieser Überfülle verschaffen.

Eine kurze Geschichte über den Mai ´68, um zu schließen. Meine kleine Tochter, deren Eltern siezur Sorbonne begleitet hatten, sagte beim Herausgehen:“Es ist ein Glück hier zu arbeiten Papi, das istein Jahrmarktsfest“ und sie wollte nicht weggehen...

mit meinen besten Erinnerungen

Roger Bastide“2

Der Inhalt dieses Briefes verweist auf eine Reihe intellektueller Gemeinsamkeiten der

Interessen, die Bastide und Duvignaud miteinander verband. Für die vorliegende Arbeit

ist jedoch vorrangig der Verweis auf die mentalen Krankheiten als Krankheiten des

Sacré von Belang. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, was die Autoren darunter

verstanden haben, bietet es sich an von dem entsprechenden Kapitel aus „Fêtes et

Civilisations“ auszugehen, um somit einen Ausgangs- und Zugangspunkt zum

1 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984). Dieses Werk erschien erstmals 1973. Die folgenden Ausführungen dieser Arbeit basieren auf der 1984 publizierten zweiten Auflagen. Inwiefern sich die Erstausgabe von der hier verwendeten

unterscheidet, konnte ich leider nicht ausfindig machen. Das Vorwort zur zweiten Edition (S. 7- 10) gibt darüber keinen Aufschluss.

2 Jean Duvignaud, Le Pandémonium du présent: Idées sages, idées folles (Tours 1998), S. 184.

2

Verständnis des Konzeptes zu schaffen.

Duvignaud interessierte sich in diesem Buch nicht für das Fest im Sinne der

Notwendigkeit der sozialen Stabilität, einer geregelten Transgression im Sinne von

Caillois und Bataille, sondern als regellose Aufsprengung der Normen.3 Eine seiner

wissenschaftlichen Anstrengungen bestand darin, zu verstehen, „wie vom Kollektiven

ausgehend, das Individuum zu Tage tritt.“4 Aus diesem Grund führt die Studie der Feste

hier zu anderen Ergebnissen als der Aufdeckung von Klassifikations- und

Symbolsystemen.5 Besonders im Hinblick auf die modernen, „industriellen“

Gesellschaften stellt sich die Frage, welchen Transformationen die Manifestationen des

Festes unterlegen sind. Das Fest scheint der Verdrängung zum Opfer gefallen zu sein

und die Entwicklung der mentalen Krankheiten wie der Schizophrenie oder der

Paranoia sind demnach nicht nur das Resultat der Heraufkunft einer wissenschaftlichen

Sprache.6 Die Geisteskrankheiten, in denen sich die Betroffenen selbst von ihrer eigenen

Vernunft ausgehend zerstören, dürften demnach zumindest teilweise als Entsprechungen

der Trance gewertet werden. Als schillernde Beispiele dieser tragischen Wende, die das

Fest in die innere Einsamkeit poetischer Schaffenskraft verlagert hat, stehen in der

Moderne unter anderem Hölderlin, Lenz, Nietzsche und Artaud.7

Diese eingangs recht vage formulierten Reflexionen über den Zusammenhang zwischen

Fest und mentalen Krankheiten werden im letzten Kapitel von „Fêtes et Civilisations“

wieder aufgegriffen und die historischen Prozesse, über die die einstigen Momente

kollektiver sozialer Gärung in den Wahnsinn abgedriftet sind, näher ausgeführt.8

3 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 8- 9.4 ebenda, S. 8.

Ähnliche Formulierungen findet man in seinen Werken verstreut immer wieder, so z.B:„Die soziologische Kritik sollte den Unterschied ersichtlich machen, der zwischen dem regulativen Bild, das jenem des Staates ähnlich ist, und einer Erfahrung besteht, die sich auf einer Gruppendynamik gründet, die von einem einmaligen und schöpferischen Ensemble ergriffen wird.“Jean Duvignaud, Indroduction à la sociologie (Saint Amand 1975), S. 15.oder:„Das Privatleben, die winzigen Geselligkeiten, die Gastlitchkeiten, die Nischen ähneln den Individuen mehr als die großen nationalen oder ideologischen Einheiten: kann man hier eine Verteidigung gegen die Macht des Staates und der Abstraktion der obsoleten Ideologien sehen, die die politischen Klasse unterhalten? Man entdeckt hier auch die besondere Form einer Anomie, die außerhalb der traditionellen Regeln dem Menschen in engen Kreisen seine existenzielle Fülle zu geben sucht.“

Jean Duvignaud, Hérésie et subversion: Essais sur l´anomie (Mayenne 1986), S. 170.5 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 14.6 ebenda, S. 14- 15.7 ebenda, S. 15.8 ebenda, S. 237- 262.

3

Die Mystiker, so Duvignaud, durchlebten eine Erfahrung, die nicht von der Sprache

beherrscht wurde.9 So habe beispielsweise Theresa von Avila vor der Niederschrift ihrer

Gedichte ihre Gefährten zu wundersamen Trommeltänzen angestachelt, Zeremonien, die

jenen der Besessenheitskulte ähnlich scheinen. Unter anderem soll sie davon

ausgegangen sein, dass ihr das Hohelied des Salomon das Geheimnis göttlicher Liebe

offenbaren könne, eine Erfahrung, die sich nicht einfach auf Worte reduzieren lässt.

Duvignaud verweist darauf, dass sie erst nach den Bitten ihrer Prioren die körperlichen

Formen der Ekstase aufgegeben habe, um der mystischen Energie der Erfahrung in der

Poesie Ausdruck zu gewähren. 10

Die Schrift, die gerne als Indiz für die Überlegenheit der westlichen Kultur über die

anderen gesehen wird, hat sich selbst erst durch die Zerstörung anderer Formen der

Kommunikation durchgesetzt, die unter anderem von der Inquisition eifrig befördert

wurde.11 Letztere verhalf der Schrift zum Sieg über die orphischen Formen der Existenz,

der Besessenheit und der Erotik. Die durch Folter erzwungenen Geständnisse,

unabhängig von der Frage, ob die Verbrechen nur in der Imagination der Henker

existierten, verwandelten die Schmerzen in eine Sprache, die sich wiederum in den

Diskurs der Inquisition einfügten.

Der Körper als Instrument der Erfahrung tritt ab dem Moment in den Hintergrund, da

die Mystiker nicht mehr ihr Fleisch, sondern ihre Psyche zum Gegenstand göttlicher

Vereinigung erklären.12 In der europäischen Mystik wird das, was in der Trance

schreiende und gefühlte Erfahrung ist, zu einer Metapher.13 In beiden Fällen geht es

darum eine unbeschreibliche Realität wiederzugeben. Während der von seinem Gott

besessene Tänzer jedoch in der Identifikation mit dem was er begehrt endet, so

Duvignaud, „besteht zwischen dem was man bezeichnet und dem was man erreichen

kann ein unendlich großer Abstand.“14

Die Sprache ist zum Gefängnis des modernen westlichen Menschen geworden.15 Die

Regung der Sinne in der Trance wird zu einer Abwesenheit des Inhalts in der Mystik.

9 ebenda, S. 240.10 ebenda, S. 240- 241.11 ebenda, S. 241.12 ebenda, S. 242.13 ebenda, S. 242- 243. 14 ebenda, S. 243.

Es scheint nicht ganz klar, ob die sprachlich formulierte Mystik allgemein die Vereinigung mit Gottnicht erfahrbar machen kann, oder ob der auf die Erfahrung folgende Text diese nicht vermitteln kann.

15 ebenda, S 244.

4

Die Sprache absorbiert diese körperliche Energie und gliedert das, was einst Geste war,

über die Metapher in den Diskurs mit ein.

Duvignaud sieht in der poetischen Kraft der Gedichte von Theresa von Avila und

Johannes vom Kreuz Anzeichen dafür, dass diese Mystiker eine dem Candomblé und

dem Voodoo ähnliche Praxis entwickelt hatten, in der die Metapher nicht bloß Allegorie

ist.16 Die Übertragung der Besessenheit in Sprache und Poesie hat aber letztendlich

Europa in ähnlicher Weise erschüttert wie das Aufkommen der Marktwirtschaft und die

technischen Errungenschaften. Das, was ein körperliches Mittel ist, um sich in der

Trance für eine bestimmte Zeit von der Gesellschaft loszureißen, wandelt sich in unserer

Kultur zu Paranoia und Schizophrenie. Nicht selten haben Mediziner die sozialen

Formen der Besessenheitskulte aufgrund ihrer klinischen Erfahrungen an einzelnen

Subjekten mit Manifestationen von Geisteskrankheit in Verbindung gebracht.17 Wenn

der Arzt die Hysterie mit der Trance vergleicht, so besteht aber dahingegen ein

Unterschied, da der Psychiater in der Regel seinen Patienten nicht zur Identifikation in

der Besessenheit leitet, sondern ihm diesen Weg versperrt und im Raum der Sprache

gefangen hält.18

Duvignaud stellt hier nun die Hypothese auf, dass sich Trance und Geisteskrankheit von

einer Gesellschaft zur anderen ineinander umwandeln.19 Während es auf der einen Seite

den Menschen gewährt wird die transkulturellen Zustände der Trance und Besessenheit

zu erreichen, wird ihnen auf der anderen Seite unter dem Vorzeichen der psychischen

Erkrankung lediglich der Wert des Gestammels von Individuen zuerkannt, „die durch

die Störung normaler Funktionen hindurch verzweifelt nach Kommunikation suchen.“

Duvignaud zieht in Folge das Modell von David Cooper zu Rate, um zu erklären,

warum das Fest aus unserer Gesellschaft fast vollständig verschwunden ist. Dieser

Psychiater beschreibt, dass jedes Individuum vom Moment seiner Geburt an auf einen

Weg gebracht wird, der über die Institutionen der Familie und der Schule dem Eintritt

ins Leben und in die Kultur gleichzusetzen ist. Die Entwicklung der meisten Menschen

geht nicht über das Erreichen des Zustandes der gesellschaftlichen Normalität und des

Annehmens einer Rolle sowie des Akzeptierens eines Status hinaus.20 Einige schlagen

16 ebenda, S. 245.17 Roger Bastide, Transe mystique, psycho- pathologie et psychiatrie, in: ders. (Hrsg.), La rêve, la transe

et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 87- 90.18 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 245.19 ebenda, S. 246.20 ebenda, S. 246- 247.

5

den umgekehrten Weg ein und landen im Wahn, während wiederum andere aus der

kulturellen Normalität heraustreten und mit dem Zustand der psychotischen Depression

eine dem Wahnsinn komplementäre Stellung einnehmen. Ein Rest, der aus wenigen

Menschen besteht, entwickelt sich über die Normalität hinweg hin zum Zustand der

Gesundheit.21 Diesen Letzteren gelingt es auch anormale und deviante Elemente in ihr

Verhalten zu assimilieren, ohne deswegen jedoch als krank zu gelten.22 Darunter fallen

unter anderem Künstler, die das Tremendum, die Selbstzweifel und den Wahn in ihre

Persönlichkeit und ihre Schöpfungen integrieren können.23 Die Politik, die Wissenschaft

und die Philosophie ermöglichen gleichfalls ähnliche Wege. Cooper stellt fest, dass die

Gesundheit und der Wahnsinn bei jenen Persönlichkeiten, deren subjektive Realität sich

mit der Natur vereinigt, zusammentrifft.24 Duvignaud verweist aber darauf, dass in dem

Aufeinandertreffen dieser scheinbaren Gegensätze stets eine Lücke bestehen bleibt, die

es unmöglich macht „die Persönlichkeit zu unterscheiden, die sich in dieser

Entdeckung isoliert und diejenige die im Wahnsinn untergegangen ist.“25 Nietzsche,

Hölderlin und Artaud liefern in ihren Biographien hierfür die Beispiele einer

Transfusion der Existenz.

Das Fest und die Transe erlauben es dem Menschen einen Zustand zu erreichen, in dem

alles möglich wird, da er in diesen Momenten auf eine Natur trifft, die seine Erfahrung

vollendet. Die Entdeckung des Anderen verändert das Subjekt, das über die

außeralltäglichen Zustände eine zerstörende Kraft aufdeckt, die das persönliche

Bewusstsein aufsprengt.26 Die Geisteskranken und die Besessenen zeugen für

Duvignaud von der Auffindung dieser Gewalt und dieses Verlangens.

Während das soziale Bewusstsein auf der Vorstellung der Geschichte und der

Wiederholung bedeutender Ereignisse gründet, die sich zu einer Struktur verfestigen,

sprengt das Fest die etablierten Regeln auf und führt den Menschen über die

Transgression zu einer Erfahrung, die außerhalb der institutionalisierten Ordnung liegt.27

Die Französische Revolution zeugt von dieser Aufdeckung natürlicher Instanzen,

21 ebenda, S. 247.Auf dieser Seite findet sich auch eine Skizze, die das Modell veranschaulicht.

22 ebenda, S. 247- 248.23 ebenda, S. 248.24 ebenda, S. 248- 249.25 ebenda, S. 249.26 ebenda, S. 250.27 ebenda, S. 250- 251.

6

„denen man nicht gegenübertreten kann, ohne aufzuhören zu sein.“28

In Griechenland sind ähnliche Phänomene unter anderem in dem Mysterienkult von

Eleusis greifbar, dessen ekstatische Formen eines Festes durch die städtische

Intellektualisierung zur geordneten Abhaltung einer Zeremonie degradiert wurden.29 Die

Techniken der Ekstase eines Mircea Eliade, so Duvignaud, werden erst dann kodifiziert,

wenn die Möglichkeiten der Auflösung in Vergessenheit geraten.30 Die Manifestationen

des Festes, die Besessenheitstänze, die Masken, die Trance und die Erotik sind

ausschließlich Vorwegnahmen des „noch nicht Erlebten“.31

Da es bislang keine Konzepte gibt diese unerwarteten Phänomene zu erfassen, die

verhindern, dass die Gesellschaften durch starre Kodifikationen versteinern und sich

abnutzen, fällt es überaus schwer das Neue zu beschreiben.32 Duvignaud postuliert, dass

die Konzepte, die davon ausgehen, dass es eine Einheit der Möglichkeiten der Sprache

und jener Formen gibt, die das menschliche Verhalten regeln, eine Glaubensvorstellung

und letztendlich eine Ideologie ist.33 Zu diesen Entwürfen zählt auch der Versuch

universelle Charakteristika aufzudecken, die für die gesamte Menschheit Gültigkeit

besitzen sollen. Hierin entdeckt der Theoretiker des Festes eine Fortführung des

Imperialismus und er kritisiert, dass die reellen Innovationen sowie die nicht auf die

Kultur zurückführbaren Elemente mit solchen Ansätzen nicht zu erfassen sind. Dies ist

umso beklagenswerter, da die Fähigkeit den Mangel zu ertragen sowie noch nicht

bekannten Emotionen entgegenzutreten und jenseits etablierter Wege zu wandeln zu den

Grundeigenschaften des menschlichen Wesens zu gehören scheint.34

Vor allem die städtischen Zivilisationsformen neigen dazu die Vielfalt der Erfahrungen

in verschriftlichte Diskurse, in Religion und in Ethik zu überführen.35 Die kollektiven

Beziehungen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft sind auf eine begrenzte Anzahl

reduziert, während das Fest diese Endlichkeit durch die Teilhabe an der Zahllosigkeit

der Möglichkeiten durchbricht.36

28 ebenda, S. 252.29 ebenda, S. 252- 253.30 ebenda, S. 253.31 ebenda, S. 254.

„le non encore vécu“32 ebenda, S. 254- 255.33 ebenda, S. 255.34 ebenda, S. 255- 256.35 ebenda, S. 256.36 ebenda, S. 259.

7

Unsere Gesellschaft der Schriftkultur hat die heftigen Manifestationen des Festes

gezähmt und in den Rahmen des Diskurses eingehüllt und somit diese Erfahrung in den

literarischen Raum überführt.37 Diese Dimension der Existenz ist jedoch selbst nur eine

zeitlich begrenzte, innerhalb der die Techniken der Übertragung des Denkens selbst ein

neues Universum zum Vorschein bringen werden. Die Schrift scheint aber bislang Verrat

an der Gewalt und der Natur, die im Fest zu Tage tritt, zu begehen.38

Das Denken von Duvignaud ist ein komplexes Universum, das den starr strukturierten

und methodologisch exakten wissenschaftlichen Gewohnheiten widerstrebt. Sein

Schüler David Le Breton charakterisiert seine Soziologie als unter dem magnetischen

Einfluss zwielichtiger Ereignisse des individuellen und kollektiven Lebens stehend, in

dessen Werken von einer Seite auf die andere ein Austausch zwischen Freunden

stattfindet, Ideen geboren werden, sich entwickeln und sich wieder wegschleichen.39

Der oben ausgeführte Ansatz, der davon ausgeht, dass die mentalen Krankheiten der

Moderne Relikte des Festes sind, eine Konzeption, die bei Bastide als Krankheiten des

Sacré ihre Entsprechung zu finden scheint, bleibt an bestimmten Stellen unklar. So lässt

sich beispielsweise fragen, ob alle Formen des Wahnsinns impliziert werden, oder ob es

sich nur um bestimmte Erkrankungen handelt. Gleichfalls bleibt eine genauere

Kennzeichnung dessen, was Duvignaud unter Natur versteht, in der Schwebe. Handelt

es sich hierbei um gleichsam zerstörerische wie schöpferische Kräfte und Triebe?

Bastide hat in seinem Brief die Reduktion des Festes auf seine destruktiven Elemente,

sowie die Auffassung über die Entdeckung der Unschuld der Natur kritisiert. Es wäre

durchaus interessant auch diese Aspekte weiter zu vertiefen, doch können die

Unklarheiten in dieser Arbeit lediglich angedeutet werden, um aufzuzeigen, dass die

Ausführungen Duvignauds nicht ohne Zuhilfenahme von Interpretationen verständlich

werden. Zieht man eine Formulierung aus „Le don du rien“ zu Rate, so wird zumindest

die in vorliegender Arbeit angenommene Deutung, dass die Geisteskrankheiten

Transformationen der kollektiven Ekstasen sind, plausibel. „Es ist möglich, dass in

unserer technologischen und rationalisierten Zivilisation, die die Bedürfnisse festlegt,

ohne die Wünsche zu berücksichtigen, die Trance und das Fest durch den Traum und

37 ebenda, S. 261.38 ebenda, S. 262.39 David Le Breton, Le théâtre du monde: Lecture de Jean Duvignaud (Québec 2004), S. 17- 20.

8

wer weiß? durch den Wahnsinn ersetzt wurden... .“40

Es wäre dahingehend ebenso interessant zu untersuchen, welchen Einfluss Batailles

Theorie über die modernen pathologischen Selbstverstümmelungen als

Transformationen des religiösen Opfers auf Duvignaud ausgeübt hatte.41 Auch in dieser

Studie, die erstmals 1930 in der Zeitschrift Documents erschien, steht wiederum ein

Künstler, Vincent van Gogh, als tragisches Beispiel für die Verbindung einer strukturell

religiösen Handlung und dem Wahnsinn.

Bastide hatte in seinem Brief betont, dass er aus der Lektüre viele neue Dinge über die

mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré gefunden hatte. Duvignaud verwendet

diese Formulierung in seinem Text nicht explizit, so dass hier eine Interpretation seitens

Bastides vorzuliegen scheint. Es bietet sich dadurch an im Folgenden zu untersuchen,

was er selbst unter diesem Konzept versteht, um abschließend zu vergleichen, inwieweit

sich beider Ausführungen decken.

2. Die Stellung der Geisteskrankheiten im Werk von Bastide

Bastide verwies in dem Brief an Duvignaud darauf, dass er sich in Paris aus

Ermangelung des Candomblé der Psychiatrie zugewandt hatte. Nachdem er zwischen

1938 und 1954 die Nachfolge von Lévi- Strauss an der Universität von São Paulo

ausgeübt hatte, kehrte er wieder nach Frankreich zurück, wo er 1958 zum Professor für

Soziologie an der Sorbonne ernannt wurde.42 Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr

nach Paris machte er sich daran in seinen Seminaren die Geisteskrankheiten aus den

unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten, indem er unter anderem Psychiater,

Ethnologen und Afrikanisten als Vortragende und Ratgeber einlud.43

1959 gründete er das Centre de Psychiatrie sociale, das zunächst in Centre Charles

Richet und schließlich in CREDA umbenannt wurde. Diese Einrichtung, an der Bastide

mit Baruk, Morazé, Devereux und Raveau zusammenarbeitete, hatte sich thematisch

unter anderem der Erforschung psychischer Erkrankungen in Folge von

40 Jean Duvignaud, Le don du rien (Condé sur Noireau 2007), S. 75.41 Georges Bataille, La mutilation sacrificielle et l´oreille coupée de Vincent van Gogh (Paris 2009), S.

7- 32.42 François Laplantine, Préface, in: Roger Bastide, Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq

2003), S. 8, Anm. 2.43 Claude Ravelet, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la

psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 18.

9

Adaptionsschwierigkeiten bei Immigranten, sowie des Einflusses der Erfahrungen im

Konzentrationslager auf die Psyche verschrieben.44 Das Forschungszentrum wurde 1996

geschlossen und die Dokumente wurden in das Archiv des IMEC in Saint Germain la

Blanche Herbe überführt.

Obgleich die intensive Phase der Beschäftigung mit den psychiatrischen Erkrankungen

unter soziologischen Gesichtspunkten erst mit der Rückkehr aus Brasilien beginnt, ist

die Auseinandersetzung mit den morbiden Phänomenen des Geistes bereits in seinen

frühen Schriften greifbar. Sowohl 1928 in „Mysticisme et sociologie, 1931 in „Les

problèmes de la vie mystique“ als auch 1934 in „Mysticisme“ verarbeitet er unter

anderem die Fallstudie Madeleine von Pierre Janet.45 Im Gegensatz zu dem Psychiater,

der vorwiegend Analogien zwischen den mystischen Zuständen der Theresa von Avila

und den pathologischen Symptomen seiner Patientin herzustellen vermeinte, kommt

Bastide in „Les problèmes de la vie mystique“ zu dem Schluss, dass die Mystik keine

Krankheit ist, da ein fundamentaler Unterschied zwischen Madeleine und der Heiligen

Theresa besteht.46 Während Erstere durch ihre Zustände vom Handeln abgehalten wird,

war Theresa dazu in der Lage zugleich zu beten sowie zu arbeiten und somit sowohl

moralisch als auch sozial in die Gesellschaft eingebunden. Der Irrtum vieler

Psychologen, so führt Bastide an einer anderen Stelle aus, bestand darin, dass sie

willkürlich eine Interpretation auf alle Mystiker ausgeweitet haben, die jedoch nur für

begrenzte Fälle Gültigkeit besitzt.47 Die Vertreter der pathologischen These haben den

entscheidenden Teil übersehen, dass die Mystik nicht nur eine Auflösung des Ich ist,

sondern sie in der Regel zur Schaffung eines neuen Ich führt.48

Auch in seiner 1958 veröffentlichten Monographie über den Candomblé zeigt sich

Bastide darum bemüht ein weiteres religiöses Phänomen, diesmal die Besessenheit

gegen das Vorurteil der Pathologie zu verteidigen.49 Eine Reihe von Forschern, die sich

mit der Trance auseinandergesetzt hatten, haben dieses Phänomen mit der Hysterie, der

Autosuggestion und dem Hypnotismus in Verbindung gebracht und in den Rahmen der

44 http://www.imec-archives.com/fonds/bastide-roger/ (Zugriff: 02.03.2014 19:15).45 Claude Ravelet, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la

psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 16- 17.46 Roger Bastide, Les problèmes de la vie mystique (Paris 1931), S. 153.47 ebenda, S. 163.48 ebenda, S. 168.49 Roger Bastide, Le candomblé de Bahia: Transe et possession du rite du Candomblé (La Flèche 2001),

S. 218- 220.

10

psychiatrischen Konzepte gestellt.50 Bastide wendet demgegenüber ein, dass es dann

aber nur möglich wäre chaotische Bewegungen oder rituelle Symbole frühkindlicher

Traumata aufzudecken.51 Ungeordnete Aspekte bleiben im Candomblé in der Regel

jedoch auf die Trance noch nicht Initiierter beschränkt.52 Einige Orixá stacheln ihre

menschlichen Pferde zwar zu heftigen Bewegungen an, doch die hier zum Vorschein

kommende Gewalt ist kein pathologisches Symptom, sondern Ausdruck einer im

Mythos verankerten Rolle. Die Tänze der Besessenheitskulte folgen sozial

sanktionierten Choreographien und wenn sich anormale Elemente in die Gesten

einschleichen, reagieren die leitenden Priester mit entsprechenden Ritualen darauf.53

Bastide geht es in den beiden genannten Werken über die Mystik und den Candomblé

an den entsprechenden Stellen darum, zu erweisen, dass die ekstatischen Elemente der

Religionen keineswegs krankhafte Äußerungen, sondern normale und strukturierte

Manifestationen sind. Die tieferliegende symbolische Bedeutung der Konvulsionen der

Körper lässt sich nicht über die Analogien mit den Symptomen der Psychiatriepatienten

erfassen, sondern nur über die Kontextualisierung der Gesten im Rahmen der

entsprechenden Kulturen.

Während hier im Gegensatz zu Duvignauds Ausführungen der Eindruck entsteht, als ob

der Wahnsinn in der modernen Zivilisation und die ekstatischen Formen der Existenz in

religiösen Gesellschaften zwei getrennte Phänomene darstellen, die keinerlei Beziehung

zueinander aufweisen, findet sich in jenen Werken Bastides, die dezidiert den

Zusammenhang zwischen mentaler Pathologie und Soziologie behandeln, eine andere

Perspektive. „Sociologie et Psychanalyse“ (1950), „Sociologie des maladies mentales“

(1965) und „Le rêve, la transe et la folie“ (1972) bilden eine Trilogie, in der er

versuchte die generelle Missachtung von Seiten der Soziologen sowie Ethnologen

hinsichtlich der Arbeiten der Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker zu

überwinden.54

Da Bastide in dem Werk aus dem Jahr 1950 vorrangig das Verhältnis von Libido und

sozialer Norm untersucht sowie analysiert auf welch unterschiedliche Weisen die

jeweiligen Gesellschaften die individuellen Triebe ihrer Mitglieder in sozial akzeptierte

50 ebenda, S. 218.51 ebenda, S. 218- 219.52 ebenda, S. 219.53 ebenda, S. 219- 220.54 François Laplantine, Préface, in: Roger Bastide, Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq

2003), S. 9 + Anm. 3.

11

Kanäle leiten, jedoch kaum auf mentale Krankheiten Bezug nimmt, ist der Inhalt für die

vorliegende Arbeit kaum von Interesse.55 Diese Vernachlässigung wiegt aber weniger

schwer, sofern man in Betracht zieht, dass diese Schrift in der Rezeption einen relativ

großen Platz einnimmt. Der Sammelband einer Konferenz, die 1994 im Andenken des

1974 verstorbenen Soziologen in Caen abgehalten wurde, vereint drei Beiträge, die

unter der Rubrik Sociologie et Psychanalyse; La Psychiatrie Sociale stehen und sich

fast ausschließlich mit dem 1950 erschienenen Werk auseinandersetzen.56 Das Konzept

der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré hat demgegenüber in dem

Sammelband keinerlei Beachtung gefunden. Es bietet sich dadurch an aus den Werken

von 1965 und 1972 jene Passagen herauszuarbeiten, die helfen ein genaueres Bild

dieses Ansatzes zu skizzieren.

2.1 Das Konzept der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré

Die ausführlichste Darstellung der Konzeption der mentalen Krankheiten als

Krankheiten des Sacré findet sich in dem erstmals 1965 herausgegebenen Werk

„Sociologie des maladies mentales“.57 Diese Monographie, die versucht eine Soziologie

der Geisteskrankheiten unter Berücksichtigung der Verbindungen zwischen

Sozialpsychiatrie und Ethnopsychiatrie zu formulieren, ist in drei Teilen aufgebaut.58

Zuerst werden allgemeine theoretische und methodologische Probleme der Soziologie

der mentalen Krankheiten dargestellt. Darauf folgt eine Zusammenstellung

verschiedener von Gelehrten auf diesem Gebiet durchgeführten empirischen

Forschungen, um mit einer „strukturellen“ These zu schließen.

Obgleich die Geschichte dieses Teilzweiges der Soziologie, der sich bis auf Comte

zurückführen lässt, auch für den Religionswissenschaftler fruchtbare Fakten liefert, vor

allem was die cartesianische Trennung von Körper und Geist betrifft, muss sich die

folgende Darstellung auf den letzten Teil des Werkes von Bastide beschränken.59

55 Roger Bastide, Sociologie et Psychanalyse (Mayenne 1950).56 Louis Moreau de Bellaing, Les rapports entre Ethnologie, Sociologie et Psychanalyse dans l´oeuvre de

Roger Bastide, in: Claude Ravelet (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 127- 141.Norbert Le Guérinel, „Sociologie et Psychanalyse“ revisite, in: ebenda, S. 143- 148Robert Barthelier, Bastide et moi, ou comme l´esprit vient au(x) psychiatre(s), in: ebenda, S. 149- 156.

57 Roger Bastide, Sociologie des maladies mentales (Bourges 1977).58 ebenda, S. 20- 21.59 Zu Comte als Begründer der Soziologie der Geisteskrankheiten siehe:

12

Bastide verweist im zehnten Kapitel darauf, dass der Wahnsinn in den sogenannten

primitiven Gesellschaften unter die Kategorien des Sacré fällt, die unter dem religiösen

Vorzeichen einen positiven und unter dem dämonischen Vorzeichen einen negativen

Wert annehmen kann.60 Selbst im Neuen Testament wird der Wahnsinn als Besessenheit

aufgefasst, die aus dem Körper des Kranken vertrieben werden muss, um ihn zu heilen.

Obgleich die Wurzeln der Medizin und die Anwendung in unserem Sinne rationaler

Erklärungen für Erkrankungen im antiken Griechenland verortet werden, trifft dies nur

für den Körper zu.61 Die Krankheiten des Geistes wurden weiterhin mit dem mystischen

Konzept behandelt. Die Systematisierungen unter den Römern zielten in erster Linie

darauf ab, die sozialen Konsequenzen und Störungen des Wahnsinn klassifizieren zu

können.62

Erst in der Renaissance vollzieht sich ein Wandel in der Wahrnehmung der

Geisteskranken, die fortan gemeinsam mit den Kriminellen, den Wüstlingen und

Bettlern unter die gefährlichen Subjekte eingereiht werden. Unter anderem mit

Bezugnahme auf Foucault führt Bastide aus, dass diese „asozialen“ Individuen aus der

Gesellschaft ausgeschlossen und oftmals zusammen interniert wurden. Der

Geisteskranke wird zum Sinnbild des Fremden in der Welt und solange die religiösen

Ideologien in der Renaissance noch nachwirken, wird er auch unter die Obhut der

übernatürlichen Welt gestellt.63 Sein Status als Außenseiter ändert sich auch nach der

Französischen Revolution nicht. Während die Aufklärung der Freiheit der menschlichen

Person zum Siege verhilft, bleibt der Wahnsinnige als derjenige, der seine Freiheit

verloren hat, aus der Gesellschaft ausgestoßen. Bis in die erste Hälfte des 20. Jh. hinein,

bleibt der Geisteskranke aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Erst dann beginnt man

sich für die Wahnsinnigen als Bestandteile der Gesellschaft zu interessieren.

Die Öffnung der Irrenhäuser betrachtet Bastide aber weniger als Akt der Menschenliebe,

sondern vielmehr als Resultat des Aufkommens der industriellen Zivilisationsformen.64

Der Wahnsinn ist eine Form der Unproduktivität, die es gilt (wieder) in die Sphäre der

Produktion einzugliedern.65 Die Pharmakologie, die Bastide als „chemische

ebenda, S. 23- 25.60 ebenda, S. 261.61 ebenda, S. 261- 262.62 ebenda, S. 262.63 ebenda, S. 262- 263.64 ebenda, S. 276- 277.65 ebenda, S. 277.

13

Zwangsjacken“ bezeichnet, sei weniger an der Heilung der Individuen interessiert als

daran den letzten Rest der Nützlichkeit der Geisteskranken aktiv zu halten. Die

Verwendung von Heilmitteln ist keine rezente Erfindung, bereits die Schamanen und

Priester von Inititationskulten bedienten sich ihrer.66 Während es in den traditionellen

Gesellschaften jedoch darum geht die Pflanzen als rituelle Heilmittel oder als Auslöser

ekstatischer Krisen zu verwenden, wiederentdeckt die Psychiatrie diese Mittel, um die

antisozialen und psychotischen Verhaltensweisen zu kontrollieren und einer

Gesellschaft dienstbar zu machen, in der die Arbeit ein grundlegender Wert ist.67

Bastide bestreitet nicht, dass in dieser Entwicklung auch moralische Absichten eine

Rolle spielen, doch verweist er darauf, dass in der Regel utilitaristische Erwägungen in

den technokratischen Gesellschaften der Auslöser für den Wandel im Umgang mit den

Geisteskranken sind.

Béguin postuliert, dass die einzige Möglichkeit eine Sozietät zu diskreditieren, die

wahnsinnig geworden ist, darin besteht, selbst wahnsinnig zu werden.68 Bastide sieht

den „soziologischen“ Sinn der Geisteskrankheit darin, die Erschütterung zwischen den

Systemen der Technik und der Poesie im Inneren unserer Gesellschaft aufzuzeigen.69

Die Welt der Technik hat grundlegend menschliche Werte wie die Affektivität und das

Irrationale eliminiert, wogegen der Wahnsinn Widerstand leistet.70 Da dieser Ansatz

jedoch nur auf die sogenannten modernen Gesellschaft zutrifft, scheint es notwendig zu

betonen, dass „man nur in Bezug auf eine bestimmte Gesellschaft wahnsinnig ist“.71

Die mentale Krankheit ist kein Phänomen, das alleine zwischen dem Patienten und dem

Psychiater ausgehandelt wird, sondern die Gesellschaft liefert zugleich die Definition

dessen was pathologisch ist sowie das Ziel der Behandlung.72

Diese Tatsache hilft unter anderem zu erklären, warum die psychiatrische

pharmakologische Behandlung von Afrikanern in Europa oftmals nicht gelingt, obgleich

physiologisch betrachtet beide völlig identisch sind. In vielen Fällen kehren die

neurotischen und psychotischen Symptome des Immigranten unmittelbar nach der

Behandlung wieder.73 Begibt sich der afrikanische Patient jedoch in seine ursprüngliche

66 ebenda, S. 277- 27867 ebenda, S. 278.68 ebenda, S. 279.69 ebenda, S. 280.70 ebenda, S. 280- 281.71 ebenda, S. 282.72 ebenda, S. 28373 ebenda, S. 283- 284.

14

Heimat zurück und in Behandlung eines Zauberers, verschwinden die Symptome

endgültig.74 Bastide geht davon aus, dass dieser Umstand daran liegt, dass der Kranke in

seiner ursprünglichen Umgebung auch die entsprechende „Öffentlichkeit“ wiederfindet,

die es ihm erlaubt in die kollektive Übereinstimmung zurückzukehren. Der Wahnsinn

scheint demnach keine rein individuelle Angelegenheit zu sein und so ist es nötig, um

das Phänomen der Geisteskrankheiten verstehen zu können, auch die Beziehungen zur

Gesellschaft zu berücksichtigen.

Die Problematik der Behandlung psychisch Erkrankter in einem ihrem ursprünglichen

Milieu fremden Umfeld wird deutlicher, wenn man die Ausführungen Bastides aus

einem 1966 publizierten Artikel zu Rate zieht.75 In diesem Text bedient er sich

Durkheims Typologie der vier unterschiedlichen Solidaritäten, um zu untersuchen,

inwieweit sie auch einen geeigneten Rahmen für eine Soziologie der mentalen

Krankheiten liefert.76 Je nachdem, ob man eine Sozietät mit mechanischer, organischer,

aufgezwungener oder anomischer Solidarität betrachtet, wandeln sich die Symptome

und Zuschreibungen der Störungen.

Die Gesellschaften mit mechanischer Solidarität sind nicht immun gegen psychische

Krankheiten, wie es einige Forscher postulierten, die in die exotischen kleinen

Völkerschaften ihre Vorstellungen des Paradieses hineinprojizierten.77 Die Störungen

nehmen hier einen religiösen Charakter an und der Wahn wird als Ausdruck des Sacré

aufgefasst. Das Symptom wird hier als Angelegenheit für den Schamanen betrachtet und

die Störung wird als Folge von Hexerei beziehungsweise Übertretung eines Tabus

aufgefasst.78 In diesen Gesellschaftsformen äußert sich die Krankheit in der Regel über

somatische Symptome.79 Die frühen Ethnologen verkannten die enge Verbindung

zwischen dem Körper, dem Geist und dem Religiösen, so dass sie auf ein völliges

Fehlen mentaler Erkrankungen schlossen.

Im Gegensatz zu Durkheim verwendet Bastide für die Störungen innerhalb dieser

Gesellschaft nicht das Attribut altruistisch, sondern integriert. In bestimmten isolierten

sowie geschlossenen volkstümlichen und mittelalterlichen Gesellschaften sind die

74 ebenda, S. 28475 Roger Bastide, La sociologie durkheimienne peut- elle nous offrir le cadre conceptuel de la sociologie

de maladies mentales?, in: ders., Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 173- 192.76 ebenda, S. 173- 175.77 ebenda, S. 175.78 ebenda, S. 175- 176.79 ebenda, S. 176.

15

Störungen demnach ein Resultat eines zu hohen Grades an Integration.80 Darunter

scheinen die religiösen Epidemien sowie die messianischen und prophetischen

Bewegungen zu fallen, die in organischen Sozietäten nur mehr einzelne Segmente des

gesamten Volkskörper befallen.

In diesen letztgenannten Formen der Solidarität sind die meisten pathologischen

Störungen durch einen Mangel an Integration gekennzeichnet.81 Für diese

Gesellschaften kann Bastide auch statistische Daten aufführen, die den Einfluss sozialer

Faktoren verdeutlichen helfen. So führt er unter anderem eine Statistik aus den U.S.A

auf, die die Raten der mental Erkrankten pro 100.000 Einwohnern im Jahr 1923 gemäß

Ehestand nach Männern und Frauen getrennt aufführt.82 Hieraus ergibt sich folgendes

Bild:

Verheiratet: Männer – 170,9; Frauen – 255,9

Ledig: Männer – 292,7; Frauen – 189,3

Verwitwet: Männer – 428,2; Frauen – 423,0

Geschieden: Männer – 1112,5; Frauen – 1120,3

Die höhere Rate der verheirateten gegenüber den ledigen Frauen erklärt Bastide mit der

stabilisierenden Funktion der Familie, in die Unverheiratete meist eingebunden bleiben,

während die Ehe als Übergang in einen neuen bislang ungewohnten Status bestimmte

Stressfaktoren mit sich führt, die pathogen wirken können.

Das Ergebnis einer mikrosoziologischen Statistik für den Staat New York, in der die

Ersteinweisungen in die Psychiatrie zwischen 1929 und 1930 aufgeführt sind, deckt sich

weitestgehend mit den oben angeführten makrosoziologischen Daten.83 Die Ehe als

Institution wirkt sich hier jedoch für Männer und Frauen in gleichem Maße

stabilisierend aus. Marginale geschlechtsspezifische Unterschiede bleiben dennoch

bestehen. So ist das Risiko sich an Syphilis zu infizieren für ledige Männer in der Regel

höher als für ledige Frauen, die trotz Lockerung der Sitten nicht die gleichen

Gelegenheiten zur Ansteckung haben. Darüber hinaus ist der Alkoholismus bei den

verheirateten Frauen weiter verbreitet als bei den ledigen, während sich bei Männern

das umgekehrte Bild ergibt. Auch hinsichtlich der Familie spielen die Integration in ein

stabiles oder zerbrochenes Elternhaus und der soziale Status eine gewichtige Rolle für

80 ebenda, S. 176- 177.81 ebenda, S. 177.82 ebenda, S. 178.83 ebenda, S. 179.

16

die mentale Gesundheit.84

Die Konfessionszugehörigkeit scheint zudem ein bedeutender Faktor in Gesellschaften

mit organischer Solidarität zu sein.85 Mehr Protestanten als Katholiken und mehr

Katholiken als Juden leiden prozentual auf die Gesamtgesellschaft berechnet an

mentalen Krankheiten. Hierbei muss man jedoch eine Unterscheidung zwischen

Judentum als Religion und ethnischer Gruppe treffen. Als religiöse Gemeinschaft bietet

das Judentum eine höhere Resistenz gegenüber psychischen Störungen, während es als

ethnische Gruppe betrachtet anfälliger ist.86 Diese Unterscheidung macht Bastide an den

unterschiedlich hohen Daten zwischen Psychosen und Neurosen fest.

Unter die Gesellschaften mit aufgezwungener Solidarität fallen unter anderem die

Kolonien, in denen sich zumindest gemäß der Daten für den brasilianischen Bundesstaat

Pernambuco für „Weiße“ und „Schwarze“ unterschiedliche psychiatrische

Krankheitsbilder erschließen lassen.87 Die „Weißen“ leiden vorrangig unter

Funktionspsychosen, während die „Schwarzen“ und Indianer vermehrt an organischen

und toxischen Psychosen erkranken.88 Dieser Dualismus der Pathologien spiegelt nach

Bastide die Zweiteilung der Gesellschaft wieder. Diese Unterschiede finden sich jedoch

nicht nur in den kolonialisierten Ländern, sondern auch in den Ländern der sogenannten

ersten Welt. Obgleich der Dualismus der Pathologien zwischen „Weißen“ und

„Schwarzen“ hier bestehen bleibt, argumentieren die meisten Autoren, dass die

mentalen Störungen bei den afrikanischstämmigen Patienten das Resultat der

Diskriminierung und sozialer Desorganisierung aufgrund von Migration sind.

Der vierte Typus von Solidarität wird aufgrund des Fehlens von Regeln und Normen für

die harmonische Kooperation der verschiedenen Segmente der organischen Gesellschaft

als anomisch bezeichnet.89 Unter die typischen Krankheitsbilder in diesen Sozietäten

fallen die Manager- Krankheit, die Alters- und die Zwangsneurosen. Ein Kennzeichen

des Lebensstils hier besteht darin, dass durch die Massenmedien immer neue, bislang

unbekannte Bedürfnisse hervorgerufen werden, was zu einem Bruch zwischen den

Wünschen und den Möglichkeiten diese zu befriedigen führt.90 Das prekäre an

84 ebenda, S. 180- 181.85 ebenda, S. 181.86 ebenda, S. 182.87 ebenda, S. 182- 183.88 ebenda, S. 183.89 ebenda, S. 184.90 ebenda, S. 185.

17

anomischen Gesellschaften besteht darin, dass sie die Krankheitsauslöser befördern.

Insofern kann sich die Anzahl der pathologisch veranlagten Personen auf dem gleichen

Niveau befinden wie in organischen Sozietäten, während sich die Rate der Erkrankten

in beiden Fällen signifikant voneinander unterscheidet, weil die stabilisierenden

Mechanismen einbrechen.

Bastides Ausführungen weisen darauf hin, dass die mentalen Krankheiten soziale

Tatsachen sind.91 Akzeptiert man die Verbindung zwischen ökonomischen, sozialen und

mentalen Strukturen, die je nach Typus der Solidarität und hierarchischer Stellung des

Individuums innerhalb der Gesellschaft mehr oder weniger kongruent sind92, so erklärt

sich auch, warum in einem anderen als dem gewohnten kulturellen Milieu mitunter

weniger Hoffnung auf Heilung besteht.93

Die Gründe dafür werden werden noch deutlicher, wenn man die Ausführungen aus dem

elften Kapitel von „Sociologie des maladies mentales“ hinzuzieht.94 Hier versucht

Bastide aufzuzeigen, dass es nicht nur möglich ist die Stellung der Geisteskranken

innerhalb der Gesellschaft soziologisch zu erfassen, sondern auch eine Soziologie „der

Welt des Wahns“ zu formulieren.95

Das innere Chaos der Geisteskranken gleicht auf den ersten Blick einem „Fest“, doch

weist es bei genauerer Betrachtung einen überraschenden Rationalismus und eine

Geometrie auf.96 Obgleich der Kranke das Leben und seine Bewegungen nicht mehr

assimilieren kann, versucht er nach eigenen Gesetzmäßigkeiten die Ordnung der Welt in

seinem Inneren wieder zu errichten. Vor allem die englischsprachigen Psychiater haben

hier sowohl auf den Bruch mit der sozialen Umwelt wie auch auf die Verwendung rein

individueller und dadurch nicht- kommunizierbarer Symbole im schizophrenen Wahn

hingewiesen. „Die Geisteskrankheit schreibt sich in ein System ein, an dem sowohl der

Deviante wie auch die Gesellschaft zusammenarbeiten.“97 Diese liefert, wie bereits

angedeutet, nicht nur das Modell für die Pathologie, sondern setzt auch die

Anforderungen an die Heilung fest.

Die Psychiater konnten erweisen, dass die Geisteskrankheiten funktionale Aspekte

91 ebenda, S. 186.92 Roger Bastide, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Les sciences de la folie (La Haye 1972), S. 35- 36.93 Siehe oben, S. 14.94 Roger Bastide, Sociologie des maladies mentales (Bourges 1977), S. 285- 309.95 ebenda, S. 285.96 ebenda, S. 287.97 ebenda, S. 291.

18

aufweisen. „Wenn man nicht in einer komplexen Welt leben kann, steigt man hinab auf

ein niedrigeres Niveau, man ökonomisiert seine Gesten und Worte, man beschränkt die

Realität auf die Grenzen seiner persönlichen Schwäche.“98 Die Nützlichkeit der

Krankheit für den Betroffenen begrenzt sich aber nicht nur auf die psychische Funktion.

Die Krisen des Neurotikers beispielsweise, die ausbrechen, wenn sich die soziale

Umwelt den Wünschen oder dem Willen des Neurotikers widersetzen sind auch Signale

an diese. Gleichfalls stellt der mit Exkrementen beschmierte Körper keine Rückkehr zur

Natur dar, sondern ist Ausdruck des Protests gegen die entfremdende Gesellschaft.99

Diese Übertretungen der Tabus einer gegebenen Kultur können folglich als Spiegelbild

ihrer Normen erachtet werden. Das Verhalten der Geisteskranken ist ein Stereotyp, da es

sich den Vorstellungen gemäß ausdrückt, die die Gesellschaft liefert.100 Jede Sozietät hat

ihr spezifisches Bild vom Schwachsinnigen, vom Epileptiker, vom Neurastheniker.

Gleichzeitig hat sie aber auch ihre räumlichen und zeitlichen Rahmen, so dass die

Vielfalt der Verhaltensweisen der Variabilität jener entspricht.101 Der Wahn hat ebenso

seine Periodizität, so zum Beispiel jene mentalen Krankheiten, die vermehrt zu

Weihnachten oder Ostern ausbrechen.102 In diesen Fällen liefert die Kirche das

mythische Modell, nach dem sich der Rhythmus der psychischen Störungen richtet.103

Bastide postuliert weiter, dass es möglich wäre aufzuzeigen, dass die magischen Gesten,

die sich in den morbiden Raum einschreiben bestimmten Archetypen antiker Religionen

folgen.104 Hierbei handele es sich aber wohl eher um nachträgliche Rationalisierungen

bestimmter Zwangshandlungen.

Bestimmte Soziologen und Ethnologen beharren auf einem Übergang vom Sacré zum

Profanen, auf dem Gesetz der Säkularisierung.105 Bastide merkt jedoch an, der Einwurf,

dass der mystische Wahn, die Lykanthropie sowie die Identifikation mit Jesus oder der

Heiligen Jungfrau abnehmen und durch physikalische und technische Inhalte ersetzt

werden, sei banal.

In Brasilien finden sich im Gegensatz viele Patienten mit religiösen Wahnvorstellungen:

katholischer Volksglaube als Inhalt auf dem Land, Geister bei den „Weißen“ der Stadt,

98 ebenda, S. 292.99 ebenda, S. 293.100 ebenda, S. 294.101 ebenda, S. 294- 295.102 ebenda, S. 295.103 ebenda, S. 296.104 ebenda, S. 297.105 ebenda, S. 298.

19

afrikanische Götter bei den „Schwarzen“. In Paris lässt sich zudem bei den internierten

Bewohnern der Antillen ein Synkretismus der Wahninhalte zwischen Elektrizität und

Zauberei aufzeigen.

Säkularisierung, so Bastide, bedeutet keineswegs Profanisierung.106 Dieser Prozess

entzieht bestimmten sakralen Objekten die mit ihnen verbundenen Emotionen, um diese

unverändert auf andere Dinge zu übertragen. Der Kult der unbekannten Soldaten setze

demnach den Totenkult fort, die Revolutionshelden übernehmen die Funktion der

katholischen Heiligen und so dürfte sich auch bei den Geisteskranken eine ähnliche

Verschiebung aufzeigen lassen.

Hauptsächlich, so Bastide, ist der Wahn eine Krankheit des Sacré, aber nicht im Sinne

der Regression, dass hier die Vorstellungen der primitiven Magie oder des Totemismus

wieder aufgegriffen werden würden. Die religiösen Gefühle werden vom Sacré

abgeknüpft und ins Profane transferiert. Bei der Krankheit handelt es sich nicht um eine

Zerstörung, sondern um eine Substitution. In der normalen Welt spielt sich dieser

Prozess rein äußerlich ab, während er in jender der Kranken die obskuren Schichten der

Persönlichkeit betrifft.

Vergleicht man die sogenannten primitiven Gesellschaften mit den säkularisierten

Modernen, so fällt auf, dass die Verbindung zwischen Natürlichem und

Übernatürlichem nach und nach abgekappt und die Wege verschlossen werden.107 Die

Toten und die Götter verschwinden aber nicht einfach, sondern sie nehmen eine

Revanche und suchen sich Schleichwege.108 Sie kehren, um mit Freud zu sprechen109, als

Phantasma zurück. Während die Toten und Götter in religiösen Gesellschaften nur

bedingt gefährlich sind, da ihr Erscheinen sozialer Kontrolle unterliegt und sie sich vor

allem zu den großen Festen manifestieren, stellt diese heimliche, nächtliche sowie

ungeregelte Rückkehr in den säkularisierten Sozietäten eine Bedrohung für die mentale

Gesundheit dar. Die heutigen Phantasma sind die säkularisierte Form der maskierten

Priester „und ebenso wie der Ethnologe die Kommunikationskanäle zwischen Natur und

Übernatürlichem in einer archaischen Gemeinschaft beschreiben sowie analysieren

kann, auf gleiche Weise kann der Psychiater die Spiele der Interkommunikation

106 ebenda. S. 299.107 ebenda, S. 299- 300.108 ebenda, S. 300.109 ebenda, S. 300, Anm. 22.

20

zwischen dem Phantasma und dem Kranken beschreiben.“110

Die Zensuren, Verbote und Verdrängungen der Gesellschaft können vom Kranken

mitunter als Kastration wahrgenommen werden, gegen die sich der Patient durch mehr

oder minder bewusste Phantasma verteidigt, wobei das Gegenmittel darin besteht in

einer Gruppentherapie das Alter Ego, die säkularisierte Variante des Doubles

beziehungsweise des mythischen Zwillings hervorzurufen. In anderen Fällen drückt sich

die Säkularisierung durch Somatisierung der psychischen Leiden aus. Bastide nimmt an,

dass die rezent signifikante Zunahme der Organpsychosen und psychosomatischen

Krankheiten in den klinischen Berichten darauf hinweist, dass sich eine Metamorphose

der Symptome vollzieht.

Obgleich die Somatisierung auch in den Kulturen mit mechanischer Solidarität bei den

psychischen Leiden eine bedeutende Rolle spielt, sind die Funktionen hier andere. Bei

den schriftlosen Völkern gibt es einen „Exzess des Sacré“, so dass bestimmte

Neigungen, die bei uns als krankhaft gelten würden, sich in äußeren Dingen, vor allem

in Riten objektivieren lassen.111 Hier legt sich all das, was sich nicht objektivieren lässt

auf den Körper.

Die psychischen Krankheiten der Moderne zeichnen sich dagegen in erster Linie durch

eine Desorganisation des Verstandes aus.112 Durch die Ausweitung der

wissenschaftlichen Kenntnisse durch Massenmedien und Aufklärungskampagnen in

unserer Gesellschaft, schockieren die Manifestationen des Wahnsinns und vor allem die

Mittelklasse versucht die Störungen zu kaschieren sowie dorthin zu verlagern, wo sie

am wenigsten auffallen.113 Bastide sieht in den Symptomen der psychosomatischen

Krankheiten den Triumph der Medizin als rationaler Wissenschaft und einen der Wege

der morbiden Säkularisierung, da sie auf einen Rückgang des Sacré verweisen.

2.2 Der Begriff des Sacré bei Bastide

Aus der vorangegangenen Ausführung zu Bastides Konzept der mentalen Krankheiten

als Krankheiten des Sacré wurde zwar ersichtlich, dass er ähnlich wie Duvignaud von

110 ebenda, S. 301- 302.111 ebenda, S. 303.112 ebenda, S. 302.113 ebenda, S. 303.

21

einer Verdrängung der religiösen Formen der Ekstase innerhalb der säkularisierten

modernen Gesellschaft ausgeht, die zumindest teilweise unter der Gestalt der

Geisteskrankheiten wiederkehren. Ein weiterer Bereich in den die sakralen Energien

abgewandert sind, scheint der Traum zu sein.114 Der Begriff des Sacré bleibt jedoch bei

Bastide zumindest in den angeführten Werken sowie Artikeln unscharf und erscheint

noch schwerer zu fassen, wenn er schreibt, „dass wir nicht mehr wissen was das Sacré

ist, weil wir nicht mehr wissen was das Religiöse ist – man könnte sagen, dass all

unsere Religionen im Grunde genommen Säkularisationen sind.“115 Auf der gleichen

Seite führt er weiter aus, dass „wir in ein banales und alltägliches Leben, in ein Leben

eingebunden sind, in dem alles von anderen Dingen als dem Sacré bestimmt wird... .“

Es ist in unserer Gesellschaft zu etwas Störendem und Fremden geworden, das wir nicht

wie die sogenannten Primitiven als Realität anerkennen. In einem anderen Aufsatz

postuliert Bastide, dass die Religion von der Asymmetrie zwischen polaren Kategorien

ausgeht, die die Angst des Individuums fördert.116 Die religiösen Mythen und Riten

dienen dazu das Asymmetrische mit dem Symmetrischen in Einklang zu bringen und

wirken dadurch beruhigend. In diesem Text finden sich jedoch keine weiteren

Anhaltspunkte, die helfen könnten den Begriff des Sacré einzuengen. Auch seine

erstmals 1935 erschienenen „Éléments de sociologie religieuse“, in denen ein Kapitel

mit Le Domaine du Sacré überschrieben ist, geben nur bedingt Auskunft.117 Er bezieht

sich hier unter anderem auf die Studie zur Vorherrschaft der rechten Hand von Robert

Hertz, doch verkennt die Zweiteilung des Sacré, wenn er postuliert, dass das Profane

zum Unreinen neigt, um in Gegensatz zur Sphäre des Sakralen zu treten.118 Zwar

formuliert er an anderer Stelle, dass Religion und Magie zwei Formen des Sacré sind,

von der die eine zur Kommunion der Gläubigen führt, während die andere sich

individualisiert, aber er bleibt eine genauere Definition des Sakralen schuldig.119

Es wäre ein eigenständiges Unterfangen eine tiefgreifende Analyse dieses Begriffes im

114 Roger Bastide, Sociologie du rêve, in: ders., Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 58- 59.

115 ebenda, S. 59.116 Roger Bastide, Des fausses fenêtres ou de la symétrie dans la pensée morbide, in: ders., Le rêve, la

transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 295. Hier verweist Bastide darauf, dass er die in diesem Artkel nur angedeutete These in einem früheren Kolloquium näher ausgeführt hatte. Leider fehlt ein Verweis darauf, ob der entsprechende Vortrag veröffentlicht wurde.

117 Roger Bastide, Éléments de sociologie religieuse (Orléans 1947), S. 11- 39.118 ebenda, S. 15.119 ebenda, S. 36- 37.

22

Werk von Bastide durchzuführen. In dieser Arbeit können lediglich Indizien aufgeführt

werden, die darauf hinweisen, dass er selbst je nach Kontext der Thematik und Jahrgang

der Studien variierte.

Da es hier jedoch darum geht das Konzept der mentalen Krankheiten als Krankheiten

des Sacré zu fassen zu kriegen, ist eine diachrone Analyse der Verwendung des Begriffs

nur von bedingtem Nutzen. In der Monographie und den Artikeln zur Soziologie der

mentalen Krankheiten versuchte Bastide aufzuzeigen, dass die Geisteskrankheiten in

religiösen Gesellschaften unter die Kategorie des Sacré fallen.120 Eine mögliche

Interpretation wäre, dass er mit diesem Konzept auf die ursprünglich historische

Einbindung der mentalen Pathologien in religiöse Systeme abzielte.121 In den

entsprechenden Solidaritäten würden demnach mentale Krankheiten als Krankheiten des

Sacré in Erscheinung treten.

Diese Deutung scheint mir, obgleich sie meine eigene ist, allzu naiv und vergisst

die Tatsache, dass er bezüglich Duvignauds Ausführungen zum Fest von dieser ihm

altbekannten Vorstellung spricht. Jener scheint die mentalen Krankheiten in den

modernen Gesellschaften als Resultat einer Verdrängung der ekstatischen Formen der

Existenz zu sehen. In unserer Zivilisation sind die Wege zur kollektiven Entfesselung

aber weitestgehend verstopft, so dass es sich bei dem Konzept wohl eher um die

Vorstellung handelt, dass das Sacré selbst krankt.

Indizien für diese Deutung finden sich in dem Text eines 1973 gehaltenen

Konferenzbeitrags mit dem Titel „Le sacré sauvage“.122 Das wilde Sakrale bezeichnet

bei Bastide eine Kraft stetiger sozialer Gärung, die sich nicht zähmen lässt.123 Es

erweckt den Anschein, als ob eine vom Atheismus geprägte Latenzzeit eine Lücke des

Sinns in den Menschen aufgerissen habe, durch die sich das Sacré auf noch ungeahnte

Weise seinen Weg zurück bahnt.124 Diese ungeordneten Impulse haben aber nichts mit

der geordneten und ritualisierten Ekstase der sogenannten Primitiven gemein.125 Die

traditionellen Gesellschaften kennen das wilde Sacré zwar durchaus, doch bändigen die

entsprechenden Institutionen die chaotischen Kräfte.126 Die Folgen der

120 Siehe oben S. 11.121 Siehe oben S. 14.122 Roger Bastide, Le sacré sauvage, in: http://sociologies.revues.org/3238 (Zugriff: 04.03.2014 04:21).123 ebenda, § 3.124 ebenda, §2.125 ebenda, § 6.126 ebenda, §9- 12.

23

Industrialisierung, die Urbanisierung und das Aufkommen des Rationalismus haben die

sozialen Beziehungen erschüttert und die traditionellen kollektiven Bindungen

zersplittert.127 Der Tod Gottes, der als Sinnbild für diese Entwicklungen steht, so

Bastide, ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Absterben des Sacré, das sich an neue

Objekte knüpft. Das wilde Sakrale der modernen Gesellschaften ist ein paradoxes

Phänomen, das zwischen der Suche nach neuen Formen der Solidarität als Ausflucht aus

der Sinnleere des Individualismus und der Zersetzung und Wieder- Abkehr von den so

eben entstandenen Gruppen oszilliert.128 Selbst dort, wo es zu kollektiven Ekstasen

führt, bleibt im Endeffekt jeder für sich, da es zu keinem Austausch von Erfahrungen

kommt, sondern alles rein persönlich bleibt.129 Das domestizierte Sacré hingegen

ermöglicht gleichzeitig eine soziale und kosmische Kommunikation.130

Es scheint, als ob Bastide in den mentalen Krankheiten der Moderne eben jene Störung

des sozialen Kraftflusses wähnt, der im normalen Zustand einen geregelten Austausch

von Affekten, Emotionen und materiellen Gaben zwischen den diversen Gliedern einer

Gesellschaft gewährt.

Zusammenfassung

Den Ausgangspunkt dieser Arbeit lieferte eine Bemerkung aus einem Brief, den Bastide

am 9. Oktober 1973 an Duvignaud sandte. In „Fêtes et Civilsations“ hatte

Letztgenannter die mentalen Krankheiten unter einer Perspektive behandelt, die Bastide,

wie er betont, bereits früher eingeschlagen hatte. Es bot sich deshalb an, zuerst

Duvignauds Ausführungen darzustellen, um einen Anhaltspunkt zu geben, was er unter

Krankheiten des Sacré versteht. Obgleich er diesen Terminus selbst nicht verwendet,

erlaubt ein Vergleich der Konzeptionen beider Autoren darauf zu schließen, dass die

Auffassung der Geisteskrankheiten als Fest die Entsprechung darstellt. In diesem

erstmals 1973 publizierten Werk bleibt eine begriffliche Unschärfe zwischen Trance und

Besessenheit bestehen, die erst in den späteren Schriften klar formuliert wird. Die

Besessenheit verlangt ein organisiertes Pantheon und eine stereotype mythische

Verkleidungen, in die sich der Wahn einfügt, während die Trance eine Lücke der

127 ebenda, § 23.128 ebenda, § 27- 29129 ebenda, § 31.130 ebenda, § 30- 31.

24

Existenz öffnet, die frei jeden Inhalts ist, erschließt sich aus einer 1980 publizierten

Monographie.131

Die Theorie der regellosen Bereiche innerhalb des sozialen Lebens ist wahrscheinlich

für viele Wissenschaftler nur schwer verständlich, da die akademische Praxis für

gewöhnlich darin besteht die Fakten in bereits vorgegebene Kategorien einzupassen.

Duvignauds Ansatz, so scheint mir, muss jedoch als Reaktion auf die deterministische

diskursanalytische Philosophie Foucaults verstanden werden. Der Theoretiker des

Festes kritisiert an dem Autoren der Geschichte des Wahnsinns, dass jener in seinem

Buch „Les mots et les choses“ „die menschliche Erfahrung auf einige grundlegende

Kompositionen der „Metasprache“, der Infrastruktur des Bewusstseins und der

Sprache reduziert, was es ihm nicht erlaubt das Problem des Menschen in seiner

Totalität zu stellen.“132 Diese gegensätzlichen Auffassungen dürften aber rein

intellektueller, nicht persönlicher Natur gewesen sein, da sich beide zumindest während

ihrer Zeit in Tunesien heiter miteinander unterhalten hatten.133

Duvignaud geht davon aus, dass die Trance als kulturelle Praxis eine Möglichkeit liefert

für bestimmte Momente aus der Organisation der Gesellschaft herauszutreten. Diese

Erfahrungen sind innerhalb unserer rationalisierten Welt teils der Verdrängung und teils

der Schrift zum Opfer gefallen. Die Schizophrenie und die Paranoia fasst Duvignaud als

Transformationen der Phänomene der Trance und Besessenheit auf.134 Die Anfänge

dieser Umwandlung setzt er bei den europäischen Mystikern des 16. Jh. an. Diese

Prozesse vollziehen sich aber nicht mit einem Schlag. Die Verdrängung des Festes

nimmt in Europa in den protestantischen Ländern ihren Anfang und weitet sich in Folge

der Industrialisierung auch auf die katholischen Regionen aus.135

Duvignauds Ausführungen bleiben recht vage hinsichtlich der Bestimmung, ob die

modernen Geisteskrankheiten allgemein oder nur bestimmte Typen als

Transformationen der Ekstase zu werten sind. Es muss künftigen Forschungen

vorbehalten bleiben, diese Thematik genauer zu analysieren.

Ein wesentlicher Unterschied der Ansätze zwischen Bastide und Duvignaud besteht

hinsichtlich der Auffassung, dass das Kennzeichen unserer Gesellschaft die Schrift sei.

131 Jean Duvignaud, Le jeu du jeu (Saint Amand 1980), S. 52- 53.132 Jean Duvignaud, La sociologie est un humanisme, in: L´homme et la société 1 (1966), S. 35, Anm. 1.133 Jean Duvignaud, Le sous texte (Mayenne 2005), S. 86.134 Siehe oben, S. 2.135 Jean Duvignaud, Le jeu du jeu (Saint Amand 1980), S.115.

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Der Soziologe der mentalen Krankheiten beschreibt, dass wir die Gesellschaft des

Buches hinter uns lassen und sich bereits eine neue Zivilisation des Bild- Spektakels

konstituiert.136 Auch die traditionellen Sozietäten gebrauchen hauptsächlich Bilder zur

Kommunikation, doch während sie dort Symbole sind, die in Mythen zusammengefasst

ein kohärentes Ganzes formen, verkümmern sie bei uns zu desorganisierten Zeichen,

die nur mehr Information sind. Die Konsequenzen für die mentalen sowie sozialen

Strukturen, die in einer Isolierung der Individuen münden, scheinen aber jenen analog,

die Duvignaud für die Schrift aufführte.137 Die kollektive Ekstase des Festes bleibt auch

hier unmöglich.

Bastide geht in seinen Ausführungen methodologischer vor als Duvignaud. Er analysiert

Statistiken und skizziert die Transformationen der Geisteskranken sowohl historisch als

auch soziologisch. Er stellt dar wie der Wahn ab der Renaissance aus den religiösen

Erklärungs- und Behandlungssystemen herausgehoben wird und die Geisteskranken mit

Kriminellen sowie Landstreichern gemeinsam aus der Gesellschaft verbannt in den

Zuchthäusern isoliert werden. Die Öffnung der Psychiatrie in der Moderne ist nach

Bastide weniger ein Ausdruck der Menschenliebe als vielmehr Ausdruck der

gesellschaftlichen Interessen auch bislang heterogene Elemente der Produktivität zu

unterwerfen.

Die Geisteskrankheiten werden je nach Form der Solidarität einer Gesellschaft

unterschiedlich bewertet und behandelt. Während die mechanischen Typen durch die

Religion und das Sacré gekennzeichnet sind, ist ein Merkmal unserer Gesellschaft zum

einen die Individualisierung und in anomischen Phasen die Atomisierung sowie

allgemein der Rückgang des Sakralen im kollektiven Leben. Bastide zieht aus einem

Vergleich zwischen unserer und den traditionellen Zivilisationen den Schluss, dass wir

die Kommunikation mit dem Übernatürlichen abgeschnitten haben und diese Sphäre zu

einer Illusion degradiert wurde. Die somit abgestoßenen und verdrängten Kräfte haben

wir aber nicht einfach hinter uns gelassen. Die Entzauberung der Welt führt nicht nur zu

einer Begrenzung der Wirklichkeit auf die Empirie, denn die Götter und Toten suchen

sich Schlupflöcher und kehren dort wieder, wo die sozialen Schranken am

durchlässigsten sind: in der Psyche.

136 Roger Bastide, L´homme en proie aux images: psychanalyse et société technicienne, in: ders., La rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 311.

137 ebenda, S. 313.

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Die mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré sind bei Bastide, so wurde

versucht aufzuzeigen, nur ein Symptom eines allgemeinen Leidens unserer Gesellschaft,

die durch die Unruhe des wilden Sakralen gekennzeichnet ist.

Inwiefern die Ansätze von Duvignaud und Bastide zum Problem der Geisteskrankheiten

den wissenschaftlichen Ansprüchen der Gegenwart Genüge leisten, kann und soll hier

nicht beurteilt werden. Die „strukturelle“ These Bastides weist ähnliche Unklarheiten

auf wie die Ausführungen von Duvignaud, doch konnte die Soziologie der mentalen

Krankheiten aufzeigen, dass die Symptome der Geisteskranken keinen rein

individuellen Ursprung haben, sondern sich die gestörte Sprache und die abnormen

Gesten in räumliche und zeitliche Matrizen einschreiben, die die Gesellschaft selbst

liefert. Wenn die Kultur das Verhalten des psychisch Kranken mitbestimmt, hat man

darin nicht in gewisser Weise eine Form der Besessenheit zu sehen, die Übernahme

einer Rolle? Weist das aber nicht wiederum darauf hin, dass die Geisteskrankheiten nur

auf den ersten Blick ungeordnetes Chaos und Fest sind, während sich bei näherer

Betrachtung auch hinter diesen Phänomenen logische Strukturen aufdecken lassen? Die

Auffassung der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré ist ein vages

gleichzeitig aber auch komplexes Konzept, dessen Umrisslinien hier lediglich

aufgezeichnet werden konnten. Es scheint sich zu gewissen Teilen einer methodologisch

sauberen Beschreibung zu entziehen, doch dies liegt womöglich am Gegenstand des

Wahns selbst, der sich nur schwer mittels der Kategorien, die die Normalität bereitstellt,

fassen lässt.

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Literaturverzeichnis

Monographien:

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Roger Bastide, L´homme en proie aux images: psychanalyse et société technicienne, in:ders., La rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 308- 313.

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Roger Bastide, La sociologie durkheimienne peut- elle nous offrir le cadre conceptuelde la sociologie de maladies mentales?, in: ders., Le rêve, la transe et la folie(Villeneuve d´Ascq 2003), S. 173- 192.

Roger Bastide, Sociologie du rêve, in: ders., Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 44- 59.

Roger Bastide, Transe mystique, psycho- pathologie et psychiatrie, in: ders. (Hrsg.), Larêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 87- 105.

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Onlinequellen:

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Roger Bastide, Le sacré sauvage, in: http://sociologies.revues.org/3238 (Zugriff:04.03.2014 04:21).

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