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6 | 2014 285 _ 45. Jahrgang _ E 4,60/Sfr. 9,- _ H 12296 pogrom bedrohte Völker ARMENIER, ASSYRER/ARAMÄER/CHALDÄER UND GRIECHEN IN DER TÜRKEI 100 Jahre Völkermord 100 Jahre Leugnen ARMENIER Mets jerern - Das große Verbrechen ASSYRER/ARAMÄER Der Fall von Midyat 1915 DEUTSCHE MISSIONEN und der Völkermord

Mets Yeghern: Das ultimate Verbrechen

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6 | 2014285 _ 45. Jahrgang _ E 4,60/Sfr. 9,- _ H 12296pogrombedrohte Völker

ARMENIER, ASSYRER/ARAMÄER/CHALDÄER UND GRIECHEN IN DER TÜRKEI

100 Jahre Völkermord 100 Jahre Leugnen

ARMENIERMets jerern - Das große Verbrechen

ASSYRER/ARAMÄERDer Fall von Midyat 1915

DEUTSCHE MISSIONENund der Völkermord

Vor einem Jahr haben pro-russische Kräfte die Macht auf der Krim übernommen, dann hat Russland die Halbinsel an-nektiert. Seitdem ist die Bevölkerung der Krim weitgehend isoliert und wurde mit schwerwiegenden Problemen, die sich durch die Annexion und die De-facto-Herrschaft einer Russ-land treuen Regierung ergeben, allein gelassen. In dieser Zeit wurden auf der Krim schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Menschen wurden ermordet, entführt, verschwan-den, wurden verurteilt und willkürlich verhaftet. Dafür ist Russland unmittelbar verantwortlich. Daher ist es wichtig, dass die Situation dort und besonders die Verfolgung und

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Unterdrückung der Krimtataren auf der Tagesordnung der internationalen Politik und Medien bleibt.

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08 MARTIN BITSCHNAU Drei Jahrtausende

armenischer Geschichte

80 KAMAL SIDO „Ich verstecke mich nicht“

Interview mit dem „letzten Armenier“ von Afrin, Aruth Kevork

42 MARTIN TAMCKE Der Völkermord und die

Vielfalt der Kirchen

Titelbild Portrait (r) Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA)Titelbild-Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA)

Titelbild Portrait (l) Foto: Modern Assyrian Research Archive (MARA)

Titelbild:

Vor 100 Jahren erreichte die Vernichtung der christlichen Völker des Osmanischen Reiches ihren Hö-hepunkt. Armenier, Assyrer/Aramäer und Griechen, die seit Jahrtausenden dort ihre Heimat und fast ein Drittel der Bevölkerung gestellt hatten, wurden in den folgenden Jahrzehnten nahezu ausgelöscht. Sie konnten nur im Exil überleben. Bis heute leugnet die Türkei den Völkern Millionen Menschen. Die Nach-fahren der Opfer kämpfen bis heute um die Anerkennung des Genozids.

[THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE]

Muslimische Völker

in Europa

Der Völkermord 6 „Noch ist Armenien nicht verloren“

7 „Nur Anerkennung ermöglicht Versöhnen und Verzeihen“

8 MARTIN BITSCHNAU Drei Jahrtausende armenischer Geschichte

13 TESSA HOFMANN „Ein schwarzer Strom ergoss sich gen Süden,

versickert allmählich im Sand…“

17 NICHOLAS AL-JELOO Der Völkermord an den Assyrern

22 HANNIBAL TRAVIS 1915 bis 2015: Die Vernichtung der orientalischen

Christen und das Versagen des Völkerrechts

26 JAN BET-SAWOCE Der Fall von Midyat im Jahre 1915

30 JOSEPH YACOUB Der gut dokumentierte Völkermord an den

Assyrern/Aramäern/Chaldäern

33 TESSA HOFMANN Unaufhörlicher Völkermord: Die Vernichtung

griechisch-orthodoxer Christen im Osmanischen Reich

37 MARTIN TAMCKE Deutsche Missionen und der Völkermord

42 MARTIN TAMCKE Der Völkermord und die Vielfalt der Kirchen

Die Leugnung46 TESSA HOFMANN Մեծեղեռն: Das ultimate Verbrechen

52 Die Schwierigkeit mit der historischen Verantwortung

53 TESSA HOFMANN Fast einhundert Jahre Genozid-Leugnung – Die

Türkei muss sich ihrer Geschichte stellen

57 SONER A. BARTHOMA Der Völkermord an den Assyrern und

die aktuelle türkische Politik

62 Exil-Aramäer fordern die Anerkennung des Völkermords

63 TESSA HOFMANN Nur keine klare Position beziehen – Deutschland

entzieht sich seiner Verantwortung

67 TESSA HOFMANN Nach der Vernichtung: Versuch einer Bilanz

72 MICHAELA BÖTTCHER „Ohne die Aufarbeitung des Genozids können sich

die Minderheiten in der Türkei niemals sicher fühlen“

75 Spiegel-Gespräch mit Fatih Akin

Aktuelle Herausforderungen und Konflikte

80 KAMAL SIDO „Ich verstecke mich nicht“ Interview mit dem

„letzten Armenier“ von Afrin, Aruth Kevork

82 KAMAL SIDO Die „Kinder von Musa Dagh“ sind wieder

auf der Flucht – Christen und die „arabische Revolution“ in Syrien

86 WERNER ARNOLD Die arabischsprachigen Minderheiten der Türkei

89 TESSA HOFMANN „Ein bisschen unsichtbar“: Juden in der Türkei

92 CORA MÜLLER UND SARAH REINKE

Armenien zwischen historischer Bürde und aktuellen Konflikten

96 DR. THOMAS ABRAHAM Hundert Jahre in Vergessenheit – Eine

kritische Bestandsaufnahme

100 Die Mitschuld klar benennen

102 Geo Forum

104 Autorenverzeichnis

105 Weiterführende Literatur

TITELTHEMA 6-101

PLAKATWETTBEWERB DER GFBV 102

1 Foto: Winfried Wermirzowski/Flickr BY-NC-SA 2.02 Foto: Shaun Dunphy/Flickr BY-SA 2.0 3 Foto: Kamal Sido

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I N H A L T

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Völkern verübten. Bis zu 2,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer, so schät-zen heute Experten, fielen diesen Ge-noziden zum Opfer. Seither hat unsere

Menschenrechtsorga-nisation kontinuierlich die deutschsprachigen Medien informiert, eine lange Reihe von Dokumentationen in Form von Broschüren oder Büchern publi-ziert und an viele inter-essierte und potentielle Unterstützer verteilt. Wir haben die Arbeit

der Betroffenen bekannt gemacht, haben Abgeordnete und Institutio-nen als Unterstützer gewonnen und die Anliegen der Betroffenen bei den

Vereinten Nationen und im Europarat eingebracht.

Es gehört zur traurigen Realität, dass seither eine immer länger werdende Reihe von Genoziden verübt wurde – in Biafra und dem Südsudan, in Irakisch-Kurdistan und Osttimor, in Bangladesh und Bosnien, um nur einige zu nennen, Genozide, an denen zumeist Ost oder West beteiligt waren.

Die überlebenden Flüchtlinge und Vertriebenen des schrecklichen Völker-mords an den Armeniern wurden über die Welt verstreut, organisierten sich in ihren Gemeinden, gründeten Institutio-nen, verfassten unentwegt Appelle und Eingaben. Ihr Ziel war und bleibt die Anerkennung des Völkermords durch die Weltgemeinschaft der Staaten und Institutionen. Damit soll ein machtvol-

schon vor vier Jahrzehnten, in den 1970er Jahren, wandten sich Reprä-sentanten bedrohter und verfolgter christlicher Minderheiten aus der Tür-kei an die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit der Bitte um Unterstützung. Un-ter ihnen waren Spre-cher der Exilorganisa-tionen der Armenier, der Assyrer/Aramäer und der pontischen und ionischen Grie-chen. Sie alle gehör-ten zu den Opfern der furchtbaren Völkermordverbrechen, die die Truppen der osmanischen Tür-kei und später die türkische Armee Kemal Atatürks an diesen christlichen

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les Zeichen gesetzt werden in Sachen Bekämpfung von Genozid überhaupt, aber auch die Türkei als Nachfolgestaat der Täter dazu gezwungen werden, den Völkermord anzuerkennen und Kon-sequenzen zu ziehen. Auch in diese Richtung wird die GfbV die armenische Exilbewegung weiterhin unterstützen.

Unter den Nachkommen der Op-fer wächst die Solidarität. Die Nati-onalversammlung der Republik Ar-menien hat am 23. März 2015 eine Erklärung zum „Völkermord an den Griechen und Assyrern, begangen von der Osmanischen Türkei zwischen 1915 und 1923“ verabschiedet, was eine Anerkennung des Völkermords

an den Völkern bedeutet, die weniger im öffentlichen Fokus stehen.

Derweil setzt die Türkei ihre min-derheitenfeindliche Politik fort. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die verbliebenen aramäischsprachigen Christen weiter diskriminiert oder aus dem Land gejagt. In der Türkei durfte nicht eine christliche Kirche gebaut werden; in einem Fall bot Minister-präsident Erdogan dies an - auf einem katholischen Friedhof, um dessen Rückgabe die Katholiken einen Pro-zess angestrebt hatten. Und ebenso musste fast die gesamte yesidische Gemeinschaft das Land verlassen. Sie fand vor allem in Deutschland Aufnahme. Unvergessen ist auch der Überfall der Türkei (1974) auf das multikulturelle Zypern, der mit der Massenvertreibung der griechischen Zyprioten aus dem türkisch besetz-ten Nordteil und dem Tod von vier-tausend von ihnen endete.

Während die Terromiliz IS in den Nachbarländern Syrien und Irak Massenmord an Assyrern und Yesiden begeht, ihre Frauen vergewaltigt und die Kinder in die Sklaverei verkauft, setzt auch die Regierung Erdogan ihre un-menschliche Minderheitenpolitik fort. Als die kurdische Bevölkerung der sy-risch/kurdischen Grenzregion Kobane um ihr Überleben kämpfte, verhinderte die Türkei jede politische, militärische und ökonomische Hilfe.

Die GfbV wird sich weiter für die offizielle Anerkennung der drei Genozide durch die Türkei einsetzen. Deutschland, drittgrößter Waffenliefe-rant der Welt, ist eng mit der Türkei ver-bündet und viele Quellen deuten darauf hin, dass die Empfängerländer Türkei wie auch Saudi-Arabien und Katar die IS mit deutschen Waffen versorgten.

Ihr Tilman ZülchGeneralsekretär der Gesellschaft

für bedrohte Völker

bedrohte Völker (ehemals pogrom)Nr. 285 • Heft 6/201445. Jahrgang • ISSN 0720-5058

Herausgeber: Tilman Zülch (tz) Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV), Geiststr. 7, D-37073 GöttingenTel. +49 551 49906-0Fax +49 551 58028

Als Menschenrechtsorganisation für verfolgte eth-nische und religiöse Minderheiten besitzt die GfbV Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Ver-einten Nationen (ECOSOC) und mitwirkenden Status beim Europarat; Sektionen/Büros in Göttingen, Berlin, Arbil, Bern, Bozen, London, Luxemburg, New York, Sa-rajevo/Srebrenica, Wien.

bedrohte Völker versteht sich als Forum, in dem Vertreter und Unterstützer bedrohter Völker ihren Standpunkt darstellen können. Namentlich ge-zeichnete Artikel verantworten die Autoren. Sie geben nicht immer die Auffassung der Redaktion wieder.

Redaktionsleitung: Klemens Ludwig

Mitarbeit an der Ausgabe: Janet Abraham, Abdulmesih BarAbraham, Martin Bitschnau, Inse Geismar, Wiebke Höner, Regina Jedich, Sandy Naake, Kamal Sido und Irina Wiessner.

Layout u. Grafik: studio mediamacs BozenTel. + 39 0471 309 666Fax + 39 0471 309 667

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Publikationsbedingungen: Autoren, Übersetzer, Zeichner und Fotografen arbeiten ohne Honorar. Sämtliche Rechte für die Wiedergabe von Textbei-trägen in anderen Medien liegen bei der GfbV. Die Rechte für die mit © gekennzeichneten Beiträge bleiben bei den Urhebern. Der Nachdruck der ande-ren Beiträge ist bei Nennung der Quelle und Über-sendung von zwei Belegexemplaren ausdrücklich gestattet. Die Rechte der Fotos liegen bei den Ur-hebern; Nachdruck nur mit ausdrücklicher Geneh-migung gestattet. Für unaufgefordert eingesandte Texte und Fotos übernehmen wir keine Gewähr. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.

Redaktionsadresse: Gesellschaft für bedrohte Völkerc/o Redaktion „bedrohte Völker - pogrom“PF 2024, D-37010 GöttingenTel.: +49 (0) 551 49906 28Fax: +49 (0) 551 58028E-Mail: [email protected]: www.gfbv.de

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bedrohte Völker erscheint zweimonatlich. Das Jahresabonnement umfasst sechs Ausgaben. Doppelnummern sind möglich. Das Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht spätestens zum 31. Dezember des laufenden Jahres gekündigt worden ist. Bitte geben Sie uns etwaige Adressänderungen umgehend bekannt. Sie ersparen uns damit Kosten und sich selbst Ver-zögerungen bei der Zustellung.

Demonstration von Assyrern/Aramäern in Augsburg

für die Anerkennung des Völkermords.

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I M P R E S S U M

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Die Geschichte der Armenier hat nichts zu ver-bergen. Darin liegt ihre Kraft. […] Die türkische

Seite setzt ganz zynisch auf die Karte „Zeit“. Also auf die Erwartung, dass sich die Armenier angesichts ihrer Zer-streuung erst zersetzen und dann auflösen werden – und sich so „das Problem" von selbst lösen wür-de. Auf diese Weise, ohne Gewalt und Waf-fenwirkung, soll den Armeniern jenseits der armenischen Republik biologisch der Garaus gemacht werden.

Und in der Tat, die Weltkarte der Dias-pora sieht aus wie ein Flickenteppich, ver-streut über alle Erdteile. […] Dabei gibt es manche identitätserschwerenden Umstän-de. Während die jahrtausendealte jüdische Diaspora meist unter dem identitätsför-dernden Außendruck einer feindlichen Umwelt stand, sind große Teile der Armenier Christen unter Christen, wenngleich mit eigener Kirche, aber doch ohne das Odium eines lästigen Ausländertums. Aber gera-de das, was den Armeniern ihr Los erleichtert, erschwert ihnen ihr zentrales Problem - die Bewahrung ihrer Iden-tität in einer Diaspora von noch nicht absehbarer Dauer.

[…] Auch auf lange Sicht bange ich nicht um die kultu-relle Eigenart, den politischen Zusammenhalt und die de-mographische Existenz der Armenier in der Diaspora. In den langen Jahrzehnten, in denen ich die armenische Sache zur meinen gemacht habe, bin ich immer wieder Zeuge ge-worden, wie zäh sich armenische Existenz in der Fremde behauptet hat, wie tief sie sitzt, auch in der vierten Gene-ration. Ich habe gespürt, wie wahr ist, was mir damals in Paris bei den Dreharbeiten für meinen Film die armenische Historikerin Anahid Ter Minasian sagte: dass die Armeni-er ein „altes Volk“ seien, das seine jetzige Gestalt aus einer Kette unzähliger Geschlechter bezogen hat, und dass darin eine eingeborene Widerstandsenergie gegen die türkische

Hoffnung auf die auflösende Kraft der zerrinnenden Zeit besteht.

Es war übrigens die Stunde, in der Anahid Ter Minasian das wunderbare, mir unvergessliche Wort vom „armeni-schen Volk, diesem kleinen Fetzen Menschheit,“ fand. Ich

habe immer wieder gespürt, wie schwer es fremdem Einfluss fällt, den Fels armenischen Ursprungs abzuwittern, armenische Origi-nalität von außen abzutragen.

Es ist noch gar nicht lange her, dass ich es aufs Neue erfahren habe. Bei einem Auf-tritt des weltberühmten Pariser „Ensemble Armenienne Navarsat“ in Köln. Das strahlte nur so, zitterte und stampfte, ein rauschendes Fest in Farben, Klängen und Rhythmen, ein wahrer musikalischer Hurrikan über neun-hundert Zuschauerinnen und Zuschauer hin,

die meisten davon Armenier. Dann der Flor armenischer Kinder, Mädchen und Jun-

gen, die sich an der Treppe zur Bühne drängten, beseelt von dem Wunsch, den vergötterten Akteuren so nahe wie mög-lich zu sein. Welch ein Anblick!

Da, liebe Freundinnen und Freunde, ist mein Herz auf-gegangen, da habe ich, in eigenmächtiger Umwandlung des Refrains der polnischen Nationalhymne, also eines andern gequälten Volkes, da habe ich laut ausgerufen: “Noch ist Ar-menien nicht verloren!“

Giordano, Ralph (1923 – 2014) war Schriftsteller, Publizist, Journalist und Regisseur jüdischer Abstammung. In seinen Werken setzte er sich vor allem mit dem Holocaust und dessen Folgen auseinander.

Ralph Giordano (†)

„Noch ist Armenien nicht verloren“Auszug aus einer Rede auf der zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den

Armeniern am 24. April 2010 in der Frankfurter Paulskirche.Die GfbV dankt dem Schriftsteller Ralph Giordano für seine langjährige

Unterstützung ihrer Menschenrechtsarbeit.

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T H E M A

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In der geostrategisch exponierten Lage der Vielvöl-kerregion Kaukasus/Zentralasien entfalteten sich

während der Bildung der türkischen Nation gewaltige, zer-störerische Kräfte. Armenier, Assyrer, Griechen und viele andere Völker wurden Opfer von Völkermord und Ver-treibung durch die Türken. Nicht nur Re-ligionszugehörigkeit und Ethnizität waren ausschlaggebende Kriterien, gegen wen sich der Völkermord richtete. Auch die Interes-sen europäischer Großmächte spielten eine entscheidende Rolle. Von ihnen wurde der Völkermord einfach ignoriert.

[…]Aber in großer Not treten nicht nur die

dunkelsten Seiten des Menschen hervor, sondern auch seine edlen Eigenschaften. Trotz der vielen Offiziere, Beamten und wil-ligen Helfer und Vollstrecker der Grausamkeit, gab es im-mer wieder mutige Menschen, die den barbarischen Befeh-len widersprachen und sich für die Opfer einsetzten. Über die Grenzen der Religion hinweg halfen sie ihnen, beispiels-weise indem sie sie versteckten. Jenen Dienst am Menschen mussten sie häufig mit dem eigenen Leben bezahlen. Möge auch ihr Tod nicht vergebens sein und wir uns ihrer Taten immer erinnern.

Wie stellt sich die Situation heute, fast ein Jahrhundert seit dem Beginn der Vertreibungen, dar? Über das Schick-sal der Armenier wird in Europa inzwischen gesprochen. Darüber hinaus aber gab es zur selben Zeit in der Türkei Volksgruppen, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist. Über sie ist praktisch nichts in der Öffentlichkeit bekannt.

[…]Der Genozid an den Assyrern ist ein erschreckendes

Beispiel für die Verfolgung und Vernichtung von christli-chen Minderheiten Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch we-nige Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gehör-

ten bis zu einem Fünftel der türkischen Bevölkerung dem christlichen Glauben an. Heute zeugen in der Türkei meist nur noch Ruinen von einer einst lebendigen christlichen Kultur, die über viele Jahrhunderte mit den verschiedenen Strömungen des Islam zumeist friedlich koexistierte.

[…]Christen haben geschwiegen. Sie haben

ihre Glaubensbrüder und -schwestern in der Türkei vergessen, als diese einem natio-nal-religiösen Wahn zum Opfer fielen. Wie konnte das geschehen? Als Christen sind wir vor Gott alle gleich und verpflichtet, denje-nigen, die sich in großer Not befinden, bei-zustehen. Wir müssen die Würde des Men-schen bewahren helfen. Das Völkerrecht gibt uns dafür die entsprechenden Instrumenta-rien zur Hand. Unsere Überzeugungen und

Werte christlicher Ethik dürfen nicht vor machtpolitischen Interessen zurückstehen.

Es ist mir ein großes Anliegen, dazu beizutragen, dass zwischen Türken, Armeniern, Assyrern und Griechen ein Ausgleich durch Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird. Nur wenn das gelingt, wird es eine friedliche Zukunft geben. Es wird aber nur gelingen, wenn die heutige Türkei die Genozide, die sie von 1912 bis 1922 an den christlichen Völkern Kleinasiens verübt hat, als his-torische Tatsache anerkennt und im aktuellen Bewusstsein verankert. Dann, und nur dann, wird sie frei von der Schuld ihrer Vorfahren.

Erika Steinbach ist seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages und war von 1998 bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). Darüber hinaus ist sie Spre-cherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und gehört dem Fraktionsvorstand an.

Erika Steinbach

„Nur Anerkennung ermöglicht Versöhnen und Verzeihen“

Auszug aus einer Rede anlässlich einer Genozid-Gedenkveranstaltung der Assyrer, Armenier und Pontos-Griechen am 20. Mai 2006 in München

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Drei Jahrtausende armenischer GeschichteZwischen den südlichen Ausläufern des Kaukasus im Norden, dem Kleinen Kaukasus im Osten, dem Antitaurus im Südwesten sowie der mesopotamischen Tiefebene im Süden erstreckt sich der biblische Garten Eden. Gott soll dort den Menschen inmitten fruchtbaren Ackerlandes und fruchttragender Bäume auf die Erde gesetzt haben. Funde aus der Altsteinzeit, ca. 600.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, belegen die frühe Besiedlung dieser sich über 300.000 Quadratkilome-ter erstreckenden Region, die von den Römern »Groß-Armenien« genannt wurde. Der folgende Beitrag befasst sich mit der armenischen Geschichte bis zum Völkermord

Zahlreiche meist von Südost nach Nordwest verlaufende

Gebirgszüge gliederten dieses Hoch-land in geopolitisch und wirtschafts-geographisch bedeutende Regionen. Das historische Armenien war und ist der fruchtbarste Streifen zwischen Indien und den Dardanellen. Und zudem reich an Bodenschätzen. Die Nähe zu den Hochkulturen Babylon und Hattusa begünstigte außerdem den frühen Fernhandel. Wer »Ar-menien« beherrschte, kontrollierte

nicht nur den Fernhandel, sondern auch die Einfallswege zu den reichen Nachbarn. Daher war das Armeni-sche Hochland stets umkämpft. Im Osten wechselten sich Meder, Parther, Perser und schließlich Russen in der Vorherrschaft ab, im Westen waren es Römer, Byzantiner und Türken.

Zwischen 95 und 80 v. Chr. er-reichte Armenien unter König Tigran II. (95–55 v. Chr.) seine größte territo-riale und politische Macht und schloss Palästina, Syrien, den Libanon und

Kilikien mit ein. Allerdings währte die weit über das armenische Siedlungs-gebiet hinausreichende Ausdehnung zwischen dem Schwarzen, dem Kas-pischen und dem Mittelmeer nur we-nige Jahrzehnte, dann wurde Tigrans Macht von Rom beschränkt.

Im Jahr 301 erhob König Trdat III. das Christentum zur Staatsreligi-on. Armenien wurde damit der erste christliche Staat. Zwischen 350 und 367 kämpften die Armenier gegen die Annexion ihres Landes durch das

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Foto: Winfried Wermirzowski/Flickr BY-NC-SA 2.0 Die Kathedrale Ejmiatsin, die älteste christliche Kirche in Yerevan.

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Der Völkermord

zoroastrische Persien, das auch die christliche Religionsausübung unter-binden wollte. Byzanz verweigerte die Waffenhilfe und teilte Armenien im Jahr 387 mit Persien in eine westliche (byzantinische) und eine größere öst-liche (persische) Einflusssphäre.

Kurz vor dem Untergang des natio-nalen Königtums beauftragten Katho-likos Sahak der Große (387–414) und König Wramschapuh (389–414) den Mönch und vormaligen Hofsekretär

Mesrop Maschtoz (362–440) mit der Entwicklung einer neuen Buchstaben-schrift, die im Jahr 405 fertig gestellt werden sollte.

Nach der Entwicklung dieses Al-phabets begannen Mesrop und seine Schüler mit einer Bibelübersetzung, die im Jahr 433 fertig wurde. Diese Arbeit stellt die erste vollständige Bi-belübersetzung überhaupt dar, frühe-re Übersetzungen, wie die Gotenbibel des kappadokischen Bischofs Ulfilas (311–383), waren lediglich Teilüber-

setzungen. Den Byzantinern diente das Werk Mesrops als Vorlage bei der Missionierung der Slawen.

Eigene Wege

Am 26. Mai 451 begannen sich die ostarmenischen Christen gegen das persische Glaubensdiktat aufzu-lehnen und erlangten nach mehreren niedergeschlagenen Aufständen die Glaubensfreiheit. Zwischen dem 8.

Oktober und dem 1. November 451 fand in Chalkedon das vierte gesamt-ökumenische Konzil statt, an dem sich nur die aus dem westlichen Teil Ar-meniens stammenden Bischöfe betei-ligen konnten. Die dominante byzan-tinische Kirchenpolitik führte in den kommenden Jahrzehnten zum Bruch mit der armenischen Kirche.

Gemeinsam mit der syrisch-or-thodoxen, der koptischen, der äthi-opischen, der eritreischen und der malankarischen (indischen) Kirche

gehört die armenisch-apostolische Kirche seither zum Lager der so ge-nannten vorchalkedonensischen Kir-chen, die die Konzilsbeschlüsse von Chalkedon ablehnen.

Ab Herbst 640 griffen die Araber in mehreren Wellen Armenien an und eroberten es. Einer anfangs noch toleranten Herrschaft des arabischen Kalifats folgten wachsende Unterdrü-ckung, Frondienste, lastende Steuern und blutige Strafexpeditionen gegen

Aufständische. Die Armenier began-nen einen Partisanenkrieg, in dessen Folge ihnen 859 von Arabern und Byzantinern weitgehend Autonomie gewährt wurde.

Im 10. Jahrhundert drangen Kur-den vor allem in den Südteil Arme-niens ein und setzten sich als noma-disierende Viehzüchter in den höher gelegenen Regionen fest. Von dort aus unternahmen sie Raubzüge in die Ebenen, erpressten die armeni-sche Dorfbevölkerung und verlang- ›

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Armenien in seiner größten Ausdehnung unter König Tigrin I. um 70 vor Christus.

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Der Völkermord

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Teilung Armeniens 387 nach Christus zwischen Byzanz (Westen) und Persien (im Osten).

Das Bagratidenreich und das Königreich Vaspuragan (Waspuragan) im 10. Jahrhundert.

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Der Völkermord

ten Schutzgelder, einen Teil der Ern-te oder Frondienste. In der Schlacht von Manzikert (Malazgırt), nördlich des Vansees, schlugen 1071 die Sel-dschuken unter Sultan Alp Arslan (1029–1072) die byzantinische Armee vernichtend. Die Sieger verwüsteten Großarmenien. Daraufhin flüchte-ten Hunderttausende Armenier nach Kilikien, Nordsyrien, auf die Halbin-sel Krim am Schwarzen Meer und in immer weiter entfernte Gebiete Süd-ost- und Osteuropas. Eine dauerhafte armenische Diaspora entstand.

Unter dem Eindruck dieser Nie-derlage bat der byzantinische Kaiser Michael VII. (1059–1078) Papst Ge-org VII. (1073–1085) um Waffenhilfe gegen die Seldschuken.

Sein Nachfolger Urban II. (1088–1099) rief 1095 während einer Messe in Frankreich mit den berühmt ge-wordenen Worten »Gott will es« zum ersten Kreuzzug gegen die Muslime auf. Von 1080 bis 1095 scharte Fürst Ruben (1080–1095) in Konstantino-pel armenische Adelige um sich und wanderte nach Kilikien aus, das von den Arabern teilweise entvölkert wor-den war. Dort gründete er die Baronie Kilikien.1097 kamen Kreuzritter an die Grenzen von Kilikien und wurden von den Armeniern herzlich empfan-gen.

Türkische Vorherrschaft

Um die Mitte des 13. Jahrhunderts unterlagen die türkischen Seldschu-ken der mongolischen Armee Dschin-gis Khans. Daraufhin zerfiel das Sel-dschukenreich in Kleinstaaten. 1236 verwüsteten die Mongolen die wieder aufgebaute armenische Festungsstadt Ani, die 1319 nach nochmaligem Aufbau durch ein Erdbeben zerstört werden sollte. Ganze Sippen verließen daraufhin die Stadt in Richtung Ost-europa. Wo immer die Armenier auch hingelangten, bereicherten sie nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das kulturelle Leben.

Die türkische Dynastie der Osma-nen (oder Ottomanen), benannt nach ihrem Gründer Osman I., breitete sich vom Anfang des 14. Jahrhunderts an in Kleinasien aus. Ihr »Türkisches

Reich«, wie ihr Machtbereich schon seit 1299 hieß, wuchs schnell und soll-te letztlich bis 1922 halten.

Die nach dem Zerfall des Mongo-lenimperiums einsetzenden, für Ar-menien verlustreichen türkisch-per-sischen Vormachtskämpfe währten bis 1639 und verwüsteten das Arme-nische Hochland erneut. Von 1514 bis 1534 eroberten die Osmanen Syrien, Palästina, Ägypten, die Städte Mekka und Medina, den Jemen sowie den Irak und unterwarfen damit fast die gesamte arabische Welt.

In den von ihnen eroberten Gebie-ten achteten die Osmanen seit jeher

darauf, den Minderheiten ihre ethno-religiöse Eigenständigkeit zu belassen, wenngleich etwa der christliche Adel vor die Alternative gestellt wurde, seine Privilegien aufzugeben oder zum Islam zu konvertieren. Dieser »Toleranz« lagen politische und wirtschaftliche Überlegungen zu Grunde. Die erober-ten Völker sollten Landwirtschaft, Gü-terproduktion und Handel betreiben, die Erträge dieser Arbeit sollten aber den Eroberern zugute kommen.

Vom 14. bis Anfang des 18. Jahr-hunderts wurde die Knabenlese prak-tiziert. Hierbei wurde systematisch

und in Intervallen von ein bis fünf Jahren aus jeder 40sten christlichen Familie (es gab Schwankungen) ein Kind. - zumeist Knaben - das getauft, kein Einzelkind und zwischen acht und 20 Jahre alt war, entführt. Diese Kinder wurden islamisiert und ent-weder Janitscharen (eine militärische Eliteeinheit) oder Beamte im Osma-nischen Reich. Da man den Christen misstraute, blieben sie vom Militär-dienst und höheren Staatsämtern aus-geschlossen.

Für ihre »Befreiung« vom Wehr-dienst zahlten männliche Christen eine Steuer, zusätzlich zu zahlreichen ande-

ren Abgaben, die ihnen nur noch ein Drittel des Erwirtschafteten zum Leben ließen. Im Gegensatz zu Muslimen war es Christen bis 1908 verboten, Waf-fen zu besitzen. Ihre Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Bevölkerungs-gruppe mussten sie durch eine beson-dere Tracht kenntlich machen.

Jahrhundertelang unterdrückte Völker, vor allem die Balkanslawen und die Griechen, lehnten sich, vom Russischen Reich ideologisch, politisch und militärisch unterstützt, ab dem 18. Jahrhundert erfolgreich gegen die osmanische Fremdherrschaft auf. Die ›

Das armenische Königreich Kilikien (12. bis 14. Jahrhundert

nach Christus).

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Der Völkermord

Osmanen verloren sowohl in Kriegen gegen die Großmächte als auch durch Unabhängigkeitskämpfe die Länder Ungarn (1699), Siebenbürgen (1718), Teile des heutigen Griechenlands (1830), Algerien (1830), Rumänien (1877) und Tunesien (1881).

Um das Osmanische Reich vor dem völligen Zerfall und dem dro-henden Ruin zu bewahren, wurden in mehreren Wellen vorrangig Mili-tär, Verwaltung und Justiz reformiert (Tanzimat-Reformen von 1838/39 bis 1876). Diese Reformen sollten aber auch auf Druck der Großmächte (Pa-riser Konferenz 1856) nichtmuslimi-schen Minderheiten Selbstverwaltung, freie Religionsausübung sowie die Gleichheit vor dem Gesetz und den Steuerbehörden gewähren. Als deren Höhepunkt wurde 1876 schließlich eine liberale Verfassung eingeführt, die den Minderheiten ungeachtet ih-rer ethno-religiösen Herkunft zumin-dest auf dem Papier die versprochenen Rechte garantieren sollte. Doch schon zwei Jahre später setzte Sultan Abdül-hamid II. (1876–1909), dessen Mutter eine Armenierin aus Jerewan war, die-se Verfassung wieder außer Kraft.

Reformen und Repression

Vom Balkan und aus dem vom rus-sischen Zarenreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eroberten Kaukasus flüchteten zahlreiche Muslime ins Os-manische Reich. Dort wurden sie als Glaubensflüchtlinge aufgenommen und in christlich geprägten Regionen zur Verstärkung des muslimischen Bevölkerungsteils angesiedelt. Jeder der Bezirke Osmanisch-Armeniens übernahm in den Jahren 1879/80 zwi-schen 25.000 und 40.000 Flüchtlinge. Dieser Strom sollte auch in späterer Zeit nicht mehr abreißen.

1877 griff Russland militärisch in Osmanisch-Armenien ein, muss-te sich aber auf Grund des nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1877/78) abgeschlossenen Berliner Vertrags von 1878 größtenteils wieder zurück-ziehen. Nur die Gebiete von Kars, Ardahan und Batum (Batumi) blie-ben bis zur Oktoberrevolution 1917 unter zaristischer Herrschaft. Im

Gegenzug verpflichteten die sechs europäischen Großmächte (Deutsch-land, Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich, England und Russland) das Osmanische Reich, im Rahmen der »armenischen Reformen« in den »armenischen Provinzen« Verwal-tungsautonomie einzuführen sowie die Bevölkerung vor den Kurden und nordkaukasischen Neusiedlern (Sammelbegriff »Tscherkessen «) zu schützen. Allerdings war keine der Mächte bereit, die Verwirklichung dieser Reformen nötigenfalls auch mi-litärisch durchzusetzen, ein Umstand, dessen sich Sultan Abdülhamid II. sehr wohl bewusst war. Selbst Russ-land hatte nach der Ermordung des liberalen Zaren Alexander II. (1881–

1894) seine prochristliche, interven-tionistische Politik zugunsten einer Duldungs- und Stützungspolitik der Pforte aufgegeben. Es blieb seitens der Großmächte lediglich bei wirkungs-losen Protestnoten, was die Armenier dazu veranlasste, sich gegen die fort-gesetzten Übergriffe von Kurden und »Tscherkessen« selbst zu verteidigen. Es entstanden bewaffnete armeni-sche Geheimorganisationen und um 1880 drei Parteien (Daschnaktsutyun, Huntschak und Ramgawar), die vor-

rangig das Ziel einer regionalen Auto-nomie verfolgten und teilweise, nach erheblichen programmatischen und organisatorischen Änderungen, noch heute existieren.

Dem Sultan waren solche Bestre-bungen sezessionsverdächtig. 1891 gründete er eine ihm zu Ehren be-nannte kurdische Kavallerie, die Ha-midiye. Diese Spezialeinheit wurde offiziell zum Schutz der Grenze mit dem Russischen Reich aufgestellt, tat-sächlich jedoch gegen die schon da-mals als »innere Feinde« betrachteten Armenier eingesetzt.

Zwischen 1894 und 1896 kam es zu den ersten systematischen Arme-nierverfolgungen, bei denen die auf-gehetzte muslimische Bevölkerung landesweit an Plünderungen und Massakern teilnahm. Diesen Pogro-men fielen über 100.000, laut Anga-ben des armenischen Patriarchats bis zu 300.000 Menschen zum Opfer.

Als ein in seiner Geschichte oft von Vertreibung und Exil betroffenes Volk legten die Armenier, wie auch die an-deren christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich, stets größten Wert auf ihre intellektuelle und öko-nomische Unabhängigkeit. Um 1900 besuchten fünfmal so viele armeni-sche Christen wie Muslime die Schule. Sie übernahmen auch soziale Aufga-ben und organisierten Waisenhäuser sowie Armenspeisungen. Noch heute gibt es in Istanbul solche von Arme-niern betriebene Einrichtungen. Der Einfluss, den manche von ihnen in der osmanischen Wirtschaft und na-mentlich im Finanzwesen besaßen, wird gelegentlich als Begründung für ihre Verfolgung und Vernichtung he-rangezogen. Tatsächlich ging es bei den Verfolgungen christlicher Min-derheiten zwischen 1912 und 1920, die während des Ersten Weltkriegs im Genozid gipfelten, auch um die Verdrängung aus wirtschaftlichen Machtbereichen, die nun von der türkischen bzw. muslimischen Bevöl-kerung besetzt wurden. Allerdings darf dieser Zusammenhang nicht den Blick darauf verstellen, dass 80 Pro-zent der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich Bauern und kleine Handwerker waren.

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Der Semiramis-Kanal, die wichtigste Wasserversorgung der Dörfer in der Region Van. Er geriet nach dem Völkermord in Vergessenheit. Nun ist er wieder in Betrieb.

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„Ein schwarzer Strom ergoss sich gen Süden,

versickert allmählich im Sand…“ 1)

Eine zentrale Methode bei der Vernichtung der Armenier und aramäischsprachigen Christen waren Deportationen in Wüsten, in denen es kein Überleben gab; erst recht nicht für halb ver-hungerte, kranke und traumatisierte Menschen. Der folgende Beitrag beschreibt die Planung und Durchführung dieser Verbrechen durch die türkischen Behörden.

Die bereits auf den Parteita-gen des jungtürkischen Ko-

mitees „Einheit und Fortschritt“ 1910 und 1911 geplante Türkisierungs- bzw. Zersiedelungspolitik wurde seit den Balkankriegen 1912/13 zuerst ge-gen die griechisch-orthodoxe Bevöl-kerung Ostthrakiens umgesetzt, ge-folgt von Deportationen der Griechen von der Marmara- und der ionischen Küste (vgl. Beitrag „Unaufhörlicher

Völkermord: Die Vernichtung der Romíes“). Am 26. Oktober 1914 de-kretierte das osmanische Innenminis-terium die Deportation und Zersiede-lung der ostsyrischen Bevölkerung aus dem Grenzbezirk Hakkari. 2)

Bis Ende April 1915 wiegten sich dennoch zahlreiche Armenier in re-lativer Sicherheit: Galt nicht Innen-minister Talat als ihr Freund? Hatte er nicht unlängst in Konstantinopel

einem armenischen Konzert beige-wohnt? Hatten nicht Armenier Talat während eines Umsturzversuchs ge-gen die Jungtürken versteckt und sein Leben gerettet? Galt nicht, im Gegen-satz zu den kleinasiatischen Griechen, die ermeni milleti, die – auch konstitu-tionell verfasste - armenisch-apostoli-sche „Glaubensnation“, gemeinhin als milleti sadıka (loyale Nation), deren patriotische „Pflichterfüllung“ an der

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Zwischenstation von Deportiertenkonvois.

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Front Kriegsminister Enver noch am 25. Februar 1915 in einem Schreiben an den armenischen Patriarchen zu Konstantinopel gelobt hatte? Dass En-ver am selben Tag die Entwaffnung der meisten armenischen Soldaten und ihre weitere Verwendung als wehr-lose Zwangsarbeiter anordnete, kam ebenso als Schock, wie zwei Monate später die Festnahme von Angehöri-gen der armenischen Führungsschicht am nachösterlichen Samstag, dem 24. April 1915. Bei dieser Vernichtung der Elite wurden nach amtlichen Angaben bis zu 2.345 Abgeordnete, Politiker, Wissenschaftler, Autoren und Geist-liche unter dem Generalverdacht des

Landesverrats festgenommen und in das Landesinnere deportiert, wo man sie nach monatelangen ergebnislo-sen Verhören ermordete. Die Verhaf-tungen örtlicher Eliten wiederholten sich in den Provinzhauptstädten und zahlreichen kleineren Orten, begleitet von Massakern an den wehrfähigen erwachsenen Männern.

Beginn der Deportationen

Die solcherart enthauptete Nation wurde ab Mitte März 1915 regional abgestimmt deportiert. Den Anfang machten die für ihren Freiheitsdrang bekannten und bis in die Neuzeit halb-

autonomen Gebirgsstädtchen Sey-tun (heute Süleymanlı) und Hadschn (Saimbeylı) im zentralen Tauros sowie Dörtyol (Sancak Alexandrette, heute Hatay), gefolgt von den in der Ebene gelegenen Gebieten Kilikiens, danach Ost- und schließlich Westanatolien. Mit Rücksicht auf die zahlreichen aus-ländischen Augenzeugen, darunter Diplomaten, deportierte das Regime aus der Hauptstadt Konstantinopel im Sommer 1915 sukzessive „nur“ 34.000 Armenier; weitere 30.000 flüchteten nach Angaben des deutschen Bot-schafters. 3) In der thrakischen Haupt-stadt Adrianopel (türk. Edirne) sowie in der Hafenstadt Smyrna blieben, mit Rücksicht auf die griechische Mehr-heitsbevölkerung und um die Neutra-lität Griechenlands zu gewährleisten, Armenier weitgehend von der Depor-tation verschont. Auch in den Provin-zen Bitlis und Van verzichteten örtli-che Machthaber auf Deportationen. Dort wurden Armenier an Ort und Stelle massakriert oder, wie in Bit-lis, in großen Scheunen und anderen Gebäuden lebendig verbrannt. Der Begriff „Holocaust“, der sich ab 1895 in der europäischen und nordameri-kanischen Publizistik als Synonym für die massenhafte Lebendverbrennung kleinasiatischer Christen, insbeson-dere Armenier, eingebürgert hatte, wurde erst 1955 von Juden auf ihre Vernichtung durch Nazi-Deutschland übertragen. Noch 1927 nannte Win-ston Churchill in seinem Werk „The World Crisis“ (Bd. 5) die Vernichtung der Armenier im Ersten Weltkrieg ei-nen „administrativen Holocaust“.

Das Ziel der frühen Deportationen aus Kilikien, Konya in der Provinz Ankara, ersetzte das Innenministeri-um schon bald durch mesopotami-sche Destinationen im heutigen Nord-ostsyrien und Nordirak. Es handelte sich hierbei um die wasserloseste und entsprechend am dünnsten besiedelte Region des damaligen osmanischen Herrschaftsgebiets. Am 6. Juli 1914 hatte der aus dem ionischen Bezirk Aydın stammende Parlamentsabge-ordnete Emanuel Emanuelidis in ei-ner Parlamentsdebatte vorgeschlagen, muslimische Balkanflüchtlinge statt in den bereits bewohnten Gebieten

Deportierte mit ihrem Kind.

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Ioniens, wo die Neuankömmlinge die altansässigen Christen drangsalierten, in Nordostsyrien anzusiedeln. Minis-ter Talat lehnte den Vorschlag mit der Begründung ab, dass dies den sicheren Tod der etwa 270.000 infrage stehen-den Muslime bedeuten würde, da kei-ne Mittel zur Entwicklung der fragli-chen Region zur Verfügung stünden. Zehn Monate darauf ließ Talat unter den Bedingungen einer landeswei-ten Hungersnot fast vier Mal so viele Menschen – an die zwei Millionen Ar-menier – genau in diese Region trei-ben.

Etwa die Hälfte der Deportierten starb schon unterwegs, wurde Opfer von Massakern, Entbehrungen und Seuchen, denn die Deportationen wurden absichtlich als Todesmärsche durchgeführt, besonders im Fall der ostanatolischen Armenier. Die be-waffneten Begleitmannschaften dul-deten Übergriffe der muslimischen Bevölkerung vor allem dann, wenn die Deportierten über keine Mittel

mehr verfügten, um ihren Wächtern „Schutzgeld“ zu zahlen. Die Berau-bung der Opfer blieb straffrei, ebenso die gewaltsame Wegnahme bzw. Ver-gewaltigung von Kindern und Frauen. Das Schicksal der Deportierten lag ganz in der Hand ihrer bewaffneten Begleiter, die die Deportierten meist auf Umwegen oder besonders mühse-ligen Wegstrecken führten, um sie zu erschöpfen; Reit- und Lasttiere nahm man ihnen aus demselben Grund spä-testens bei der ersten Wegsteigung ab. Die Begleitmannschaften bestimmten auch, wann und wo gerastet wurde; häufig waren die Rastplätze bereits von früheren Konvois typhusinfiziert. “Trinkwasser” kam oft aus verseuch-te Quellen. Kleinkinder, Schwangere und Wöchnerinnen besaßen, ebenso wie Kranke und alte Menschen, kaum Überlebenschancen und mussten von ihren Angehörigen zurückgelassen werden, falls sie nicht gleich von den Begleitmannschaften ermordet wur-den. Die Leichen blieben meist unbe-

erdigt, da ihre Menge die staatlichen „Sanitätseinheiten“ überforderte und die muslimische Bevölkerung Chris-ten aus Verachtung nicht beisetzte. Massenhaft in Zisternen und Flüsse geworfene Leichen verseuchten das Trinkwasser. Von durchziehenden Deportierten infiziert, starben nach Schätzung des österreichischen Mili-tärbevollmächtigen Josef Pomiankow-ski „mindestens eine Million Moham-medaner“ an Typhus: „Dies war die Rache der hingemordeten Armenier an ihren Henkern!“

Mörder als Hilfstruppen

Die Organisation und Durch-führung von Massakern oblag der 1913 gegründeten Sonderorganisati-on (Teşkilat-i Mahsusa), die damals vor allem in Thrakien durch Terror gegen griechische Dorfbewohner hervorgetreten war. Unter Leitung des Innenministeriums rekrutierte die Sonderorganisation bereits seit

Deportierte mit verhungertem Kind.

Zerlumpte Waisen und Flüchtlinge.

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August 1914 Strafgefangene. Für das Ziel der Massenvernichtung osmani-scher Christen als „innerer Feinde“ arbeiteten reguläre Ministerien, vor allem das der Justiz, der Sonderorga-nisation zu. Ab November 1914 be-teiligten sich sowohl das Kriegs-, als auch das Innenministerium an der Bildung irregulärer Einheiten (çete-ler), in die man vorzugsweise solche Kriminelle aufnahm, die „häufig mit Mord und Diebstahl befasst waren“ 4). Zugleich trieb man die Entlassung von Zuchthäuslern voran. Ein An-fang Dezember 1914 erlassenes Ge-setz legalisierte die Rekrutierung der Schwerverbrecher, die der Ge-neralsekretär des Komitees für Ein-heit und Fortschritt, Midhat Şükrü, zu „respektablen Personen“ erklär-te, weil sie „armenische Frauen und Kinder massakriert hatten, um dem Vaterland zu dienen“. Teilnahme am Massenmord an osmanischen Bürger bildete aus damaliger offizieller Sicht eine Rehabilitierungsmaßnahme für staatlich rekrutierte Raubmörder. Fünf Jahre später, am 13.01.1920, hob ein osmanischer Staatsanwalt im Hauptverfahren gegen die politisch verantwortlichen jungtürkischen Führer die staatliche Verantwortung für die Verbrechen hervor: „Die ver-übten Gemetzel erfolgten nach einem vorgefassten Plan und mit absolutem Vorsatz. Sie wurden zunächst von den Entsandten und höchsten Gremien der Partei Einheit und Fortschritt organi-siert und befohlen und dann von den Führern der Provinzstatthalterschaften ausgeführt, die den Plänen und Wün-schen einer Organisation gehorchten, die kein Gesetz und keine Skrupel kannte.“ 5)

Beamte, die sich aus religiösen oder humanitären Gründen weiger-ten, Frauen, Alte, Kranke und Kinder unterschiedslos und ohne genügende Logistik auf die schon zu Friedens-zeiten unsicheren Landstraßen zu schicken, enthob die Regierung ihres Amtes oder ließ sie ermorden. 6)

Etwa 870.000 Deportierte erreich-ten dennoch Mesopotamien und wurden in Konzentrationslagern ent-lang der Bagdadbahnlinie interniert; einigen Zehntausenden gelang es, in

den Städten Aleppo, Dayr-az-Zawr (Der Sor) oder Mossul zu bleiben, bis sie 1916 nach der Amtsenthebung toleranter Bürgermeister ebenfalls weiterziehen mussten. Mesopotami-en litt während des Weltkrieges an ei-ner extremen Hungersnot, ausgelöst durch eine alliierte Seeblockade und die Weigerung der osmanischen Ver-waltung, ihre Lebensmittelspeicher zu öffnen. Der überwiegend arabi-schen Bevölkerung der osmanischen Provinz Syrien (zu der auch der Li-banon, Jordanien, Palästina und der heutige Irak gehörten) wurde sogar die Jagd und der Fischfang verboten. Infolgedessen starben einem fran-zösischen Bericht zufolge während des Höhepunkts der Hungersnot, im Februar 1916, täglich bis zu 400 Menschen. Der US-amerikanische Genozidforscher Rudolph Rummel berechnete die Zahl der Opfer mit bis zu 300.000, vor allem im über-wiegend christlichen Libanon, nicht gerechnet jedoch die armenischen Deportierten. Von diesen bereits bei ihrer Ankunft verelendeten und kranken Menschen starben bis zum Herbst 1916 weitere 630.000.

Die Endphase des Genozids be-stand aus der besonders brutalen Deportation einer bereits äußerst ge-schwächten, unterernährten und oft schwerkranken Bevölkerungsgruppe. Die Armenier wurden von Aleppo nach Dayr-az-Zawr und über den Chabur-Fluss hinaus getrieben, wo sie von Todesschwadronen niederge-metzelt wurden, die man aus örtlichen nordkaukasischen Stämmen (Tscher-kessen und Tschetschenen) sowie Arabern rekrutierte. Den Schätzun-gen des Aleppiner Armeniers Robert

Jébédjian zufolge verbrannten oder er-stickten 1916 80.000 Armenier in den erdölhaltigen Höhlen nahe dem Dorf Schaddadeh bei lebendigem Leib. 7) Am 4. Oktober 1916 teilte die deutsche Botschaft Konstantinopel auf Anfrage der deutschen Regierung eine auf die Hochrechnung der in Aleppo tätigen deutsch-schweizerischen Schwester Beatrice Rohner gestützte Opferbilanz mit: Von einer armenisch-osmani-schen Vorkriegsbevölkerung von etwa 2,5 Millionen Menschen waren zwei Millionen deportiert worden, von de-nen anderthalb Millionen bereits ge-storben waren. 8)

„Es handelt sich um nichts weni-ger als um die Vernichtung oder ge-waltsame Islamisierung eines ganzen Volkes“, resümierte bereits Anfang Juli 1915 der deutsche Vizekonsul zu Samsun, wo eine lange Islamisie-rungstradition bestand. Der Schwei-zer Feldscher Jakob Künzler erwähnte für 1919 132.000 christliche Waisen im gesamten Osmanischen Reich. Johannes Lepsius schätzte im selben Jahr die Zahl der „islamisierten Arme-nier“ sowie „verkauften Frauen, Mäd-chen und Kinder“ auf „noch 200.000“. Archivdokumenten der USA zufolge gab es im Jahr 1921 in ganz Anatolien über 95.000 armenische Waisen. Ihr Überleben in der Republik Türkei er-folgte um den Preis jahrzehntelanger Identitätsverleugnung und Assimilati-on, wovon der biographische Bericht „Anneannem“ („Meine Großmutter“, 2000) der Istanbuler Anwältin Fethiye Çetin ein erstes öffentliches Zeugnis ablegte. Dass das Buch in der Türkei elf Auflagen erlebte, zeigt das enorme Bedürfnis einer entwurzelten Gesell-schaft am Tabubruch.

1) Anfangszeilen des Gedichts „Deportation“ von Wahan Tekejan (*1878, Konstantinopel, †1945, Kairo)2) Gaunt, David: Massacres, Resistance, Protectors: Muslim-Christian Relations in Eastern Anato-

lia during World War I (New Jersey, NJ: Gorgias, 2006), S. 4473) http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-12-07-DE-0014) Kévorkian, Raymond: The Genocide of the Armenians: A Complete History. London: Tauris,

2012, S. 1835) Kévorkian, a.a.O., S. 1876) Vgl. dazu die Dokumentation „Verschwiegene Helden“ der Arbeitsgruppe Anerkennung – Ge-

gen Genozid, für Völkerverständigung: http://www.aga-online.org/hero/index.php?locale=de7) Jébéjian, Robert (Hg.): A Pictorial Record of Routes and Centers of Annihilation of Armenian

Deportees in 1915 within the Boundaries of Syria (Aleppo: Violette Lébéjian Library, 1994), S. 658) http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1916-10-04-DE-002

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Massaker an Armeniern sowie Plünderung des

armenischen Viertels in Konstantinopel 1895.

Der Völkermord an den AssyrernDer Völkermord an Armeniern, Assyrern/Aramäern und anderen christlichen Völkern des Os-manischen Reiches war langfristig geplant und organisiert. Dr. Nicholas Al-Jeloo beleuchtet die Hintergründe und das Vorgehen der osmanisch-türkischen Regierung.

Der Völkermord an den As-syrern war eine vorsätzli-

che und systematische Maßnahme, ausgeführt durch Vertreibung und Massaker an ethnischen Assyrern – die auch als Chaldäer, syrische oder aramäische Christen (Aramäer) be-kannt sind – innerhalb des persischen und Osmanischen Reiches sowie spä-ter der türkischen Republik. Verant-wortlich dafür waren in erster Linie die damalige osmanische Regierung und Armee, im Verbund mit anderen muslimischen Völkern, darunter die

Kurden. Zudem geschah dies zeit-gleich mit dem Genozid an anderen alteingessenen christlichen Völkern des Osmanischen Reiches wie den Ar-meniern und Griechen.

Am Vorabend des Ersten Welt-kriegs betrug die Anzahl der Assyrer etwa eine Million. Sie lebten mehrheit-lich in Ober-Mesopotamien. Zwischen August 1914 und September 1925 ver-loren die Assyrer einen beträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung durch den Völ-kermord. Damit wurden sie in ihrer gesamten Ursprungsregion weitgehend

ausgelöscht und mit ihnen ein großer Teil ihrer materiellen Kultur und ihres historischen Erbes.

Der Plan

Durch einen Putsch am 24. Juni 1908 hatten die Jungtürken Sultan Ab-dulhamid II. abgesetzt und die Macht im Osmanischen Reich übernommen. Nachdem sie ihre Herrschaft etabliert hatten, ersetzten sie systematisch die alten osmanischen Bürokraten durch junge Muslime; angetrieben von der

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Osmanische Truppen erfahren von der Kriegserklärung der Türkei.

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Vision, Turan zu schaffen – einen tür-kischen Staat, der von der Adria bis zur Großen Chinesischen Mauer reichen und alle turkstämmigen Völker verei-nen sollte.

Beim Jahreskongress des Jung-türkischen Komitees für Einheit und Fortschritt (CUP) 1910 in Thessaloni-ki bemerkte der Kongress-Präsident: „Auf die Christen ist kein Verlass […]. Da die europäischen Mächte türkische Angelegenheiten immer durch die christliche Brille sehen, müssen alle Anstrengungen unternommen wer-den, die Propaganda der christlichen Nationen zu zerschlagen, bevor sie die Aufmerksamkeit der europäischen Politiker anzieht. […] Die Muslime sollten ihre Waffen bereit halten und dort, wo sie in der Minderheit sind, sollten die Behörden Waffen an sie verteilen. […] Muslimische Emigran-ten aus dem Kaukasus und Turkestan müssen zur Einwanderung ermutigt werden, Land muss für sie bereit ge-stellt und die Christen daran gehin-dert werden, Eigentum zu erwerben. […] Früher oder später muss die vollständige Osmanisierung aller tür-kischen Staatsbürger vollzogen sein, aber es ist klar, dass dies nicht durch Überzeugung erreicht werden kann, sondern nur durch Waffengewalt.“ 1)

Im darauffolgenden Jahr fand der Kongress wieder in Thessaloniki statt. Den Vorsitz führte Talat Pascha, der osmanische Innenminister, und einer seiner Chefideologen, Dr. Bahettin Şakir, erklärte in der Versammlung: „Die Nationen in unserem Reich, die noch aus den alten Zeiten stammen, sind wie fremdes und schädliches Un-kraut, das ausgerottet werden muss, um unser Land zu säubern [….].“ 2) So wur-den die ursprünglichen Bewohner von Kleinasien, einschließlich der Assyrer “fremdes und schädliches Unkraut“, das ausgerottet werden musste in seinem eigenen Heimatland. Bis 1914 hatte der extremistische Flügel der CUP die voll-ständige Kontrolle über die osmanische Bürokratie und das Militär erlangt.

Die Gelegenheit

Die Gelegenheit, diesen Plan um-zusetzen kam mit dem Ersten Welt-

krieg, der Ende Juli 1914 begann. Am 1. August unterzeichnete das Osma-nische Reich ein Geheimabkommen mit Deutschland, das am gleichen Tag Russland den Krieg erklärte. Am 1. November trat das Osmanische Reich offiziell in den Krieg ein, als Russland ihm den Krieg erklärte. Gleichzeitig erklärte es den Heiligen Krieg (Jihad) gegen die christlichen Mächte, in der Hoffnung, die islamischen Völker ge-gen die christlichen Völker der Entente, vor allem England, das im Nahen Os-ten agierte, zu mobilisieren.

Am 3. August arrangierte Tashin Pascha, der osmanische Gouverneur von Van, ein Treffen mit dem Patriar-chen der Assyrischen Kirche des Os-tens, Mar Binyamen Shimun, bei dem

viele Versprechen gemacht wurden, damit die Assyrer dieser Provinz neu-tral und loyal gegenüber dem osmani-schen Staat blieben. Als Gegenleistung für den Bau von Schulen, Straßen und Infrastruktur in dem Gebiet wurden die Prälaten damit betraut, die osma-nische militärische Mobilisierung zu unterstützen (Seferberlik). Gleichzei-tig wurden Soldaten unter den Assy-rern im Raum Van für den Arbeits-dienst zwangsrekrutiert, um als Träger und Arbeiter im Straßenbau zu die-

nen, während ihre Wohnstätten unter dem Vorwand der Unterstützung für die Armee geplündert wurden. Die meisten dieser Eingezogenen wurden später ermordet. Seit dem Monat flo-hen Assyrer aus den Grenzgebieten zum Iran vor den gewaltsamen Raub-zügen des osmanischen Militärs, das kurdische Stammesangehörige be-waffnete, während Waffen von Assy-rern konfisziert wurden.

Massenhaftes Abschlachten

Die osmanische Politik der Zer-störung erreichte bald das benach-barte persische Reich, den heutigen Iran. Am 24. Dezember 1914 plante der osmanische Kriegsminister Enver

Pascha, die russische Armee in Sa-rikamis einzukesseln und zu zerstö-ren, um Gebiete zurückzugewinnen, die vorher verloren gegangen waren. Tatsächlich wurden Envers Soldaten in der Schlacht eingekesselt und fast vollständig vernichtet. Dafür wurden Armenier verantwortlich gemacht, die auf Seiten der Russen kämpften. Als Deshalb marschierten die zu-rückziehenden Truppen unter Jevdet Bey zu Beginn des Jahres 1915 in die assyrischen Distrikte von Urmia und ›

Der ermordete Patriarch Mar

Binyamen Shimun.

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Salamas in Aserbaidschan ein. Unbe-waffnete Assyrer wurden dabei mas-sakriert oder verhungerten; tausende Mädchen, manche nicht älter als sie-ben Jahre, wurden vergewaltigt oder gezwungen, zum Islam zu konvertie-ren. 200 christliche Dörfer wurden zerstört, drei Viertel davon bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Von Jevdet wird gesagt, dass er im Februar 1915 auf einem Treffen erklärte: “Wir haben Aserbaidschan von Armeniern und Assyrern gesäubert, und wir wer-den dasselbe mit Van machen.“

Am 29. Mai 1915 wurde das “Vor-läufige Gesetz zur Deportation” ver-abschiedet, das die osmanische Re-gierung und Militär ermächtigte, jede Person zu deportieren, die als Gefahr für die nationale Sicherheit betrachtet wurde. Das beinhaltete die Konfiszie-rung christlichen Eigentums und weit verbreitete Massaker. Bewaffneter Widerstand wurde als „Revolte“ ge-gen die Regierung gebrandmarkt. Die Morde und die massenhaften Hun-gertoten waren somit „systematisch“, „autorisiert” und “organisiert von der Regierung“. Aussagen von Talat Pa-

scha machen deutlich, dass sich die Offiziellen darüber im Klaren waren, dass der Befehl zur Deportation Völ-kermord-Charakter hatte.

Mitte 1915 marschierte Jevdet Bey mit 8.000 Soldaten, die „Schlächter-Bataillon“ genannt wurden, in die Städte Bitlis und Siirt ein und befahl die Massakrierung von Armeniern und beinah 20.000 assyrischen Zi-vilisten in mindestens 30 Dörfern. Augenzeugen beschreiben das syste-matische Vorgehen: Zuerst wurden die Gemeindeoberhäupter gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Da-rauf folgte die Verhaftung aller jungen und leistungsfähigen Männer, die in einiger Entfernung der Wohnorte er-schossen wurden. Danach wurden alle männlichen Kinder zusammengetrie-ben, zu einem nahegelegenen Felsen gebracht und in den Abgrund gesto-ßen. Schließlich wurden die Frauen, Mädchen und Alten deportiert, um schließlich von kurdischen Verbänden ausgeraubt und ermordet zu werden.

Der deutsche Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim berichtete, das Osmanische Reich „säubert“ sich

von seiner ursprünglichen christlichen Bevölkerung durch „Auslöschung“. Im Juli 1915 bekräftigte er, dass die As-syrer aus Midyat, Nisibis und Jazirah auch ermordet worden seien. Assyri-sche Überlebende aus vielen Dörfern der Tur-Abdin-Region retteten sich in Zentren wie Ayn-Wardo, Azakh und Binebil, wo sie heftigen Widerstand gegen die osmanischen Truppen leiste-ten. Die Assyrer von Tur Abdin nennen das Jahr 1915 noch immer das Jahr des Seyfo, des Schwertes.

Deportation und Zwangsenteignung

Zahlreiche Assyrer, wurden mit zehntausenden Armeniern in die sy-rische Stadt Deir ez-Zor und die um-liegenden Wüsten deportiert. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die os-manische Regierung die nötige Infra-struktur und Unterstützung zur Ver-fügung gestellt hätte, um das Leben von hunderttausenden Deportierten nach den Gewaltmärschen zu sichern. Henry Morgenthau schrieb: "Als die türkischen Behörden den Befehl für

Kriegsminister Envar Pascha (1881 – 1922). Innenminister Talaat Pascha (1874 – 1921).

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die Deportation gaben, haben sie gera-dezu die Befugnis zur Ermordung der gesamten Rasse gegeben; sie wussten das wohl, und in der Unterredung mit mir gaben sie sich keine Mühe, das zu verbergen…”. Im August 1915 berichte-te die New York Times, dass die Stra-ßen und der Euphrat übersät waren mit den Leichen der Verbannten, und die-jenigen, die überlebt hatten, waren dem sicheren Tod geweiht.

Die Deportationen waren von anderen abscheulichen Verbrechen begleitet. Assyrische Zivilisten wur-den in Kirchen eingeschlossen und verbrannt – die ersten Gaskammern – oder zu Tode gefoltert. Assyrer und Armenier von Diyarbakir wurden auf Flößen den Tigris hinunter getrieben, die dann kenterten, so dass die Men-schen ertranken. Die schnellste Me-thode jedoch, die deportierten Frauen und Kinder loszuwerden, war, sie zu verbrennen. Am 13. September 1915 wurde ein neues „Vorläufiges Gesetz zur Zwangsenteignung und Depor-tation“ verabschiedet, wonach aller Besitz und Guthaben, einschließlich Land, Vieh und Häuser der depor-tierten Armenier von den Behörden zu konfiszieren sei. Dadurch nahm die osmanische Regierung von allen „verlassenen“ christlichen Gütern und Eigentum Besitz und verkaufte es in vielen Fällen sogar weiter.

Ethnische Säuberungen und Vernichtung

Die Assyrer des Hakkari-Hoch-lands leisteten den osmanischen Truppen und den verbündeten kur-dischen Verbänden Widerstand. Sie waren nicht leicht zu vertreiben, weil sie schon immer bewaffnet gewesen waren, und sie waren ebenso wild wie ihre kurdischen Nachbarn. Am 12. April 1915 beschloss eine Versamm-lung von assyrischen Stammesführern unter der Leitung des Patriarchen Mar Benyamen Shimun, angesichts der Angriffe auf assyrische Dörfer und der bedrückenden Umgebung, in der sie leben mussten, eine Übereinkunft mit Russland zu suchen. Am 23. Juni 1915 griff der osmanische Gouver-neur von Mossul mit seinen Truppen

und kurdischen Hilfsverbänden die südlichsten assyrischen Siedlungs-gebiete an und trieb die Menschen weiter in die Berge. Dabei wurden sie in kleinen Gruppen isoliert, von einer großen Übermacht angegriffen und umzingelt. Die unbewaffneten Dorfbewohner waren ein leichtes Ziel für die osmanischen und kurdischen Verbände. Schließlich wurden sie am 15. September endgültig besiegt. Die überlebenden Flüchtlinge retten sich über die Grenze nach Persien.

Es war die Ermordung von Mar Be-nyamen Shimun am 3. März 1918, der vom kurdischen Stammesfürst Simko in einen Hinterhalt gelockt worden war, die schließlich am 3. Juli zu einem gigantischen Exodus von 90.000 Assy-rern und Armeniern führte. Während sie innerhalb von sechs Wochen in heilloser Panik 800 Kilometer mit ih-ren Familien, Vieh und Besitztümern zurücklegten, wurden sie unablässig von Türken, Kurden und Persern an-gegriffen. Kein Gefangener wurde ge-schont. Der persische Kommandant Majd-ul-Saltane schnitt den Flüchtlin-gen zweimal den Rückzug ab und te-legrafierte, er habe an dem Tag “2.000 Ungläubige in die Hölle geschickt”. Versengt von der Hitze des Sommers und heimgesucht von Typhus, Ruhr, Pocken und Cholera blieben Kinder und Erwachsene vor Erschöpfung und Fieber entlang des Weges einfach zu-rück. Vermutlich haben allein die As-syrer auf diesem Marsch 25.000 Men-schen verloren und weniger als 50.000 haben das Baquba Flüchtlingslager im britisch verwalteten Mesopotamien (heute Irak) erreicht.

Etwa 17.000 Assyrer waren in Ur-mia verblieben, als es von den Osma-nen zurückerobert wurde; unfähig, rechtzeitig zu fliehen. Die meisten befanden sich auf dem Gelände aus-wärtiger Missionen, über 6.000 allein bei der französischen katholischen Mission und noch ein paar Tausend mehr in der amerikanischen Mission.

Nachdem die Massenmorde der ers-ten Woche abgeklungen waren, stellte sich heraus, dass etwa 1.100 Assyrer dem Morden entkommen waren, da-runter 60, die in der französischen Mission überlebt hatten, sowie 800 aus der amerikanischen Mission. Viele von ihnen wurden jedoch später noch getötet oder verschwanden.

Nachwirkungen und Schlussfolgerungen

Der Erste Weltkrieg endete offiziell mit dem Waffenstillstand vom 11. No-vember 1918. Das Osmanische Reich hatte sich zwölf Tage vorher den Alli-ierten ergeben. Das Ende des “großen Krieges” bedeutete jedoch nicht das Ende des Völkermords. Die Vernich-tungspolitik wurde von den Erben des Osmanischen Reichs zwischen 1919 und 1923, während des türkischen Unabhängigkeitskrieges sowie zwi-schen 1924 und 1925 nach der Etab-lierung der modernen türkischen Re-publik fortgesetzt.

Der Vertrag von Sévres von 1920 nannte die osmanische Regierung “terroristisch”, und er enthielt Bestim-mungen, “so weit wie möglich Repa-rationen für das Unrecht zu leisten, das Personen im Laufe der Massaker in der Türkei während des Krieges angetan wurde.” Er stellte zudem die Assyro-Chaldäer unter vollständigen Schutz. Der Vertrag wurde allerdings niemals ratifiziert und schließlich 1923 durch den von Lausanne ersetzt, der schließlich Frieden für Kleinasien brachte. Er wurde begleitet von einer “Amnestie-Erklärung”, die keinerlei Perspektive für die Bestrafung von Kriegsverbrechen enthielt. Der Ver-trag betrachtete zudem die Assyrer nicht als offizielle Minderheit und als ein Resultat daraus ignoriert der tür-kische Staat seitdem deren Rechte.

Übersetzung aus dem Englischen von Klemens Ludwig.Durchsicht von Abdulmesih BarAbraham

1) The Salonika Congress; The Young Turks and their Programme,” The Times, 3 October 1911, p.3.2) Panayiotis Diamadis, “The Assyrians in the Christian Asia Minor Holocaust,” Nineveh On-Li-

ne, 2000, http://www.nineveh.com/The%20Assyrians%20in%20the%20Christian%20Asia%20Minor%20Holocaust.html

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Der Völkermord

1915 bis 2015: Die Vernichtung der orientalischen Christen und das Versagen des Völkerrechts Der Völkermord von 1915 unterschied sich allein in seinem Ausmaß von den Verbrechen, denen sich die orientalischen Christen seitdem immer wieder ausgesetzt sehen. Prof. Hannibal Travis spannt einen Bogen von den Ereignissen vor 100 Jahren bis in die Gegenwart und beleuchtet, wie das Völ-kerrecht und die Staatengemeinschaft bis heute versagen, um derartige Verbrechen zu verhindern.

Wiederholt sich die Ge-schichte? 1996 hat Bat

Ye’or Beweise dafür vorgelegt, dass die orientalische Christenheit – das reiche ethnische und nationale Erbe der Armenier, Assyrer, Pontus-Grie-chen, Maroniten, Kopten und anderen

Minderheiten im Mittleren Osten – in Gefahr ist. Durch den umfassenden historischen Überblick sowie Exzerp-te aus Schlüsseldokumenten macht Ye’or deutlich, dass das orientalische Christentum unter dem Druck, der Diskriminierung und der Gewalt, die

an dem Armenier-Völkermord von 1915 exemplarisch dargestellt wird, in Vergessenheit gerät.1) Der chaldäische Patriarch von Bagdad, Raphael I. Lou-is Sako, hat kürzlich festgestellt, dass die Katholiken in der heutigen Tür-kei vier Diözesen und drei Bischöfe

während des Völkermords von 1915 – 2015 verloren, und die Katholiken im Irak eine ähnliche Reduktion um die Hälfte allein seit 2004 erlitten haben.2) Der Genozid-Forscher Taner Akcam sieht eine Verbindung zwischen den Ereignissen, die ein Jahrhundert aus-

einander liegen, vor allem darin, dass türkische Politiker die Identität ihrer Nation auf Kosten der Christen radi-kalisieren.

Als im August 2014 der Islami-sche Staat gewaltsam ein Drittel des Irak besetzt und 200.000 Assyrer so-wie andere Christen vertrieben hat, sprachen Beobachter davon, dass „die letzte Hochburg derer, die noch Ara-mäisch sprechen auf der Welt, nun ihr Schlusskapitel erlebt, denn die Sprache stirbt aus“.3) Diejenigen, die nicht geflohen sind, wurden gefoltert und getötet, darunter ein Vater, dem die Augen ausgeschlagen wurden, und sein neunjähriger Sohn, der von einem Auto durch die Straßen von Qaraqosh geschleift wurde. Obwohl die 200.000 bis 250.000 vertriebenen Christen gern in ihre Heimat zurück-kehren würden, so wissen sie doch, dass sich „viele ihrer sunnitisch-islamischen Nachbarn begierig den Terroristen des Islamischen Staats angeschlossen haben, so dass sie sich niemals wieder sicher fühlen können, auch wenn die Dschihadisten besiegt werden sollten“.4)

Mehrere Wellen der Verfolgung haben die orientalischen Christen in ihrer mittel- und zentralasiatischen Heimat zu einem Schatten von dem gemacht, was sie einmal waren. Im Mittelalter verschwanden die nesto-rianischen Diözesen östlich von Per-sien. Im späten 19. sowie im frühen 20. Jahrhundert haben osmanische und irreguläre kurdische Verbände

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Massengrab der 1895 massakrierten Armenier.

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Die Mörder: Kurdische Infanterie mit einem türkischen Offizier.

die meisten orientalischen Christen im heutigen nördlichen Iran und der östlichen Türkei vernichtet. Zwischen 1980 und 2010 hat die Entstehung von theokratischen Regierungen und ge-walttätigen Milizen die urbanen Ge-meinden von Teheran, Bagdad, Mos-sul, Basra und der östlichen Türkei dezimiert.

Seit 2011 erleben wir die Elimi-nierung der Armenier, Griechen, Ma-roniten und Assyrer aus den letzten Orten, an denen sie sich sicher fühl-ten und ihr kulturelles Erbe pflegen konnten, darunter die Ebene von Ni-nive, sowie aus Aleppo, Damaskus, al-Qamishli, Hassake und Homs. Damit einher werden die verbliebenen vor-christlichen Religionen von Mesopo-tamien und Persien, die Mandäer und Yeziden, ebenso brutal aus diesen Or-ten vertrieben. Es wird auch vermutet, dass das Christentum unter den Ara-bern in Palästina zwischen 2030 und 2040 verschwunden sein wird.5)

Dieser Text – in Form eines Abris-ses - beschreibt meine Forschungen zu dem Thema, meine jüngsten Versu-che, die Aufmerksamkeit auf die Krise der orientalischen Christen zu lenken, und meine Erklärungen, warum sich

die Führer der Welt nicht kümmern und nichts unternehmen, damit das orientalische Christentum überlebt.

[…]

Leugnung in der Vergangenheit – Widerhall in der Gegenwart

Faktoren, die Forscher als Ursache für einen Völkermord ansehen, sind die Leugnung vergangener Völker-morde, Krieg, die Herausbildung von Milizen, fanatische Propaganda, Mas-senvertreibung, Waffenimporte und Menschenrechtsverletzungen. Die Assyrer und vor-christliche Minder-heiten wie die Mandäer und Yeziden hatten nie die Mittel für Forschungen, die ihre Notlage ins Zentrum rückten, so wie sie den arabischen Staaten, den Armeniern, der Türkei, den Kurden, Europa und den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehen. Die Türkei und ultranationalistische Geldgeber haben große Summen ausgegeben, um dieje-nigen zu diskreditieren, die über den Völkermord an den Armeniern oder auch den anderen christlichen Grup-pen schreiben.6) Artikel I. der Konven-

tion gegen den Völkermord verbietet theoretisch allen Staaten, Völkermord zu begehen. Er soll „Völkermord ver-hindern und bestrafen, wann immer und unter welchen Bedingungen er begangen wird.“7) Es gibt zudem die Übereinkunft, die Vorbereitung von Völkermord zu verhindern und zu be-strafen, selbst wenn er gar nicht ausge-führt wird. Völkermord unterscheidet sich von anderen, weit verbreiteten Verbrechen wie der Ermordung von besiegten Kriegsgegnern, der Folter von Verdächtigen oder von Kriegs-gefangenen. Sein extremer Charakter ist die Ursache dafür, dass Raphael Lemkin diesen Begriff eingeführt hat, der die staatliche Souveränität in Fäl-len von weit verbreiteter Grausamkeit einschränkt und die Verantwortung für den Schutz von einer Nation auf den gesamten Planeten überträgt. Er sah die vertragliche Verpflichtung auf der universell-menschlichen und nicht nur auf der nationalen Ebene. Sein Ziel war es, dort wo eine Na-tion einen Völkermord vorbereitet, die Regierung zu wechseln, wie im Osmanischen Reich vom frühen 20. Jahrhundert, in Deutschland Mitte der 1930 Jahre – und in dem heutigen ›

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Der Völkermord

„Islamischen Staat“. Die Völkermord-Konvention ist nicht genutzt worden, um die bevorstehende Vernichtung des Christentums im Iran, dem Irak, Syri-en und der Türkei zu verhindern. Die Vereinten Nationen haben versagt, ihre Handwerkszeuge – Verurteilungen, Aktivitäten des Sicherheitsrates, Wirt-schaftssanktionen und Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten – im Falle der anti-kurdischen und anti-christli-chen Massaker in diesen Ländern ein-

zusetzen, so wie sie dies nach kleineren Massakern im Kosovo getan haben.

Die Europäische Union, die Verei-nigten Staaten und ihre Verbündeten haben ausdrücklich jede Verantwor-tung für den Schutz der vertriebenen und getöteten Christen von sich ge-wiesen, auch wenn die Gewalt durch deren Kriege und Wirtschaftssanktio-nen ausgelöst wurde.8) Fanatische und ultra-nationalistische Araber, Kurden,

Perser und Türken haben armenisches, griechisches und assyrisches Land be-setzt sowie armenische, griechische und assyrische Kirchen, Siedlungen und Dörfer zerstört, ein Prozess, der im Irak und Syrien ebenso wie im Südos-ten der Türkei und im Nordosten vom Iran bis heute anhält. Ortsansässige Araber, Kurden, Perser und Türken haben Eigentumsrecht für Land, reli-giöse Gebäude und Häuser erworben, die sie im Zuge religiöser Kampagnen

gegen Armenier, Griechen und Assyrer als „herrenloses Eigentum“ okkupiert haben, eine Rechtsgrundlage, die noch aus osmanischer Zeit stammt.9)

Forscher, die diese Prozesse doku-mentieren wollen, lehren in der Regel nicht an renommierten Universitäten, und sie sind einer Marginalisierung ausgesetzt angesichts der Fülle von Veröffentlichungen zur arabischen Identität, palästinensischen Rechten,

kurdischen Ansprüchen, etc… Auf akademischen Konferenzen über den Völkermord im Mittleren Osten, die ich besucht habe, haben Akademiker ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck verlie-hen, das die Assyrer und andere kleine Gruppen überhaupt erwähnt werden, und häufig haben sie beteuert – trotz erdrückender Beweise für das Gegenteil – dass die Assyrer nie existiert hätten.

2010 habe ich eine Monografie ver-öffentlicht, die erstmals eine umfassen-

de rechtliche und soziale Geschichte des Völkermords im Mittleren Osten und Nordafrika vorlegt.10) Mein Buch zeigt unterstützende Faktoren zum Völ-kermord an den osmanischen Christen und deren Ausmaß auf, unter anderem wirtschaftliche Anreize, Imperialismus, Rassismus, die deutsche Anstiftung und die preußisch-deutsche Militär-Taktik. Über eintausend Jahre haben ethnische Türken, Kurden und Turko-Mongolen

Die assyrisch/aramäischeSiedlung Mashritho Suryoye.

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Der Völkermord

die Siedlungen, Kirchen, das Gold und die Personen in Form von Versklavung der eingesessenen Armenier, Assyrer, Griechen und slawischen Christen geplündert und gestohlen. Der osma-nische Völkermord an den Christen beschleunigte diesen Trend durch die Militärherrschaft der Jungtürken, die Notwendigkeiten, mit denen Regierun-gen während eines Krieges konfrontiert sind sowie die Einwanderung von mus-limischen Flüchtlingen aus dem Balkan und dem russischen Reich.11) Der An-tisemitismus hat durch die Machtüber-nahme der Nazis ebenso einen erhebli-chen Aufschwung erfahren.

Seit 2003 wurde deutlich, dass Staaten, die einen politischen Wechsel durchlaufen oder einen bewaffneten Konflikt erleben, im Fokus der Völ-kermord-Prävention sein sollten, denn es werden in der Regel Milizen gebil-det, während Minderheiten über keine Macht verfügen oder keine Möglich-keiten haben, ihre Rechte zu schützen; den Minderheiten wird vorgeworfen, mit den Feinden der Mehrheiten zu kollaborieren, die religiöse Freiheit ist in Gefahr, Folter und Mord nehmen epidemische Ausmaße an. Länder, auf die diese Beschreibung in der jüngeren Vergangenheit zutrifft, sind Afghanis-tan, die Zentralafrikanische Republik, Kolumbien, die Demokratische Repu-blik Kongo, Ägypten, der Irak, Libyen, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Sri Lanka, der Sudan und Syrien.

Im 21. Jahrhundert wurden die As-syrer, Armenier, Mandäer und Yeziden im Irak massakriert oder massenhaft vertrieben. Sie haben den größten Teil ihrer Bevölkerung durch Flucht vor ethnischen Säuberungen verloren. In Bagdad und Basra begannen 2003 mas-sive Bombardements von zivilen christ-lichen und schiitischen Zielen und 2005 haben gezielte Morde die meisten As-syrer aus Basra vertrieben. 2007 haben zehntausende Yeziden den Irak verlas-sen. Terrorangriffe haben vermutlich 400.000 Christen aus dem Irak vertrie-ben ebenso wie 2008 etwa 70.000 Kur-den gemeinsam mit der verbliebenen christlichen Bevölkerung aus Mosul. 2010 sind weitere tausende Assyrer nach Bombenanschlägen auf die katholische Maria-Erlösungs-Kirche und christli-

chen Wohngebieten aus Bagdad geflo-hen. Seit 2011 schließlich sind Arme-nier, Assyrer und Griechen zu großen Teilen aus Aleppo, Homs und Maloula sowie zu kleineren Teilen aus Damaskus und al-Qamishli geflohen, als die „Freie Syrische Armee“ und ihr Verbündeter Jabhat al-Nusra (die syrische Vertretung von al-Qaida) den Dschihad gegen alle Nicht-Sunniten im Land verhängt hat, weil sie sich gegen die von den Golf-staaten und der Türkei unterstütze Re-volution gestellt hätten. Die Hälfte der syrischen Christen ist auf der Flucht, so wie die Hälfte der Armenier und Assy-rer seit 2008 aus dem Irak geflohen ist.12)

Seit 2003 gehen in Afghanistan und dem Irak zahlreiche Morde direkt auf Bombenanschläge zurück, die von Sau-di-Arabien oder Pakistan unterstützt wurden und sich unmittelbar gegen zi-vile Ziele wie Märkte, Hotels und Got-teshäuser richteten. Dennoch weigern

sich die Vereinten Nationen, diese At-tacken Saudi-Arabien und Pakistan an-zulasten, wo sie geplant und finanziert wurden, während die Verurteilung der „Russland-gestützten“ Angreifer in der Ukraine selbstverständlich ist. Seit 2010 sind die Veteranen dieser Mordkam-pagnen nach Libyen, Mali und Syrien weitergezogen, deren Kulturen eben-so vor der Vernichtung stehen wie in Afghanistan seit 2002. Saudi-Arabien, Katar und die Türkei haben Sudans Herrscher Omar al-Bashir ihre starke Unterstützung versichert, obwohl ge-gen ihn ein Haftbefehl wegen Völker-mord vom Internationalen Gerichtshof erlassen wurde. Gleichzeitig erklären diese Nationen, sie würden Demokra-tie, ein Ende der Repression sowie die Modernisierung in Syrien unterstützen. Übersetzt von Klemens Ludwig Durchsicht von Abdulmesih BarAbraham

1) Bat Ye'or, The Decline of Eastern Christianity Under Islam: From Jihad to Dhimmitude (Fairleigh Dickinson University Press, 1996); Sidney Griffith, ‘The Decline of Eastern Christianity under Islam: From Jihad to Dhimmitude, Seventh-Twentieth Century,’ International Journal of Middle East Studies 30(4) (1998): 619-621.

2) Joseph Mahmoud, ‘Out of the Synod Comes a United Chaldean Church That Is Closer to Refu-gees, Says Baghdad Patriarch,’ Asia News, Feb. 9, 2015, http://www.asianews.it/news-en/

3) Ross Perlin, ‘Is the Islamic State Exterminating the Language of Jesus?,’ St. Paul Pioneer Press (Minnesota/United States), Aug. 24, 2014.

4) Christian Cary, ‘It's a Black Christmas for the Christians of the Middle East,’ Foreign Policy, Dec. 23, 2014.

5) Hannibal Travis, ‘Wargaming the Arab Spring: Predicting Likely Outcomes and Crafting U.N. Res-ponses, Cornell International Law Journal 46, 2013, S. 79

6) Siehe u. a., Dennis R. Papazian, “Misplaced Credulity: Contemporary Turkish Attempts to Refu-te the Armenian Genocide,” Armenian Review 45, no. 1-2/177-178 (Spring-Summer 1992).

7) Hannibal Travis, „On the Original Understanding of the Crime of Genocide, Genocide Studies And Prevention 7(1), 2012, S. 39

8) Hannibal Travis, „Genocide in the Middle East: The Ottoman Empire, Iraq, and Sudan“, Dur-ham, 2010, S. 540

9) Siehe u. a., ‘The Confiscation of Armenian Properties: An Interview with Umit Kurt,’ Armenian Weekly (Sept. 23, 2013), http://armenianweekly.com/2013/09/23/the-confiscation-of-armenian-properties-an-interview-with-umit-kurt.

10) Hannibal Travis, „Genocid in the Middle East, a.a.o. Hannibal B. Travis. „Genocide in the Midd-le East: The Ottoman Empire, Iraq, and Sudan“ Carolina Academic Press 1 (2010)

11) Mehr dazu in meinen Arbeiten ‘Counterinsurgency and Genocidal Intent, from the Ottoman Christians to the Bosnian Muslims,’ in: From Catastrophe to Genocide: The Armenian Questi-on (Alexis Demirdjian ed., New York: Palgrave Macmillan, 2015); ‘Genocide by Deportation into Poverty,’ in Genocide in the Late Ottoman Empire and Early Turkish Republic: Comparative Studies on the Armenians, Assyrians and Greeks, 1913-1923 (George Shirinian ed., New York: Berghahn Books, 2015.

12) Siehe auch, Hannibal Travis, ‘Lessons of Late Ottoman Genocides for Contemporary Iraq and Syria,’ Armenian Weekly, Oct 2014, www.armenianweekly.com/2014/10/23/travis; Travis, ‘The United Nations and Genocide Prevention,’ 124, 138. See also Google Inc., ‘Aleppo,’ https://www.google.com/#q=aleppo+site:armenianweekly.com; Kim Sengupta, “The Plight of Syria’s Christi-ans: ‘We Left Homs because They Were Trying To Kill Us,’” The Independent (UK), 2 November 2012, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/the-plight-of-syrias-christians-we-left- homs-because-they-were-trying-to-kill-us-8274710.html (accessed 9 Jul 2014); “Syria’s Christians Face Situation Going from Bad to Worse,” Zenit, 22 February 2013, http://www.zenit.org/en/articles/syrian-christians-face-situation-going-from-bad-to-worse (accessed 9 Jul 2014); Robert Cheaib, “The Diary of a Parish Priest of Aleppo,” Zenit, 23 April 2013, http://www.zenit.org/en/articles/the-diary-of-a-parish-priest-of-aleppo (accessed 9 Jul 2014).

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T H E M A

Der Fall von Midyat im Jahr 1915 Bis zu dem Völkermord von 1915 – von den Assyrern auf Neu-Aramäisch Sayfo genannt – war Mi-dyat im Tur Abdin eines der wichtigsten christlichen Zentren in der südostlichen Türkei. Davon legten zahlreiche Klöstern und Kirchen Zeugnis ab. Das Schicksal seiner Bewohner steht stellver-tretend für den Untergang der aramäischsprachigen Christen in ihrer Heimat. Neben direkter Ge-walt spielten die Behörden die verschiedenen christlichen Kirchen geschickt gegeneinander aus.

Die Geschichte vom Tur Ab-din macht deutlich, dass

seine geografischen Gren-zen ursprünglich viel größer waren als heute. Im Norden umfasste es die gesamte Re-gion von Bisheriye, wäh-rend es sich im Süden bis Gozarto / Jazira, das heutige Qameshli und seine Vororte, erstreckte. Im Westen reich-te es bis an die Grenzen von Mardin, und im Osten ge-hörte sogar die Stadt Gziro / Jaziret Ibn Oma dazu. Die

verschiedenen geografischen Namen der Berge und Täler, der Städte und

Dörfer des Tur Abdin haben zumeist ihre ursprünglichen Bezeichnungen

bewahrt. Die Geschichte des Tur

Abdin reicht drei Jahrtau-sende zurück und ist extrem reich. Aus diesem speziellen Gebiet sind viele Religionen,

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Marienbild vor der Kapelle in Kafro/Tur Abdin.

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Das Dorf Inwardo (Tur Abdin) mit der Kirche Mor Had Bshabo, wohin sich Tausende Assyrer 1915 retten konnten.

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Der Völkermord

Sprachen, Völker und Kulturen ent-sprungen und erblüht. Seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert sind zahl-reiche Besucher fasziniert von dieser Region und viele schreiben noch heu-te darüber.

Midyat

Während der vergangenen zwei, drei Jahrhunderte war die Stadt Mi-dyat ein sicherer Hafen für viele west-liche und östliche assyrische Famili-en, die der Unterdrückung und den Morden in ihrer Region entkommen konnten. Die kurdischen Emire der

Region von Botan, das im nördlichen Teil von Ober-Mesopotamien liegt, haben die West-und die Ost-Assyrer grausam und gnadenlos behandelt.

Ende des 19. Jahrhunderts hat der osmanische Sultan Abdulhamid II, der von 1876 – 1909 geherrscht hat,

aus kurdischen Verbänden eine re-guläre Armee geformt, die er „Hami-diye Alaylari“ (Hamidiye Kavallerie) nannte. Die Armee sollte die Armeni-er sowie die Assyrer in Ost-Anatolien in Schach halten. Er ließ ihnen freie Hand, alles zu tun, was in seinem Inte-resse war. Sie waren berüchtigt dafür, niemandem außer dem Sultan selbst Rechenschaft schuldig zu sein.

Um die politische Opposition ge-gen ihn klein zu halten, hat der Sultan zudem eine Art Geheimdienst instal-liert, der ihn über jede Opposition un-ter den Christen auf dem Laufenden hielt. Zudem verlieh Sultan Abdulha-

mid „Hamidi-Medaillen“ an Bewoh-ner der Orte, in denen seine Macht nicht so stark war. Damit wollte er sich diese Personen verpflichten.

In Midyat erhielt das Oberhaupt der Safar-Familie, Hanne Safar, eine solche Auszeichnung. Hanne Safar

vertrat die West-Assyrer (Syrisch-Or-thodoxe) bei offiziellen Zeremonien, bei denen er seine Medaille und ein besonderes Schwert trug. Als solcher kontrollierte und organisierte Hanne Safar die Angelegenheiten in Midyat und Umgebung im Sinne von Sultan Abdulhamid. Von Hanne Safar wurde erwartet, dass er jede Revolte gegen die Regierung unterbinden würde. Die Position verschaffte ihm einen großen Einfluss unter den Menschen von Midyat, die eine multi-konfessio-nelle Stadt war.

1913 besuchte der Priester Isaac Armalto von der westsyrischen katho-

lischen Kirche Midyat und Tur Abdin. Sein Reisebericht wurde in dem Ma-gazin Al-Mashreq veröffentlicht. Dar-in hieß es: „In Midyat lebten zwischen 6.000 und 7.000 Menschen. Die Mehr-heit waren Syrisch-Orthodoxe, dazu kamen 80 protestantische Familien, 30 ›

Der kurdische Kriegsherr Aga Simko mit seinen Truppen, der den nestorianischen Patriarchen Mar Shimon ermorden ließ.

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syrisch-katholische, chaldäische, ar-menische und 50 muslimische Fami-lien.“ 2) Der chaldäische Priester von Mardin, Jozef Tefenkji, schätzte, dass rund 180 Chaldäer in Midyat lebten. 3)

Ein Jahr vor Sayfo, dem Jahr des Schwertes, ereigneten sich zwei Vor-fälle in Midyat, die einen großen Nachhall fanden. Zunächst verließ Patriarch Aben die Stadt. Zu der Zeit war die Syrisch-Orthodoxe Kirche der Diözese von Tur Abdin getrennt von der Mutterkirche, der Syrisch-Ortho-doxen Kirche von Antiochien, deren Patriarch im Kloster Deyrulzafaran bei Mardin residierte. Das Schisma geht auf das Jahr 1364 zurück, als der Patriarch Isma’il Oberhaupt der Kir-che wurde.

Gütliche Verhandlungen zwischen der Diözese von Tur Abdin und der Mutterkirche endeten mit Sayfo. Über die Art der Verhandlungen und die Position der Menschen von Midyat ist bislang wenig bekannt. Es ist aller-dings gesichert, dass es die Bewohner der Stadt waren, die Patriarch Aben

ausgewiesen haben. Der Patriarch war sehr wütend darüber, und als er Midyat auf einem Pferd verlassen musste, sprach er einen Fluch über die Stadt aus. Er wendete sein Pferd Rich-tung Midyat und sprach die Verwün-schung: „Ich hoffe und ich bete, dass Midyat vollkommen auf den Kopf ge-stellt wird.“

Das zweite bedeutende Ereignis war roter Schnee, der kurz nach dem Fluch niederfiel und von vielen als Vorzeichen gedeutet wurde, dass viel Blut und Schrecken über Midyat kom-men würde.

Im Juli 1914 beschloss die osmani-sche Regierung eine Mobilmachung (Safarbarlik). Sie berief alle Männer zwischen 20 und 45 Jahren zur Armee ein. Die Männer von Midyat wurden in Ketten abgeführt, um bei der Ar-mee und im Straßenbau als Träger zu dienen. Niemand von ihnen ist jemals zurückgekehrt. Andere Männer aus Dörfern im Tur Abdin kamen zurück und berichteten, dass es die Regie-rung selbst war, die diese Männer auf

die eine oder andere Art beseitigt hat. In den Dörfern von Tur Abdin und Umgebung begann das Morden öf-fentlich und mit System. Sowohl die kurdischen Stammesverbände wie die osmanische Armee waren daran be-teiligt. Menschen, die den Massakern entkommen konnten, flohen über die Berge nach Midyat. Sie erzählten den Einwohnern von den Morden und der Verfolgung in ihrer Region.

Die Bewohner von Hasan-Keyf hörten ebenfalls von den Morden und schickten deshalb fünf Männer nach Midyat, um herauszufinden, ob die Verbrechen wirklich stattgefunden hatten. Dadurch retteten die Fünf ihr Leben, denn nach ihrer Ankunft in Midyat wurden die Bewohner von Hasan-Keyf selbst Opfer.

In der Folge wandte sich das Ober-haupt der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Midyat an den Qaymaqam, den Distrikgouverneur von Qaza 4), um ihn nach den Verbrechen zu befragen und ihm mitzuteilen, dass Flüchtlinge in Midyat schreckliche Geschichten

Assyrische Frauen auf der Flucht in den Berge.

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Der Völkermord

von Massakern und Aggressionen erzählten. Der Qaymaqam hielt seine Tochter auf dem Schoß und antwor-tete: „Diese Gerüchte sind so falsch wie Inzest mit der eigenen Tochter.“ Er betonte: „Es waren die Armenier, die ihre Waffen gegen die Regierung erhoben haben und die Regierung hat ihrerseits nur Maßnahmen ergrif-fen, um Recht und Ordnung wieder herzustellen.“ Nichtsdestotrotz trafen immer mehr Menschen in Midyat ein; der Flüchtlingsstrom aus den Dörfern ebbte nicht ab. Den Oberhäuptern in Midyat kamen immer größere Zwei-fel, aber sie wussten zu der Zeit nicht, was sie tun sollten.

Zu Beginn des Jahres 1915 trafen sich die Oberhäupter der Syrisch-Or-thodoxen und Syrisch-Protestanten von Midyat in der Kirche Mor Shmu-ni, um zu erörtern, wie sie Midyat und sich selbst verteidigen könnten. Sie beschlossen, Midyat unter allen Um-ständen zu verteidigen. Das schworen sie mit der Hand auf der Bibel.

Es gab damals viele Informanten, deren Aufgabe es war, die Behörden über die Entscheidungen und den Verbleib der einflussreichen Bewoh-ner in Midyat zu unterrichten. Da-durch erfuhren die Behörden von dem, was sich in der Kirche von Mor Shmuni ereignet hatte. Diese Infor-manten wiederum wurden beauftragt, Hanne Safar mitzuteilen, dass sich die Morde nur gegen Protestanten und Katholiken richteten, während sich die Orthodoxen loyal und sicher füh-len sollten. Die Hermez-Familie zum Beispiel – damals eine reiche protes-tantische Familie – würde sich und seine Besitztümer auf unsere Kosten verteidigen, das heißt, sie würden uns in das Schicksal verwickeln, das auf sie wartete, versicherten die Informanten im Sinne der Behörden.

Hanne Safar änderte daraufhin sei-ne Haltung und erklärte der Hermez-Familie, dass die Übereinkunft von Mor Shmuni nicht länger gültig sei, weil die Syrisch-Orthodoxen nicht in Gefahr seien. Die Hermez-Familie entgegnete, sie würden ihrem Schick-sal allein entgegensehen, ohne jede Unterstützung und ohne den anderen Christen der Region Schwierigkeiten

zu bereiten. Danach stellten sich eini-ge Familienmitglieder den Behörden, was diese als Vorwand benutzten, um über 100 Männer aus der Familie zu inhaftieren. Keiner ist der Verhaftung entkommen, außer einem Mann, der sich als Frau verkleidet hatte. Zu-nächst sollten die Männer vor ein Kriegsgericht in Mardin gestellt wer-den, in Wirklichkeit aber wurden sie außerhalb von Astal 5) im westlichen Teil von Midyat von Felsen gestürzt.

Anfang Juni 1915 sandte der Gou-verneur einen Botschafter nach Mi-dyat, der bekannt gab, dass alle Waf-fen den Behörden übergeben werden müssten. Noch am Nachmittag dessel-ben Tages befahlen Hanne Safar und ein syrisch-orthodoxer Priester mit einigen Offiziellen den Bewohnern, all ihre Waffen abzugeben.

Der neue Qaymaqam lud die Oberhäupter der kurdischen Stam-mesverbände in sein Hauptquartier ein. Sie beschlossen, harte Maßnah-men gegen Midyat und seine Bewoh-ner zu ergreifen. Der Türhüter der Versammlung gehörte zur Muhalla-mi-Familie. Er ging zum Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Gemeinde, um ihn über die Beschlüsse des Tref-fens zu informieren. Der Qaymaqam und der kurdische Agha gaben den Oberhäuptern von Midyat den Rat-schlag, sich der Regierung zu ergeben.

Keiner folgte dem. Als Antwort darauf griffen Stammesverbände der Omari-ye und Muhallami gemeinsam mit der Armee Midyat am 6. Juli 1915 an.

Der Widerstand der Christen war sehr schwach. Nur zwei Orte konn-ten etwas länger Widerstand leisten, das Kloster Mor Sharbel 6), wo sich die Rhawi-Familie eine Woche lang hal-ten konnte. Sie wurden von Menschen aus ‘Ayn-Wardo unterstützt, die später mit den Rhawi in ihre Dörfer zurück-kehrten.

Der andere Hort des Widerstands war das Haus der ‘Adoka-Familie. Dort versteckten sich viele Menschen u.a. in einem unterirdischen Tunnel führte, der zum Kloster Mor Abro-hom, im östlichen Teil von Midyat. Viele konnten sich retten, indem sie durch den Tunnel zu dem Kloster flohen und von dort in das Dorf ‘Ayn-Wardo, wo sie mehrere Wochen lang Widerstand leisteten. Allerdings ver-loren viele Menschen ihr Leben auf dem Gelände der ‘Adoka-Familie. Dort wurde sogar Hanne Safar von den Kurden enthauptet.

Mitten in dem Chaos zogen die Muslime in Midyat ein und plünder-ten die Stadt. Sie stahlen selbst die Tü-ren und Fenster der Häuser.

Übersetzung: Klemens LudwigDurchsicht: Abdulmesih BarAbraham

1) Originalbeitrag: The fall of Mëdyad /Midyat in the time of Sayfo 1914-15, Jan Bet-Şawoce, in: Parole de l’Orient 31, (2006), 269-277.

2) Armalto Shaq, „Siyahati fi Turcabdin,“ Al-Machriq, 1913, Beirut, S. 6633) Tfindji, J., „L’ eglise Chaldéenne Catholique“, in Annuaire Pontifical Catholic, No. 17, 1914, S.

5114) Vermutlich handelte es sich um den Qaymaqam Nuri Bey, der die Tötung von Christen strikt

ablehnte. Sein Vorgesetzter Rashid Bey in Diyarbakir tötete ihn jedoch und ernannte einen Nachfolger, der dieselbe hasserfüllte Politik gegenüber den Christen verfolgte.

5) Die Stadt Midyat ist zweigeteilt. Der westliche Teil heißt Astal. Dort leben überwiegend Musli-me. Sie benutzen bis heute einen speziellen arabischen Muhallami-Dialekt. Der östliche Teil, der Midyat genannt wird, war traditionell überwiegend von Christen bewohnt. Bis zum Sayfo gab es in Asal eine Kirche, aber ohne Priester und Glocken. Die west-syrischen Christen, die dort lebten, beteten darin. Nach dem Sayfo wurde sie in eine Moschee verwandelt. Bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs lebten dort Christen. Heute sind Midyat und Astal mehr oder weniger eine Einheit.

6) Das Kloster Mor Sharbel liegt im Norden von Midyat, nahe dem Wohnsitz der Rhawi-Familie. Bis zum Sayfo lebten dort Priester, Mönche, Nonnen, Diener und Schüler. Es verfügte noch über einen schönen Hinterhof mit vielen Gärten. Nach dem Sayfo wurde es von der Regierung enteignet und in eine Militärkaserne umgewandelt. Um den Namen Mor Sharbel zu bewahren, hat die syrische-orthodoxe Gemeinde 1955 auf dem Grundbesitz der Rhawi-Familie eine Kirche errichtet und sie Mor Sharbel genannt.

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Der gut dokumentierte Völkermord an den Assyrern/Aramäern/Chaldäern Der Völkermord an den Assyro-Chaldäern ist ebenso gut dokumentiert wie der an den Armeni-ern. Frühzeitig wussten Europa und die USA von den Verbrechen, doch außer einigen Hilfswer-ken hat sich niemand für die Opfer engagiert. Heute jedoch gibt es auch Zeichen der Hoffnung, dass die Massaker an den aramäisch-sprachigen Christen, die über die ganze Welt zerstreut wur-den, stärker in Erinnerung gerufen werden.

Die unter verschiedenen Na-men bekannten Assyro-

Chaldäer bzw. Syrischen Christen, von den Armeniern Aissors oder Assoris, von den Türken Süryani genannt, sind Erben der assyrischen, babylonischen, chaldäischen und aramäischen Völker der mesopotamischen Antike; ihre Sprache ist das Syrisch-Aramäische, und sie sind Anhänger der nestoria-

nischen Kirche des Ostens sowie der Kirche von Antiochien. Einstmals auf dem gesamten asiatischen Kontinent prosperierend, haben sie wiederholt, wie ihre armenischen Glaubensbrü-der, die Widrigkeit des Schicksals und die Ungerechtigkeiten der Geschichte erfahren.

Seit dem Fall von Ninive, Babylon und den armenischen Königreichen

vor 2500 Jahren sind die Assyro-Chaldäer ihres staatlichen Schutzes beraubt. Seitdem sind sie teilweise dramatischen Verfolgungen schutzlos ausgeliefert. Die Massaker von 1915 hatten bereits in den Jahren 1895-96 und 1909 ihre osmanischen Vorläufer.

Aber es ist das 20. Jahrhundert, welches für dieses Volk und seine zi-vilen, kulturellen und religiösen Ins-

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Waisenhaus in Adana.

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Der Völkermord

titutionen zur großen Tragödie wer-den sollte. Die Assyro-Chaldäer sind Opfer eines physischen, kulturellen und religiösen Völkermordes geopo-litischen Ausmaßes geworden; dieser Völkermord war der Auftakt ihrer Irr-fahrt, ihrer Entwurzelung und ihrer Leiden, welche bis heute die Gemein-schaft zerreißen.

Es waren Massaker in ungeheue-rem Ausmaß. Die Assyro-Chaldäer wurden 1915-18 unter denselben Um-ständen und beinahe an denselben Orten ermordet wie ihre armenischen Glaubensbrüder. Und wie bei den Ar-meniern war es das klare Ziel der Re-gierung in Konstantinopel, das Reich ethnisch zu homogenisieren und alle nicht-türkischen Ethnien auszulö-schen. Diese mörderische Politik der ethnischen Säuberung wurde durch religiösen Fanatismus, den Aufruf zum Dschihad vom 29. November 1914, ausgelöst. Sie wurde durch einen vernichtenden, exklusiven Nationalis-mus und einen zentralistischen, re-formfeindlichen Staat begünstigt, der jede Demonstration von Autonomie und jeden Wunsch nach Freiheit der Nationen und Religionen, die damals in der Türkei lebten, argwöhnisch be-äugte.

Zahlreich waren die Provinzen, Präfekturen, Gemeinden und Dör-fer, in denen die Menschen Opfer der Massaker wurden.

Über diese Tragödie gibt es seit 1915 eine genaue und vielfältige Be-richterstattung, mit gesicherten Quel-len, in denen die Armenier und die Assyro-Chaldäer gemeinsam als Op-fer genannt werden.

Dokumentierte Verbrechen

Von 1915 an war die assyro-chaldä-ische Frage eine internationale Frage und beschäftigte die westlichen Staats-kanzleien. Die religiösen und politi-schen assyro-chaldäischen Amtsträ-ger wurden zwischen 1918 und 1921 aktiv und sandten Memorandum nach Memorandum über die während des Krieges erlittenen Leiden und Verluste sowie ihre Entschädigungsforderun-gen ein. Und tatsächlich entwickelte sich daraus zumindest ein humanitä-

rer Beistand. Im September 1916 ver-öffentlichte der aus Urmia stammende Assyrer Abraham Yohannan, seines Zeichens Professor für orientalische Sprachen an der US-amerikanischen Columbia Universität, ein Buch, des-sen Titel bereits aufhorchen ließ: The Death of a Nation or the ever persecu-ted Nestorians or Assyrian Christians (Der Tod einer Nation – oder die auf ewig verfolgten Nestorianer oder As-syrischen Christen). Die Genauigkeit und die Faktizität der sehr zahlreichen

Nachweise bestätigen die Tragödie auf unwiderlegbare Art und durch über-einstimmende und unanfechtbare Be-weise.

Das Komitee der Unterstützer in den Vereinigten Staaten umfasste während des Krieges die armenischen und assyro-chaldäischen Gemein-schaften, wie etwa das bedeutende American Committee for Armenian and Syrian Relief. Diese äußerst ak-tive Kommission, unterstützt durch die Rockefeller-Stiftung, stellte seit November 1915 Hilfsmittel bereit. William Walker Rockwell, Mitglied der Kommission und Professor am Union Theological Seminary in New York, hat 1916 ein Buch mit dem Titel herausgegeben: The Pitful Plight of the Assyrian Christians in Persia and Kur-distan (Die Mitleid erregende Not der Assyrischen Christen in Persien und

Kurdistan). Auf 72 Seiten beschreibt er darin die an den Assyrern begange-nen Gräueltaten.

Der assyro-chaldäische Abt Joseph Naayem, ein Augenzeuge der Verbre-chen, der inhaftiert mit knapper Not den Massakern entkam, hat 1920 auf Französisch das Werk verfasst: Les Assyro-Chaldéens et les Arméniens massacrés par les Turcs (Die von den Türken ermordeten Assyro-Chaldäer und Armenier). Durch weitere Kapi-tel bereichert wurde das Buch 1921 in

New York auf Englisch und jüngst in Bagdad auf Arabisch übersetzt.

Der aus Mardin stammende Pries-ter und assyro-chaldäische Gelehrte Isaac Armalto 1) (Isaac Armalé), ein weiterer Augenzeuge der Tragödie, hat 1919 das in Beirut auf Arabisch er-schienene, voluminöse Buch „Al-Qou-sara fi Nakabat Annasara” (Das Unheil der Christen) veröffentlicht.

Zu diesen Persönlichkeiten kann man viele weitere hinzuzählen. So hat der Jurist und vormalige Attaché an der russischen Botschaft in Kons-tantinopel, André Mandelstam, ein Buch mit dem Titel „Das Schicksal des Osmanischen Reichs“ geschrieben, in dem er das „kleine nestorianische Volk“ erwähnt.

Wir verfügen außerdem über deut-sche Dokumente der Massaker. In Ur-mia war das Deutsche Missionshaus ›

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Flüchtlingsfrauen.

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Der Völkermord

vor Ort und sammelte Zeugenberichte über den Massenmord. Der deutsche Theologe, Missionar, Präsident und Gründer der Deutschen Orient-Mis-sion, Dr. Johannes Lepsius, veröffent-lichte 1916 in Potsdam den „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“, in welchem er auch die Assyro-Chaldäer nennt. Außerdem gibt es noch eine Reihe weitere auf Deutsch verfasste Dokumente. Ähnli-ches gilt für Frankreich und England.

Lebendige Erinnerung

Mehr als 250.000 Assyro-Chaldäer aller Glaubensrichtungen sind auf dem gesamten türkisch-persischen

Territorium durch die Hände der Türken sowie kurdischer und ande-rer Hilfstruppen umgekommen, was mehr als der Hälfte der Gemeinschaft entspricht.

Der Tod kehrte in hunderte Dör-fer ein, in denen er eine große An-zahl Waisen, gefangene Kinder, ver-schleppte junge Mädchen und Frauen, Witwen, Flüchtlinge und Deportierte hinterließ.

Der physische Völkermord und der territoriale Verlust gingen mit einem kulturellen Völkermord ein-her. So haben die Assyro-Chaldäer einen großen Teil ihrer Gedenk- und Kulturstätten verloren. Alles in allem

wurden mehr als 300 Kirchen und Klöster zerstört. Besonders hervorzu-heben ist das Hakkari, ein Bergland im äußersten Südosten der Türkei, wo die Assyro-Chaldäer seit der An-tike in einer geschlossenen Gemeinde lebten. Da sie unmittelbar von kurdi-schen Nachbarn umgeben waren, war die osmanische Obrigkeit zumindest bis 1880 nicht dorthin vorgedrungen, und dann auch nur mit geringem und sehr begrenztem Einfluss. Das in den Bergen gelegene, rein assyro-chaldä-ische Dorf Kotchanes war seit 1662 der Sitz des Patriarchats der „nestori-anisch“ genannten Kirche des Ostens. Dort befand sich eine Bibliothek reich an syrisch-aramäischen Manuskripten

und weiteren Schriftstücken. Daher wird man sagen können, dass es sich hierbei um historisches assyro-chal-däisches Gebiet handelte, das gele-gentlich auch mit Kurden und einigen anderen Minderheiten wie Juden, Ar-meniern, Yesiden und Türken geteilt wurde.

Die Geschichte des Dorfs war je-doch tragisch. Ein Teil der Bewohner wurde durch die Türken und Kurden während des Krieges ausgelöscht. Vie-le Flüchtende starben an Durst, Ent-

kräftung, Krankheit und Erschöpfung während des Exodus in Richtung Sa-lamas und Urmia. Die Überlebenden flüchteten in die Diaspora und verteil-ten sich auf der ganzen Welt.

Die Gegend Hakkari zählte mehr als 200 Kirchen, von denen die ältes-ten aus dem 4. Jahrhundert stammten. Im Dorf Kotchanes lagen zudem die Gräber der nestorianischen Patriar-chen.

Was bleibt davon?

Was für eine Verschwendung ei-nes ganzen über die Jahrhunderte geduldig und mühsam errichteten Welterbes! Was für ein Verlust für die Menschheit!

Doch trotz allem ist die Erinne-rung nicht vergangen. Im Gegenteil: Wir beobachten eine Aufbruchsstim-mung. In der westlichen Welt wurden mit Unterstützung der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften von den Nachfahren der Überlebenden dieser Massaker zum Fortbestand der Erinnerung mehrere Stelen errichtet, so in Frankreich in der Stadt Sarcelles, in Belgien, Schweden, den USA, Aust-ralien, der Ukraine und in Armenien.

Am Verkehrsknotenpunkt Mosko-vyan-Nalbandian im Herzen der ar-menischen Hauptstadt Erevan wurde am 25. April 2012 ein Denkmal das dem „Gedenken an die unschuldigen assyrischen Opfer von 1915 gewid-met“, enthüllt, woran auch der Autor teilnehmen konnte.

In der heutigen Zeit ist das Recht der Völker Teil des internationalen Rechts, das sämtliche Formen von Diskriminierung verbietet und Ver-brechen des Völkermords zutiefst verurteilt. Jetzt muss ein Volk wie die Assyro-Chaldäer, welches gelitten hat und unterdrückt war, dauerhaft in das Bewusstsein der Menschheit aufge-nommen werden. Möge ihm Gerech-tigkeit widerfahren.

Aus dem Französischen von Sebastian A. Meinhof Durchsicht von Abdulmesih BarAbraham

1) Siehe auch den Beitrag von Von Jan Bet-Sawoce, „Der Dall von Midyat im Jahr 1915“

Erhängter Assyrer in Urmia 1915.

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Γενοκτονία έν Ροή – Unaufhörlicher Völkermord:

Die Vernichtung griechisch-orthodoxer Christen im Osmanischen ReichZu den Opfern der türkischen Genozide an den christlichen Völkern des Osmanischen Reiches zählten auch die Griechen, die seit drei Jahrtausenden dort ihre Heimat hatten. Der folgende Bei-trag dokumentiert das traurige Schicksal der griechischen Einwohner der östlichen Ägäis-Küste, Ioniens, des Pontos, Kappakadokiens und Ostthrakiens.

Die Griechen Kleinasiens bli-cken auf eine dreitausend-

jährige Siedlungsgeschichte zurück, zu der auch ihre frühe Christianisie-rung ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gehört. Denn nach dem Heiligen Land bildet Kleinasien die Urheimat des Christentums. Noch bis in das 20. Jahrhundert sahen sich die meisten kleinasiatischen Griechen als Nachfahren des christlichen Oströmi-schen Reiches (griech. Romania; dt. Byzanz) 1) bzw. Rhomäer (griech Ro-

mies; türk. rumlar). Infolge regiona-ler Repressionen sprachen allerdings nicht mehr alle Griechisch, wie z.B. die türkischsprachigen Karamanli-des in Kappadokien, und nicht alle griechischsprachigen Bürger des Os-manisches Reiches, wie etwa manche Pontosgriechen, konnten ihren or-thodoxen Glauben bewahren. Der in der Regel erzwungene Übertritt zum Islam rettete sie freilich im frühen 20. Jahrhundert vor Verfolgung und Völ-kermord, dem nur Angehörige der

griechisch-orthodoxen Glaubensge-meinschaft zum Opfer fielen.

Aus bevölkerungspolitischen Gründen blieb das erst in der zwei-ten Hälfte des 19. Jhs. eingeführte osmanische Statistikwesen unzuver-lässig. Erfasst wurde nur die männ-liche Bevölkerung, differenziert nach Religionszugehörigkeiten: Der Gesamtheit der Muslime stellte die osmanische Statistik die „amtlich anerkannten“ nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften – Juden,

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Griechische Flüchtlinge aus Ionien.

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Der Völkermord

Griechen (Griechisch-Orthodoxe), Armenier (Armenisch-Apostolische), Katholiken (einschließlich unierter Kirchen) und Protestanten – gegen-über. Nicht-osmanische Schätzungen für die Griechen schwanken zwischen 2,5 bis über drei Millionen.

Der Grund, warum die Vernich-tung im Fall der Griechen zehn und bei den Armeniern nur anderthalb Jahre dauerte, lag in der Neutralität Griechenlands bzw. in internationalen Bündniskonstellationen während des Ersten Weltkriegs und danach.

Bei Beginn des Weltkrieges hatten die Griechen bereits fünf Jahre wirt-schaftlicher Boykottmaßnahmen und Deportationen hinter sich. Erste Ver-nichtungsdrohungen erfolgten im Juni 1909, als sich der Ökumenische Pat-riarch zu Konstantinopel beim Ober-kommandierenden Mahmut Şevket über „Morde und Gewaltakte“ in der ionischen Stadt Kydonies (Kydonia; türk. Ayvalık) beschwerte. 1) Der Ge-neralissimus verwies auf die irreden-tistische Bewegung im damals noch

osmanisch beherrschten Kreta und drohte: “Wir werden euch alle ver-nichten. Entweder werden wir unter-gehen oder ihr!“ 2) Die Tageszeitung Embros (Athen) schlussfolgerte am 24. Juni 1909: „Die Türken haben einen Ausrottungskrieg gegen die Christen des Reiches beschlossen und natürlich da angefangen, wo ihnen innerhalb der Türkei das größte Feld und außerhalb

des Landes der geringste Widerstand geboten wird.“ 3)

Es blieb nicht bei genozidaler Rhe-torik. 1909 setzten Repressalien und Boykottmaßnahmen ein, die sich in erster Linie gegen die Griechen als wirtschaftlich stärkste Gruppe im Os-manischen Reich richteten und deren Ziel die Ablösung der nicht-muslimi-schen Wirtschaftselite durch Muslime sein sollte. Die Balkankriege 1912/13, in deren Verlauf 623.000 Muslime, also über ein Viertel der muslimischen Bevölkerung Thrakiens und Make-doniens, an Hunger, Seuchen und den Strapazen der Flucht umkamen, radikalisierten die osmanische Füh-rungsschicht endgültig. „Rache, Ra-che, Rache! Es gibt kein anderes Wort“, schrieb der jungtürkische Kriegsminis-ter Enver seiner Frau und verkündete in öffentlicher Rede: „Ich opfere gern meine restlichen Lebensjahre, um mich an den Bulgaren, Griechen und Mon-tenegrinern zu rächen!“ 4) Die Autorin Halide Edip Adıvar drückte in ihren Memoiren (1926) noch deutlicher die Ansicht der nationalistischen Elite aus,

wonach „die Türken andere vernich-ten“ müssten, um “zu vermeiden, selbst vernichtet zu werden”. 5) Innenminister Talat ordnete am 14. Mai 1914 die De-portation der inzwischen als „Tumo-re“ 6) dehumanisierten kleinasiatischen Griechen an: „Aus politischen Gründen ist es dringend erforderlich, dass die griechischen Einwohner der kleinasia-tischen Küste gezwungen werden, ihre

Dörfer zu räumen und … umgesiedelt werden. Falls sie sich weigern, geben Sie bitte Anweisung an die muslimischen Brüder, die Griechen durch jegliche Art von Handlung zu zwingen, sich freiwillig auszubürgern. Vergessen Sie in diesem Fall nicht, von den Migranten Beschei-nigungen einzuholen, wonach sie ihre Heime nach eigenem Willen verlassen haben.“ 7)

Zu diesem Zweck wurden musli-mische Balkanflüchtlinge in den Hei-men ionischer Griechen zwangsein-quartiert, mit vorhersehbaren Folgen, wie der dänische Konsul zu Smyrna, Alfred van der Zee, nach Konstanti-nopel berichtete:

„Da sie mit ihren Gästen nicht zu-sammenleben wollten, begannen die griechischen Rajahs 8) auszuwandern, verkauften ihren Besitz so gut es ging und sahen sich nach neuen Feldern um, auf denen sie arbeiten konnten. Aber das ging nur langsam voran (…). Die Orts-behörden beschlossen sodann, die Sache zu beschleunigen, und das Hauptquar-tier erließ noch strengere Befehle.

( ) Nach anfänglich offenen Hin-weisen, es wäre für sie ratsam, den Ort zu verlassen, kamen sodann Drohun-gen, sie würden den Tod erleiden, was schließlich darin gipfelte, dass Städtern aufgelauert wurde und Dorfbewohner ermordet wurden, als sie von ihren Fel-dern zurückkehrten.

Es herrschte regelrechter Terror, und die von panischem Schrecken ergriffe-nen Griechen flüchteten so schnell sie konnten auf die Nachbarinsel Mytilene [Insel Lesbos].

Die Bewegung dehnte sich schnell auf die Orte Kemer, Kilissekeuy [Kili-seköy], Kinick [Kinik], Pergamos und Soma aus. Die Einzelheiten dessen, was dort stattfand, sind grauenhaft. Frauen wurden entehrt, Mädchen vergewaltigt, einige starben an den erlittenen Miss-handlungen, Kinder wurden an der Brust ihrer Mütter erschossen oder zu-sammen mit ihnen niedergemacht. ( )

In Serekieuy [Sereköy], einem Dorf im selben Bezirk, entschlossen sich die Bewohner zum Widerstand und es fand ein gewaltiger Kampf statt zwischen halb neun Uhr abends und ein Uhr mor-gens, bis den Dorfbewohnern die Muni- Fo

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n Der Brand von Smyrna (türk. Izmir) am 14. September 1922.

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Der Völkermord

tion ausging. Sie gingen zum Nahkampf über, in dem die meisten der Verteidiger, die weit in der Minderheit waren, nach heldenhaftem Kampf um ihr Leben und die Ehre ihrer Frauen fielen.“ 9)

Seit den Balkankriegen wurden aus Ostthrakien insgesamt 350.000 Grie-chen vertrieben, davon etwa 100.000 nach Zentralanatolien oder Kleinasi-en deportiert. Von diesen fielen 46.000 Menschen Seuchen und den Entbeh-rungen bei der Zwangsarbeit zum Op-fer. 10) Auf Geheimtreffen im Kriegs-ministerium plante das jungtürkische Regime vom Februar bis August 1914 die ethnische Homogenisierung bzw. Türkisierung Anatoliens mit Hilfe von Deportationen, Vertreibungen und Zersiedelung 11), die sich vor allem ge-gen die Griechen an den Ägäis- und Marmaraküsten richteten. Sie gipfel-ten in dem Massaker von Phokea vom 12. Juni 1914. Unter der Führung von Kuşçubaşι Eşref, dem regionalen Kopf der Sonderorganisation, wurden in der ganzen Ägäisregion(Westanatolien) griechische Dörfer angegriffen, terro-risiert und die Männer im wehrpflich-tigen Alter in die berüchtigten Arbeits-bataillone der osmanischen Armee einberufen, deren Zweck „die biolo-gische Vernichtung“ war. 12) Kuşçubaşι freute sich, dass bei dieser “Erobe-rung“ Westanatoliens „1.150.000 An-gehörige der griechisch-armenischen Bevölkerung, die sich im Ägaisgebiet eingenistet hatten, vertrieben werden“ konnten. 13)

Während des Weltkrieges, jedoch noch vor dem Kriegseintritt Grie-chenlands erfolgten vom Juni 1916 bis Februar 1917 auch im Pontosgebiet an der südlichen Schwarzmeerküste Massaker und Deportationen. Allein im Bezirk Giresun (Kerasunta) brann-te man 88 griechische Dörfer nieder. Dort deportierte man die gesamte Be-völkerung von 33.000 Menschen mit-ten im Winter in die Provinz Ankara, wobei ein Viertel der Deportierten umkam. 14) Den Müttern wurden die Kinder geraubt. 15)

Schätzungen für die Gesamtzahl der im Ersten Weltkrieg deportierten Greten schwanken zwischen 155.000 16) bis 1,5 Mio. 17); der US-Botschafter

Henry Morgenthau ging von einer Million deportierter Griechen aus 18). Ihre Verbannungsorte waren Konya, Mossul und Maraş (für hellenische Staatszugehörige), während Albaner und andere muslimische Zuwanderer in den griechischen Kleinstädten und Dörfern untergebracht wurden, sofern diese nicht niedergebrannt wurden.

Vor dem Hintergrund des zerfal-lenden und versagenden osmanischen Staates vollzog sich vom Mai 1919 bis Ende 1922 die letzte und entscheidende Phase des Genozids an den Griechen. Unter dem Oberbefehl der kemalisti-schen Nationalisten, der so genannten Befreiungsarmee, stehende irregulä-re Einheiten (çeteler) von „Räubern (eşkiya), Deserteuren, geflüchteten oder entlassenen Strafgefangenen“ 19) begin-gen landesweit Massaker an Griechen und armenischen Überlebenden bzw. Rückkehrern. 1922 fanden im Pontos und in Ionien weitere Todesmärsche statt. Der US-Amerikaner Stanley E. Hopkins berichtete:

„(...) Ich kam an vielen Leichen von Griechen vorbei, die am Straßenrand lagen, wo sie vor Erschöpfung gestorben waren. Bei vielen handelte es sich um die Leichen von Frauen und Mädchen, deren dem Himmel zugewandte Gesich-ter von Fliegen bedeckt waren. (...) Die Deportation von Griechen beschränkt sich nicht auf die Schwarzmeerküste, sondern erfolgt im gesamten Macht-

bereich der Nationalisten. Griechische Dörfer werden als Ganzes deportiert, die wenigen türkischen oder arme-nischen Einwohner zwang man, die Dörfer zu verlassen, die dann nieder-gebrannt werden. Damit wird fraglos der Zweck verfolgt, sämtliche Griechen in diesem Gebiet zu vernichten und die Türkei den Türken zu überlassen.“ 20)

Nachdem sich am 8. September 1922 die geschlagenen hellenischen Streitkräfte, die auf Vorschlag der Alli-ierten den Schutz der kleinasiatischen Griechen sichern sollten, aus Smyrna (heute: Izmer) ausgeschifft hatten, besetzten kemalistische Einheiten kampflos die unverteidigte Stadt und legten in der Nacht des 13. September Feuer im armenischen Viertel Hajnoz. Zeitgenössischen Schätzungen zufol-ge starben mindestens 125.000 – ein Fünftel der Bevölkerung – bis 150.000 Christen, darunter 25.000 Armenier, als Opfer von „Feuer, Schwert und Was-ser“, wie der armenische Überlebende Karapet Hatscherjan (1876-1952) diese „kritischste und gefahrvollste Perio-de“ seines Lebens umschrieb. 21) Die US-amerikanische Ärztin Dr. Esther Clayson Pohl Lovejoy erhob den Vor-wurf, dass „der Schrecken von Smyrna jenseits aller Vorstellungskraft“ liege, nachdem sie erlebt hatte, wie auf den Kais von Smyrna 250.000 von Panik er-griffene Menschen, die meisten Frauen, auf ihre Evakuierung warteten: ›

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Die hellblau markierten Flächen kennzeichnen Siedlungsgebiete der Griechen im Osmanischen Reich vor 1910.

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Der Völkermord

„Da sie wussten, dass ihr Leben von ihrer Flucht vor dem 30. September [1922] abhing, verharrten die Massen am Wasser zusammengedrängt – so eng, dass kein Platz blieb, um sich hin-zulegen. Die Sanitärverhältnisse waren unaussprechlich. (…)

Am 28. September trieben die Tür-ken die Massen von den Kais, wo die Scheinwerfer der alliierten Kriegsschiffe auf ihnen lagen, in die Seitenstraßen. Die ganze Nacht hindurch waren die Schreie der Frauen und Mädchen zu hören, und am nächsten Tag wurde er-klärt, dass viele von ihnen zu Sklavin-nen gemacht wurden.“ 22)

Griechische Schätzungen der Opfer des „Holocaust von Smyrna“

bewegen sich zwischen 250.000 (H. Tsirkinidis) und 300.000 (Spiros Mar-kezinis). Weitere 300.000 christliche Männer, meist Griechen, starben ab September 1922 bei Massenexeku-tionen und erneuter Zwangsarbeit. Wie der Zeitzeuge Elias Venesis (Ge-burtsname: Mellos; 1904-1973) in seinen Erinnerungen 23) berichtete, überlebte weniger als ein Prozent der etwa dreitausend Zwangsarbeiter aus seiner Heimatstadt Kydonies. Ob-wohl es Anfang Oktober 1922 nachts bereits empfindlich kalt war, wurden diese Griechen von ihren Bewachern halbnackt bis nach Manisa (griech.: Magnesia) getrieben, wo ihre erste Aufgabe darin bestand, die verrotten-den Leichen von 40.000 ermordeten

Christen aus Manisa und Smyrna so zu entsorgen, dass sie dem spanischen Vertreter des Völkerbundes bei sei-nem Besuch nicht auffielen.

Griechenland, das über eine Milli-on traumatisierter, verelendeter Flüchtlinge aus Kleinasien aufgenom-men hatte, war Ende 1922 dort ange-langt, wo es die osmanische Staats-führung schon 1913 haben wollte: Es unterzeichnete in Lausanne ein bila-terales Abkommen zu einem bereits damals völkerrechtswidrigen Ab-kommen über den Zwangsaustausch ethno-religiöser Minderheiten. Um dies zu bewirken, vernichteten türki-sche Nationalisten über eine Million kleinasiatischer, thrakischer und pontischer Griechen.

1) Die Bezeichnung Byzantinisches Reich ist modernen Ursprungs. Zeit-genossen sprachen ausschließlich von der Vasilía ton Romäon, also dem „Reich der Römer“ bzw. R(h)omäer, oder der Romaikí Aftokra-toría, der „Römischen (Rhomäischen) Selbstherrschaft“.

2) Ein griechisch-osmanischer Staatsrat gab dem deutschen Botschafter Miguel die Drohung Şevkets in etwas anderer Fassung wieder: “Höre mal, Patriarch, schließlich kommt es dahin, dass entweder wir euch unterdrücken müssen, oder aber ihr uns vernichten müsst.”– Vgl. Poli-tisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA/AA), Türkei Nr. 168, Bd.. 6, 7, Schreiben vom 26. Juni 1909. Zitiert nach: Fotiadis, a.a.O., S. 56-57

3) Zitiert nach Fotiadis, a.a.O., S. 54 4) Anderson, Perry: Kemalism. „London Review of Books“, 11. Septem-

ber 2008, Vol. 30, No. 17 - http://www.lrb.co.uk/v30/n17/perry-ander-son/kemalism

5) Edip, Halide [Adıvar]: Memoirs. London 1926 (Reprint: Gorgias Press, Piscataway/NJ, 2005), S. 333

6) Uğur Ümit Üngör, “ ‘Turkey for the Turks’: Demographic Engineering in Eastern Anatolia, 1914–1945,” in: A Question of Genocide: Arme-nians and Turks at the End of the Ottoman Empire, ed. Ronald Grigor Suny, Fatma Müge Göçek, and Norman M. Naimark (Oxford and New York: Oxford UP, 2011), S. 294

7) Tsirkinidis, Harry: Der Völkermord an den Griechen Kleinasiens (1914-1923), in: Hofmann, Tessa (Hg.): Verfolgung, Vertreibung, Ver-nichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. Münster 2004, S. 139

8) Wörtlich „Herde“; gemeint ist ein inferiorer Rechtsstatus als „schutz-befohlene“ Nichtmuslime, die geduldet wurden, ohne gleichberechtig-te Staatsbürger zu sein.

9) http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1914-06-19-DK-002

10) Vakalopoulos, Konstantinos A.: Vertreibung und Genozid an den Griechen Ostthrakiens (1908-1922). In: Hofmann, Verfolgung, a.a.O. (wie Fußnote 8), S. 140

11) Akçam, Taner: From Empire to Republic: Turkish Nationalism and the Armenian Genocide (London: Zed, 2004), S. 144-149

12) Hassiotis, Ioannis K.: The Armenian Genocide and the Greeks: Res-ponse and Records (1915-1923), in: The Armenian Genocide: History, Politics, Ethics. New York: St. Martin’s Press, 1992, S. 136

13) Zitiert nach Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord: Die Istan-buler Prozesse und die türkische Nationalbewegung (Hamburg: Ham-burger Edition, 1996), S. 42f.

14) Brown, Caroll N.; Ion, Theodore: Persecutions of the Greeks in Turkey since the Beginning of the European War (New York: American Hellenic Society,

1918), S. 13. - https://archive.org/stream/persecutionsofgr00greece#page/n1/mode/2uphttp://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=9F04EED91E3FE233A25752C2A96E9C946796D6CF)

15) Turks Deporting Greeks: Civilian Concentration Camp Victims Atta-cked and Despoiled. “New York Times, 21 August 1916, S. 2. - http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=9F04EED91E3FE233A25752C2A96E9C946796D6CF

16) Bloxham, Donald: The Great Game of Genocide: Imperialism, Natio-nalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians. (New York: Oxford UP, 2005), 98

17) Brown/Ion, Persecutions, a.a.O., S. 64, mit Tabellen für die Hauptsied-lungsgebiete der Griechen in Kleinasien (S. 64-67), die eine ungefähre Schätzung von 240.000 enthalten. Das Ökumenische Patriarchat nann-te eine Gesamtopferzahl von 49.063, die Zentrale Hilfskommission für deportierte Griechen (gegr. November 1918) 503,229; das American Committee for Armenian and Syrian Relief schätzte “über 500.000”, während René Puaux (1919, auf der Grundlage von Angaben des Ökumenischen Patriarchats von 773.915 Deportierten in “Thrakien, Kleinasien und dem Pontos“ ausging; das griechische Auswärtige Amt nannte 1,5 Millionen deportierte osmanische Griechen (vgl. Turkish Cruelty Bared by Greeks. “The New York Times”, June 16, 1918, S. 42). Einem Funkspruch aus Athen an die griechische Gesandtschaft in Washington zufolge, der vom American Committee for Armenian and Syrian Relief am 8. Juni 1918 veröffentlicht wurde, kam die Hälfte der Deportierten durch “Folter und Krankheit” um. Der griechisch-ortho-doxe Metropolit von Amaseia (Amasya), Germanos, schätzte den Pro-zentsatz von Opfern unter den pontosgriechischen Deportierten sogar auf 80 oder 90 Prozent.

18) Morgenthau, Henry: Ambassador Morgenthau's Story, New York, 1919, S. 32

19) Akçam, Armenien, a.a.O., S. 13120) “Report on Conditions in the Interior of Anatolia under the Turkish

Nationalist Government”, United States National Archives, Files of the Department of State, NA 867.4016/432.

21) Sakayan, Dora (Hg.): Smyrna 1922: Das Tagebuch des Garabed Hat-scherian. (Klagenfurt-Wien: Kitab, 2006), S. 125

22) Woman pictures Smyrna horrors: Dr. Esther Lovejoy, an eyewitness, tells of terrible scenes on the Quay; she assails neutrality; declares it a crime for the world to lack the means to prevent such outrages. – “The New York Times”, October 9, 1922, S. 3. – Internet-Fundstelle: http://query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=9E0CE5DA1F30E433A2575AC0A9669D946395D6CF

23) Venezis, Ilias: Το Νούμερο 31328 (Die Nummer 31328; Griechisch). Athens: Hestia, 1956; 1995

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Der Völkermord

Deutsche Missionen und der VölkermordDeutsche Interessen spielten während des Ersten Weltkriegs in der Türkei eine wichtige Rolle. Während Offiziere die osmanische Armee reorganisierten, berieten und teilweise unmittelbar den Völkermord unterstützten, versuchten zahlreiche Hilfswerke auf die eine oder andere Art, für die Opfer tätig zu werden. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die Aktivitäten und hebt dabei vor allem die bemerkenswerte Initiative einer Schweizer Missionsschwester hervor.

Deutsche Missionen waren schon früh im Vorderen

Orient tätig, wie etwa die Herrnhuter in Persien (1748/49) und in Ägypten (1749-1783) oder die Basler im Iran (1833-1837).1) Früh waren zudem ori-entalische Christen das Ziel – die Bas-ler waren 1824 bis 1835 in Armenien tätig. Mit den Massakern in Damaskus 1860 traten nicht nur die europäischen Mächte stärker im Orient auf, sondern auch die deutschen Protestanten. Zwei Völkern wandten sich die deutschen Missionen verstärkt zu: den Armeni-ern und den „Syrern“, das heißt, den aramäischsprachigen Christen. Un-ter den Armeniern wirkte z. B. die Deutsche Orientmission (seit 1896), der Hilfsbund für christliches Liebes-werk im Orient (seit 1896), die Kai-serswerther und die Christoffel-Blin-denmission. Unter den „Syrern“ wirkten die Hermannsburger Missi-on in der Urmia-Region (seit 1875), die Deutsche Orientmission in Urmia (seit 1899) und einige kleinere Werke. Als die englischen und fran-zösischen Missionen – und schließlich auch die Amerikaner – ihre Ar-beit im Osmanischen Reich wegen des Ersten Weltkrieges einstellen mussten, blieben die deutschen Missionen dort und waren auch in den angrenzenden Gebieten wie dem Nordwestiran tätig. Dementsprechend wurden einerseits auf russischen Druck hin die Deut-schen in Persien 1915 des Landes ver-

wiesen, andererseits waren die Her-mannsburger über ihre „syrischen“ Mitarbeiter dort weiterhin präsent. 2) Das Waisenheim der Deutschen Ori-entmission hatte hingegen ein tragi-sches Ende. Ein Teil der Kinder war in die Obhut eines amerikanisch-luthe-rischen Waisenhauses gegeben wor-den, dessen Leiter schließlich vor den Augen seiner Frau erschossen wurde. Die Stationen im Bereich der heutigen Osttürkei blieben zwar während des Weltkrieges erhalten, was von Briefen deutscher Soldaten bezeugt wird, die sich damals zur Erholung dort einge-funden hatten, doch wurde ihre Ar-beit größtenteils unmöglich gemacht.

Die deutschen Missionen – Missi-onare und Missionarinnen, Ärzte und Lehrer, Diakone und Handwerker – bilden mit ihren Berichten bis heute

eine wesentliche Quelle von Augenzeugen zur Erhebung dessen, was in dem Völkermord-geschehen im Osma-nischen Reich vor sich gegangen ist. 3) Dabei sind von der Forschung noch wichtige Netzwer-ke völlig unbeachtet geblieben. So etablierte sich ein weitgespann-

tes Netz von Soldatenheimen für die deutschen Soldaten im Osmanischen Reich, das von Konstantinopel aus organisiert wurde. Diesen Heimen standen zumeist Geistliche vor. Deren Arbeit ist bis heute ebenso wissen-schaftlich noch nicht geborgen wie die der Militärpfarrer. Der beim Stab von

der Goltz (Anm.: preußischer Gene-ralfeldmarschall, maßgeblich verant-wortlich für die Reorganisation der osmanischen Armee) tätige Militär-pfarrer taucht später in einschlägigen Unterschriftenlisten zugunsten der Armenier auf.

Die Berichte zum Völkermord aus den Quellen der Missionen sind nicht widerspruchsfrei und nicht ohne den zeitgeschichtlichen Kontext zu verste-hen.

Das Engagement der Beatrice Rohner

Besondere Bedeutung kommt der Arbeit der Schweizer Schwester Be-atrice Rohner vom Hilfsbund zu, die einige Zeit versucht hat, in Aleppo ein Waisenhaus zu unterhalten und Flüchtlingen in Lagern Hilfsgelder zukommen zu lassen. 4) Ende Dezem-ber 1915 war sie von ihrer Station in Marasch nach Aleppo gekommen, um dort die Hilfsmaßnahmen für die Verschleppten aufzunehmen. Weithin wurden ihre Pläne von Verboten des Befehlshabers Djemal Pascha durch-kreuzt. Es gelang jedoch dem deut-schen General Kreß von Kressenstein, Djemal Pascha ein Waisenhaus für die Schwester abzuringen, das diese vom sterbenden protestantisch-armeni-schen Prediger Eskidjian übernahm. 350 Kinder wurden ihr zunächst über-geben. Da die armenischen Mitarbei-ter starben, setzte Rohner die ganze Notstandsarbeit in Aleppo schließlich allein fort. Sie schickte mit Geschäfts-leuten und Durchreisenden den Ver-

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Christliche Flüchtlinge im russischen Konsulat von Urmia/Persien.

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schleppten Gelder hinterher, weil die Post hierfür nicht tauglich war. Junge Armenier unternahmen todesmutige Reisen zwischen Aleppo und Der-es-Zor, um größere Summen zu vermit-teln. Organisationsstrukturen konnten dafür nicht aufgebaut werden, zumal das sofort den Verdacht der Regie-rung geweckt hätte. Quittungen wären nicht zu bekommen gewesen, „da sich die Leute“ verständlicherweise „aus Furcht“ weigerten, „ihre Unterschrift zu geben“, und als ob die Not nicht schon schlimm genug gewesen wäre, machten der Schwester zudem die Rän-ke der sie um Hilfe angehenden Men-schen zu schaffen. Die einen fühlten sich übergangen und wähnten andere vorgezogen, die anderen kritisierten diejenigen, die unter Einsatz ihres Le-bens das Geld verteilten, während bei all dem eine Unzufriedenheit wuchs, die die Schwester in die vertiefte Sor-ge stieß, die Regierung könne dadurch noch aufmerksam gemacht werden.

Im September 1916 legte Schwes-ter Rohner einen ausführlichen sta-tistischen Bericht über ihr Waisen-haus vor, der vom Konsulat in Aleppo über die Botschaft in Konstantino-pel nach Berlin ins Auswärtige Amt gesandt wurde. Die Statistik wirkt streckenweise makaber. Ausführlich listet die Schwester auf, was mit den Eltern geschehen ist und zu welcher Konfession die Kinder gehört haben. Gleichzeitig errechnet sie penibel das Durchschnittsalter der Waisenkinder: „9 17/36 Jahre“. Dann fast lapidar die Bilanz: „Es blieben von 3336 Depor-tierten übrig: 720; also betrug Verlust: 78,5 %“, wobei 126 Kinder zu klein waren, als dass sie hätten Auskunft ge-ben können.

Die Schwester richtete das ver-wahrloste Haus mit zäher Arbeit wie-der her. Der Journalist, Schriftsteller, Jurist und Sanitätsoffizier Armin T. Wegner beschrieb das so: „In den ersten Wochen war der Hof so dicht von dem nackten Gestrüpp der Scha-ren von Waisen überwuchert, daß sie sich gegenseitig zu ersticken drohten. Als man das Haus reinigte, fand man im Brunnenschacht die Leiche eines Kleinen, der zwischen der Wildnis der Menschen dort schweigend ver-

schwunden war. Auch Frauen und Männer halten sich unter ihnen ver-steckt.“ 5) Die Kinder waren sechs Monate unterwegs gewesen, ehe sie Aleppo erreichten. Zunächst verteil-ten die Schwestern Suppe und Brot und richteten die Häuser notdürftig wieder her. Es gelang ihnen sogar, den Kindern neue Kleidung zu verschaf-

fen und sie zu Arbeit und Unterricht anzuhalten. Wenn Schwester Rohner allerdings gemeint haben sollte, die Kinder wären bei ihr in Sicherheit, dann sollte sie sich geirrt haben.

Das Ende einer humanitären Initiative

Bereits am 13. Februar 1917 ent-nahm Djemal Pascha 70 Knaben aus dem Waisenhaus – offiziell, um sie in einem Regierungswaisenhaus auf dem Libanon unterzubringen. Der deutsche Konsul ließ keinen Zweifel in seiner Meldung an den Reichskanz-ler, dass sie dort umerzogen und isla-misiert werden sollten. Wer sich dem verweigere, werde ins Nichts hinaus-gejagt. Doch das war nur ein Vorspiel. Das Waisenhaus wuchs beständig an. Bis zu 800 Waisen und mehr versorgte die Schwester mittlerweile. Dann te-legraphierte jedoch der Direktor des Hilfsbundes am 28. Februar 1917 an das Auswärtige Amt nach Berlin: „Un-sere Schwester Beatrice Rohner meldet mir heute telegraphisch aus Aleppo, daß die unter ihrer Obhut stehenden armenischen Waisenkinder verteilt würden.“ Zäh kämpfte die Schwester um die Kinder und deren Überleben. Als aber die von ihr mobilisierte Mis-sionsleitung nur die wenig hilfreiche Auskunft der deutschen Botschaft in

Konstantinopel erhielt, die türkische Regierung hätte bereits beim Aufbau des Waisenheimes im Dezember 1915 der Schwester gesagt, dass die Kinder ihr nur zeitweilig übergeben wären und nunmehr auf Befehl des türki-schen Innenministers verteilt würden, ereigneten sich Dramen in Aleppo. So-gleich am 23. Februar 1917 meldete der deutsche Konsul auf Veranlassung der Schwester den drohenden Abtransport der Kinder. 1000 Waisenkinder stan-den vor dem Abtransport, davon 400, die sich unter der Leitung der Schwes-ter befanden. Beatrice Rohner machte dem Konsul gegenüber keinen Hehl aus ihrer Meinung: Sie glaubte, dass die Verantwortlichen der türkischen Regierung unterwegs das Reiseziel ändern würden. Ohnehin wäre in dem vermeintlichen Zielort nur Platz für fünfhundert gewesen, weswegen 500 Kinder folglich von vornherein zu vie-le waren. Schweizer halfen nochmals mit Geld.

Konsul Rößler sagte, es gehe da-rum, „so viel als möglich vor dem Hungertode zu retten“. Er hoffte, dass das von Schwester Rohner vermittel-te Bild trostlosen Unglückes nicht zu spenden entmutige. Die Schwester organisierte ihre gesamte Hilfsarbeit möglichst unauffällig und in dem Wissen, warum sie das tat, teilte sie dies ebenso dem Schweizer Hilfswerk mit: „Hilfskräfte müssen aus dem Vol-ke selbst herangezogen werden. Eine europäische Organisation würde nur dazu dienen, der Sache ein jähes Ende zu bereiten.“ Die Regierung sandte anfangs Lebensmittel, dann nur noch Brot. Schließlich ging auch das zu Ende. Hernach wollten die Behörden die mittlerweile 1.400 Waisen im Mai 1916 „übernehmen“. Der Konsul mel-dete dies nach Berlin. Die Schwester hatte zunächst vom Wali einen Rest von 100 oder wenigstens 50 Waisen zum Verbleib bei ihr zugestanden bekommen, wobei es im März 1917 trotzdem aus mit dem Waisenheim war. Als der Schwester die größeren Knaben zum Straßen- und Häuser-bau genommen wurden, begann sie, Kinder an Frauen außerhalb des Hei-mes zu geben. Die Zahl der Mädchen hatte sie ohnedies nach Möglichkeit Fo

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Johannes Lepsius

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beschränkt, um zu verhüten, dass die Waisenhäuser von den muslimischen Mitbürgern als Sammelstellen be-trachtet würden, „aus denen sie sich nach Belieben Mädchen für Zwecke ihres Haushalts entnehmen könnten.“ Nach der erzwungenen Überstellung der ersten 70 Waisen flohen 370 ihrer Schützlinge, während sie 60 kranke und kleine Kinder noch rechtzeitig an einem anderen Ort einquartieren konnte. Da verlangte die Regierung weitere 400 Kinder. Im Haus waren aber nur noch 280, darunter 30 Mäd-chen. Nun nahmen die Behörden zu-nächst 70 aus dem benachbarten Wai-senhaus und holten sich weitere 70 aus dem Reservoir der armenischen Stra-ßenkinder in Aleppo, um die Zahl zu komplettieren. Wer konnte, floh aus dem Waisenhaus. Zuletzt ließ Rohner die 400 zum Abtransport bestimmten Kinder aus Notstandsgeldern einklei-den und folgte schließlich sogar dem Befehl, die Kinder persönlich an die Bahn zu begleiten, wo sie am 5. März abtransportiert wurden.

Die Kinder, die großenteils wohl in die mesopotamische Wüste depor-tiert wurden, sollten angeblich in Re-gierungswaisenhäuser in Anatolien gebracht werden. Die Schwester frag-te nach, weshalb gerade ihre Kinder als erste zur Verschickung herange-zogen wurden. Der Wali antwortete verblüffend ehrlich: weil ihre Kinder am besten genährt und am saubers-ten gekleidet seien. Wenn er ver-wahrloste Kinder schicke, so würde die Regierung fragen, was er mit den ihm überwiesenen Notstandsgeldern angefangen habe.Rößler rechtfertigte die Arbeit der Schwester dennoch als nicht vergeblich: „Hunderte von Kin-dern sind fünf Vierteljahr hindurch dem Elend entrissen gewesen. Wäre es nicht getan worden, so wären die Kinder schon 1915 an Krankheiten zugrunde gegangen oder in die Wüs-te geschickt worden.“ Unglaublich, dass die Schwester sich sofort wieder bereit fand, zwei neue Waisenhäuser in Kooperation mit dem amerikani-schen Konsul aufzubauen. Sie stellte sich, wie der deutsche Konsul mitteil-te, „der (türkischen) Etappe (Aleppo) zur Arbeit an den 1200 (dort befindli-

chen) verwahrlosten Kindern zur Ver-fügung.“ Freilich war sie nicht mehr bereit, eine Arbeit unter eigenem Namen zu eröffnen. Sie wäre aber, so erklärte sie dem türkischen Etap-penoffizier, zu helfen bereit. Noch im März hatte sie einen Nervenzusam-menbruch erlitten, woraufhin Jakob Künzler aus Urfa heran reiste und die schwer angeschlagene Schwester nach Konstantinopel begleitete.

In Deutschland ergriffen die im Orient tätigen Missionen mit einer Orientkonferenz am 9. Oktober 1915 Initiative. 6) Ein Ausschuss unter Lei-tung von Johannes Lepsius, dem u. a. Th. Axenfeld, J. Richter und A.W. Schreiber angehörten, verfasste eine proarmenische Petition an Reichs-kanzler Bethmann Hollweg. Dem Ausschuss folgte schnell die Grün-dung der Orient- und Islamkommis-sion, die über Jahrzehnte hinweg das Geschehen zwischen den Missionen untereinander sowie zwischen den Missionen und der deutschen Re-gierung maßgeblich mitbestimmen sollte. Von vornherein war das Ziel, hier eine einheitliche Stellungnahme der deutschen Missionskreise zur „Armenierfrage“ zu erzielen. Alle dreizehn deutschen Missionsgesell-schaften, die im Orient arbeiteten, gehörten der Kommission an. Einzig

Johannes Lepsius war nicht mehr da-bei, nachdem er sich mit dem Vorsit-zenden Axenfeld überworfen hatte. Innerhalb der Kommission wurde ein Armenierausschuss gebildet, in dem auch die Deutsch-Armenische Gesellschaft als ein mit Lepsius ver-bundenes Werk durch das Vorstands-mitglied Stier vertreten war. Wie we-nig engagiert für die Armenier dieser Ausschuss dann aber agierte, lässt sich schon daran ablesen, dass Ewald Stiers Absicht, in die Türkei zu reisen, ausgerechnet von hier aus blockiert wurde. Statt entschiedener Eingrif-fe zog sich die Kommission auf „ein gänzlich unpolitisches, rein humani-täres Hilfswerk“ zugunsten der Opfer zurück und erwog selbst 1918 dabei noch die Einbeziehung der türki-schen Regierung. Von bewusst poli-tischen Zielen, wie sie die Deutsch-Armenische Gesellschaft verfolgte, distanzierte sich die Kommission entschieden, da die Lostrennung ei-nes selbstständigen Armeniens ein Kriegsziel der Entente sei, also der Kriegsgegner. Strikt verweigerte man sich jeder politischen Parteinahme für die Armenier. Immerhin waren einzelne Mitglieder der Kommission bei den Versuchen aktiv, in Deutsch-land lebende Armenier vor der Aus-lieferung an die Türkei zu schützen.

1) Veralteter, aber noch nicht ersetzter Überblick: Julius Richter, Mission und Evangelisation im Orient, Allgemeine evangelische Missionslehre Band 2, Gütersloh 1908.

2) Vgl. zu den Erfahrungen und Berichten des Lazarus Jaure: Martin Tamcke, „Erst das Leben muss des Lebens Wert zeigen“. Der Syro-Iraner Lazarus Jaure und die Deutschen, Berlin und Tübingen 2013. Eine Edition der Quellen zum Werk von Otto Wendt bereitet mein Marburger Kollege Pinggéra vor.

3) Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangeli-scher Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Kirche und Konfession 28, Göttingen 1989; Gabriele Yonan, Ein vergessener Holocaust: die Ver-nichtung der christlichen Assyrer in der Türkei, Pogrom Band 148/149, Göttingen 1989; Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei, 1839-1938, Zürich 2000.

4) Das Folgende ist eine gekürzte Fassung einschlägiger Absätze bei: Martin Tamcke, „Völkermord und die Solidarität der Christen: Das Geschehen und seine Aufnahme im helfenden Handeln deutscher Armenierfreunde“, in: Martin Tamcke, „Dich, Ararat, vergesse ich nie!“, Berlin 2006, S. 47-66.

5) Text: Martin Tamcke, „Armin T. Wegners „Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüs-te“ - Einführung zum unveröffentlichten Vortragstyposkript vom 19. März 1919 in der Urania zu Berlin“, in: Martin Tamcke, Orientalische Christen zwischen Repression und Migration, Ham-burg 2001, S. 65-135; Martin Tamcke, Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirk-lichkeit eines Augenzeugen, 2. Auflage Hamburg 1996; Edition des Vortrags: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste, Hrsg.: Andreas Meier, Göttingen 2011.

6) Die folgenden Ausführungen basieren auf der in Kürze erscheinenden Dissertation meines Doktoranden Volker Metzler zur Orient- und Islamkommission (Teile daraus hat er mehrmals auch öffentlich vorgestellt, etwa bei der Konferenz auf Burg Katlenburg bei Göttingen im No-vember 2014). Die Arbeit wird in der Reihe Syriaca bei Harrassowitz erscheinen.

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Der Völkermord und die Vielfalt der KirchenDie orientalischen Christen waren eine ausgesprochen heterogene, vielfältige Gemeinschaft,1) die sich häufig mehr voneinander abgrenzten als Ökumene praktizierten. In der Vernichtung waren je-doch alle gleich. Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick über die Vielfalt der orientalischen Glaubens- und Kirchengemeinschaften und welch bescheidenes Erbe von ihnen noch geblieben ist.

Die Kirchenleitungen der orientalischen Christenheit

waren in unterschiedlicher Weise vom Völkermord betroffen: So zog der Pa-triarch der Apostolischen Kirche des Ostens mit seinem Volk in Kampf und Exil, während der Patriarch der Armenisch-Gregorianischen Kirche in Konstantinopel mit dem deutschen Missionsdirektor Johannes Lepsius

zusammentraf und diesen mit Infor-mationen versorgte. Letztlich wurden fast alle kirchlichen Zentren in Klein-asien zerstört oder verlassen; die der pontischen und ionischen Griechen, die der Syrisch-Orthodoxen und die der Armenier. Unterschiedslos betra-fen die Maßnahmen schließlich auch Protestanten und Katholiken. Manche herausragenden Repräsentanten der

Kirchen versuchten nach dem Welt-krieg das Geschehen publik zu ma-chen, etwa der Metropolit Ephraem Barsaum, der spätere Patriarch der Syrisch-Orthodoxen Kirche.

Für einige Kirchen waren die Vor-gänge die Zuspitzung von historischen Erfahrungen, denen sie bereits seit Jahrhunderten ausgesetzt waren. Die Gläubigen der Apostolischen Kirche

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Ehemals christliche, heute islamisierte

Gegend im Tur Abdin.

Foto: Sylvia beth Yakub/Flickr BY-NC-SA 2.0

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Der Völkermord

des Ostens sahen sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewaltsamen At-tacken ausgesetzt.

Religiöse und kirchliche Vielfalt

Da ist zunächst die Kirche der orthodoxen Griechen, geleitet vom Ökumenischen Patriarchat, die als Er-bin des byzantinischen Vermächtnis-ses Sachwalterin der einstigen Staats-religion gewesen ist. Hier wurden die griechische Sprache und Theologie, griechische Religiosität und Kultur gepflegt, besonders etwa in der Regi-on von Trapezunt, wo einst das grie-chische Kaiserreich erst nach dem Fall von Konstantinopel seinerseits den Eroberern erlegen war. Da war das Griechentum Ioniens, das in der An-

tike so prominent in Kunst und Kultur gewesen war und in dessen Umgebung entscheidende Konzilien abgehalten worden waren, die die Ausrichtung der christlichen Lehre bestimmten. Ein wichtiges Zentrum war in spätos-manischer Zeit noch Smyrna (Izmir),

obgleich die Griechen darüber hinaus ebenfalls wichtige Zentren in Anatoli-en (Cäsarea/Kayseri) hatten.

Die Armenier empfanden weite gebiete der Osttürkei als ihre Heimat und so beherbergte die Region auch zentrale Sitze ihrer Kirchenleitungen. Patriarchen residierten beispielswei-se lange Zeit im Kloster Aghtamar (1116-1895 Sitz eines Katholikos) und in Hromkla. Die Hauptstadt Sis blieb Sitz des armenischen Patriarchen des Hohen Hauses von Kilikien. 1860/63 griff der osmanische Staat direkt in die Organisation der Armenier und ihrer Kirche mit einer für sie bestimmten Verfassung ein: Laien erhielten stärke-re Rechte und Gremien standen dem armenischen Patriarchen von Kons-tantinopel zur Seite. Die hamidischen

Massaker 1894-1896, die Massaker von Adana 1909 und der Völkermord ab 1915 vernichteten weitgehend die Strukturen der armenischen Kirche im Osmanischen Reich. Der Patri-arch von Sis musste 1921 endgültig das Land verlassen und residiert heu-

te in Antelias bei Beirut im Libanon. Die Syrisch-Orthodoxen, damals von westlichen Beobachtern oft fälsch-lich Jakobiten genannt, hatten ihr Oberhaupt im Kloster Deirulzafaran, während in einem weiteren Kloster ein schismatisches Oberhaupt der-selben Kirche für den Tur Abdin (1364-1839) residierte. Ein geistiges Zentrum dieser Kirche, die sich nur im Untergrund gegen die Bedrängung der Byzantiner erwehren konnte und später steter Pression auch seitens der umliegenden kurdischen Herrschafts-gebiete ausgesetzt war, blieb das Mor-Gabriel-Kloster bei Midyat. Es ist eine Folge des Völkermords, dass der Sitz des Patriarchen nach dem Tod des Pa-triarchen Elias III. 1932 zunächst nach Homs verlegt worden ist, wo er unter

dem Schutz der französischen Man-datsmacht gestanden hat und schließ-lich 1959 nach Damaskus umgesiedelt ist, wo er sich bis heute befindet.

Die Apostolische Kirche des Os-tens, die heute zudem die Bezeich-nung „Assyrisch“ in ihrem Namen ›

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Armenisch-apostolischer Gottesdienst in der St. Hripsime-Kirche in Etschmiadsin (Provinz Armawir).

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führt, war einst die geographisch am weitesten ausgedehnte Kirche der Welt und hat sich schließlich unter dem Druck des Mongolenherrschers Timur Lenk im 14. Jahrhundert in die Berge Nordmesopotamiens zurück-ziehen müssen. Stärker noch als die Führer der anderen Kirchen war der Patriarch dieser Kirche stets auch ein politischer Faktor im Kräftespiel der Region gewesen. 1843-1846 waren die Gläubigen dieser Kirche schweren Massakern ausgesetzt und 1915 floh das gesamte Volk der sogenannten Bergnestorianer aus dem Osmani-schen Reich in den Iran in die Regi-on um den Urmia-See, um dort den Schutz der russischen Truppen zu su-

chen und später, als die Russen keinen Schutz mehr boten, in Richtung der von den Engländern kontrollierten Regionen des Iran. Der Patriarch, Si-meon XIX. Bejamin, wurde 1918 von Kurden ermordet. Sein Nachfolger, der seinen Sitz im Hakkari-Gebirge in Kotschannes hatte, erlag schließlich im Flüchtlingslager von Baquba der Tuberkulose.

Von der Syrisch-Orthodoxen Kir-che hatten sich Gläubige gelöst, um eine Union mit Rom einzugehen, die sich seit 1783 einigermaßen instituti-onell etablierte. Ihr Oberhaupt hatte seinen Sitz in Mardin (1850-1920), der sich seither in Beirut befindet. Sie verlor ihre wichtigsten Diözesen in

der Osttürkei (Diyarbakir und Urfa), konnte aber neue an den Fluchtorten ihrer Gläubigen gründen (so im syri-schen Hassake und in Kairo). Die mit Rom sich unierenden Angehörigen der Kirche des Ostens (erstmals ein eigener Hierarch 1553, doch erst seit 1830 gefestigte Struktur) hatten ihr Oberhaupt zunächst in Diyarbakir. Nach dem Völkermord leben die An-gehörigen dieser Kirche vorrangig im Irak, wo sich die Zahl ihrer Gläubigen aufgrund von Zuzug der Überleben-den aus der Osttürkei und dem Iran verstärkt hat. Die mit Rom sich verei-nenden Armenier hatten ab 1867 ihr Patriarchat in Konstantinopel und seit 1928 wieder in Bzommar bei Beirut,

Zwangsislamisierte Armenierinnen.

Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA)

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Der Völkermord

wo die kilikischen unierten Armenier schon einmal seit 1749 ihren Patri-archatssitz gehabt hatten. Die Kirche verlor aufgrund des Völkermords letztlich all ihre mehr als ein Dutzend Bistümer auf kleinasiatischem Boden.

Wie die Katholiken mittels des Unionsgedanken, so fassten Protes-tanten in allen traditionellen Kirchen der Region Fuß, vor allem in Folge der amerikanischen Missionen der Kongregationalisten und Presbyte-rianer, der englischen Mission im Auftrag des Erzbischofs von Canter-bury sowie der lutherischen, baptis-tischen und adventistischen Missi-onen. Obwohl sie zumeist mit dem Vorsatz antraten, die alten Kirchen lediglich reformieren und moderni-sieren zu wollen, konstituierten sie sich schließlich mit eigenen Kirchen-organisationen, da der Gegensatz zu den Mutterkirchen in theologischen und religiösen Fragen in der Regel unüberwindbar wurde.

Tatsächlich war ein im engeren Sin-ne gemeinsames Handeln der Kirchen der Armenier, Syrer und Griechen nicht möglich. Die Verschiedenheit der Kirchen, die in den Grundlinien ebenfalls die Verschiedenheit von Eth-nien widerspiegelt, hatte sich schon vorher deutlich gezeigt: Die Kirchen der nichtarmenischen Völker, die mit zur Millet gehörten, die von dem Pa-triarchen der Armenier in Konstanti-nopel repräsentiert wurde, lösten sich nämlich zum Teil gewaltsam davon los. Nach 1830 musste der armenische Patriarch in Konstantinopel hinneh-men, dass nicht nur Millets (Anm.: re-ligiöse Rechtsordnung für Nicht-Mus-lime) für Katholiken und Protestanten geschaffen wurden, sondern auch die Syrisch-Orthodoxe Kirche eine eigene Millet wurde. Der Emanzipationspro-zess der in den neuen Millets erfassten Kirchen, die sich vom Armenischen Patriarchat distanziert hatten, führte zwar zur Stärkung der jeweiligen re-ligiösen und ethnischen Profile, zer-splitterte jedoch zugleich die einstige Einheit in eine Vielfalt, die nun nicht mehr zu einheitlichen Handlungen in der Lage war. So fanden sich auch in den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg Vertreter der je-

weiligen Kirchen in den Delegationen der Völker, die sich nicht sehr erfolg-reich in den Diskussionsprozess ein-gebracht hatten; waren sie doch nicht zu einer Ökumene der Opfer gelangt, die gleichermaßen Armenier, Syrer und Griechen, Protestanten, Katho-liken, Orthodoxe und Orientalisch-Orthodoxe sowie die Repräsentanten der Apostolischen Kirche des Ostens umfasst hätte.

Zerstörung der Substanz

Die Vielfalt der Kirchen des Ori-ents bereicherte kulturell und religiös das Osmanische Reich und brach da-bei ethnische Fixierungen auf, ohne die Bindung an die Ethnien zu über-winden. Der Völkermord kommt mit Fokus auf die Kirchen als ein Akt in den Blick, der neben den Menschen genauso Kulturen und ihre Relikte zerstört hat. Mutwillig wurden Kir-chen in Moscheen umgewandelt, Klöster zu Ruinen gemacht und die Baustoffe zur Errichtung anderer Häuser verwandt. Ebenso wurden bedeutende Seminare geschlossen, (etwa das Theologische Seminar von Armasch, das Central Turkey’s Girls College in Marasch, das 1915 zerstör-te Sanasarian-College in Sivas, die Theologischen Seminare in Kharpert und Marasch. Das Robert-College in Istanbul und das Talas-College in Kayseri blieben beispielsweise erhal-ten, aber veränderten ihre Funktion vollständig). Kirchliche Verlage, Bi-bliotheken, Handschriften, kirchli-che Schulen, selbst Friedhöfe gingen verloren. Nur mit Mühe konnten li-turgische Kostbarkeiten aus dem Pa-triarchatssitz in Sis von Flüchtlingen unter Einsatz ihres Lebens gerettet werden. Die Kirchen verloren ihre Wurzeln, aus denen sie historisch gewachsen waren. Sie überleben al-

lein durch intensive Erinnerungsar-beit, während vor Ort weiterhin die Zeugen ihrer historischen Präsenz im Lande teilweise bloß noch jäm-merliche Ruinen waren oder anderen Zwecken zugeführt worden sind, die die einstige multireligiöse Wirklich-keit der Region nicht einmal mehr im musealen Sinn sichtbar werden lässt. Völkermord ist eben gleichermaßen Vernichtung der über die Jahrtausen-de gewachsenen Kulturen. Manchmal lehrt den Kundigen derzeit einzig die Abwesenheit dessen, was einst dage-standen hat, was hier geschehen und wie unwiederbringlich damit in die multireligiösen und ethnischen Ver-hältnisse des späten Osmanischen Reiches eingegriffen worden ist.

Geistliche trugen dazu bei, die Völkermorde publik zu machen. Priester wie der aramäische Chorbi-schof Suleyman Henno sammelten Berichte der Augenzeugen, ebenso der spätere Patriarch Ignatius Eph-raem I. Barsaum, um sie der Weltöf-fentlichkeit anlässlich der Friedens-konferenzen vorzulegen. Die Aussage eines armenischen Bischofs führte im Prozess nach der Tötung des für den Völkermord mitverantwortlichen ehemaligen Großwesirs Talat Pascha zum Freispruch des nach der Tat ge-fassten Armeniers. Geistliche litten besonders unter brutalen Misshand-lungen, so wie z.B. der armenische Bischof von Diyarbakir, dem glühen-de Hufeisen unter die Fußsohlen ge-nagelt wurden.

Eine Rückgabe der zweckentfrem-deten oder zerstörten Gebäude an die Kirchen oder eine Wiedergutma-chung für die zerstörten Kulturwerte an sie (Patriarch Aram betreibt dies zur Zeit in gewisser Weise) ist un-wahrscheinlich und damit die Erin-nerung an interreligiöse Koexistenz auf Dauer zerstört.

1) Die Literatur ist sehr umfangreich. Aus meiner eigenen Feder seien genannt: Martin Tamcke, Die Christen vom Tur Abdin. Hinführung zur Syrisch-Orthodoxen Kirche, Frankfurt 2009 (dort besonders das Kapitel zum Völkermord); Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008 (genereller Überblick mit exemplarischen Vertie-fungen); Martin Tamcke, Das orthodoxe Christentum, München 2007 (zu Lehre und Ritus der Kirchen); Martin Tamcke, „Erst das Leben muss des Lebens Wert zeigen“. Der Syro-Iraner Lazarus Jaure und die Deutschen, Berlin und Tübingen 2013; zu den Kirchen insgesamt: Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum, Stuttgart 2007 (umfassendste Gesamtdarstellung zur Geschichte der orientalischen Kirchen in deutscher Sprache).

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Մեծ եղեռն: Das ultimate Verbrechen Mit jedem Völkermord wird den Opfern das Recht zu existieren abgesprochen. Darum ist es für die Opfer und deren Hinterbliebenen unerlässlich, dass die Täter oder ihre Rechtsnachfolger ihre Taten als Verbrechen anerkennen und um Verzeihung zu bitten. Die Türkei – als Rechtsnachfol-gerin des Osmanischen Reiches – verweigert bis heute jegliche Anerkennung, geschweige denn Entschuldigung und Wiedergutmachung. Auch die Staatengemeinschaft tut sich schwer damit – mit Rücksicht auf die Türkei. Dennoch gibt es neben zahlreichen beschämenden Initiativen der Völkermord-Leugnung auch ermutigende, die mit diesem Tabu sogar in der Türkei brechen.

Rechtshistorische Zusammenhänge

„Mets jerern“ (մեծ եղեռն) – „gro-ßes Verbrechen“ (großen Frevel)1)

- nannten die überlebenden Armeni-er die Todesmärsche und Massaker der Jahre 1915 und 1916, bevor sie den von Raphael Lemkin 1944 ein-geführten Begriff Genozid als Lehn-übersetzung (ցեղասպանություն - tseraspanutjun) übernahmen und den von der osmanischen Regierung angeordneten Massenmord als Հայոց ցեղասպանություն („Völkermord

an den Armeniern“) bezeichneten. Dass zwischen dem Genozid an den Armeniern und dem von Lemkin ent-worfenen Übereinkom men über die Ver hü tung und Bestra fung des Völk-er mordes (Con ven tion on the Pre ven-tion and Pun ish ment of the Crime of Geno cide/CPPCG) der Vereinten Na-tionen auch ein unmittelbarer rechts-historischer Zusammenhang besteht, ist noch immer wenig bekannt. Lem-kin, ein im heutigen Weißrussland

(Belarus) geborener jüdischer Jurist und Historiker polnischer Staats-zugehörigkeit, wurde 1921 auf den Berliner Strafprozess gegen den ar-menischen Attentäter Soromon Teh-lerjan aufmerksam, der in einem Akt von „Mördermord“ den vormaligen osmanischen Innenminister und spä-teren Regierungschef Mehmet Talat erschossen hatte. Talat galt als poli-tisch Hauptverantwortlicher für die Vernichtung der Armenier. In seiner

V O N T E S S A H O F M A N N

Ruinen des Armenierviertels von Tarsus. Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA)

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D ie Leugnung

Autobiographie schrieb Lemkin über das Berliner Verfahren:

„Das Gericht in Berlin sprach Teh-lirian frei. Es befand, er habe unter ,psychischem Zwang' gehandelt. Tehli-rian, der die moralische Ordnung der Menschheit aufrechterhielt, wurde für geisteskrank befunden (...). Er hatte als selbst ernannter Rechtsvollstrecker für das Gewissen der Menschheit gehan-delt. Aber kann ein Mensch sich selbst zum Vollstrecker der Gerechtigkeit er-heben? ( ) In diesem Moment nahm der Gedanke an den Mord an Unschuldi-gen für mich weiter an Bedeutung zu. Ich kannte noch nicht alle Antworten, aber ich fühlte, dass die Welt ein Gesetz gegen Rassen- oder Religionsmord ver-abschieden müsste.“2)

Den Entwurf einer derartigen Kon-vention gegen Verbrechen an ethnisch, „rassisch“ oder religiös definierten Gruppen reichte Lemkin bereits 1933 bei einer Versammlung von Rechts-experten in Madrid ein, die der Völ-kerbund einberufen hatte. Allerdings bedurfte es eines weiteren Weltkrieges mit zahlreicheren Völkermordopfern, damit die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, die Vereinten Natio-nen, 1948 das Lemkinsche Gesetzes-vorhaben verabschiedete. Das am 12. Januar 1951 in Kraft getretene Über-einkommen beschreibt in §2, a bis c, fünf Straftatbestände, die jeder für sich genommen als Genozid gewertet werden, falls sie in der Absicht began-gen wurden,

„(…) eine nationale, ethnische, ras-sische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem kör-perlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teil-weise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Gebur-tenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überfüh-rung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“3)

Mit Ausnahme von § 2 (d), der sich auf die Zwangssterilisationen der Na-tionalsozialisten bezieht, entwickelte

Lemkin seine Definitionen auf der empirischen Grundlage des osmani-schen Genozids.4)

Selbstverleugnung

Franz Werfels erfolgreicher Ro-man „Die 40 Tage des Musa Dagh“, der den atypisch erfolgreichen Wider-stand eines armenischen Kirchspiels gegen die Deportation schildert, hätte das Schweigen um den osmanischen Genozid durchbrechen können, das bereits Ende der 1920er Jahren ein-setzte. Doch schon Anfang Februar 1934, nur etwas mehr als zwei Monate nach seinem Erscheinen, wurde der Roman gemäß §7 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des Deutschen Volkes“ beschlagnahmt

und landesweit eingezogen.5) Die US-amerikanische Filmagentur MGM, die die Filmrechte erworben hatte, hat aufgrund türkischer Interventionen und massiven Drucks nie davon Ge-brauch gemacht. „Als Pläne über die bevorstehende Verfilmung mit Clark Gable bekannt wurden, intervenierte die Türkei diplomatisch in den USA (…). Die gesamte publizistische Tür-kei (…) sah die eigentliche Besonder-heit des Falls darin, dass Franz Werfel Jude war. (…) Aus dem ‚armenisch-jüdischen Komplott‘ wurde innerhalb von nur zwei Jahren ein Komplott des

internationalen Judentums gegen das Türkentum.“ 6)

Der Ausbruch des Zweiten Welt-kriegs beendete endgültig jeglichen öffentlichen Diskurs über den osma-nischen Genozid im Ersten Weltkrieg, in der Türkei ebenso wie in Europa und Nordamerika. Wie konnte es geschehen, dass der Genozid an den Armeniern zur Tatzeit der Weltöffent-lichkeit genauer bekannt wurde als der Holocaust während des Zweiten Welt-krieges und dennoch so schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung ver-schwand und in Vergessenheit geriet?

Der US-armenische Autor Michael Bobelian hat darauf eine differenzier-te Antwort gegeben: Wie in allen von Genozid gezeichneten Volksgruppen schwiegen die meisten armenischen Überlebenden. Sie bildeten eine weit-gehend führungslose, international verstreute Gesellschaft. Scham ver-schloss ihnen den Mund, denn viele hatten ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre Angehören erniedrigt, ge-quält und ermordet wurden. Auch waren zahlreiche Überlebensstrategi-en nicht mit gängigen Vorstellungen von Menschenwürde vereinbar.

Soziale Marginalisierung bildete einen weiteren Grund für das Schwei-gen der einstigen Opfer: In Europa und den USA stießen Armenier in den 1920er und 1930er Jahren auf krasse Fremdenfeindlichkeit. Bobe-lian erwähnt ein „restriktives Immo-bilienbündnis“, das verhinderte, dass armenischen Immigranten Landbesitz verkauft oder verpachtet wurde. Ar-menier wurden als „Fresno Nigger“ diskriminiert und als unerwünscht aus Schulen und sozialen Zentren aus-gegrenzt. Diskriminierung beschleu-nigte die Assimilation und Identitäts-verleugnung.

Viele Völkermordüberlebende hat-ten gehofft, dass ihre Leiden mit der Gründung eines international aner-kannten, unterstützten und geschütz-ten Nationalstaates „belohnt“ würden. Doch die alliierten Sieger brachen spätestens beim Friedensschluss von Lausanne (1923) frühere Versprechen ebenso wie ihre Zusage, die Völker-mordtäter gerichtlich zur Verantwor-tung zu ziehen. Nach nur 900 Tagen ›Fo

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Erzincan: Mörder posieren mit den Köpfen ihrer Opfer, Bischof Smbat Saatetjan (links.) und dem Oberhaupt der evangelischen Armenier.

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D ie Leugnung

Existenz fiel zudem Ende 1920 die erste Republik Armenien den Sowjets in die Hände, die sich sofort an die Verfolgung und Unterdrückung der bereits im Osmanischen Reich blutig verfolgten Daschnaken machten. Aus Sicht der sozialistischen, jedoch nicht marxistischen Daschnakzutjun und ih-rer Anhänger bildeten die Sowjets eine größere Gefahr für Armenien als die in westliche Bündnisse integrierte Türkei. Die Ermordung des New Yorker Erzbi-schofs Levon Tourian durch Daschna-ken vor der Weihnachtsmesse 1933 und die Systemkonfrontation während des Kalten Krieges zementierten für Jahrzehnte die Spaltung der weltweiten

armenischen Diaspora in ein antisow-jetisches Lager und jene, für die Ar-menien trotz seiner Sowjetisierung die historische Heimat blieb, mit der man auch weiterhin Kontakt pflegte.

Nach Ende des Ersten Weltkrieges war fast jeder zweite Einwohner der südkaukasischen Republik Flüchtling aus den grenznahen osmanischen Be-zirken Erzurum (ca. 200.000) und Wan (100.000). Während der stalinistischen Verfolgungen 1937-39 verlor Armeni-en erneut seine geistliche und geistige Führung, darunter namhafte, aus West-armenien stammende Autoren wie Wahan Totowenz (1889-1937), Jerische Tscharenz (1897-1936), Gurgen Maha-

ri (1903-1969) oder die Romanschrift-stellerin Zapel Jessajan (1878-1943), denen Nationalismus unterstellt wur-de. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg führte das Misstrauen gegen Flüchtlinge aus dem einstigen Osmani-schen Reich und Zuwanderer aus der westarmenischen Diaspora zu wieder-holten Deportationen: 1944 wurden an die 200.000 ursprünglich von der pon-tischen Küste stammende Hamschen-Armenier aus Georgien nach Mittela-sien deportiert, 1948 58.000 Griechen und Armenier („Daschnaken“) aus Ge-orgien nach Kasachstan.

Doch ausgerechnet aus Sowjet-armenien kam 1965 der Impuls zur

Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA)

Armenische Repräsentanten, eine Stunde vor ihrer Liquidierung.

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erinnerungspolitischen Umkehr: 50 Jahre nach dem Genozid protestierte in Jerewan eine von Studenten und breiten Bevölkerungskreisen getrage-ne Demonstration gegen das „Fest-saalgedenken“ der im Opernhaus versammelten politischen, kulturellen und kirchlichen Elite; sie forderten vor allem die Rückgabe jener westarmeni-schen Siedlungsgebiete, die im Vertrag von Sévres sowie im Entscheid des US-Präsidenten W. Wilson 1920 der Republik Armenien zuerkannt wor-den waren. Mit etwa 100.000 Teilneh-mern stellte die Jerewaner Demonst-ration die erste, nicht systemkonforme Massendemonstration in der sowjeti-

schen Geschichte dar. Sie bewirkte, dass die Moskauer Staatsführung zur Beschwichtigung der Lage der Er-richtung eines imposanten Genozid-Mahnmals (1967) auf dem Jerewaner Hügel Tsitsernakaberd zustimmte.

Offene Wunden

Die hartnäckige Weigerung bisher jeder Regierung der Republik Türkei, die den Armeniern während des Ers-ten Weltkriegs angetanen Verbrechen als Genozid anzuerkennen, geschwei-ge denn, sich dafür zu entschuldigen, hält im armenischen Kollektivge-dächtnis die traumatischen Wunden

seit nunmehr vier Generationen of-fen. Denn für eine Heilung und Ver-gebung wäre es erforderlich, dass die Mehrheitsgesellschaft der Türkei, de-ren Gesetzgeber und Staatsführung das armenische Volk oder zumindest die Nachfahren der Opfer um Verge-bung bitten. Solange jedoch die of-fizielle Türkei und die Mehrheit der Gesellschaft in Wort und Schrift zum Ausdruck bringen, dass 1915 keine Verbrechen verübt wurden, und falls doch, dann nicht vom Staat und nicht in genozidaler Absicht, sondern von den Opfern selbstverschuldet, solange ist Heilung unmöglich. Die Leugnung oder Verharmlosung von Völkermord ›

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gilt Genozidforschern als typische letzte Etappe dieses Verbrechens, die der jüdische Nobelpreisträger Elie Wiesel zutreffend die „zweite Tötung“ nannte. Armeniern, Aramäern/As-syrern sowie Griechen aus dem eins-tigen osmanischen Staatsgebiet wird dieses Verbrechen immer wieder zu-gefügt.

Eine Ausnahme bilden Teile der Zivilgesellschaft in der Türkei und ihrer Diaspora. Seit der zweiten Hälf-

te der 1980er Jahre haben türkische Wissenschaftler, Publizisten, Schrift-steller, Menschenrechtler und Künst-ler begonnen, sich mit dem von der offiziellen Türkei erst verschwiegenen, dann geleugneten Völkermord ausein-anderzusetzen. Für viele türkische und kurdische „Anerkenner“ bildete die eigene politische Verfolgung das Ausgangsmotiv ihrer Aufarbeitung der nationalen Vergangenheit. Viele linksorientierte Intellektuelle miss-trauen ihren Regierungen zutiefst und bestreiten ihnen das historische Deutungsmonopol, oft um den Preis

erneuter strafrechtlicher Verfolgung wegen angeblicher „Beleidigung des Türkentums“ (§ 305, dann 301 des StGB/Türkei). Trotz internationaler Proteste wurde der berüchtigte Ge-sinnungsparagraph bei einer Novel-lierung 2008 nur entschärft, nicht aber grundsätzlich aufgehoben.

Als der exilierte Historiker und Soziologe Taner Akçam 2008 erfuhr, dass sein Name auf einer Abschuss-liste der extremistischen Ergenekon-

Geheimorganisation stand, reichte er Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Der EGMR entschied im Oktober 2011, dass die Verwendung des Begriffs Ge-nozid in der Türkei keine strafrechtli-chen Konsequenzen nach sich ziehen dürfe. Auf das Recht auf Meinungs-freiheit beruft sich allerdings auch der Vorsitzende der national-sozialisti-schen Işçi Partisi („Arbeiter-Partei“), Doğu Perinçek, der in Deutschland Jura studiert hat. Perinçek und die von ihm ins Leben gerufene „Talat Paşa-Offensive“ provozierten 2005-

2006 gezielt die Rechtssysteme in der Schweiz, Deutschland und Frank-reich, indem sie wiederholt und öf-fentlich von einer „armenischen Ge-nozid-Lüge“ sprachen. In der Schweiz, deren Antidiskriminierungsgesetz die Genozidleugnung unter Strafe stellt, wurde Perinçek 2007 durch alle drei Gerichtsinstanzen verurteilt. Er leg-te gegen das schweizerische Urteil Berufung beim EGMR ein, der am 17.12.2013 entschied, dass das Recht

auf Meinungsäußerung die Leugnung des Genozids an den Armeniern ein-schließe. Die Schweiz, Frankreich so-wie Armenien beantragten daraufhin erfolgreich eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 28. Januar 2015 eröff-nete die Große Kammer des EGMR das Wiederaufnahmeverfahren, bei dem letzt- und höchstinstanzlich über die Grundsatzfrage entschieden wird, ob Meinungsfreiheit das Recht auf Genozidleugnung beinhaltet und über welche Entscheidungsfreiheit nationale Rechtssysteme verfügen. Denn diese sind hinsichtlich der Be-

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Waisen mit einem armenisch-apostolischen Geistlichen.

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strafung von Genozidleugnung sehr unterschiedlich ausgestattet: Außer der Schweiz besitzen auch Spanien, die Slowakei sowie Griechenland Strafrechtsparagraphen zur Ahndung von Genozidleugnung. In Frankreich dagegen scheiterte eine entsprechende Gesetzesvorlage 2011, während der Deutsche Bundestag 2012 eine von der Arbeitsgruppe Anerkennung 2008 eingebrachte Petition zur Erweiterung von Artikel 130 (StGB/Deutschland) mit dem Hinweis auf den EU-Rah-menbeschluss zurückwies.7) Damit bleibt in Frankreich und Deutschland lediglich die Leugnung der Vernich-tung der europäischen Juden strafbar.

Und Deutschland?!

Um Deutschlands ausweichende Position zu beurteilen, ist ein Blick auf seine Rolle in der osmanisch-türkischen sowie armenischen Ge-schichte erforderlich: Deutschland hat aus militärstrategischen Gründen im Ersten Weltkrieg das verbündete Osmanische Reich zum Kriegseintritt gedrängt. Der deutsche Diplomat und Geheimdienstler Max von Oppen-heim („Abu Dschihad“) regte außer-dem erfolgreich an, dass der Scheich-ul-Islam als muslimisches Oberhaupt zum „Heiligen Krieg“ aufrief. Freilich schlug Oppenheims Kalkül fehl, dass der Religionskrieg in den britischen Kolonien zu einem antiimperialisti-schen Aufstand gegen Deutschlands Kriegsgegner führen würde. Statt-dessen gestaltete sich der Dschihad als „türkischer Krieg, aber gegen alle Nichttürken“ 8), bei dem die indigenen Christen Kleinasiens und Mesopota-miens die Hauptzielgruppen bildeten.

Als wichtigster Bündnispartner des Osmanischen Reiches verfügte Deutschland über umfassende Infor-mationen über den Verlauf und Um-fang der Christen- und besonders der Armeniervernichtung. Gleichwohl blieben seine politischen Entschei-dungsträger indifferent gegenüber den Verbrechen des jungtürkischen Regimes und ließen sich auch nicht von Petitionen deutscher Christen beeindrucken, die im Oktober 1915 vor allem von evangelischer Seite

eingereicht wurden. Als der deutsche Sonderbotschafter zu Konstantino-pel, Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht, schließlich am 7. Dezember dem Reichskanzler Bethmann Holl-weg eine Änderung der bisherigen kritiklosen Türkeipolitik vorschlug, wies ihn der deutsche Regierungschef zurecht:

„Die vorgeschlagene öffentliche Ko-ramierung [Anm.: zur Redestellung] eines Bundesgenossen während laufen-den Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Ar-menier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“ 9)

Deutschland war nicht nur weitge-hend passiver Mitwisser der Verbre-chen, sondern profitierte auch von der Zwangsarbeit Tausender Armenier auf den als kriegswichtig erachteten Bauabschnitten der Bagdadbahn im Amanos- und Taurosgebirge, wo die Firma Holzmann sowohl muslimische Deserteure, als auch armenische De-portierte, darunter Frauen und Kinder ab zwölf Jahren, einsetzte. Männliche Erwachsene erhielten dafür bei einer Arbeitsleistung von zwölf Stunden täglich ein Pfund Brot; sie entgingen

ihrer Vernichtung freilich nur bis 1916. Als Ersatz für die dann auf Be-fehl des Innenministers Talat massa-krierten bzw. deportierten Armenier stellte die osmanische Heeresleitung der Firma Holzmann britische und indische Kriegsgefangene zur Verfü-gung.10)

Die deutsche Bevölkerung erfuhr von solchen Ereignissen fast nichts. Denn nach einem kritischen Vortrag von Johannes Lepsius vor deutschen Pressevertretern im Herbst 1915 wurde für den Rest des Weltkrieges verschärfte Militärzensur über das Thema Türkei bzw. Armenien ver-hängt.

Zwar hatten die Alliierten den Armeniern eine strafrechtliche Ver-folgung der jungtürkischen Regie-rung in Aussicht gestellt, nach der osmanischen Kapitulation aber bald davon abgelassen. Ersatzweise versu-chen Nichtregierungsorganisationen seit 1965, Einzelstaaten und Körper-schaften wie die UNO und das Euro-päische Parlament zu Resolutionen zu bewegen, in denen der Völker-mord an den Armeniern als Genozid entsprechend der UN-Konvention „anerkannt“ wird. Seither haben 22 nationaler Gesetzgeber entsprechen-de Resolutionen oder sogar Gesetze verabschiedet.

1) Der Begriff „աղետ“ („aghet“ - „Katastrophe“) wird oft von Nichtarmeniern verwendet, falls sie den Begriff Genozid vermeiden möchten, denn „Katastrophe“ zählt nicht zu den qualifizierten Termini des Völkerrechts. Selbst der Begriff „մեծ եղեռն“ wird heute als Kompromissformel zwischen „Genozid“ und ausweichenden Begriffen wie „Katastrophe“ oder „Ereignissen von 1915“ benutzt. Vgl. Präsident Obamas Grußadresse zum 24.04.2014 an die armenische Ge-meinschaft der USA: http://www.armenian-genocide.org/Affirmation.445/current_category.4/affirmation_detail.html

2) Lemkin, Raphael: Totally Unofficial; the Autobiography. Ed. By Donna-Lee Frieze. New Haven; London: Yale University Press, (2013), S. 20

3) http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19994549/index.html4) Jacobs, Steven Leonard: Raphael Lemkin and the Armenian Genocide. In: Richard G. Hovan-

nisian (Ed.): Looking Backward, Moving Forward: Confronting the Armenian Genocide. (New Brunswick, NJ: Transaction Publishers), S. 125-135

5) Vgl. Jungk, Stephan Peter: Vortrag zu Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, gehalten im Johannes-Lepsius-Haus, Potsdam, 09.08.2011, S. 17. - http://www.lepsiushaus-potsdam.de/uploads/images/Publikationen/vortrag-zu-franz-werfels-40-tage-des-musa-dagh-von-peter-stephan-jungk.pdf

6) Wertmüller, Justus: Komplotte gegen das Türkentum: Die Kontinuität des Antisemitismus in der modernen Türkei. „Bahamas“, Nr. 43, Winter 2003/4, S. 15

7) Vgl. http://www.aga-online.org/news/detail.php?locale=de&newsId=5188) Formulierung von Johannes Lepsius, wiedergegeben in http://www.armenocide.net/armenoci-

de/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-10-12-DE-0019) http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-12-07-DE-00110) Balakian, Grigoris: Armenian Golgotha: A Memoir of the Armenian Genocide, 1915-1918.

Translated by Peter Balakian with Aris Sevag. New York: Alfred A. Knopf, 2009, S. 268 f.; 297

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D ie Leugnung

Die Schwierigkeit mit der historischen Verantwortung

Ergebnis einer Umfrage unter den Anhängern verschiedener Parteien der Türkei

Das türkische Forschungs-zentrum für Wirtschaft

und Außenpolitik (EDAM) hat eine Meinungsumfrage zu den Ereignissen von 1915 durchgeführt. Daraus wird deutlich, dass ein wesentlicher Teil der öffentlichen Meinung die Politik von Ministerpräsident Erdogan unter-stützt, der am 23. April 2014 als erster türkischer Ministerpräsident den Ar-meniern sein Beileid ausgedrückt hat.

Die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage sind:

Ein Bedauern soll ausgedrückt wer-den, ohne um Verzeihung zu bitten. Das gilt für alle Verluste, nicht nur für die Armenier. neun Prozent sind für eine Anerkennung des Völkermords.

Im Einzelnen ergaben sich folgende Positionen:

• 21 Prozent lehnen es kategorisch ab, im Zusammenhang mit den Ar-meniern von einem Völkermord zu sprechen.

• 24 Prozent vertreten die Ansicht, dass für alle Verluste ein Bedauern ausgedrückt werden solle.

• 12 Prozent sind der Ansicht, dass für die Armenier, die ihr Leben ver-lorenen haben, zwar Bedauern aus-gedrückt, aber nicht um Verzeihung gebeten werden solle.

• 9 Prozent wollen um Verzeihung bitten, allerdings ohne von einem Völkermord zu sprechen.

• 9 Prozent wollen, dass die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannt werden.

• 25 Prozent der Befragten wollten zu der Frage nach der Anerkennung und Bezeichnung der Ereignisse gar keine Stellung abgeben. Die Gruppe ist deutlich gestiegen; bei einer frü-heren Umfrage dieser Art enthielten

n Wegen der Armenier, die 1915 ihr Leben verloren haben, muss um Verzeihung gebeten und von den Lebenden muss akzeptiert werden, dass das ein Völkermord war.

n Man muss wegen der Armenier, die ihr Leben verloren haben, um Verzeihung bitten, aber sonst keine Schritte unternehmen.

n Man muss wegen der Armenier, die ihr Leben verloren haben, sein Bedauern ausdrücken, aber nicht um Verzeihung bitten.

n Es muss festgehalten werden, dass 1915 nicht nur Armenier ihr Leben verloren haben, und es muss für alle osmanischen Bürger, die in diesem Zeitraum ihr Leben verloren haben, Bedauern ausgedrückt werden.

n Es darf kein Schritt unternommen werden.

n keine Meinung, Antwort verweigert

Die mögliche Politik der Türkei zum Thema des Armenierproblems

0%

Genel

AKP

CHP

MHP

BDB

20%

4,1% 7,2%24,4%

4,6% 4,3% 12,9% 22,5% 27,8% 27,8%

8,7% 13,4% 16,6% 17,1% 20,1% 24,1%

7,0% 7,3% 8,8% 26,9% 20,8% 29,1%

9,1% 9,1% 12,0% 23,5% 21,3% 25,0%

36,9% 8,5% 18,8%

40% 60% 80% 100%

sich 10 Prozent einer eigenen Mei-nung.

Kein Unterschied zwischen den Wäh-lern der AKP und der CHP

Schlüsselt man die Umfrage nach Parteizugehörigkeit auf, ergeben sich in-teressante Einsichten. Die drei wichtigs-ten türkischen Parteien sind die

• AKP von Ministerpräsident Erdogan, islamisch-konservativ.

• CHP der Kemalisten, nationalistisch-laizistisch.

• MHP, rechtsextrem.• BDP, die wichtigste Kurdenpartei.

Mit 24 Prozent vertreten die Anhän-ger der BDP überproportional die Mei-

nung, die Armenier müssen um Verzei-hung gebeten werden.

Unter den MHP-Anhängern teilen nur vier Prozent diese Ansicht. AKP- und CHP-Anhänger vertreten in dieser Frage die gleiche Position. CHP-Wähler lehnen die Bezeichnung Völkermord weitgehend ab, stehen jedoch der Forde-rung, um Verzeihung zu bitten, offener gegenüber als die AKP-Anhänger. Am weitesten verbreitet unter allen Parteien ist die Meinung, dass für alle Verluste ein Bedauern ausgesprochen werden muss.

Unter denen, die sich nicht äußern wollten, lagen die AKP-Anhänger mit 30 Prozent vorn, gefolgt von der MHP mit 28 und der CHP mit 24 Prozent.

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Fast einhundert Jahre Genozid-Leugnung – Die Türkei muss

sich ihrer Geschichte stellenDie offizielle Türkei weigert sich hartnäckig, die systematische Vernichtung der christlichen

Ethnien während des Ersten Weltkriegs als Genozid anzuerkennen und die Hinterbliebenen bzw. deren Nachkommen um Verzeihung zu bitten. Dabei sind Heilung und

Aussöhnung nur auf diesem Weg erreichbar.

Die Republik Türkei sei auf den Leichen der ermor-

deten Armenier gegründet worden, äußerte vor Jahren der türkische Ge-nozidforscher Taner Akçam. In der Tat deuten die meisten Forscher die Vernichtung der osmanischen Chris-ten als Folge „moderner“ Nations-bildungsprozesse. Akçams franzö-sisch-armenischer Kollege Raymond Kévorkian brachte dies auf die Kurz-formel „zerstören, um aufzubauen“.1)

Das nationalistische Regime des „Ko-mitees für Einheit und Fortschritt“, im Ausland als „Jungtürken“ bekannt, wollte das schwächelnde Osmanische Reich seit 1910 durch gezielte bevöl-kerungspolitische Maßnahmen stabi-

lisieren. Dazu gehörte die sprachliche Türkisierung des Vielvölkerreiches und vor allem die gezielte Zer- und Umsiedlung nicht-türkischer Ethnien. Die christlichen millets (‚Glaubensna-tionen‘) – Armenisch-Apostolische, Griechisch-Orthodoxe, Katholiken einschließlich der unierten Kirchen – mit ihren Jahrtausende alten, gefestig-ten Identitäten hielt man allerdings für nicht mehr assimilierbar, ganz abgese-hen davon, dass die Enteignung der industriell und finanzwirtschaftlich dominanten osmanischen Griechen und Armenier ein zu verlockendes Motiv zu ihrer Vernichtung bildete.

Diese Zusammenhänge und ihre genozidalen Folgen waren in den An-

fangsjahren der Republik Türkei noch allgemein bekannt und wurden auch öffentlich bzw. parlamentarisch erör-tert, wobei die Gründer der Republik ebenso wie ihre jungtürkischen Vor-gänger das Vorgehen gegen die Arme-nier mit der „Rettung des Vaterlands“ rechtfertigten.2) Eine elaborierte Leug-nungsliteratur und -politik entstand erst in Reaktion auf den armenischen „Erinnerungskampf “ (S. Bayraktar) ab den 1980er Jahren.

Eine Ausnahme bei der Umdeu-tung der jungtürkischen Staatsver-brechen als patriotische Taten bildete der Gründer der Republik und deren erster Präsident, Mustafa Kemal: Er nutzte ein 1926 in Izmir aufgedecktes

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Foto: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA) Witwen und Waisen in Tarsus.

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Mordkomplott dreier Verschwörer, um mit jenen Jungtürken abzurech-nen, die sich von der kemalistischen „Volkspartei“ (CHP) abgespalten und die oppositionelle „Fortschrittspar-tei“ gegründet hatten. In dieser Phase innenpolitischer Zuspitzung distan-zierte sich der spätere „Vater der Tür-ken“ (Atatürk) ausdrücklich von den Verbrechen der Jungtürken, als er am 1. August 1926 in einem Interview ausführte: „Diese Überbleibsel der eins-tigen Jungtürkenpartei, die für das Leben von Millionen unserer christlichen Unterta-nen zur Rechenschaft hätten gezogen werden müssen, die unbarmherzig en masse aus ihren Heimen vertrieben und massakriert wurden, diese Jungtürken sind unter republi-kanischer Herrschaft aufsässig geworden. Bisher haben sie von Plünderungen, Raub und Erpressung gelebt (…)“ 3)

Man muss diese Äu-ßerung Kemals als zutiefst heuchlerisch einstufen. Denn

zeitgleich mit seinem Interview erging ein Regierungsbeschluss, womit jegli-ches vor dem 6. August 1924 beschlag-nahmte Eigentum weiterhin einbehal-ten wurde.4) Damit sanktionierte das kemalistische Regime nicht nur a pos-teriori den genozidalen Raubzug seiner Vorgänger, sondern erhob sich zu des-sen alleinigem Nutznießer.

Kemals Regime hat zugleich den Grundstein für die Umdeutung der jungtürkischen Verbrechen gelegt.

So fanden die von den alliierten Be-satzern des Osmanischen Reiches 1918 und 1919 juristisch wegen „Ver-brechen gegen die Menschheit“ ver-folgten Jungtürken nicht nur Zuflucht im Herrschaftsbereich der nationalis-tischen Gegenregierung in Ankara, sondern sie wurden auch in den ke-malistischen Staatsapparat übernom-men; Mustafa Abdülhalik Renda bei-spielsweise, der als Präfekt von Bitlis die Lebendverbrennung Tausender

Armenier angeordnet hatte, bekleidete in der Republik Türkei zwei Ministerämter und wurde Parlamentsprä-sident.5)

Die Urteile, die osmani-sche Militärgerichtshöfe 1919

Obdachlose und von Hunger gezeichnete Waisen.

Von Türken elendig zugerichtete Armenier.Fo

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und 1920 über die – meist flüchtigen – jungtürkischen Völkermörder fällten, hob die kemalistische Regierung um-gehend auf. Die Familien der wenigen Verbrecher, deren Todesurteile 1919 vollstreckt worden waren, erhielten staatliche Zuwendungen und „Entschä-digungen“ aus dem von den Jungtürken beschlagnahmten Besitz der Armeni-er, ebenso wie die Angehörigen jener insgesamt sechs osmanischen Opfer armenischer Vergeltungsattentate.6)

Die Erschießung der für den Ge-nozid unmittelbar verantwortlichen Jungtürken durch armenische Rä-cher begründete in der Türkei einen bizarren, bis heute anhaltenden Kult, bei dem die politisch für Massenmord Verantwortlichen ebenso wie dessen Ausführende zu Opfern armenischen Terrorismus sowie als patriotische „Retter des Vaterlands“ stilisiert wer-den. Nicht nur in der Türkei selbst, sondern sogar in den einst türkischen Vierteln Süd-Zyperns tragen öffent-liche Einrichtungen, insbesondere Schulen und Moscheen, sowie Straßen und Plätze den Namen des jungtürki-schen Innenministers Talat, obwohl dieser am 5. Juli 1919 von einem os-manischen Militärgericht wegen der „Massaker und Vernichtung der Ar-menier“ zum Tode verurteilt worden war.7)

Dass die staatlich geplanten und organisierten Deportationen und Massaker, die 1915/16 an den osma-nischen Armeniern verübt wurden, genozidaler Absicht entsprangen, ha-ben bis heute sämtliche türkische Re-gierungen mit der eingangs genannten Ausnahme Mustafa Kemals im Jahr 1926 bestritten. Eine entscheidende Rolle bei der geschichtspolitischen In-doktrinierung der Bevölkerung spie-len Schulgeschichtsbücher. Während sich diese bis 1980 gänzlich über die Existenz von Armeniern in der os-manischen Geschichte ausschwiegen, wurde ab 1981 die „Armenische Fra-ge“ als verbindlicher Lehrstoff in die Hochschulerziehung sowie in entspre-chende Lehrpläne und –bücher ein-geführt. Doch blieb die Darstellung der Deportationen von 1915 zunächst noch knapp, trivialisierend im Hin-blick auf die Dimension der Vernich-

tung und apologetisch, indem die Ver-nichtungsabsicht bestritten und die Verantwortung für den osmanischen Deportationsbeschluss Russland bzw. den Armeniern selbst zugeschrieben wurde.8) Seit Mitte der 1990er Jahre mehrte sich in türkischen Schulbü-chern die Unterstellung des Verrats, den christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich angeblich began-gen haben sollten. So hieß es in einem Schulgeschichtsbuch von 1995:

Griechen und Armenier, die als tür-kische Bürger jahrhundertelang in Frie-den gelebt hatten und von allen mögli-chen Gelegenheiten seitens des Staates profitiert hatten, nutzten die Notlage

des osmanischen Staates aus und ko-operierten mit den Besatzermächten, um unsere Gebiete aufzuteilen … Das armenische Racheregiment, das in Adana mit französischer Hilfe aufge-stellt worden war, begann umfangreiche Massaker.9)

Sechs Jahre später, am 29. Mai 2001, rief der türkische Regierungs-chef mit seinem Runderlass Nr. B.02.0.PPG.0.12.320-8312-2 den bis heute bestehenden Koordinationsrat gegen die haltlosen Genozidanschuldi-gungen (ASIMKK = Asılsız Soykırım İddiaları ile Mücadele Koordinasyon Kurulu‘nun) ins Leben. Diesem Gre-mium gehören folgende Ministerien, Behörden und Einrichtungen an: Ver-teidigung, Justiz, Inneres, Äußeres, Erziehung, Kultur und Hochschule, der Inlandsgeheimdienst Nationa-

le Aufklärungs-Organisation (MIT), der Untersekretär der Türkischen Historikergesellschaft sowie das Ge-neraldirektorium der Staatsarchive. Vorsitzender qua Amt ist seit 2003 der Außenminister der Türkei. Die-ses Gremium kontrolliert die Umset-zung der staatlichen Geschichts- und Erinnerungspolitik nicht nur in der Türkei, sondern über deren diploma-tischen Dienst auch im Ausland.

Zum Zweck einer proaktiven Aus-einandersetzung mit den „haltlosen Genozidanschuldigungen“ dekretier-te der damalige Erziehungsminister Dr. Hüseyin Çelik 2002 und 2003 in Rundschreiben und Erlassen, dass die

Lehrer der Sekundarstufe die „halt-losen Behauptungen von Armeniern, Pontos-Griechen und Syrisch-Ortho-doxen“ zum Unterrichtsgegenstand machen und zielführende Schüler-aufsatzwettbewerbe abhalten sollten. Ab der 5. Klasse sollten Schüler über die „armenischen Genozidbehaup-tungen“ informiert werden. Ab der 7. Klasse sollten folgende Themen ver-tieft werden: „Warum haben die Ar-menier die Weltöffentlichkeit wieder mit ihren Genozidbehauptungen kon-frontiert?“ und „Was sind die Ziele der Morde der armenischen Terrororgani-sation ASALA10)?“ 11)

Doch Çeliks Erlasse lösten erst-mals auch öffentlichen Protest aus: Die Bürgerinitiative „Barış için Tarih“ (Geschichte für Frieden) wehrte sich gegen die amtlich angeordnete Auf-

Armenierinnen beim Straßenbau.

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hetzung von Schülern gegen Minder-heiten:

„In den Schulbüchern, die das er-wähnte Rundschreiben vorschreibt, werden Armenier, Griechen und Syrer als Feinde dargestellt. Unsere Untersu-chungs- und Beobachtungsgruppe weist darauf hin, dass in den neu verfassten Schulbuchabschnitten Armenier, Pon-tos-Griechen und Syrer wiederholt als ‚Feinde’, ‚Spione’, ‚Verräter’ und ‘Barba-ren’ bezeichnet werden.

Noch im Gedenkjahr 2015 be-schwören diese Bücher wahrheitswid-rig eine angeblich goldene Vergangen-heit der Armenier unter osmanischem Schutz:

„Nachdem die Türken [im ausge-henden 11. Jahrhundert, R.K.] in Ana-tolien eindrangen, sind die Armenier in den Genuss einer gerechten, humanen, toleranten Verwaltung gekommen (…) Die Armenier (…) haben jahrhun-dertelang innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates in Frieden und Wohlstand gelebt. Der osmanische Staat hat sich nicht in ihre Sprache, ihre Religion, ihre Lebensart und ihre Kul-tur eingemischt.“ (A, S. 47)12)

Warum sich die Armenier trotz dieser Idylle gegen die Osmanen auf-stacheln ließen, bleibt der Deutung der Lehrkräfte und Lernenden überlassen. Wie in früheren Ausgaben werden Zahlenangaben für die armenische Bevölkerung und die Deportierten heruntergerechnet; nach Darstellung des Lehrbuchs für die 10. Klasse wur-de jeder zweite Armenier im Osma-nischen Reich deportiert - „702.900 Terroristen und Aufständische“, von denen dann 300.000 an „Kriegsfolgen und Krankheiten“ starben, trotz der Sorge, die die Regierung für die „Um-gesiedelten“ angeblich trug:

„Damit die Bedürfnisse der umge-siedelten Armenier unterwegs gestillt werden, wurden eigens Beamte beauf-tragt (…) Damit auf dem Weg zum Zielort und am Zielort selbst niemand die Umsiedler tätlich angreift, wurden geeignete Maßnahmen ergriffen. An-greifer wurden umgehend festgesetzt und dem Kriegsgericht zugeführt (…) Man hat darauf geachtet, dass der Bo-den an den Zielorten fruchtbar ist und es an Wasser nicht mangelt. Um die

Sicherheit von Leib und Leben zu ge-währleisten, wurden dort Polizeistatio-nen gegründet.“ (E, 212)13)

Auf türkischer Seite sind nach die-ser Darstellung fünffach mehr Opfer – 1.400.000 Türken insgesamt – zu be-klagen als auf armenischer Seite, von denen 600.000 auf armenisches Konto gehen: (…) „nach offiziellen russischen Quellen [haben] allein in Erzurum, Er-zincan, Trabzon, Bitlis und Van die Ar-menier an die 600.000 Türken massa-kriert, 500.000 wurden vertrieben.“14)

2010 entwickelte der damalige Au-ßenminister Ahmet Davutoğlu seine evasive Doktrin, wonach die Türkei zwar dem „Schmerz der Armenier“ Respekt zollt, ohne freilich Täter oder deren Schuld zu erwähnen. Der dama-lige Regierungschef Erdoğan, der 2009 in einem Interview behauptet hatte, es gäbe kein einziges Dokument, das den Genozid an den Armeniern beweise15), übernahm in seiner jüngsten, am 23. April 2014 veröffentlichten Erklärung die Davutoğlu-Doktrin („Die Ereig-

nisse des Ersten Weltkriegs bilden unseren geteilten Schmerz“) 16) und rief wie schon 2005, zu einer türkisch-armenischen Historikerkonferenz auf – so als gäbe es noch immer Klärungs-bedarf. Eine von „Hürriyet“ am 25. 12. 2014 veröffentlichte Meinungsumfra-ge17) zu Erdogans Erklärung erbrachte, dass nur 9,1 Prozent der Responden-ten dem Vorschlag zustimmten, sich für die Armenier, „die 1915 ihr Leben verloren“, zu entschuldigen und „zu akzeptieren, dass es sich um einen Ge-nozid gehandelt“ habe. Damit stehen weniger als ein Zehntel der Bevölke-rung der Türkei hinter einer Aner-kennung der Verbrechen von 1915 als Genozid – ein bequemes Alibi für die Staatsführung, um weiterhin die An-erkennung der „Ereignisse von 1915“ als Genozid zu verweigern. Genau dies aber hat das Europäische Parla-ment in insgesamt vier Resolutionen seit 1987 zur Voraussetzung für den EU-Beitritt der Türkei und im Namen ihrer inneren und äußeren Stabilität gefordert.

1) Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide: A Complete History. London: Tauris, 2011, S. 8112) Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung: Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei

zwischen Nationalismus und Europäisierung. Bielefeld 2010, S. 383) Mustapha Kemal Pasha: Kemal promises more hangings of political antagonists in Turkey. “Los

Angeles Examiner”, 1 Aug. 19264) Hofmann Tessa, Armenians in Turkey Today, a.a.O., S. 155) Akcam, Taner: Retter des Vaterlandes. „die tageszeitung“, 17.7.20016) In Reaktion auf Attentate der Jahre 1922 und 1925 wurde ein entsprechendes Gesetz am

29.05.1926 in die Große Nationalversammlung eingebracht und in mehreren Lesungen disku-tiert. Vgl. auch http://www.aga-online.org/worship/miscellaneous.php?locale=de

7) Vgl. eine Dokumentation zum türkischen Täterkult: http://www.aga-online.org/worship/index.php?locale=de

8) Dixon, Jennifer M.: Education and National Narratives: Changing Representations of the Ar-menian Genocide in History Textbooks in Turkey, The International Journal for Education Law and Policy, Special Issue on “Legitimation and Stability of Political Systems: The Contribution of National Narratives” (2010), S. 110-112

9) Palazoğlu and Bircan, 1995, zitiert und übersetzt nach Dixon, a.a.O., S. 113.10) ASALA – Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia: Die 1975-85 vor allem von Li-

banon und Syrien aus gegen türkische diplomatische Vertreter und Einrichtungen operierende „Geheimarmee” war zum Zeitpunkt der Çelik-Erlasse bereits zerschlagen.

11) Dixon, a.a.O., S. 11512) Zitiert aus: Kantian, Raffi: Völkerverständigung? Unmöglich mit den neuen türkischen Ge-

schichtsbüchern. 16.11.2014 - http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/2014/11/16/voel-kerverstaendigung-unmoeglich-mit-den-neuen-tuerkischen-geschichtsbuechern/

13) Ebenda14) Ebenda15) Vgl. das am 07.07.2009 vom “Corriere della Sera” in der italienischen Stadt Aquila mit Erdoğan

geführte Interview: - http://www.corriere.it/esteri/09_luglio_07/entrare_europa_69c041d4-6abb-11de-a24c-00144f02aabc.shtml und einen Kommentar http://www.aga-online.org/news/detail.php?newsId=318 (Zugriff: 29.12.2014)

16) Vgl. den vollständigen Wortlaut auf der Webseite des türkischen Außenministeriums http://www.mfa.gov.tr/turkish-prime-minister-mr_-recep-tayyip-erdo%C4%9Fan-published-a-mes-sage-on-the-events-of-1915_-23-april-2014.en.mfa

17) http://www.hurriyet.com.tr/dunya/27841379.asp

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Der Völkermord an den Assyrern und die aktuelle türkische Politik

Die Wahrnehmung des Völkermords an den Assyrern stand immer im Schatten des Völkermords an den Armeniern. Das gilt auch für die offizielle türkische Politik, die sich in der Frage in keiner Weise auf die Assyrer zubewegt. Der folgende Beitrag analysiert die sich daraus ergebenden Kon-sequenzen sowie die türkische „Teile-und-herrsche-Politik“.

Die Fragen nach der Ge-schichte des Völkermords

während des Ersten Weltkriegs – ge-meinhin als Völkermord an den Ar-meniern bekannt – wurden ausführ-lich und über einen langen Zeitraum von Wissenschaftlern, Aktivisten und Politikern diskutiert. Dagegen wissen nur wenige von dem Völkermord an den Assyrern („Seyfo“, ‚Schwert‘ in der Sprache der Opfer), der zur gleichen Zeit in der gleichen Region stattfand. Die Nachkommen der Überlebenden des Völkermords von 1915 kämpfen bis heute weltweit für Gerechtigkeit und Anerkennung, während sie des 100. Jahrestags gedenken.

Nach einem Jahrhundert der völ-ligen Leugnung drückte Premiermi-nister Tayyip Erdogan 2014 bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Völkermords den Enkeln der Ar-menier, die während des Ersten Welt-kriegs von osmanischen Soldaten getötet worden waren, sein Beileid aus. Mit keinem Wort wurden dage-gen die Assyrer und Pontos-Griechen erwähnt, die Opfer des gleichen Völ-kermords waren. Ohne den Begriff „Völkermord“ zu benutzen, wurden die Ereignisse von 1915 in der Stel-lungnahme als „inhuman“ bezeich-net, eine versöhnlichere Sprache als sie bis dahin zumeist von türkischen Verantwortlichen benutzt wurde. Gleichwohl vertrat Erdogan in vie-lerlei Hinsicht die altbekannten tür-kischen Positionen, wonach man sich an den Tod von Millionen Menschen während des Ersten Weltkriegs „ohne Diskriminierung gegenüber einer Religion oder eines Volkes“ erinnern solle.1) Die wichtigste Intention dieser

listigen Stellungnahme wurde offen-kundig durch die jüngsten Versuche der türkischen Regierung, ein inter-nationales Ereignis zum 100. Jahres-tag der Schlacht von Gallipoli vom 14. April 1915 auf die Beine zu stel-len, obwohl diese Schlacht bereits am 18. März begann und bis Ende Januar 1916 dauerte. (Anm.: Die Schlacht von Gallipoli war der Versuch der Entente – Großbritannien, Frank-reich, Russland – die von einem star-ken türkischen Aufgebot, unterstützt von deutschen und österreichischen Verbänden gehaltene Halbinsel Galli-poli im äußersten Westen der Türkei

einzunehmen und von dort auf die Hauptstadt Konstantinopel vorzu-stoßen. Dieser Versuch scheiterte mit hohen Verlusten auf beiden Seiten.) Damit sollte die Aufmerksamkeit der Welt vom 100. Jahrestag des Völker-mords vom Ersten Weltkrieg abgezo-gen werden.

Die Position gegenüber dem Völkermord an den Assyrern

Obwohl die Assyrer weltweit in den vergangenen zwei Jahrzehnten Kampagnen und zahlreiche andere Aktivitäten entfaltet haben, damit

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Der türkische Premierminister Tayyip Erdogan

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Waisenhaus in Adana.

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dieser Völkermord anerkannt wird, wird ihm immer noch wenig Auf-merksamkeit zuteil. Die offizielle tür-kische Position besteht nach wie vor in völliger Leugnung. Wann immer die türkische politische Elite mit den Forderungen der Assyrer nach Aner-

kennung konfrontiert wird, weigert sie sich, dieses Thema auch nur zu diskutieren. Hinter verschlossener Tür wird den Assyrern gesagt, „wir verstehen die Armenier, aber was ist mit euch? Euch ist nichts passiert. Während der Unruhen haben halt ein

paar kurdische Stämme eure Großvä-ter umgebracht.“

Die weltweiten Bemühungen um die Anerkennung des Völkermords an den Assyrern haben die Aufmerksam-keit und den Ärger der türkischen Re-gierung auf sich gezogen. Dies wurde

besonders offenkundig, als der dama-lige türkische EU-Minister Egemen Bagis, ein notorischer Völkermord-Leugner 2), assyrische Persönlichkeiten und Organisationen in der schwedi-schen Hauptstadt traf. Bagis sagte: „Was wollt ihr Assyrer erreichen, wenn

ihr die Seyfo-Frage benutzt, um euch selbst zu befriedigen und in die Me-dien und das schwedische Parlament hinauszuposaunen?“ 3)

Bagis Methode kennzeichnet den ausgeprägten Komplex der türkischen politischen Elite, die sich selbst als Nachkommen einer dominanten Na-tion wahrnimmt (Milleti-Hakime), andere dagegen – in diesem Zusam-menhang vor allem Christen (Mille-ti-mahkume) – als zweitklassig, eine Wahrnehmung, die aus osmanischer Zeit stammt.4)

Kurz zusammengefasst hält die Türkei an ihrer Politik der Leugnung des Völkermords an den Assyrern fest und sie perfektioniert ihre verzerrte Darstellung der Geschichte. Die aktu-elle Politik kann in wenigen Punkten zusammengefasst werden:

• Die türkische Regierung hat eine eigene Abteilung zur assyrischen Frage ins Leben gerufen. Oder ge-nauer gesagt, diese Abteilung ist darauf ausgerichtet, die Forderun-gen nach Anerkennung des Völ-kermords zu verzerren.

• Die Regierung zielt darauf ab, die Opfer (Armenier, Assyrer, Pontos-Griechen) aufzuspalten, indem sie jede Diskussion an dem Völ-kermord gegenüber Assyrern und Pontos-Griechen ignoriert. Damit werden die Armenier isoliert.

• Die türkische politische Elite ver-sucht, die Forderungen und Reakti-onen auf die Kurden zu kanalisieren, die die Nachbarn der Assyrer waren, bzw. sind und in den Völkermord verwickelt waren. Die Regierung missbraucht das historisch gewach-sene Misstrauen der Assyrer gegen-über den Kurden, um die heutigen Forderungen der Kurden in der Re-gion zu relativieren. Allerdings ha-ben verschiedene kurdische Politiker (u. a. der Bürgermeister von Mardin, Ahmed Turk) und verschiedene Par-teien die Rolle ihrer Großväter wäh-rend des Völkermordes anerkannt und sich dafür entschuldigt.

• Die Regierung hat zu verschiede-

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Assyrer aus Hakkari.

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nen Anlässen ihren sogenannten „guten Willen“ gegenüber den Assyrern bekundet. Das heißt auf Türkisch „Suryani acilimi“.5) Das bedeutet eine Politik der Öffnung gegenüber den Assyrern, die mit dem Fall Mor Gabriel begann und sich weiter in offiziellen Äuße-rungen manifestiert, Assyrer zu unterstützen, die bereit sind, in ihr Heimatland zurückzukehren, sowie in der Erlaubnis zum Bau ei-ner Kirche in Istanbul. Diese zum Teil zynischen 6) Schritte werden von manchen Kreisen auch als Zu-ckerbrot-und-Peitsche-Methode betrachtet, um die Assyrer davon abzuhalten, Forderungen nach Anerkennung des Völkermords zu stellen und sie, da sie weltweit eine gut organisierte Lobby-Gruppe bilden, auf die Seite der türkischen Regierung zu ziehen.

Während die Assyrer heute den 100. Jahrestag ihres Völkermords ge-

denken, sehen sie sich mit einer neuen Katastrophe im Nahen Osten kon-frontiert. Sie sehen darin eine Wie-derholung der tragischen Geschichte. Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg sind sie einem schrecklichen Prozess der Auslöschung in ihrer Heimat im Irak und Syrien ausgesetzt. Neben den Angehörigen der Gemeinschaft dis-kutieren Experten weltweit, ob ethni-

sche und religiöse Minderheiten im Nahen Osten eine Zukunft haben. Wir sollten nicht vergessen, dass 100 Jahre Völkermord-Leugung eine wichtige Ursache für die Auslöschung der ur-sprünglichen Bevölkerung in der Tür-kei und den Nachbarländern darstellt.

Übersetzt von Klemens LudwigDurchsicht von Abdulmesih BarAbraham

1) http://uk.reuters.com/article/2014/04/23/uk-turkey-armenia-erdogan-idUKBRE-A3M0XP20140423

2) Egemen Bagis hat gemeinsam mit dem Talaat Pascha Komitee, einer bekannten Organisation der Völkermord-Leugner, an dem Prozess gegen Dogu Perincek vor dem EHRC in Straßburg teilgenommen und unterstützt bekannte Leugner.

3) http://aina.org/news/20130226154757.htm4) Siehe auch die Begriffserklärung ‘milleti-hakime’ und ‘milleti-mahkume’ in Baskin Orans

Präsentation (2012): http://baskinoran.com/konferans/IdentityDiversityandCohesion-Bo-chum-2012-10.pdf

5) http://www.haber7.com/ic-politika/haber/1232802-hukumetten-suryani-acilimi6) Das Grundstück, welches die Stadtverwaltung von Istanbul zum Bau einer Kirche zugewiesen

hat, ist ein ehemaliger katholischer Friedhof, Dort befinden sich alte Gräber, die unter Denk-malschutz stehen; das Denkmalamt muss noch zustimmen. Die katholische Gemeinde befindet sich in einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Stadt darüber. Siehe auch: http://www.aina.org/news/20130116185357.htm

Foto: Augsburger Aktionsbündnis/Flickr BY-SA 2.0

Demonstration gegen Christen-verfolgung

in Syrien und dem Irak.

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Exil-Aramäer fordern die Anerkennung des Völkermords

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Appell vom Bundesverband der Aramäer in Deutschland (BVDAD) und weiteren 23 aramäischen Organisationen in

Deutschland und in Europa an die Bundesregierung.

Überlassen Sie die Wieder-herstellung der Würde der

Opfer nicht einem Regime, das nicht bereit ist, Verantwortung zu überneh-men. Die überwältigenden Fakten, zum Ausdruck gebracht in unzähligen wissenschaftlichen Untersuchungen, Recherchen und Projekten, sprechen eine überwältigend eindeutige Spra-che: Der Völkermord an den Aramä-ern, Armeniern und Griechen ist eine historische Tatsache. Wir, die unter-zeichnenden aramäischen Organisati-onen, rufen die Bundesregierung auf,

den Völkermord an den christlichen Minderheiten der Aramäer, Armenier und Griechen im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 bis 1923 endlich formell als Völkermord anzuerkennen und damit den 100-jährigen „Eier-tanz“ um die Benennung einer histo-rischen Tatsache endlich zu beenden. Ihr Schweigen und Ihre Nichtaner-kennung des Völkermords bestärken den türkischen Staat in seinem ver-antwortungslosen Umgang mit seiner Geschichte und beleidigen die Opfer und ihre Nachkommen.

• Öffnen Sie Ihre Augen für die historischen Tatsachen; öff-nen Sie Ihr Herz für das Leid der Opfer und ihrer Nach-kommen; öffnen Sie Ihr Gewissen für die hundertausend-fach geschändete Würde von unschuldigen Menschen!

• Mit der Nichtanerkennung der historischen Tatsachen durch die Verwendung von relativierenden Begriffen und Umschreibungen bestärken Sie den türkischen Staat in seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber den Nachkom-men der Opfer, die bis heute unter staatlich organisierter Denunzierung, Marginalisierung und Verfolgung leiden.

• Seien Sie im Versöhnungsprozess zwischen den Nach-kommen der Opfer und der Täter aktiver Partner der Opfer und nicht „Mitwisser“ in einem System, das staat-liche Verfolgung echter staatlicher Verantwortung vor-zieht.

• Heute, 100 Jahre danach, verfolgen türkische Behörden unnachgiebig die Nachkommen der Opfer in der Türkei und überall auf der Welt, wenn sie das staatlich verordne-

te Schweigen brechen. Stellen Sie sich auf die Seite dieser Verfolgten und verlassen Sie die Allianz von Leugnern, Lügnern und Heuchlern, die den Opfern das Recht auf angemessene Würdigung ihres Leids vorenthalten.

• Spätestens heute, 100 Jahre danach, ist die Zeit für die Bundesrepublik Deutschland gekommen, Verantwor-tung und Solidarität zu demonstrieren und sich den Ländern anzuschließen, die sich nicht davor scheuen, die Türkei an ihre Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Nachkommen zu erinnern.

• Helfen Sie einem Staat, der sich seit 100 Jahren vor seiner Verantwortung drückt, endlich Verantwortung zu über-nehmen und verantwortlich zu handeln.

• Heute, 100 Jahre nach einhunderttausendfachem staat-lich organisierten Mord, helfen Sie den Opfern ihre Wür-de wiederzuerlangen!

Gütersloh, 7. März 2015

Quelle: http://www.oromoye.de/index.php/pressemitteilungen/226--dringender-appell-an-die-bundesregierung

WCA – World Council of Arameans [Syriacs] · Föderation der Aramäer in der Schweiz/Federazione degli Aramei in Svizzera · Suryoye Aramese Federatie Nederland · Fédération des Araméens de Belgique · Aramaic Christian Organization in Israel · Syriac Federation of Sweden · Syriac Association of Australia · Aramaic American Association · Aramean Association of the United Kingdom · Syriac Association of Vienna/Austria · Youth Federation of Arameans in Sweden · Kreis Aramäischer Studierender Heidelberg · Suryoyo Sat International · Suryoyo Sat Germany · Suryoyo Sat Schweden · Suryoyo Sat Holland · Suryoyo Sat Belgien · Suryoyo Sat Schweiz · Lebanon Group Sweden · Sayfo Comité 1915 · Aramaic Charity Organization · Aramese Beweging voor Mensenrechten · Aramean Democratic Organization in Sweden · Lebnon Network.

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T H E M A

D ie Leugnung

Nur keine klare Position beziehen – Deutschland entzieht

sich seiner VerantwortungDie Frage, ob die Verbrechen an Armeniern, Aramäern/Assyrern und Griechen als Genozid zu be-zeichnen sind, ist von hoher politischer Brisanz. Ungeachtet ihrer historischen Mitverantwortung tut sich die Bundesregierung schwer damit, während andere Staaten deutlicher Position beziehen.

Parlamentarische Initiativen

Im Bereich der gesetzgeberischen „Anerkennung“ nimmt Deutschland eine Sonderstellung ein. Daraus leitet sich die Frage ab, ob man Deutschland überhaupt den „anerkennenden“ Staa-ten zurechnen darf.

Auf eine im April 2000 von arme-nischen, türkeistämmigen und deut-

schen Organisationen eingereichte Petition reagierte der Bundestag nach einem Jahr ausweichend, indem er zwar das Petitionsanliegen der türki-schen Regierung offiziell zur Kenntnis brachte, die Petenten jedoch auf die

im Frühjahr 2001 gegründete inoffi-zielle Turkish Armenian Reconciliation Commission (TARC; 2001-2004) ver-wies. Obwohl ein von der TARC beim International Center of Transitional Justice (ICTJ) in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten im Februar 2003 zu dem Schluss gelangt, dass „man sa-

gen kann, dass insgesamt betrachtet die Ereignisse (…) [von 1915/6; TH] alle Elemente des Genozids enthalten, wie sie in der Konvention beschrieben werden“ 1), haben weder der deutsche Gesetzgeber noch die Bundesregie-

rung dieses Gutachten zur Kenntnis genommen.

Einer zweiten Petition, diesmal aus den Reihen der damals oppositionel-len CDU/CSU-Fraktion, stimmte der Bundestag 2005 zwar zu, doch bereits ihre schwerfällig-programmatische Überschrift 2) verdeutlicht den Haupt-

mangel: Der deutsche Gesetzgeber drückte sich trotz des eindeutigen Rechtsgutachtens des ITCJ an einer juristisch qualifizierten Aussage vor-bei und erhob zugleich Deutschland, wie weiland Reichskanzler Otto von

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Der griechisch-orthodoxe Archimandrit Moses Alkhassi aus Aleppo szu Gast bei der GfbV (links Kamal Sido, rechts Thomas Oppermann, MdB und Tilman Zülch)

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Bismarck, zum „ehrlichen Makler“ im internationalen Mediationsgeschäft: „Deutschland kommt aufgrund seiner historischen Rolle in den deutsch-tür-kisch-armenischen Beziehungen heute eine besondere Verpflichtung im Rah-men der Nachbarschaftsinitiative der EU zu. Ziel muss sein, dabei mitzuhel-fen, eine Normalisierung und Verbesse-rung der Lage zwischen Armenien und der Türkei zu ermöglichen und damit einen Beitrag zur Stabilisierung der Kaukasus-Region zu leisten.“ 3)

Die Umschreibung jenes Völ-kermords, der normprägend für die UN-Konvention wurde, als „Vertrei-bung und Massaker“ bildet seither die Grundlage sämtlicher Erklärungen, die

das Auswärtige Amt im Namen der Re-gierung auf „Kleine Anfragen“ abgibt. Als die oppositionelle Partei Die Linke 2007 nach den „Konsequenzen aus der deutschen Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern“ und

2008 nach konkreten geschichtspoliti-schen Schritten fragte, antwortete die Bundesregierung, sie trage wesentlich dazu bei, die Verständigung zwischen dem türkischen und armenischen Staat zu fördern. Seit 2010 betont die Bun-desregierung, dass die UN-Konvention angeblich nicht rückwirkend anwend-bar sei. Die Durchführung eigener Veranstaltungen im Gedenkjahr 2015 lehnte sie ab. 4)

Eine Dissertation zur Ungleichbe-handlung von Völkermordopfern in der offiziellen deutschen Geschichts-politik kommt zu dem Schluss:

„Von einer deutschen Verantwor-tung, Mitverantwortung oder Schuld war in den Antworten der Bundes-

regierung an keiner Stelle die Rede. Stattdessen sind es jene Verweise auf eine deutsche Mittlerrolle im türkisch-armenischen Verhältnis, die (parallel zum Konstrukt einer deutschen Zeu-genschaft) offizielle Stellungnahmen

zur Anerkennungsfrage maßgeblich be-stimmen.“ 5)

Auch im weiteren Verlauf hat Deutschland seine Rolle als selbster-nannter Mediator zwischen den Staa-ten Armenien und Türkei dahingehend ausgelegt, dass es – angeblich mit Rück-sicht auf den „armenisch-türkischen Dialog“ – keine eigene Stellung dazu bezog, ob es sich bei den „Vertreibun-gen und Massakern“ von 1915 um ei-nen Genozid gehandelt habe. Dass der Hype um türkisch-armenische Annä-herungsversuche – die Gründung der TARC (2000), die „Fußballdiplomatie“ von Präsident Serge Sargsjan (2008) und die anschließenden „armenisch-türkischen Protokolle“ (10.10.2009) 6) – jeweils nach wenigen Monaten wir-kungslos verpuffte und der viel be-schworene zwischenstaatliche „Dialog“ weitgehend eine Fiktion deutscher Tür-keipolitik blieb, hat bisher zu keinem Kurswechsel Deutschlands geführt. Während die Schweiz, die 2009 erfolg-reicher als Deutschland zur internatio-nal anerkannten Vermittlerin bei den „Protokollen“ aufstieg, dennoch zuvor den Genozid an den Armeniern par-lamentarisch anerkannt hatte und ihr Antirassismus-Gesetz, das eine Klausel gegen Genozidleugnung enthält, in ei-nem bemerkenswerten Rechtsstreit ge-gen den türkischen Nationalisten Doğu Perinçek 7) anwandte, hat deutschen po-litischen Entscheidungsträgern ebenso wenig zu denken gegeben.

Die halbherzige Haltung der gegen-wärtigen deutschen Politiker beruht auf einer weit älteren Tradition, als die-sen vermutlich selbst bewusst ist. Der Position des „ehrlichen Maklers“ und der Rolle als „schlichtendem Dritten“ im „armenisch-türkischen Dialog“ seit dem Jahr 2000 liegt gleichwohl der Ver-such zugrunde, sich aus allen ethno-religiösen Konflikten „hinten, fern in der Türkei“ (Goethe) herauszuhalten. Selbst zum Zeitpunkt der intensivsten medialen Wahrnehmung der Verfol-gung von Armeniern unter osmani-scher Herrschaft – also in den Jahren 1895 und 1896 – befürwortete mit Ausnahme von Johannes Lepsius kei-ner der deutschen Meinungsbilder eine humanitäre Intervention zugunsten der bedrängten armenischen Christen.

Staaten, die die Vernichtung der Armenier als Genozid bewerten:• Argentinien (Senat, 05.05.1993, Gesetz 18.03.2004)• Belgien (26.03.1998)• Chile (Senat, 05.06.2007)• Deutschland (Bundestag, 16.06.2005)• Frankreich (Nationalversammlung, 28.05.1998, Senat, 07.11.2000,

vom Präsidenten unterzeichnetes Gesetz, 29.01.2001)• Griechenland (Parlament, 24.04.1996)• Italien (Abgeordnetenkammer, 16.11.2000)• Kanada (House of Commons, 23.04.1996 und 21.04.2004,

Senat, 13.06.2002)• Libanon (Abgeordnetenkammer, 03.04.1997, Parlament, 11.05.2000)• Litauen (Parlament, 16.12.2005)• Niederlande (Parlament, 21.12.2004)• Polen (Parlament, 19.04.2005)• Russland (Staatsduma, 14.04.1995)• Schweden (Parlament, 29.03.2000)• Schweiz (Nationalrat, 16. Dezember 2003)• Slowakei (Parlament, 30.11.2004)• Uruguay (Senat und Repräsentantenhaus, 20.04.1965;

Gesetz 26.03.2004)• USA (Repräsentantenhaus, 09.04.1975)• Vatikan Stadt (10.11.2000)• Venezuela (Nationalversammlung, 14.07.2005)• Zypern (Repräsentantenhaus, 24.04.1975 und 29.04.1982) 9)

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Sie wurden deshalb in allen folgenden Geschichtsetappen den vermeintlich höheren deutschen Interessen in der Orient- und Türkeipolitik untergeord-net. 8)

Dass Deutschland und die Türkei einhundert Jahre danach wieder ei-nen Schulterschluss gegen die Opfer vollziehen – die Regierung des einen Landes im kaltschnäuzigen Auswei-chen vor einer Stellungnahme, die des anderen im ebenso kaltschnäuzigen Leugnen der Verbrechen – ist für die in Deutschland lebenden Nachfahren der Opfer äußerst schmerzhaft und lässt auch diejenigen Türken und Kur-den im Stich, die Verantwortung für ihre Geschichte übernommen haben. Denn die offizielle Geschichtspolitik der Türkei, von Deutschland sekun-diert, legt einen zutiefst zynischen Schluss nahe: Man kann durchaus millionenfache Verbrechen begehen und damit ungestraft davonkommen, wenn man nur hartnäckig genug die Fakten bestreitet.

Internationale Positionen

Als erster Gesetzgeber hat 1965 Uruguay den Genozid an den Arme-

niern anerkannt und 2004 die Aner-kennung zu einem Gesetz erhoben. In Europa war Zypern der erste Staat, dessen Gesetzgeber am 24.04.1975 einen derartigen Beschluss fasste; ins-gesamt sind es bis heute 21 nationale Gesetzgeber – also etwa ein Zehntel

der weltweiten Staatengemeinschaft -, die die Vernichtung der Armenier durch den türkischen Staat in Resolu-tionen, Beschlüssen oder Gesetzen als Genozid entsprechend der UN-Völ-kermordkonvention von 1948 bewer-tet haben; unter ihnen befinden sich

Die jüngste Stellungnahme der Bundesregierung, in der sie einmal mehr jede Positionierung vermeidet

Gedenken an das Leid der ArmenierAuswärtiges/Antwort - 21.01.2015

Berlin. (hib/AHE) Die Bundesregierung prüft derzeit die Möglichkeit der Teilnahme an Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag der Massaker an den und der Vertreibun-gen der Armenier im Osmanischen Reich 1915 und 1916. Vertreter des Zentralrats der Armenier in Deutschland, der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, der Diözese der Ar-menischen Kirche in Deutschland sowie der armenischen Regierung hätten die Bundesregierung über geplante Veran-staltungen im Gedenkjahr 2015 informiert und den Wunsch nach einer Teilnahme der Bundesregierung geäußert, heißt es in ihrer Antwort (18/3722) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (18/3533). Man verfolge zum gegenwär-tigen Zeitpunkt jedoch keine Planungen für eine eigene Ge-denkveranstaltung. Die Bundesregierung begrüße alle Initi-ativen, „die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen

Ereignisse von 1915/1916 dienen“ und sei der Auffassung, dass die Aufarbeitung der Massaker und Vertreibungen in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist. „Vor diesem Hintergrund zollt die Bundes-regierung sowohl der türkischen als auch der armenischen Seite Respekt für die mutigen Schritte, die sie bereits zur Normalisierung ihrer bilateralen Beziehungen unternom-men haben“.

Zur völkerrechtlichen Bewertung und zur Frage, ob es sich bei den Ereignissen um einen Völkermord gehandelt habe, verweist die Bundesregierung auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, die 1951 in Kraft getreten sei. „Für die Bundesrepublik Deutschland ist sie seit dem 22. Februar 1955 in Kraft. Sie gilt nicht rückwirkend.“

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Ein häufiger Gast in Deutschland: Der türkische Ministerpräsident Erdogan.

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die beiden größten Flächenstaaten der Welt, Russland und die USA, wo aller-dings jeweils nur eine von zwei gesetz-gebenden Kammern eine Resolution verabschiedete.

Auch internationale Zusammen-schlüsse wie die Koalition Südamerika-nischer Parlamentarier (MERCOSUR, 07.11.2007) haben den Völkermord an den Armeniern in Resolutionen verurteilt. Das Europäische Parla-ment hat zweifach die Anerkennung des Genozids durch die Regierung der Republik Türkei zur Vorausset-zung für den EU-Beitritt der Türkei erhoben (Resolution vom 18.06.1987 und 15.11.2001) sowie am 28. Februar 2002 in einem weiteren Beschluss die Türkei zur Erfüllung dieser Auflage aufgerufen.

Alle Versuche, in den beiden legis-lativen Kammern der USA Beschlüsse zum Völkermord zur Abstimmung zu bringen, waren bisher nur im Reprä-

sentantenhaus 1975 erfolgreich und scheiterten regelmäßig im Senat, nicht zuletzt wegen eines 1987 zwischen der Türkei und den USA geschlossenen Abkommens, in dem letztere offenbar zugesagt hatten, Anerkennungsreso-lutionen zu blockieren. 10)

In den USA besteht die Tradition einer alljährlich mit Spannung er-warteten Grußbotschaft des Staats-oberhaupts zum „Day of Armenian Remembrance“, dem 24. April. Bis-her haben sämtliche Präsidenten ihr im Wahlkampf gegebenes Verspre-chen gebrochen, nach ihrer Wahl das von ihnen erwartete „G-Wort“ in der Grußbotschaft zu verwenden. Selbst Präsident Obama, von dem man die Einhaltung seines vollmundigen Ver-sprechens besonders erwartet hatte, wagte mit Rücksicht auf das oben erwähnte Abkommen aus dem Jahr 1987 11) nicht, als Präsident zu seinem Wahlkampfversprechen zu stehen und

ersetzte den juristisch definierten Be-griff Genozid durch die armenische Formulierung „mets jerern“ ( - „gro-ßer Frevel; Verbrechen“), noch dazu in der verharmlosenden türkischen Fehlübersetzung („große Katastro-phe“). 12) Die einzige Ausnahme bilde-te Präsident Ronald Reagan, der am 22. April 1981 in einer an die Holo-caust-Überlebenden gerichteten Pro-klamation ausführte:

„Like the genocide of the Armenians before it, and the genocide of the Cam-bodians which followed it — and like too many other such persecutions of too many other peoples — the lessons of the Holocaust must never be forgotten.” 13)

(“Wie der Völkermord an den Ar-meniern in der Vergangenheit und der spätere Genozid an die Kambodscha-nern, – und wie zu viele andere Verfol-gungen von zu vielen anderen Völkern – dürfen die Lehren aus dem Holo-caust niemals vergessen werden.”)

1) Vgl. den Text des Gutachtens zur „Anwendbarkeit der UN-Konventi-on über die Bestrafung und Verhütung von Völkermord auf Ereignisse vom Beginn des 20. Jhs.“, S. 17, auf http://www1.american.edu/cgp/TARC/ICTJ%20Memorandum%20Feb.%2003.pdf

2) Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Tür-ken und Armeniern beitragen: http://www.aga-online.org/documents/attachments/BundestagResolution.pdf

3) In diesem Sinn äußerte sich die Verfasserin mit ihrem damaligen Ko-Autor Sargis Bezelgues in: Hofmann, Tessa; Bezelgues, Sarkis: Genozid“anerkennung“ und Pönalisierung von Genozidleugnung. „Orient“: Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients. 47. Jg., 2/2006, S. 236-259

4) Vgl. den Text der Erwiderung auf eine Kleine Anfrage der LINKEN vom 13.01.2015: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/037/1803722.pdf

5) Robel, Yvonne: Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichts-politischer Deutungskämpfe. Paderborn: Fink, 2013, S. 244

6) Eine kritische Bilanz zog Anfang 2012 der armenischstämmige Leiter der Schweizer Konfliktforschungsorganisation CIMERA, Vicken Che-terian: Schwierige armenisch-türkische Annäherung. NZZ, 5.1.2012, http://www.nzz.ch/aktuell/international/schwierige-armenisch-tuer-kische-annaeherung-1.14114514 (Zugriff: 25.12.2014)

7) Vorsitzender der 1992 gegründeten national-sozialistischen „Işçi Partisi“ („Arbeiterpartei“): http://iscipartisi.org.tr/genel-merkez. Er hat in den Jahren 2005 und 2006 in Deutschland, Frankreich sowie der Schweiz gezielt die jeweiligen Rechtssysteme mit der wie-derholten öffentlichen Leugnung des Genozids an den Armeniern („Genozidlüge“) herausgefordert. In der Schweiz wurde er dafür 2007 in sämtlichen drei Instanzen auf der Grundlage des schweize-rischen Anti-Rassismusgesetzes wegen Genozidleugnung verurteilt. In Berlin verbot der Polizeipräsident zunächst zwei Kundgebungen des „Vereins zur Verbreitung der Ideen Atatürks“, der mit der eben-falls kemalistisch orientierten „Işçi Partisi“ zusammenarbeitet, doch die von Perinçek ins Leben gerufene „Talat Paşa Harekati“ erstritt gerichtlich durch zwei Instanzen eine Genehmigung ihrer öffentli-chen Kundgebungen, freilich unter der Auflage, nicht öffentlich von „Genozidlüge“ zu sprechen. Gegen das schweizerische Urteil legte Perinçek Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte ein; am 17.12.2013 entschied der EGMR, dass das Recht auf

Meinungsäußerung die Leugnung des Genozids an den Armeniern einschließe. Die Schweiz, Frankreich sowie Armenien beantragten daraufhin erfolgreich eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Seit Ja-nuar 2015 befasst sich die Große Kammer des EGMR letztinstanzlich mit der Grundsatzfrage, ob Meinungsfreiheit das Recht auf Geno-zidleugnung beinhaltet. – Die Berliner und Schweizer Urteile zur qualifizierten Genozidleugnung durch Perinçek u.a. finden sich auf folgender Webseite der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung dokumentiert: http://www.aga-online.org/criminallaw/index.php?locale=de

8) Vgl. Hofmann, Tessa: From Silence to Re-Remembrance: The Respon-se of German Media to Massacres and Genocide against the Ottoman Armenians. In: Kappeler, Stephanie; Godin, Richard (u.a.): Mass me-dia and the Genocide of the Armenians: One Hundred Years of Uncer-tain Representation. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015

9) http://www.aga-online.org/aboutus/index.php?locale=de (Zugriff: 24.12.2014); vgl. auch http://www.armenian-genocide.org/recogniti-on_countries.html (Zugriff: 24.12.2014)

10) Bobelian, Michael: Children of Armenia: A Forgotten Genocide and the Century-Long Struggle for Justice. New York, London, Toronto, Sydney: Simon & Schuster, 2009 , S. 179

11) Obwohl der Gesetzgeber und Regierungsbehörden der USA seit 1920 die Faktizität des Genozids in 4.000 Dokumenten – 37.000 Seiten – be-kräftigt hatten, übernahm die offizielle Politik der USA ab den 1980er Jahren Elemente der türkischen Leugnungsstrategie. Die Versuche von Senator Robert J. Dole, die von ihm eingebrachte Anerkennungsreso-lution zu retten, indem er mit der Bush-Administration verwässerte Textvarianten erörterte, zeigt die Absurdität, einen Kompromiss zwi-schen der Rücksichtnahme auf türkische Empfindlichkeiten und dem einzigen Wort zu finden, das der historischen Erfahrung der Armenier juristisch gerecht wird. – Vgl. Bobelian, a.a.O., S. 179

12) Vgl. Stellungnahme Obamas vom 24.03.2014: http://www.armenian-genocide.org/Affirmation.445/current_category.4/affirmation_detail.html. In seiner ersten Botschaft vom 24.04.2009 umschrieb Präsident Obama den Genozid als „die schrecklichen Ereignisse von 1915“ („ter-rible events of 1915“): http://www.armenian-genocide.org/Affirmati-on.408/current_category.4/affirmation_detail.html

13) http://www.armenian-genocide.org/Affirmation.63/current_catego-ry.4/affirmation_detail.html (Zugriff: 24.12.2014)

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Nach der Vernichtung: Versuch einer Bilanz

Die Anerkennung von Völkermord ist ein unverzichtbarer Schritt zur Heilung und Aussöhnung. Im Fall der Vernichtung der Armenier, Aramäer/Assyrer/Chaldäer und Griechen im Osmani-schen Reich tun sich Wissenschaft, Politik und insbesondere die Nachkommen der Täter sehr schwer damit. Vor dem Hintergrund zieht die Autorin ein persönliches Fazit ihres jahrzehntelan-gen Engagements für die Anerkennung und Verurteilung des Völkermords. Es handelt sich dabei um eine stark gekürzte Fassung eines Essays, der in voller Länge auf der Webseite https://www.academia.edu/10788248/Nach_der_Vernichtung_Versuch_einer_Bilanz zu finden ist.

Der 24. April 2015 gebietet nicht nur den Rückblick,

sondern vor allem eine Bewertung des im Verlauf eines Jahrhunderts wissenschaftlich, juristisch sowie er-innerungs- und geschichtspolitisch Erreichten bzw. Nicht-Erreichten. Die Ängste, die dieses Datum durchaus auslösen mag, liegen in der Dimensi-on des Unbewältigten und in den tie-fen Frustrationen sowie wiederholten Enttäuschungen, die die Vergesslich-keit der übrigen Menschheit auslösen.

Dieser Essay stellt den Versuch einer Bewertung des Erreichten (und Erreichbaren) dar. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Wissenschaft. Der Essay erfolgt aus der Perspektive einer Deutschen, die als biografisch Nichtbetroffene begonnen hat und sich als Wissenschaftlerin, Publizis-tin sowie Menschenrechtlerin seit 35 Jahren für die Aufarbeitung und „Anerkennung“, besser: Verurteilung einsetzt.

Ein solches Engagement wird of-fensichtlich von der Mehrheit meiner deutschen Landsleute als „pro-arme-nisch“ bzw. „armenophile Interessen-vertretung“ wahrgenommen oder als „politisches Engagement“ missver-standen.1) In einer derartigen Cha-rakterisierung steckt aber bereits ein Teil der problematischen Ungleich-behandlung historischer Fälle von

Völkermord in Deutschland. Denn die Herabstufung von Holocaustfor-schern zu „judenfreundlichen Inte-ressenvertretern“ ist undenkbar und inakzeptabel. Wer sich mit der Aufar-beitung des osmanischen Genozids an über drei Millionen Christen Kleinasi-ens und Mesopotamiens beschäftigt, dem wird nicht nur ethnischer Lobby-ismus unterstellt, sondern er oder sie wird erfahren, dass ein derartiges For-schungsprofil zumindest in Deutsch-land alles andere als karriereförderlich und „angesagt“ ist, zumindest über ein Promotionsvorhaben hinaus.

Wissenschaftliche Aufarbeitung

Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Einschränkungen ist es umso erstaunlicher, dass nach der Be-forschung des Holocaust der Genozid an den Armeniern in akademischen Veröffentlichungen quantitativ an zweiter Stelle steht.2) Dieses Ranking ist allerdings weder Deutschland noch Armenien zu verdanken, sondern in erster Linie den akademischen und publizistischen Kollegen und Kolle-ginnen in Frankreich, den USA und Kanada. In Nordamerika wiederum entfaltet vor allem das 1982-1984 gegründete, in Cambridge (Massa-chusetts) und Toronto ansässige au-

ßeruniversitäre Zoryan Institute die größten Aktivitäten im Bereich der Genozid-, Diaspora- und Armenien-forschung.3) Seine gemeinsam mit dem Universitätsverlag University Toron-to Press herausgegebene Zeitschrift Genocide Studies International (GSI; seit 2014) versteht sich als „Brücke zwischen der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft“ und bildet zugleich die Print-Nachfolgerin der seit 2006 mit der International Association of Genocide Scholars (IAGS)4) herausge-

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1915 GENOZID AN ARMENIERNTÜRKEI: 100 JAHRE LEUGNUNG DEUTSCHLAND: 100 JAHRE SCHWEIGEN

VERbRECHEN

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GEGEN GENOZID, fÜR VöLKERVERSTäNDIGUNG E. V.

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gebenen Fachzeitschrift Genocide Stu-dies and Prevention (GSP; seit 2006).5) Das Zoryan Institute setzt sich für in-ternationale Friedenssicherung durch die Aufarbeitung belasteter Geschich-te ein und führt in diesem Sinn einen „türkisch-armenischen Dialog“ 6) so-wie seit 2001 das Projekt „Der Türke, der mich gerettet hat“.7)

[…]Denn die wissenschaftliche Aufar-

beitung des armenischen Genozids ist weniger der Geschichts- als der Geno-zidforschung zu verdanken, einer relativ jungen, inter- und multidisziplinären

Wissenschaft, an der überproportional viele Sozial- und Politikwissenschaft-ler, aber auch Philologen und Psycho-logen beteiligt sind. Wie ein Vergleich der Forscherbiographien erbringt, entstammen zahlreiche Fachvertreter selbst Opfergruppen, was vor allem auf die stärkste thematische Untergruppe zutrifft, die Holocaustforschung. Auch in der Forschungsgeschichte zum Ge-

nozid an den Armeniern finden sich unter der älteren Generation zunächst zahlreiche Holocaustforscher, viele da-von jüdischer Abstammung, darunter der Begründer der Genozidforschung, Raphael Lemkin. Er stammte aus dem heutigen Weißrussland, war polnischer Staatsbürger und verlor seine gesamte Familie durch den Holocaust. Neben einer juristischen Ausbildung verfügte Lemkin über profundes historisches Wissen, das seine Auffassung von dem größtmöglichen menschlichen Ver-brechen prägte: Seiner Definition von Genozid, die sich 1948 völkerrecht-

lich verbindlich in der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen niederschlug, liegen als Prototypen die beiden Weltkriegsgenozide zu-grunde – der Genozid an den Arme-niern, den Lemkin als einen religiös motivierten Völkermord 8) einstufte, und die Schoah.

Die selektive Wahrnehmung von Opfergruppen, wie sie vor allem in

den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. die Forschung geprägt hatte, endete Anfang des 21. Jahrhun-derts. In Deutschland markiert eine 2002 an der Technischen Universi-tät Berlin abgehaltene internationale Konferenz diese Wende. Die in Buch-form veröffentlichten und inzwischen auch als türkische Edition vorliegen-den Tagungsbeiträge stellen eine erste Bestandsaufnahme der Fallbeispiele – Armenier, kleinasiatische und pon-tische Griechen, Syrisch-Orthodoxe bzw. Aramäer (Tur Abdin-Gebiet) und nestorianische Assyrer (Bezirk

Hakkari und Iran) – in komparativer Form dar.9) Auf internationaler Ebe-ne markiert die „Anerkennung“ des Genozids an „Armeniern, Assyrern, pontischen und anatolischen Grie-chen“ der International Association of Genocide Scholars (IAGS) vom 16.12.2007 10) den wissenschaftlichen Neuansatz; er ist in der IAGS vor allem dem Genozidforscher Adam Jones zu

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verdanken, der in seinem Werk Ge-nocide: A Comprehensive Introduction (2006; 2011) in einem Kapitel über „umstrittene Genozide“ den Genozid an griechisch-orthodoxen Christen im Osmanischen Reich bestätigte.

[…]

Versagen in Deutschland

In Deutschland haben sowohl die Geschichtswissenschaft wie auch die Genozidforschung, die sich hierzulan-de noch immer weitgehend auf die Er-forschung des Holocaust beschränkt,

bei der Aufarbeitung des osmanischen Genozids beinahe vollständig versagt. Die erste geschichtswissenschaftliche Monographie, in der der Völkermord an den Armeniern zumindest in ei-nem Kapitel auftaucht, legte 2006 der Konstanzer Historiker Boris Barth vor. Das zu Recht wegen seiner „fragwür-digen Argumentation“ und begriffli-chen Ansätze vor allem von Koloni-

alhistorikern kritisierte 11) Werk folgt der oben skizzierten Einengung des Genozidbegriffs, so dass Barth erstens (und im Unterschied zu Raphael Lem-kin) zu der Aussage gelangt, es habe Völkermorde ohnehin erst ab dem 20. Jahrhundert gegeben; zweitens klassi-fiziert er diese Beispiele in „eindeuti-ge Fälle“, denen er nur den Genozid an den Armeniern, die Schoah sowie Ruanda zurechnet, und in „Fälle mit Völkermordverdacht“ (Hauptbeispie-le: Deutsch-Südwestafrika, das stali-nistische Regime, die Roten Khmer), denen er den Genozidstatus abspricht;

dazu gehören auch die osmanischen Griechen.12)

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die sechs deutschen Dissertatio-nen, die sich seit 1989 mit dem Geno-zid an den Armeniern beschäftigten, mit Ausnahme einer Historikerin13)

von Geowissenschaftlern,14) Theolo-gen 15), Medienwissenschaftlern16) und Politikwissenschaftlern17) verfasst wur-

den. Die Promovenden behandelten zudem den Genozid stets unter über-geordneten medien- oder politikhisto-rischen bzw. anthropogeographischen sowie biographischen Gesichtspunk-ten. Der Göttinger Theologe und Ori-entalist Martin Tamcke (geb. 1955) legte 1993 mit seiner Habilschrift 18) eine kritische, auf bis dahin unbe-kannte Primärquellen gestützte Studie zur Biografie des impressionistischen Autors Armin T. Wegner vor.

1994 entstand an der Ruhr-Uni-versität Bochum ein interdisziplinäres Institut für Genozid- und Diasporafor-

schung unter der Leitung des türkei-stämmigen Sozial- und Politikwissen-schaftlers Mihran Dabag (geb. 1944), dessen Leistungen bei der Erfor-schung von Genozid-Fallstudien vor allem im Bereich der afrikanischen Kolonialgeschichte liegen.19) Im Ver-gleich mit dem publizistischen Output außeruniversitärer Einrichtungen im Ausland – in erster Linie dem Zoryan

1915 GENOZID AN ARMENIERNTÜRKEI: 100 JAHRE LEUGNUNG DEUTSCHLAND: 100 JAHRE SCHWEIGEN

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1.500.000 ERMORDET

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Institute oder dem Londoner Gomidas Institute 20)- oder auch einzelner Geno-zidforscher wie Taner Akçam hat das Bochumer Institut noch keinen mo-nographischen Beitrag zur komparati-ven Erforschung der spätosmanischen Genozide oder zu einer Einzelfallstu-die geleistet.

Monographisches Schrifttum zum Genozid an den Armeniern ist in Deutschland weitgehend außerhalb universitärer Forschung und Lehre verfasst worden, mit allen damit ver-bundenen Vor- und Nachteilen. Jour-nalisten, deren Bildungshintergrund außerhalb der Geschichtswissenschaft liegt, sprangen in die auffällige Lü-cke der deutschen Geschichts- und Genozidforschung: Der Romanist

Wolfgang Gust 21) und der Germanist Rolf Hosfeld22) haben mit jeweils zwei Buchveröffentlichungen seit 1993 den Völkermord an den Armeniern für breite Leserschichten allgemeinver-ständlich geschildert und erklärt. Be-sondere Bedeutung kommt aber der online-Edition „armenocide.de“ zu, die Wolfgang Gust mit seiner Frau Si-grid Gust veröffentlicht hat. Es handelt sich überwiegend um Aktenstücke aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes (PA/AA) für den Zeitraum 1909 bis 1918, die im Laufe der Jahre nicht nur teilweise ins Engli-sche und Türkische übersetzt wurden, sondern auch um diplomatische Ak-ten des im Ersten Weltkrieg neutralen

Dänemark und um die von Jörg Berlin verfassten Handreichungen, die für den Schulgeschichtsunterricht ergänzt wurden.

Ausgangspunkt für diese bis-her einzigartige Sammlung war die kritische Auseinandersetzung von Wolfgang Gust mit der 1919 von Jo-hannes Lepsius auf Vorschlag des Auswärtigen Amtes herausgegebene Aktensammlung „Deutschland und Armenien 1914-1918“, deren editori-sche „Manipulationen“ W. Gust zwar nicht als erster entdeckt, aber als erster umfassend untersucht und zu deuten versucht hat.23) Sein kritischer Ansatz stieß freilich auf die Kritik des Theo-logen und Lepsius-Forschers Her-mann Goltz (1946-2010), der 1982 an

der Universität Halle-Wittenberg ein Lepsius-Zentrum und 1998 das Mes-rop-Zentrum für Armenische Studien gegründet hatte.

Zusammenfassend kann festge-halten werden, dass der Genozid an den Armeniern seit den späten 1970er Jahren zum integralen Bestandteil der internationalen Genozidforschung wurde. Nach einer Anfangsphase, in der nicht-türkeistämmige bzw. nicht-armenische Wissenschaftler und Pub-lizisten wie Yves Ternon24) im franzö-sischen oder Christopher Walker 25) im englischen Sprachraum in populär-wissenschaftlichen Sachbüchern das Thema aufgegriffen hatten, übernah-men anschließend türkeistämmige

und armenische Autoren das Feld; die quantitativ und qualitativ herausra-gendsten Leistungen legten dabei Ta-ner Akçam und Raymond Kévorkian vor.

Es finden sich heute in Nordame-rika sowohl universitäre, als auch außer universitäre Einrichtungen, an denen schwerpunktmäßig das arme-nische Fallbeispiel untersucht bzw. ge-lehrt wird. In Europa beschränkt sich die Aufarbeitung bzw. publizistische Aufbereitung weitgehend auf außer-universitäre Zentren, die meist unter der Leitung eines armenischen Grün-ders stehen (Ara Sarafian, Gomidas Institute, London; Raymond Kévorki-an, Librairie Noubar Pacha, Paris); R. Kévorkian ist die bisher umfassends-te Darstellung des Genozids an den Armeniern zu verdanken: ein in der englischen Ausgabe über eintausend Druckseiten umfassendes Monu-mentalwerk, das im Wesentlichen auf Archivalien des armenisch-apostoli-schen Patriarchats Istanbul beruht.26)

Eine Ausnahme stellt der Deutsch-Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser (geb. 1957) dar, dem es gelang, sein wissenschaftliches Interesse an spätosmanischer Geschichte mit einer erfolgreichen akademischen Laufbahn zu verbinden; Kieser lehrt gegenwär-tig als „Titularprofessor für Geschich-te der Neuzeit insbesondere der osma-nischen und nachosmanischen Welt“ am Historischen Seminar der Univer-sität Zürich.27)

In Deutschland ist eine umfas-sende akademische Aufarbeitung des armenischen Genozids, die sich in der Publikation monographischer Ergebnisse manifestiert, bisher nicht gelungen.28) Die publizistische Auf-arbeitung beschränkt sich auf au-ßeruniversitäre Einrichtungen wie zeitweilig die Gesellschaft für be-drohte Völker 29) (1979-1985) und gegenwärtig auf das Lepsiushaus in Potsdams, das allerdings bisher nur eine Buchpublikation vorweisen kann. Gleichwohl definiert sich das Lepsiushaus selbstbewusst als „eine in Deutschland und Europa einmali-ge Forschungs- und Begegnungsstät-te“, letzteres vor allem dank Konfe-renzen, Vorträgen und Workshops. Fo

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Demonstration gegen die türkische Genozid-Leugnung.

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1) Kennzeichnend dafür war zuletzt die 2014 in Buchform veröffent-lichte Dissertation des Politikwissenschaftlers André Fleck, der darin meine Kollegen Mihran Dabag, Hermann Goltz, Otto Luchterhandt u.a. als „pro-armenische Interessenvertreter“ einstuft, die sich „in po-litischen Prozessen engagieren“. – Vgl. Fleck, André: Machtfaktor Di-aspora? Armenische Interessenvertretung in Deutschland. Münster: LIT, 2014, S. 11

2) Der Genozidforscher und Lemkin-Kenner Steven Leonard Jacobs betrachtet, nach der Holocaustforschung, die Erforschung des Völ-kermords an den Armeniern als zweitwichtigsten Bestandteil der Genozidforschung. –Jacobs, Steven Leonard: Lemkin on Genocide. Lanham; Plymouth: Lexington Books, 2012, S. VII

3) http://www.zoryaninstitute.org/about.html4) 1994 als Association of Genocide Scholars gegründet, ist IAGS heute

im internationalen Vergleich die größte Berufsvereinigung von Ge-nozidwissenschaftlern. http://www.genocidescholars.org/about-us/history. Seit 1997 unterstützte IAGS die Forderung nach Anerken-nung des armenischen Genozids in mehreren Resolutionen und nahm gegen die Leugnung dieses Völkermords Stellung. Vgl. http://www.aga-online.org/news/attachments/INTERNATIONAL%20AS-SOCIATION%20OF%20GENOCIDE%20SCHOLARS_Offener%20Brief.pdf

5) http://www.zoryaninstitute.org/Announcements/GSI%20Press%20Release%201%20May%202014.pdf

6) http://www.zoryaninstitute.org/tad.html7) Dokumentation von Augenzeugenberichten: http://www.zoryaninsti-

tute.org/dialogue/Turks%20Who%20Saved%20Armenians.pdf8) Lemkin, Raphael: Totally Unofficial; the Autobiography. Ed. By Donna-

Lee Frieze. New Haven; London: Yale University Presse, (2013), S. 1419) Hofmann, Tessa (Hg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der

Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. Mit einem Geleitwort von Bischof Dr. Wolfgang Huber. Münster: LIT, 2004; 2. erg. Aufl. 2007 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte.32.); türkische Ausgabe: Tessa Hofmann (Derleyen): Takibat, tehcir ve imha: Osmanlı İmperatorluğu’nda 1912-1922 yılları arasında Hıristiyanlara yönelik yaptırımlar. Türkçesi: Suzan Zengin. Editör: Ali Sait Çetinoğlu. Yayına Hazırlayan: Doğan Akhanlı. İstanbul: Belge Uluslararasi Yayıincilik, 2013. S. 341

10) Vgl. Pressemitteilung der IAGS: http://greek-genocide.net/index.php/overview/recognition/recognitions/145-i-a-g-s-press-release

11) Z.B. Kößler, Reinhart: Genozid im kolonialen Blick. „Informations-zentrum 3. Welt“; https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/304_kriege_in_afrika/boris-barth-genozid; (Zugriff 21.12.2014); Zimme-rer, Jürgen: Eurozentrisch überheblich. „die tageszeitung“, 31.03.2007, http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=pb&dig=2007%2F03%2F17%2Fa0012&cHash=c71461a2334e7ee2e669974632646566, (Zugriff 21.12.2014)

12) Barth, Boris: Genozid: Völkermord im 20. Jahrhundert; Geschichte, Theorien, Kontroversen. München: CH. Beck, 2006, S. 73

13) Schaefgen, Annette: Schwieriges Erinnern. Zur Rezeption des Geno-zids an den Armeniern. Berlin: Metropol Verlag, 2006, 180 S.

14) Koutcharian, Gerayer: Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluß der historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kon-greß 1878: Eine politisch-geographische Analyse und Dokumentati-on. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1989 (Abhandlungen des geogra-phischen Instituts/Anthropogeographie. Freie Universität Berlin. Bd. 43). 317 S.

15) Feigel, Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien: Die Ar-menierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen. Göt-tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997, 344 S.; Meißner, Axel: Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien: Bausteine für eine Internati-onale Ethik des Protestantismus. Berlin: LIT Verlag, 2010, 560 S.

16) Die Politologin Seyhan Bayraktar promovierte 2010 an der Uni-versität Konstanz mit einer diskursanalytischen Dissertation über die Erinnerungspolitik der Republik Türkei. Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung: Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und Europäisierung. Bielefeld: Transcript, 2010. 311 S. Ferner: Robel, Yvonne: Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe. Paderborn: Fink, 2013, 445 S. – Die Autorin bezeichnet sich selbst als Medien- bzw. Kultur- und Zeithistorikerin.

17) Fleck, André: Machtfaktor Diaspora? Armenische Interessenvertre-tung in Deutschland. Münster: LIT, 2014. 373 S.

18) Tamcke, Martin: Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen. Göttingen 1993

19) Vgl. die Buchveröffentlichungen des Instituts: https://www.ruhr-uni-bo-chum.de/idg/unterseiten/publikationenpublis.html (Zugriff 21.12.2014)

20) Das Institut hat bisher 89 Buchveröffentlichungen vorgelegt, mit dem Fokus auf dem Genozid an den Armeniern. Darunter befinden sich zahlreiche Reprints oder Neuauflagen von Frühveröffentlichungen, Übersetzungen der Memoiren von Überlebenden und Augenzeugen: Vgl. http://www.gomidas.org/books

21) Gust, Wolfgang: Der Völkermord an den Armeniern: Die Tragödie des ältesten Christenvolks der Welt. München: Carl Hanser Verlag, 1993.

22) Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis: die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2005; ders. (Hg.): Johannes Lepsius - Eine deutsche Ausnahme. Der Völ-kermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte. Göttingen: Wallstein, 2013; ders., Tod in der Wüste: Der Völkermord an den Armeniern. München: C.H. Beck, 2015. 288 S.

23) Vgl. Gust, Wolfgang: Magisches Viereck: Johannes Lepsius, Deutsch-land und Armenien. http://www.armenocide.de/armenocide/arm-gende.nsf/WebStart-De?OpenFrameset. – (Zugriff: 22.12.2014)

24) Ternon, Yves: Les Arméniens, histoire d'un génocide. Paris: Seuil, 1977 (1996; deutsche Ausg.: Tabu Armenien. Geschichte eines Völker-mordes. Frankfurt/M.: Ullstein, 1981); ders.: La Cause arménienne. Paris: Seuil, 1983; ders.: Enquête sur la négation d'un génocide. Par-enthèses, 1989, www.imprescriptible.fr online (Zugriff: 23.12.2014)

25) Walker, Christopher: Armenia: The Survival of a Nation. London 1980 (1990)

26) Kévorkian, Raymond: Le Génocide des Arméniens. Paris: Odile Ja-cob, 2006 (2. Aufl. 2011); englische Ausg.: The Armenian Genocide: A Complete History. London, New York: I.B. Taurus, 2011. VIII, 1029 S.

27) Zum Thema des Genozids an den Armeniern legte Kieser bisher vier Buchpublikationen vor: Habilitationsschrift: Kieser, Hans-Lu-kas: Der verpasste Friede: Mission, Ethnie und Staat in den Ostpro-vinzen der Türkei 1839-1938. Zürich: Chronos, 2000 (türk. Ausg.: Skalanmış barış: Doğu vilayetleri'nde misyonerlik, etnik kimlik ve devlet 1839–1938, Istanbul: Iletisim, 2005); als Mit-Herausgeber: Der Genozid an den Armeniern, die Türkei und Europa/ The Ar-menian genocide, Turkey and Europe. Zürich: Chronos, 2006; to-gether with Elmar Plozza; The Armenian genocide and the Shoah / Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. Zürich: Chro-nos, 2002, (2. Aufl. 2003); together with Dominik J. Schaller; als Herausgeber: Die armenische Frage und die Schweiz (1896–1923) / La question arménienne et la Suisse (1896–1923). Zürich: Chronos, 1999; Künzler, Jakob: Im Lande des Blutes und der Tränen: Erlebnis-se in Mesopotamien während des Weltkriegs (1914–1918). Zürich: Chronos, 1999, 2. Aufl. 2004 (Englische Ausg.: In the Land of the Blood and Tears: Experiences in Mesopotamia during the World War (1914–1918). Arlington, MA: Armenian Cultural Foundati-on, 2007; türk. Ausg.: Kan ve Gözyaşları Ülkesinde. Istanbul: Belge, 2012; Armenische Ausg.: Yerevan 2011; iranische Ausg. 2010 (nach Erscheinen verboten)

28) Eine erste Monographie „Völkermord an den Armeniern“ legte 2015 der Historiker Michael Hesemann vor, der dafür vor allem vatikani-sche Archive auswertete.

29) Drei Ausgaben von „pogrom: Zeitschrift für bedrohte Völker“: Nr. 64 (1979, Nr. 64; Mai 1980, Nr. 72/73; Okt.-Nov. 1981, Nr. 85); Das Verbrechen des Schweigens: Die Verhandlung des türkischen Völker-mordes an den Armeniern vor dem Ständigen Tribunal der Völker. Vorw. u. redaktionelle Bearb.: Tessa Hofmann. Göttingen, Wien: Ge-sellschaft für bedrohte Völker, (1985). 191 S., (pogrom Taschenbücher. Bd. 1012); Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht: Der Pro-zess Talaat Pascha. 2. Aufl. d. Ausg. Berlin 1921, hrsg. u. eingel. von Tessa Hofmann. Göttingen, Wien: Gesellschaft für bedrohte Völker, 1980. XI, S. 136 (3., erw. Neuaufl. Göttingen 1985); Hofmann, Tes-sa; Koutcharian, Gerayer (Hg.): Armenien: Völkermord, Vertreibung, Exil; 1979-1987: Neun Jahre Menschenrechtsarbeit für die Armenier, neun Jahre Berichterstattung über einen verleugneten Völkermord.Göttingen, Wien: Gesellschaft für bedrohte Völker, 1987. S. 146 (pog-rom. themen. Bd. 1.)

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„Ohne die Aufarbeitung des Genozids können sich die Minderheiten

in der Türkei niemals sicher fühlen“Der türkische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Doğan Akhanlı im Gespräch

2011 sagte Doğan Akhanlı in einem Interview mit der Online-Zeitung Qantara: „Die politische Landschaft in der Türkei ist immer noch sehr ideologisch geprägt – es gibt nur Freund und Feind.“ Wenn man sich seine Biografie anschaut, scheint er aus türkischer Perspektive zur zwei-ten Kategorie zu gehören. 1975 wurde er das erste Mal verhaftet, 1985 folgte die zweite Inhaftie-rung. Diesmal zwei Jahre Gefängnis, zwei Jahre Folter. 1991 floh er nach Deutschland ins Exil, nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an. 2010 wurde er bei der Einreise in die Türkei wieder verhaftet. Ein Urteil steht bis heute aus. Doch er lässt sich nicht einschüchtern. Als erster tür-kischer Schriftsteller thematisierte er mit seinem Buch „Die Richter des Jüngsten Berichts“ den Völkermord an den Armeniern und die Verleumdungskampagne in der Türkei. Im Gespräch mit Michaela Böttcher von der GfbV erklärt er, warum ihm dieses Thema am Herzen liegt und wieso die Holocaust-Aufarbeitung in Deutschland nicht genug ist.

bedrohte Völker: Warum tut sich die Türkei so schwer, den Genozid an den Armeniern zu thematisie-ren?

Doğan Akhanlı: Das hat mit der Gründungsgeschichte der türkischen

Republik zu tun. Die Gründer der türkischen Republik sind die Helden in der türkischen Geschichte. Nur waren diese Helden die Mörder, die die Armenier vertrieben und ver-nichtet haben. Dieser Widerspruch ist eine der Hauptursachen, warum es sich die Türkei so schwer macht, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Sie hat Angst davor, dass sie die ganze Geschichte neu schreiben müsste. Das wäre eine riesige, grundsätzliche Än-derung für das Land. Dazu kommt, dass mit dem Gründungsmythos die staatstragende Ideologie von einem Land, einer Sprache und einer Nation

aufkam. Minderheiten passen in dieses Konzept nicht hinein und sie können in diesem Land mit so einer Ideologie niemals sicher sein.

bedrohte Völker: Was kann dieser Ideologie entgegen gestellt werden, damit der Völkermord aufgearbei-tet und Minderheiten nicht an den Rand gedrängt werden?

Doğan Akhanlı: Man muss in der heutigen Türkei die Rechte der Minderheiten gesetzlich sichern und zum Beispiel den Kurden ihre Rechte geben. Es muss eine multikulturelle Gesellschaft geben. Und der Genozid an den Armenier muss endlich aufge-arbeitet werden. Ohne die Aufarbei-tung der Geschichte und des Geno-zids können sich die Minderheiten in der Türkei niemals sicher fühlen. Hier in Deutschland gibt es so viele Bemühungen, die eigene Geschichte zu vermitteln, und trotzdem gibt es Gruppen von Neonazis, die willkür-lich Menschen, die als Einwanderer ins Land gekommen sind, töten. Aber

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es ist keine politische Sache, die vom Staat ausgeht, sondern eine kriminel-le Handlung einzelner Täter. In der Türkei ist es umgekehrt. Der Staat ist selber kriminell. Das ist deutlich geworden 2007, beim Mord am arme-nischen Journalisten Hrant Dink. Da hat sich gezeigt, wie der Staat beteiligt ist. Und sie wollen damit nicht auf-hören.

bedrohte Völker: Das klingt depri-mierend. Aber sie bleiben optimis-tisch?

Doğan Akhanlı: Ja, vor allem seit der Massenbewegung nach der Ermor-dung von Hrant Dink. Mit ihr hat man nicht nur gegen die Ermordung des Journalisten protestiert, sondern auch der Genozidopfer gedacht. Und ich glaube an die junge Generation. Während meines Gerichtsprozesses blieb ich eineinhalb Jahre in der Tür-kei. Und bin in der Zeit durchs Land gereist. Ich habe dabei hauptsächlich mit jungen Menschen gesprochen. Sie waren neugierig und nicht so ideolo-gisch gefestigt wie meine Generation. Das hat meine Hoffnung geschürt, dass die junge Generation die richti-gen Fragen stellt und die Antworten sucht.

bedrohte Völker: Es waren auch hauptsächlich junge Leute, die ihren Unmut während der Gezi-Park-Proteste 2013 gezeigt haben.

Doğan Akhanlı: Die jungen Men-schen in der Türkei sind mit der Aus-richtung der Regierung unzufrieden. Die Regierung will ihnen vorschrei-ben, wie sie leben sollen. Dagegen haben die jungen Leute protestiert. Und das ausgerechnet an einem Ort, nämlich dem Gezi-Park, der ein Er-innerungsort ist. In dem Park war ein armenischer Friedhof und dort wurde das erste Genozid-Mahnmal 1919, damals noch unter der Besatzung der Engländer, aufgestellt. Das finde ich symbolisch ganz wichtig, wie dieser Ort beide Bewegungen – also die für Erinnerung und Aufarbeitung und die für Demokratisierung – zusam-mengebracht hat. Die Armenier

brauchen Gerechtigkeit und die Zivilbevölkerung braucht Demokra-tie und Menschenrechte. Ich hoffe, dass in der Zukunft weitere ähnliche Massenbewegungen passieren.

bedrohte Völker: Warum beschäf-tigen Sie sich so intensiv mit dem Völkermord an den Armeniern?

Doğan Akhanlı: Das hat mit mei-ner Biografie und meiner eigenen Gewalterfahrung zu tun. Ich wurde in der Türkei verfolgt und gefoltert. Nach meiner Flucht fing ich an, mich mit der historischen Gewalt meines

Herkunftslandes zu beschäftigen. Ich wollte meine eigenen Erfahrungen in einen Rahmen bringen, eine Verbin-dung zwischen meiner persönlichen Biografie und anderen Gewalttaten finden. Während meiner Recherche verstand ich, dass ich und die lin-ke Bewegung in den 1980er Jahren nicht die Einzigen waren, die Gewalt erfahren haben. Die Aleviten wurden massakriert, die nicht-muslimischen Minderheiten wurden massakriert. Am Ende habe ich auch die Geschich-te der Armenier herausgefunden. Als Kind hatte ich von Massakern an Armeniern gehört. Aber ich dach-te, dass das nur ein lokales Pogrom gewesen war. Nur in unserem Gebiet. Aber bei meinen Recherchen habe ich Zeitzeugenberichte gelesen und festge-stellt, dass es Gewaltausschreitungen

in unterschiedlichen Orten gab. Und dass die Erzählungen ähnlich sind. Das zeigte, dass es zentral organisiert war. Nach der Lemkin-Definition ist das ein Genozid. Der Unterschied zwischen meiner Gewalterfahrung und der Gewalterfahrung der Arme-nier ist die Willkür und die ultimative Vernichtung. Sie haben mich während der Militärdiktatur festgenommen und gefoltert, sie haben meine Familie unter Druck gesetzt. Aber sie haben uns nicht vernichtet. Ich hatte die Chance zu überleben. Die Armenier hatten das nicht. Es war egal, ob sie ein neugeborenes Baby oder eine alte Frau

waren. Es war egal, was sie gemacht oder nicht gemacht haben. Sie waren kollektiv zum Tode verurteilt. Und deswegen habe ich in meinem Buch „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ den Völkermord thematisiert.

bedrohte Völker: Ihr Buch ist 1999 in der Türkei erschienen. Welche Reaktionen zog die Veröffentli-chung nach sich?

Doğan Akhanlı: In der Türkei gibt es zwei mögliche Reaktionen, wenn man über ein Tabuthema schreibt: Entweder man wird gerichtlich verfolgt, wie zum Beispiel Elif Shafak, die den Völkermord an den Arme-niern in ihrem Buch „Der Bastard von Istanbul“ thematisiert hat. Sie ist eine Bestseller-Autorin und wäre ›

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Roman von Dogan Akhanli, der sich mit dem Völkermord an den Armeniern auseinandersetzt.

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trotzdem fast im Gefängnis gelandet. Mein Buch wurde hingegen ignoriert. Es gab keine einzige Rezension. Aber die armenische Minderheit hat mein Buch gekauft und verbreitet. Nach meiner Festnahme 2010 wurde das Buch dann in der Türkei bekannter und verkauft sich jetzt doppelt so gut wie früher.

bedrohte Völker: Ihre Festnahme 2010 wird als politisch motiviert bezeichnet. Welche Motive standen Ihrer Meinung nach hinter Ihrer Verhaftung?

Doğan Akhanlı: Ich denke, die Hauptmotive waren, dass ich kriti-scher Menschenrechtler bin und dass ich mich mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigt habe. Ich kann mir das nicht anders erklären. Ich wurde als Kopf einer terroristischen Organisation angeklagt. Aber nicht mal das Innenministerium kennt diese Organisation. Sie existiert nicht. Deswegen ist für mich klar, dass die Anklage mit meiner schriftstelle-rischen Tätigkeit und mit meiner Menschenrechtsarbeit zu tun hat. Ich habe nicht geschwiegen und das hat den türkischen Staat geärgert. Deswegen haben sie so eine absurde Anklage erfunden. Die Anklage ist zwar gescheitert, aber sie wollten mich damit unter Druck setzen. Das klappt natürlich nicht, weil ich mich in einem freien Raum – in Deutsch-land – befinde. Warum sollte ich also mitspielen oder schweigen?

bedrohte Völker: Sie engagieren sich in Deutschland in vielen Pro-jekten zur Vermittlung der NS-Ver-gangenheit. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Doğan Akhanlı: Ich lebe hier. Ich sehe mich deswegen auch in der Verantwortung. Es ist eine große Erfahrung, wie man in Deutschland mit Geschichte umgeht. Sie ist auch für andere Länder wichtig, um zu sehen, wie sie mit ihrer eigenen Ge-schichte umgehen sollten. Das betrifft natürlich die Türkei. Andererseits ist es meine Bemühung, neben dem Ho-

locaust auch für andere Verbrechen, wie eben dem Genozid an den Ar-meniern, in der Geschichte Platz zu schaffen. Obwohl Deutschland histo-risch gesehen mit diesem Genozid zu tun hat, nimmt man den Völkermord als eine fremde Geschichte wahr. Er ist aber keine fremde Geschichte, sondern Teil der deutschen Geschich-te. Deswegen sollte die Aufarbeitung des Holocaust, meiner Meinung nach, erweitert werden. Und das ist keine Relativierung des Holocausts, son-dern eine Vertiefung. Daher kommt mein Engagement. Die Aufarbeitung in Deutschland weiterzuentwickeln und ihr andere Formen zu geben.

bedrohte Völker: Die deutsche Regierung vermeidet, den Völker-mord an den Armeniern Genozid zu nennen. Was halten Sie davon?

Doğan Akhanlı: Diese Einstellung finde ich einfach peinlich. Und ein Widerspruch zum deutschen Grund-prinzip, dass der Holocaust nicht relativiert werden darf. Woher nimmt die deutsche Regierung sich also das Recht, einen anderen Völkermord zu

relativieren und ihn nicht Genozid zu nennen? Ist das fair gegenüber den Opfern? Und das Argument dazu war auch banal. Da der Genozid an den Armeniern vor der Genozid-Konvention passierte, könne er so nicht genannt werden. Die Konven-tion wurde 1948 verabschiedet. Was machen wir also mit dem Holocaust? Nennen wir den jetzt auch nicht mehr Genozid? Das ist eine absurde und enttäuschende Antwort der deutschen

Regierung. Und es ist gefährlich und opportunistisch.

bedrohte Völker: Welche Reaktion würden Sie sich von der deutschen Regierung wünschen?

Doğan Akhanlı: Man sollte die Opfer nicht wegen politischer Interessen noch einmal opfern. Das ist die ein-zige Forderung von meiner Seite an die deutsche Regierung. Sie können weiter mit der Türkei Partnerschaften und Wirtschaftsbeziehungen haben, aber sie können nicht historische Wahrheiten verleugnen. Die deutsche Regierung sollte offen den Genozid an den Armeniern anerkennen. Und aufgrund der historischen Verant-wortung den Völkermord als Teil der deutschen Geschichte wahrnehmen.

bedrohte Völker: Wie könnten wir in Deutschland den Völkermord an den Armeniern thematisieren – auch angesichts der vielen Men-schen mit türkischem Migrations-hintergrund?

Doğan Akhanlı: Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts sollte Teil der Holocaust-Erziehung sein. Es ist die Geschichte unserer Vorfahren. Türki-sche Kinder in Deutschland können so lernen, dass Genozid und diese Willkür der Macht nicht direkt etwas mit der deutschen oder auch der türki-schen Nationalität zu tun hat. Überall auf der Welt passieren überdimensi-onale Gewalttaten. Diese Gewaltdi-mension muss universal verstanden werden. Geschichte sollte ein transna-tionaler Gedächtnisraum sein, sonst befinden wir uns in einer Sackgasse. Die Leute, die hierher gekommen sind, sind ja nicht mit einem leeren Kopf gekommen, sondern eben auch mit Gewalterfahrungen. Das wahr-zunehmen ist wichtig. Wenn man bei der Vermittlung anderen genozidalen Gewalttaten einen Raum gibt, lernen die Jugendlichen und Kinder vielleicht, dass diese Gewalt nichts mit einer deutschen oder türkischen Nationalität zu tun hat – sondern mit Menschen. Und dass wir alle solche Gewalttaten generell ablehnen müssen.

Dogan Akhanli mit Fatih Akin vor der Verleihung des Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnispreises.

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„Ich bin nun mal ungezogen“Spiegel-Gespräch mit Fatih Akin (Nr. 37, 08.09.2014)

Filmemacher Fatih Akin über Morddrohungen gegen ihn und über den in Venedig uraufgeführ-ten Film „The Cut“, der vom Völkermord der Türken an den Armeniern erzählt. Akin, 41, ist Sohn türkischer Einwanderer, er lebt in Hamburg. Mit „Kurz und schmerzlos“ wurde er 1998 bekannt, für „Gegen die Wand“ bekam er 2004 den Goldenen Bären der Berlinale, auch „Auf der anderen Seite“ (2007) und „Soul Kitchen“ (2009) waren Erfolge bei Publikum und Kritik. Sein Werk „The Cut“ läuft seit dem 16. Oktober 2014 in den deutschen Kinos.

SPIEGEL: Herr Akin, Sie haben mit Gangsterballaden und wilden Melo-dramen viele Kinozuschauer begeis-tert. Nun zeigen Sie in „The Cut“ eine finstere politische Tragödie, für die Sie noch vor der Weltpremiere in Venedig Morddrohungen erhalten haben. Bei der Uraufführung haben Sie davon gesprochen, dass ein Regisseur notfalls bereit sein müsse, „für die Kunst zu sterben“. Ist das Ihr Ernst?

Akin: Nicht ganz. Natürlich hat die Vorstellung, dass ein Künstler für seine Kunst sein Leben riskiert, erst mal etwas Romantisches. Vor Jahren habe ich mich mit dem für mutige politische Filme wie „Z“ und „Mis-sing“ berühmten Regisseur Constan-tin Costa-Gavras über dieses Thema unterhalten. Wir trafen uns in Paris zum Essen und sprachen darüber, wie es wäre, wenn man wegen eines Films, den man gedreht hat, er-schossen würde. Costa-Gavras sagte: „Das wäre doch gar nicht mal so ein schlechter Tod.“ Aber ich glaube, er meinte es nicht ganz ernst. Denn bei aller Romantik: Ich möchte noch sehr lange leben. Ich möchte noch viele Filme machen und meine Kinder groß werden sehen.

SPIEGEL: Türkische Nationalisten bedrohen Sie, weil „The Cut“ von

einem Völkermord vor hundert Jahren erzählt, den die Nationalis-ten bis heute leugnen. Ihr Filmheld überlebt diesen Völkermord, bei dem bis zu eineinhalb Millionen Armenier von Türken umgebracht wurden, mit knapper Not und jagt auf der Suche nach seinen verschol-lenen Töchtern um die halbe Welt. Machen Ihnen die Drohungen Angst?

Akin: Nein. Ich glaube an Bestim-mung, an Schicksal. Meine Devise heißt: Man kann sich seinen Tod sowieso nicht selber backen.

SPIEGEL: Geht es Ihnen in „The Cut“ darum, Ihre Vorstellung von historischer Wahrheit auf die Lein-wand zu befördern?

Akin: Ich suche mit jedem meiner Filme die Wahrheit. Und ich bin neugierig auf Geschichten, die noch nicht oder nicht richtig erzählt sind. Anders als in Frankreich, wo viele vertriebene Armenier leben, weiß man in Deutschland und in den USA fast nichts über den Massenmord an den Armeniern. Nicht mal von der deutschen Politik wird dieser Völkermord auch so genannt. Der Bundestag hat 2005 eine Resoluti-on verabschiedet, in der von einer „menschlichen Tragödie“ die Rede ist.

Möglicherweise hatte man die Sorge, den Nato-Partner Türkei oder einen Teil der Türken in Deutschland zu verärgern.

SPIEGEL: „The Cut“ unterscheidet sich stark von fast allen Ihrer frühe-ren Filme, in denen Sie radikal und beherzt die Liebes- und Identitäts-fragen der Gegenwart verhandeln. Wie kam es dazu, dass Sie sich einen historischen Stoff, der hundert Jahre zurückliegt, ausgesucht haben?

Akin: Ich würde lieber sagen: Der Stoff hat mich gesucht. Ich war ein Teenager und ging noch in Ham-burg zur Schule, als ich zum ersten Mal davon hörte, dass die Türken ›

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während des Ersten Weltkriegs einen Völkermord an den Armeniern begangen haben sollen. Meine Leute! Meine Landsleute! Ich war geschockt. Ich erfuhr, dass viele Türken diesen Völkermord bestreiten und dass das Thema in der Türkei damals absolut tabu war, ich war sofort neugierig. Es gab da also etwas Gefährliches, Ver-botenes. Deshalb habe ich angefangen nachzufragen, Bücher zu lesen.

SPIEGEL: Konnten Ihnen Ihre Eltern weiterhelfen?

Akin: Nein. Das, was meine Eltern mir erzählten, folgte damals der offi-ziellen Linie der türkischen Politik. Es hieß, es habe eben Krieg geherrscht, und es habe Tote auf beiden Seiten gegeben. Inzwischen denken meine Eltern anders. Das hat sicher damit zu tun, dass in der Türkei eine demokra-tische Bürgerbewegung entstanden ist, die sich mit Empathie und ohne Furcht mit der Ermordung und der Vertreibung der Armenier beschäf-tigt. Man kann in den türkischen Medien Leute sehen, die stolz davon berichten, dass ihre Großmütter Armenierinnen waren. Es gibt Bücher über den Genozid, die überall im Land in den Schaufenstern der Buch-handlungen stehen. Meine Eltern sprechen bis heute nicht wie ich von einem Völkermord, aber sie akzep-tieren, dass es den massenhaften Mord und die Vertreibung gegeben hat. Und sie haben keinen Zweifel, dass die schrecklichen Dinge, die in meinem Film vorkommen, wirklich passiert sind.

SPIEGEL: Verstehen Sie es als politi-sche Aufklärung, wenn Sie in „The Cut“ nackte Leichen zeigen, die in einem Brunnen versenkt werden, oder an Hunger krepierende Frauen und Kinder in einem Todeslager?

Akin: Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ein einziger Film es schaffen kann, das Bewusstsein einer Gesellschaft oder der ganzen Welt zu verändern. Aber alle Geschichten, die wir uns erzählen, alle Mythen und Märchen, haben ihren Ursprung

darin, dass sie reale Ereignisse ver-arbeiten, auch die Geschichten des Kinos. Das Ziel dieses Verarbeitungs-prozesses - und damit auch mein Ziel - lautet natürlich: Ich reflektiere schreckliche Ereignisse, damit sie nie wieder passieren.

SPIEGEL: Wenn in Ihrem Film eine andersgläubige Frau öffentlich ver-gewaltigt wird oder man Armenier vor die Wahl stellt, entweder vom Christentum zum Islam zu konver-tieren oder abgemurkst zu werden, wird man als Zuschauer mit Gräu-eln konfrontiert, die ganz ähnlich im Jahr 2014 vom Vormarsch der IS-Truppen im Irak und in Syrien berichtet werden.

Akin: Ich bin selbst überrascht, wie schrecklich aktuell diese Szenen sind. Und mein Film handelt genau von solchen Fragen: Was ist es, das die Menschen dazu bringt, andere zu tö-ten? Und was braucht es andererseits dazu, dass sie anderen die rettende Hand hinhalten?

SPIEGEL: Markiert „The Cut“ Ihre Hinwendung zur politischen Filme-macherei, wie sie Costa-Gavras einst berühmt gemacht hat?

Akin: Diesen Anspruch habe ich nicht. Aber ich bin ein politisch denkender Mensch. Ich bin soziali-siert als Sohn türkischer Eltern, der in Deutschland aufgewachsen ist. Des-halb würde es mich nicht wundern, wenn ich zum Beispiel eines Tages einen Film machen würde über die Terrormorde des NSU, des sogenann-ten Nationalsozialistischen Unter-grunds. So wie ich lebe und arbeite, aus einer Minderheit heraus denkend, liegen einem bestimmte Themen einfach nah. Vielleicht werde ich also irgendwann einen Thriller machen, in dem es um eine NSU-ähnliche Geschichte geht.

SPIEGEL: Über „The Cut“ sagt Simon Abkarian, einer Ihrer arme-nischstämmigen Darsteller: „Fatih Akin hat den Film gedreht, auf den Armenier in der ganzen Welt seit

vielen Jahren gewartet haben.“ War das Ihr Anliegen?

Akin: Nein. Ich habe mir ein viel unmöglicheres Ziel vorgenommen. Ich will alle erreichen. Die Türken, die den Völkermord leugnen, und die Türken, die ihn als historische Tatsa-che anerkennen. Die Armenier und die Franzosen. Die Deutschen und die Amerikaner. Ich will mit meinem Film eine Brücke schlagen. Es gibt ja bereits Filme über den Völkermord, wenn auch nur wenige. Deshalb glau-be ich, dass Simon Abkarian gemeint hat: Das Besondere an „The Cut“ ist, dass jemand wie ich, ein Türke, mit Empathie diese Geschichte erzählt.

SPIEGEL: Wird Ihr Film in der Türkei in die Kinos kommen?

Akin: Ich bin mir sicher, dass es keine Zensur von staatlicher Seite geben wird. Die Frage ist, ob die Kinobetrei-ber den Film zeigen werden oder ob sie Selbstzensur üben. Die Reaktio-nen der türkischen Journalisten, die den Film in Venedig gesehen haben, waren positiv.

SPIEGEL: Angeblich galten Sie in der Türkei bislang als ein Künstler, auf den das ganze Land stolz ist. Wird „The Cut“ das ändern?

Akin: Kann sein. Aber mit der Hoch-glanzfigur, die manche türkischen Medien aus mir gemacht haben, hatte ich ohnehin nie etwas zu tun. Mein Eintreten für die Gezi-Park-Protes-tierer hat schon einen Lackschaden verursacht, jetzt wird das öffentliche Bild von mir halt noch ein bisschen mehr angekratzt. Ich habe nichts dagegen, umstritten zu sein. Es gibt da so einen Ausdruck im Türkischen, yaramaz çocuğu, der etwas Ähnliches meint wie der französische Ausdruck „enfant terrible“, der beschreibt meine Rolle ganz gut. Ich bin der ungezoge-ne Junge. Ich bin ein Kind türkischer Eltern und mache nun mal ungezoge-ne Sachen.

SPIEGEL: Wurmt es Sie, dass „The Cut“ nach der Premiere in Vene-

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Nazaret (Tahar Rahim) und sein Bruder Hrant (Akin Gazi) werden mit den anderen armenischen Zwangsarbeitern zusammengefesselt und abgeführt.

Eine armenische Mutter mit Ihren Kindern wird von türkischen Gendarmen auf einem langen Marsch durch die Wüste getrieben.

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dig von einigen Kritikern heftig verrissen wurde? Man warf Ihrem Film zum Beispiel vor, dass darin die Armenier Englisch sprechen, Angehörige anderer Völker aber in ihrer jeweiligen Sprache, wodurch die realen Sprachunterschiede ver-zerrt würden.

Akin: Klar, das erwischt einen schon. Filmkritiker urteilen über die Arbeit von fünf Jahren manchmal in fünf Minuten. Aber ich will nicht jammern. Das gehört zu dem Beruf, den ich mir ausgesucht habe. Ich weiß, dass ich bisher von der Kritik verhätschelt wor-den bin. Wenn das jetzt bei „The Cut“ wirklich anders sein sollte, dann ist das eben so. Für meine Entwicklung ist das vielleicht gar nicht schlecht. Aber wenn meinem Film vorgeworfen wird, dass die Hauptfigur Englisch redet, als sie nach Amerika kommt, und der Zuschauer deswegen ihre Fremdheit nicht begreift, dann kann ich nur

sagen: Auch der große Regisseur Elia Kazan wurde 1963 hart dafür kritisiert, dass in seinem Film „Amerika, Ame-rika“ die Griechen Englisch reden, als sie vor amerikanischen Grenzbeamten stehen. Heute ist Kazans Film ein von allen anerkanntes Meisterwerk. Das kann ich mir für „The Cut“ natürlich nur wünschen.

SPIEGEL: Liegt es an Vorbildern wie Kazan, dass „The Cut“ im Ge-gensatz zu Ihren bisherigen Filmen ohne schnelle Schnitte auskommt und auf jede Form von krassem Realismus, gerade in den Gewalt-darstellungen, verzichtet?

Akin: Ich wollte in einer klassischen Erzählform bleiben. Bevor ich mit dem Drehen anfing, habe ich mir viele Gemälde angesehen, historische, zeitgenössische, die eine große Kraft haben, auch Darstellungen von Krieg und Mord. Film ist bewegtes Bild,

aber diesmal habe ich nach einer größeren Ruhe gesucht. Die Ästhetik des Films sollte zugänglich sein. Ich zeige durchaus Gewalt in meinem Film. Man sieht Gedärme, man sieht Hinrichtungen, ohne solche Härten würde der Film nicht ernst genom-men werden. Aber hätte ich diese Ge-walt noch krasser gezeigt, grobkörnig und plastisch, mit Handkamera, dann hätte ich damit die Chance verspielt, dass Armenier und Türken den Film gleichermaßen annehmen können. Genau das erlebe ich, seit „The Cut“ draußen ist: Der Film schafft es, diese Brücke zu schlagen.

SPIEGEL: Der armenische Dorf-schmied Nazaret, von dessen Odyssee „The Cut“ berichtet, ist die meiste Zeit über ein stummer Held. Warum haben Sie sich dieses erzäh-lerische Handicap aufgeladen?

Akin: Die Idee war, dass die Ge-

Die türkischen Gendarmen schikanieren die armenischen Zwangsarbeiter und halten sie zu harter Arbeit an.

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D ie Leugnung

schichte von Nazaret fast als Stumm-film erzählt wird. Das fand ich extrem reizvoll. Zum einen, weil die Hand-lung ja in der Zeit des Stummfilms spielt. Und zum anderen, weil ich wortkarge Filme, zum Beispiel „Das Kind“ der belgischen Dardenne-Brüder, sehr mag. Da wird sauwenig gesprochen, und gerade deshalb entwickeln die Handlung und das Visuelle einen Sog.

SPIEGEL: Sie argumentieren und arbeiten stets mit Kinovorbildern, und Sie kennen allerhand berühmte Regisseure persönlich. Wie haben Sie Martin Scorsese dazu gebracht, dass er für „The Cut“ einen schwär-merischen Werbespruch über die „Schönheit, Intensität und Erhaben-heit“ Ihres Films abgeliefert hat?

Akin: So viele Regisseure kenne ich gar nicht. Aber mit Scorsese ist es etwas Besonderes, der ist mein kine-matografischer Vater. Wir haben uns vor ein paar Jahren in Cannes ken-nengelernt, durch die World Cinema Foundation, die sich um die Restau-rierung von Filmen aus der ganzen Welt kümmert. Martin Scorsese hat für die Foundation einfach bestimmt, dass ich für den Nahen Osten und die Türkei zuständig sein sollte. Dann saßen wir beide in der Jury des Festi-vals in Marrakesch, lernten uns besser kennen. Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet sind. Aber ich liebe ihn, und ich habe schon das Gefühl, dass er mich mag.

SPIEGEL: Glauben Sie im Ernst, dass Ihnen die Ratschläge von Scor-sese oder Roman Polanski, mit dem Sie vor den Dreharbeiten an „The Cut“ ebenfalls über das Projekt ge-redet haben, am Ende helfen, einen tolleren Film hinzukriegen?

Akin: Am Ende ist natürlich alles ganz allein meine Schuld. Ob ich richtig lag, dass ich in meinem Film

nicht bloß von der Gewalt gegen die Armenier erzählen wollte, sondern auch von ihrer Diaspora, ihrem Verstreutsein in der ganzen Welt, das weiß ich noch nicht. Vielleicht hätte ich zwei Filme machen sollen. Vielleicht war es ein Fehler, den Regeln des Western-Genres zu folgen, während ich eine politische Geschich-te erzähle. Vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: Scheiß auf jedes Genre! Erzähl einfach, was es zu erzählen

gibt! Die Entscheidung fällt immer das Publikum. Dass ein Film von einer Festivaljury oder von der Kritik gemocht wird oder nicht gemocht wird, das reicht mir nicht. Nur wenn viele Leute in den Film rennen, dann freue ich mich wirklich.

SPIEGEL: Sie haben behauptet, Ihr Film sei das Finale einer Trilo-gie und handle vom Teufel. Aber schildert „The Cut“, dessen Held ein Opfer ist, wirklich das Böse?

Akin: Ich habe vor zehn Jahren aus einem humanistischen Ansatz eine Gleichung aufgestellt, die den Men-schen erklären sollte: Liebe, Tod und Teufel. Ich habe einen Film über die

Liebe gemacht, „Gegen die Wand“, einen Film über den Tod, „Auf der anderen Seite“, und jetzt geht es in „The Cut“ um den Teufel, das Böse in einem selbst. Mich interessiert: Was ist das, was in uns mordet? Der Teufel ist immer präsent in meinem Film. Es gibt Kulturen, in denen der Teufel der stärkste Engel ist, ein Gotteswesen, das gefallen ist. Das stellt unsere Vor-stellung von Gut und Böse auf sehr interessante Weise auf den Kopf.

SPIEGEL: Versteht man Ihren Film richtig, wenn man ihn als Absage an alle großen Religionen deutet?

Akin: Ja, denn ich glaube nicht, dass es die Menschen weiterbringt, wenn sie nur den Dogmen einer Religion gehorchen. Zumindest in den drei monotheistischen Weltreligionen, die im Nahen Osten entstanden sind, wird der Mensch manipuliert.

SPIEGEL: Sie haben mal behauptet, Sie lebten Ihre Identität in einem „deutsch-türkischen Vakuum“. Ist dieses Vakuum auch ein religiöses?

Akin: Ich war als junger Mensch mal sehr religiös, heute ist das nicht mehr so. Das heißt nicht, dass ich Leute verdamme, die sich einer Religion zugehörig fühlen. Ich habe mich halt anders entschieden. Trotzdem glaube ich. Ich glaube an einen Gott. Ich habe eine eigene Vorstellung von Gut und Böse. Ich bin auf keinen Fall ein Atheist. Mein Ansatz ist ein Hippie-Ansatz.

SPIEGEL: Herr Akin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Wir danken dem Spiegel

und Fatih Akin für die Erlaubnis

zum Nachdruck.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

„Ich verstecke mich nicht“ Interview mit dem „letzten Armenier“

von Afrin, Aruth KevorkAruth Kevork ,58, ist Handwerker und Inhaber eines Gemischtwarenladens. Nach unseren Informa-tionen ist er einer der letzten Armenier in der Region Afrin, nur er und seine zwei Söhne leben noch dort. Er spricht neben seiner Muttersprache Armenisch noch Kurdisch, Arabisch und Türkisch. Af-rin im äußersten Nordwesten Syriens ist neben Kobani und Cazire, eine der drei mehrheitlich von Kurden besiedelten Bezirke. Diese wurden gegen die Widerstände des Regimes in Damaskus und der islamistischen Opposition für autonom erklärt. Diese Enklaven werden vom IS und anderen Islamisten bedroht. Kamal Sido sprach mit Kevrok am 19. 2. 2015 während einer Nahost-Reise.

bedrohte Völker: Können Sie sich kurz vorstellen?

Kevork: Ich lebe seit 1975 hier in der Stadt. Mein Vater ist 1959 nach Afrin gekommen, er kam aus Azaz an der türkischen Grenze. Eigentlich stam-men wir aber aus Kilis, einem Ort in der Türkei, gegenüber von Azaz. Meine Vorfahren haben sich 1915 vor dem Völkermord verstecken können. Und irgendwann sind wir über Azaz nach Afrin gekommen. In Afrin lebt nur noch meine kleine Familie.

bedrohte Völker: Dann rede ich mit dem letzten Armenier aus Afrin?

Kevork: Ja, Sie sprechen mit dem letzten Armenier von Afrin.

bedrohte Völker: Spüren sie zurzeit irgendwelche Diskriminie-rungen, weil sie Armenier sind? Wissen die Menschen hier, dass sie Armenier sind?

Kevork: Ja, alle wissen, dass ich Armenier bin, und viele kaufen nur deswegen bei mir, weil ich einer bin. Wir spüren überhaupt keine Diskri-minierung. Hier sagt man, „wenn es Schwierigkeiten gibt etwas zu reparieren oder etwas zu finden: "Geh zu dem Armenier". Ich verstecke mich also nicht als Armenier und alle

meine Nachbarn wissen, dass ich Ar-menier bin. Jeder soll seinen Glauben leben und genau das machen wir hier in Afrin. Ganz früher, also bis Ende der 60er Jahre, gab es hier in dieser Stadt viele Armenier und in dieser Straße gab es viele armenische Läden. Es gab auch eine armenische Kirche, die leider verfallen ist. Die Ruine wurde verkauft und an der Stelle ein Neubau errichtet. Wir Armenier waren hier früher die ersten Schmie-de und Handwerker, wir haben auch landwirtschaftliche Betriebe geführt. Bis zu 100 Armenier lebten hier damals.

bedrohte Völker: Wohin sind die Armenier gegangen?

Kevork: Nach Armenien, Amerika, Europa oder Australien, aber auch nach Aleppo. Aus Aleppo mussten nun natürlich viele Armenier wegge-hen.

bedrohte Völker: Was war der Grund der Auswanderung?

Kevork: Es gab immer wenig Arbeit, die Region wurde benachteiligt.

bedrohte Völker: Was würde mit Ihnen passieren, wenn die Islamis-ten diese Region erobern?

Kevork: Die werden mit uns tun, was

die mit allen Menschen tun, die töten Muslime, Christen und alle, die nicht zu den radikalen Gruppen halten.

bedrohte Völker: Die Muslime kön-ne ein Glaubensbekenntnis ablegen und sich damit vor den Islamisten retten. Was ist mit Ihnen?

Kevork: (Schweigen)

bedrohte Völker: Dieses Jahr jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal. Können Sie dazu etwas sagen? Unsere Organisation, die Gesell-schaft für bedrohte Völker, fordert die türkischen Regierung, aber auch alle anderen Akteure auf, diesen Genozid endlich anzuerkennen.

Kevork: Ja, diese Forderung kann ich nur unterstützen.

bedrohte Völker: Was sagen Sie zu den Kurden, die damals am Völ-kermord beteiligt waren? Und was sagen Sie zu den Kurden von heute?

Kevork: Es gibt einen großen Un-terschied zwischen den Kurden von damals und den heutigen Kurden.

Dank für das Interview.

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Aruth Kevork (rechts) mit GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.

Verbliebene christliche Zeugnisse am östlichen Mittelmeer.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

Die „Kinder von Musa Dagh“ sind wieder auf der Flucht – Christen und die

„arabische Revolution“ in Syrien Die Umwälzungen in der arabischen Welt hatten für die Christen fatale Folgen. Der folgende Bei-trag zieht Parallelen zwischen den historischen und aktuellen Bedrohungen in Syrien und fragt, was getan werden kann, damit die Christen eine Perspektive in dem Land behalten, in dem sie früher eine bedeutende Minderheit waren.

Mit zwei bis drei Millio-nen Gläubigen war Sy-

rien nach Ägypten das Land mit der größten christlichen Minderheit im Nahen Osten. Die Mehrheit der Christen Syriens waren die rund eine Million Rum-Orthodoxen. Sie sehen sich als Repräsentanten eines arabischen Christentums, das die

islamische Kultur als konstitutiven Rahmen akzeptiert. Zum Ausdruck kommt dieses Selbstverständnis in der Liturgie der Rum-Orthodoxen, die ausschließlich auf Arabisch ge-halten wird.

Die Syrisch-Orthodoxen dagegen legen im Vergleich zu den Rum-Or-thodoxen sehr großen Wert auf die Selbständigkeit ihrer Kirche, was in ihrer Liturgie sichtbar wird, die auf

Aramäisch (Syrisch) gefeiert wird. Dafür wurden sie einst von den Rum-Orthodoxen verfolgt. Viele Syrisch-Orthodoxe, besonders im Norden von Syrien, sind Nachfahren von Flücht-lingen. Nach der Verfolgung und dem Genozid an hunderttausenden Chris-ten aller Konfessionen auf dem Gebiet der heutigen Südosttürkei im Ersten

Weltkrieg hatten viele Überlebende in Syrien Schutz gesucht.

Eine Abspaltung von der syrisch-orthodoxen Kirche stellen die 62.000 Syrianer (syrisch-katholisch) dar, de-ren Kirche uniert ist mit der römisch-katholischen Kirche.

Weitere Konfessionen, deren An-gehörige von Flüchtlingen abstammen und die nun auf syrischem Staatsge-biet leben, sind die etwa 30.000 Mit-

glieder der assyrisch-apostolischen Kirche des Ostens sowie die 15.000 Chaldäer, eine Abspaltung von der apostolischen Kirche des Ostens. Die Chaldäer fühlen sich der römisch-ka-tholischen Kirche zugehörig.

Zudem gibt es noch die Maroni-ten, deren Zahl mit 49.000 Anhängern heute weit geringer ist, als sie es noch

vor Mitte des 19. Jahrhunderts in Sy-rien war. Aufgrund von Spannungen zwischen Drusen und Maroniten sowie Massakern 1866 im Raum Da-maskus flohen viele Maroniten in den Libanon. In Syrien steht die maroni-tische Glaubensgemeinschaft heute im Schatten ihrer großen Geschichte. Die Maroniten wie auch die Chaldäer erkennen den römisch-katholischen Papst als ihr Oberhaupt an. Ursprüng-

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Maronitische Kirche an der syrischen Mittelmeerküste.

Christliches Heiligtum an der syrischen Mittelmeerküste.

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lich war ihre Liturgie syrischsprachig, aber das Arabische hat die aramäische Sprache bis auf wenige Ausnahmen weithin verdrängt.

Hinzu kommen noch rund 25.000 Protestanten, deren Kirchen aus euro-päischen Missionsbemühungen ent-standen, sowie 15.000 Angehörige der römisch-katholischen Kirche.

Was die armenische Minderheit anbetrifft, so war Syrien für Arme-nier bereits seit Jahrhunderten eine Heimat. Das Land diente auch immer als Schutz- und Zufluchtsort. Vor al-lem während des Genozids an den Armeniern und anderen Christen des Osmanischen Reiches zwischen 1915 und 1917 flüchteten viele Armenier vor der türkischen Armee nach Sy-rien. 1918 zählte die armenische Ge-meinde hier schätzungsweise 142.000 Menschen. 2011 lebten 150.000 bis 300.000 Armenier in Syrien, die

meisten in Aleppo. Im Vergleich mit anderen Volksgruppen waren die Ar-menier sehr gut integriert. Unter Inte-gration ist jedoch nicht Assimilation zu verstehen. Die Armenier bildeten innerhalb ihrer Gruppe eigenständi-ge Gemeinden. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen verließen viele Armenier Ende der 1960er Jahre Aleppo und Qamischli. Die ehemali-ge Sowjetrepublik Armenien nahm damals zwar viele syrische Armenier auf, doch die meisten wanderten nach Amerika, Europa und Australien aus.

Geschichte wiederholt sich

100 Jahre nach Beginn des Völker-mordes an den armenischen Christen im Osmanischen Reich im April 1915 werden wieder Armenier und andere Christen wie die Assyrer/Chaldäer/Aramäer Opfer von Genozid, Krieg

und Vertreibung im Nahen Osten: Kämpfer radikal islamistischer Grup-pen wie „Islamischer Staat“ (IS) oder der „al-Nusra-Front“ greifen nahezu jeden Tag Christen in Syrien an.

„Islamisten machen Jagd auf uns Armenier und andere Christen“, be-richtete ein Flüchtling in Deutschland der GfbV, der seine Ehefrau und seine drei Kinder noch in Aleppo hat.

Am 10. Dezember 2014 hat der griechisch-orthodoxe Archimandrit Moses Alkhassi aus dem umkämpften Aleppo für die beiden verschleppten Bischöfe Mor Gregorius Yohanna von der syrisch-orthodoxen Kirche und Boulos Yazigi von der griechisch-or-thodoxen Kirche den Weimarer Men-schenrechtspreis entgegengenommen.  Herr Alkhassi ist einer der letzten christlichen Geistlichen, der nach wie vor in Aleppo ausharrt. Er kümmert sich um die immer kleiner werdende ›

Chaldäischer Friedhof in Aleppo. Foto: Kamals Sido

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

orthodoxe Gemeinschaft, sieht die Bevölkerung leiden und versucht den Menschen in ihrer Not zu hel-fen. Die Lage beschreibt er folgen-dermaßen: „Wir haben sehr wenig Brot und Trinkwasser. Strom haben wir nur selten. Jeden Tag könnten wir von einer Granate getroffen werden.

Dennoch muss ich der letzte Mensch sein, der das Licht in der Kirche aus-macht. Es ist meine Pflicht, bei den Menschen zu bleiben und Ihnen ein wenig Halt zu bieten“. Von den 2,9 Millionen Einwohnern Aleppos wa-ren 80 Prozent sunnitische Muslime, in ihrer Mehrheit Araber, gefolgt von Kurden. Mehr als 250.000 Einwoh-ner waren Christen, das entspricht zwölf Prozent der Stadtbevölkerung. Die Mehrheit von ihnen sprach Ar-

menisch. Die meisten Christen ge-hören der armenisch-apostolischen, syrisch-orthodoxen oder griechisch-orthodoxen Kirche an. Es gibt auch viele Katholiken. Protestanten bilden eine Minderheit. In Aleppo waren bis 2011 etwa 45 Kirchen aktiv und in einigen Bezirken stellten die Chris-

ten die Mehrheit.  Wenn der Bürger-krieg nicht bald beendet wird, wird es wahrscheinlich keine Christen mehr in der Stadt wie auch in ganz Syrien geben.

Die religiösen und ethnischen Minderheiten stellen mindestens 45 Prozent der syrischen Bevölkerung. Unter Assad waren viele – vor allem die Kurden - einer harten Arabisie-rungspolitik ausgesetzt. Der von der arabisch-sunnitischen Bevölkerung

getragene Aufstand im März 2011 hatte auch bei ihnen Hoffnungen geweckt. Jetzt sind sie zwischen die Fronten geraten.

Selbst wenn das Regime unter Ba-schar al-Assad fällt, gibt es Anlass zu befürchten, dass es den Minderheiten kaum besser gehen wird. Denn heute

stehen sie einer neuen Gefahr gegen-über: der totalitären islamistischen Ideologie, die Jihadisten aus der gan-zen Welt mit Gewalt durchsetzen wol-len und die innerhalb der syrischen Opposition teilweise auf fruchtbaren Boden stößt.

Aus dem hoffnungsvollen arabi-schen Frühling ist leider ein regel-rechter Winter geworden. Nicht nur für die Christen, sondern auch für die Minderheiten, die keine Araber und

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Junge Christinnen in Aleppo 2009. Gibt es eine Zukunft für sie?

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

keine Muslime sind. Aber auch für die muslimischen Kurden.

Religiöser Fanatismus

Der politische Islam und seine Bewegungen sind sehr stark und gut organisiert, sie konnten die Revolten gegen die Diktaturen dazu nutzen, an die Macht zu kommen. Und ihr Projekt heißt: Islamisierung der Län-der, der Gesellschaften des Nahen Ostens. Die syrische Gesellschaft ist mehrheitlich muslimisch. Die Isla-misten wollen sie aber noch einmal „islamisieren“ in dem Sinne, dass sie ihr islamistisches Projekt umsetzen wollen, die Scharia. Eine starke me-diale Unterstützung und viel Geld aus den Golfstaaten helfen ihnen da-bei. Leider haben die Islamisten auch Unterstützung aus dem Westen be-kommen. Weil der Westen sogenann-te Schurkenstaaten im Nahen Osten um jeden Preis beseitigen wollte, hat er in Kauf genommen, dass vor allem Minderheiten unter Bürgerkrieg und Destabilisierung leiden.

Oft wird behauptet, dass eine frü-here militärische Intervention des Westens gegen Assad die Radikalisie-rung in Syrien hätte verhindern kön-nen. Das ist falsch. Das Beispiel Irak, aber auch Libyen verdeutlichen das. Die Amerikaner und andere NATO-Länder sind in den Irak einmarschiert. Der Diktator Saddam Hussein wurde gestürzt, ein notwendiger Schritt, aber für die Christen im Irak bedeutete dies das Ende. Wenn sie dort noch leben, dann tun sie das versteckt. Irakisch-Kurdistan ist eine Ausnahme, dort ist ein Leben als Christ noch möglich. Das zeigt, dass man ein Konzept ha-ben muss, bevor man einen Krieg führt, einmal abgesehen davon, dass man keinen einzigen Krieg führen sollte. Es braucht ein demokratisches Konzept, Föderalismus, Dezentralisie-rung, vollständige Glaubensfreiheit.

Was aber tut der Westen? Er unter-stützt pro-saudische Kräfte, welche die Scharia in der Gesetzgebung veran-kern – was bedeutet, dass Christen das Land verlassen müssen, wenn sie sich retten wollen. Bisweilen ist der Vor-wurf zu hören, Christen würden die

Diktaturen unterstützen. Das stimmt nicht. Die Christen wollen einfach in ihrer Heimat leben. Wenn sie nun se-hen, dass die Opposition keine Alter-native bietet, islamistisch ist und die Scharia ihr einziger Maßstab, dann ist ihnen ein Assad lieber als eine is-lamistische Ordnung, in der Christen keinen Platz haben.

„Ein Syrien, in dem keine Armeni-er, keine Kurden, keine Orthodoxen, keine Katholiken, keine Drusen, keine Alaviten mehr leben, ist kein Syrien mehr“, sagt der syrisch-kurdische Po-litiker Muhiddin Sheikhali aus Afrin. Er vertritt damit die Meinung der Mehrheit der Syrer. Saudi-Arabien war auch einmal eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft, aber was sehen wir dort? Nur noch die Far-be des Islam.

Der Anspruch der modernen Welt dagegen ist multikulturell, multireligi-ös und multiethnisch.

Herausforderungen

Was können Europa und die USA tun? Sie müssen Flagge zeigen. Chris-ten müssen vollständige Glaubensfrei-heit haben und zwar überall, wo sie zuhause sind: im Irak, in Syrien, im Libanon, in Ägypten, in Libyen. Man muss sie unterstützen und nicht aus parteipolitischen und geopolitischen Interessen heraus eine bestimmte Bewegung oder Politik wie den po-litischen Islam. Um seinerzeit die kommunistische Sowjetunion in Af-ghanistan zu bekämpfen, hat man die dunkelsten Kräfte des Landes benützt. Das darf sich im Nahen Osten nicht wiederholen. Glaubensfreiheit ist ein Menschenrecht. Durch die Bewaff-nung der syrischen Rebellen wird die-ses Recht nicht verwirklicht. Demo-kratische Projekte und Bewegungen müssen unterstützt werden, in keinem Fall der politische Islam.

Abschließend möchte ich auf das Schicksal der syrischen Armenier in Kassab eingehen. In den frühen Morgenstunden des 21. März 2014 griffen islamistische Gruppen der sy-rischen Opposition die kleine Stadt mit ihren 3500 Einwohnern an. Sie liegt auf einer Höhe von 750 Metern

nur drei  Kilometer südlich der tür-kischen Grenze und sieben  Kilome-ter vom Mittelmeer entfernt. Rund 670 christliche Familien, allen voran Armenier, mussten fliehen. Einige blieben zurück, wurden als Geiseln genommen und gefoltert.

Das kleine Städtchen war zu Frie-denszeiten ein beliebtes Ziel von Millionen Syrern und Ausländern. Die Bevölkerung ist seit mehr als tau-send Jahren mehrheitlich  armenisch. Hier sind viele bekannte armenische Persönlichkeiten geboren. Zu diesen gehören der Oberste Katholikos der armenischen apostolischen Kirche, Karekin Sakissian,  und der arme-nisch-katholische Bischof von Osteu-ropa, Vartan Kechichian.

Nur wenige Kilometer nördlich von Kassab erhebt sich der „Musa Dagh“, ein Berg, auf den sich 1915 hunderte Armenier gerettet hatten. Sie leisteten den türkischen Truppen verzweifelt Widerstand, bis ein fran-zösisches Kriegsschiff das Schlimms-te verhinderte und sie aufnahm. Der Schriftsteller Franz Werfel hat in seinem historischen Roman „Die vierzig Tage von Musa Dagh“ den Überlebenden ein Denkmal gesetzt. Ich bezeichne die armenischen Ein-wohner von Kassab als die „Kinder von Musa Dagh“ und frage: Wer wird jetzt den „Kindern von Musa Dagh“ zu Hilfe eilen?

Der türkische Staat unter Recep Tayyip Erdogan unterstützt die isla-mistischen Kämpfer in Syrien. Herr Erdogan leugnet sowohl die aktuelle Verfolgung der Armenier in Syrien als auch den Genozid von 1915, obwohl dieser auf höchster Ebene in Istanbul geplant und dann mit Unterstützung von Teilen der muslimischen Bevöl-kerung durchgeführt wurde. Durch den blutigen Bürgerkrieg in Syrien, der schon mindestens 300.000 Opfer gefordert hat, droht der 2000-jähri-gen Geschichte und Kultur der dort ansässigen christlichen Gemeinschaft der Untergang. Mindestens die Hälfte der früher etwa 150.000 Armenier hat das Land inzwischen verlassen. Viele flüchteten in die Republik Armenien, andere kommen nach Europa oder ge-hen in die USA.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

Die arabischsprachigen Minderheiten der Türkei

Dass es in der Türkei auch arabischsprachige Minderheiten gibt, wird kaum wahrgenommen; we-der von der Türkei selbst noch vom Ausland. Ihr Gebiet erstreckt sich im Westen von Mersin am Mittelmeer bis Siirt östlich des Tigris. Sie genießen keinerlei Minderheitenstatus und haben auch kein Recht auf Arabischunterricht in der Schule. Ihre Zahl dürfte zwischen 1,5 und zwei Millionen liegen. Die meisten sind sunnitische Muslime und arabische Alawiten (Nusayrier). Der folgende Beitrag befasst sich in erster Linie mit den heute nur noch sehr wenigen christlichen Arabern, die wie alle anderen christlichen Gruppen Opfer der Verbrechen von 1915 und danach wurden.

Die arabischsprachigen Juden

Es gibt in der Türkei noch eine Stadt mit einer arabischsprachigen jüdischen Gemeinde und das ist Antakya im äu-ßersten Süden an der Grenze zu Syrien. Ihre Sprecherzahl dürfte inzwischen auf unter 100 Personen gesunken sein. In Iskenderun lebten in den 90er Jah-ren des vorigen Jahrhunderts noch 18 Juden. Inzwischen haben alle Juden die Stadt verlassen.

Zu Beginn des vorigen Jahrhun-derts lebten noch größere jüdische Gemeinden in Urfa, Siverek (Provinz

Urfa), Diyarbakır und Çermik (Pro-vinz Diyarbakır). Die Auswanderung nach Israel begann jedoch schon wäh-rend der britischen Mandatszeit. Nach der Gründung des Staates Israel wan-derten diese vier Gemeinden dorthin

aus und ließen sich vorwiegend in Je-rusalem nieder. Die jüdischen Bewoh-ner der Grenzstadt Nusaybin in der Provinz Mardin verließen zusammen mit den Christen ihre Heimat in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Sie siedelten auf der anderen Seite der Grenze in der neu gegründeten syri-schen Stadt Qamishli (Qāmǝšli). Bis 1980 wanderten alle Juden von Qa-mishli nach Israel aus.1)

Die arabischsprachigen Christen

Von den einst blühenden christ-lichen Gemeinden der Türkei mit arabischer Muttersprache sind heute nur winzige Gruppen übriggeblieben. Damit steht neben dem aramäischen Christentum auch das arabische Chris-tentum der Türkei kurz vor seinem Ende. Es lassen sich zwei Gruppen un-terscheiden:

1) Die arabischsprachigen Christen der Provinz Hatay am Mittelmeer, die Dialekte des syrisch-paläs-tinensischen Typs sprechen. Sie sind überwiegend griechisch-or-thodox und bezeichnen sich selbst als Araber. Arabische Christen leben in der Provinzhauptstadt Antakya und in der bedeuten-den Hafenstadt Iskenderun, in den beiden Kreisstädten Uluçınar (arab. ‘Arsūz) und Samandağı (arab. Swaydī) sowie in den bei-den Dörfern Ṣūrī (türk. Sarılar,

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Panorama der Stadt Antakya (Antiochia): Heimat

der letzten Arabisch sprechenden Christen.

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heute ein Stadtteil von Altınözü) und Ǧnaydo (türk. Tokaçlıköy). In den Städten leben die Christen bis heute mit der arabischsprachigen alawitischen Mehrheit problem-los Seite an Seite. Dagegen haben die arabischsprachigen Christen die von Türken bewohnte Stadt Yayladağı verlassen. Die letzten sieben Familien dieser christlichen Gemeinde haben sich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Berlin, aber auch in Amerika und Australien niedergelassen, wo bereits früher ausgewanderte Familien lebten. Die christlichen Dörfer des Hatay sind heute weit-gehend verlassen und werden nur noch von wenigen Familien be-wohnt. 1975 lebten noch 5.000 Christen in dieser Provinz.2) Mit Ausnahme von Samandağı, wo es vielleicht noch 2.000 Christen gibt, ist ihre Zahl in den anderen Or-ten von Hatay auf wenige hundert

Personen gesunken. Außerhalb der Provinz Hatay gibt es noch etwa 200 christliche Familien in Mersin, deren Vorfahren im 19. Jahrhun-dert aus dem Hatay, aus Syrien und dem Libanon eingewandert sind.3)

2) Die Dialekte der arabischsprachigen Christen der Provinzen Mardin und Diyarbakır gehören zu den anatolischen Qǝltu-Dialekten, die wiederum zu den mesopotami-schen Qǝltu-Dialekten gehören.4)

Die meisten Christen in diesen Pro-vinzen sind syrisch-orthodox und sprechen überwiegend aramäische Dialekte. In den Provinzhaupt-städten Mardin und Diyarbakır sowie in zwei Dörfern leben aber auch arabischsprachige Christen, die zur syrisch-orthodoxen Kirche gehören. Von den einst blühenden Gemeinden sind auch hier nur noch wenige Familien übrigge-blieben. In der Provinz Diyarbakır

sprachen nur Christen und Juden Arabisch. Die christlichen Dörfer in der Umgebung von Diyarbakır lagen zu nahe an den armenischen Siedlungsgebieten und wurden während der Armenierverfolgung dem Erdboden gleich gemacht. Die Dialekte diese Dörfer sind nicht bekannt, da es kaum Überlebende gegeben hat.5)Nur aus dem Dorf Ka‘bīye gelang einigen Einwohnern die Flucht nach Diyarbakır.6) Vie-le arabischsprachige Christen von Diyarbakır überlebten im Gegen-satz zur viel größeren armenischen Gemeinde den Genozid, weil sich die Aggression vor allem zu Beginn der Massaker hauptsächlich gegen die armenische Bevölkerung rich-tete. Die arabischen Christen verlie-ßen jedoch in den folgenden Jahren fast alle die Stadt.

In Mardin leben die Christen zu-sammen mit der arabischsprachigen ›

Bis zur Zeit von Atatürk galt in der Türkei die arabische Schrift, hier ein historisches Relikt aus der Provinz Hatay.

Foto: marmaduk/Flickr BY-ND 2.0

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muslimischen Mehrheit. Während der Dialekt der Christen von Mardin sich kaum von dem der Muslime un-terscheidet, weichen die Dialekte in den beiden christlichen Dörfern im Ṭūr ‘Abdīn, Qǝllǝṯ und Āzex, stark von denen der muslimischen Dörfer ab. Auch in der Provinz Siirt gab es zu Beginn des vorigen Jahrhunderts blühende christliche Gemeinden in den Städten Siirt und Cizre. Diese Gemeinden sind während des Ersten Weltkriegs vollkommen untergegan-gen. Da die Mehrheit der Christen in der Osttürkei Aramäisch als Mutter-sprache spricht, und da ein mittelara-mäischer Dialekt (das Altsyrische) bis heute als Kirchensprache verwendet wird, bezeichnen sich auch die ara-bischsprachigen Christen dieser Dör-fer als Syrer (arabisch Suryān, aramä-isch Suryoye).

Die arabischen Dialekte der Chris-ten und Juden sind im vergangen Jahr-hundert fast vollkommen verschwun-

den. Von den wenigen verbliebenen Sprechern sind die meisten im Grei-senalter und werden in den nächsten Jahren sterben. Die jüngeren Christen

werden nach Europa auswandern, die Juden nach Israel. Das Ende des christlichen und jüdischen Arabisch in der Türkei ist nicht mehr fern.

1) Jastrow 1989, S. 156f. 2) Andrews 2002, S. 154. Die Zahl der arabischen Christen in der Provinz Hatay dürfte zur Zeit

des französischen Mandats wesentlich höher gewesen sein. Als das Gebiet 1938 an die Türkei übergeben wurde, flüchteten die meisten Christen nach Syrien.

3) Prochźaka 2002a, S. 2.4) Zu den Qǝltu-Dialekten s. Jastrow 1978. 5) Namentlich bekannt sind nur noch die vier christlichen Dörfer Qarabaš, Čarūxīye, Qǝṭǝrbǝl und

Tǝlġāz.6) Dialekttexte von Überlebenden aus Ka‘bīye finden sich bei Jastrow 1981, S. 309-371. Einige aus-

führliche Texte berichten vom Untergang des Dorfes..

Literaturverzeichnis- ANSCHÜTZ (2002) Helga: Christliche Gruppen in der Türkei. In: ANDREWS, Peter Alford:

Ethnic Groups in the Republic of Turkey. Wiesbaden, (Harrassowitz) S. 454-472.- JASTROW (1981) Otto: Die mesopotamisch-arabischen Qǝltu-Dialekten, Bd. Wiesbaden

(Steiner).- JASTROW (1989) Otto: The Judeo-Arabic Dialect of Nusaybin/Qāmǝšli. In: Studia linguistica

et orientalia memoriae Haim Blanc didicata. Ed. by Paul Wexler, u. a. Wiesbaden (Harrasso-witz) S. 156-169.

- PROCHÀZKA (2002a) Stephan: The Bedouin Arabic Dialects of Urfa.: In: AIDA 5th Confe-rence Proceedings, ed. by Ferrando and Juan José Sánchez Sandoval, Cadiz S. 75-88.

Luftaufnahme der Stadt Antakya (Antiochia). Foto: Jacqueline Poggi BY-NC-ND 2.0

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

„Ein bisschen unsichtbar“: Juden in der Türkei

Die Juden in der Türkei wurden nicht durch einen systematischen Völkermord, sondern anhalten-de Diskriminierung, Einschüchterung und gelegentliche, lokal begrenzte Pogrome außer Landes getrieben. Wer bleibt, tut gut daran, „ein bisschen unsichtbar zu sein.“

Im heutigen Staatsgebiet der Re-publik Türkei lebten schon in

der Antike Juden, insbesondere aber seit byzantinischer Zeit. Während des Ersten Weltkriegs erlitt die jüdische Be-völkerung des damals zur osmanischen Provinz Syrien gehörenden Palästina unter der Herrschaft des jungtürki-schen Regimes Ittihat ve Terakki Cemi-

yeti Diskriminierung und Verfolgung. In einer während der Zwischenkriegs-zeit veröffentlichten Geschichte der zi-onistischen Bewegung heißt es:

„Wäre Palästina nicht Ende 1917 durch die Engländer befreit worden, der jüdische Jischub 1) wäre durch Dje-mal [Anm.: General Djemal Pascha,

einer der Hauptverantwortlichen am Genozid] ausgerottet worden. Er war nach Kriegsende auf die Hälfte des Standes von 1914, auf 55.000 Seelen gesunken. (...)“ 2)

Der weitere Rückgang der jüdischen Gemeinschaft um mehr als vier Fünftel – von 100.000 auf 17.000 - seit Grün-dung der Republik geht in erster Linie

auf Xenophobie und Antisemitismus zurück. Den Juden wurde vorgeworfen, kein akzentfreies Türkisch zu sprechen, für das türkische Vaterland in keinen Krieg gezogen zu sein, nicht loyal ge-genüber dem Staat zu stehen sowie die Türkei auszubeuten. 1934 kam es in Edirne zu einem Pogrom, der die Flucht

von 10.000 thrakischen Juden auslöste. 1942 beschloss die Regierung eine Ver-mögenssteuer, wobei Juden und ande-ren Nichtmuslimen ein weit höherer Steuersatz auferlegt wurde als Musli-men. Zahlungsunfähige Nicht-Muslime wurden in ein Arbeitslager deportiert.

Zwei antisemitische Ideologen jener Zeit, Cevat Rifat Atilhan und

Nihal Atsiz, prägten die islamische und die nationalistische Bewegung. Atsiz wurde zum Vordenker der Par-tei der Nationalistischen Bewegung (MHP; „Grauwölfe“), Atilhan wandte sich dem politischen Islam zu.

Schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges weigerte sich die Türkei,

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Kurdisch-israelischer Protest gegen die Türkei vor der türkischen Botschaft in Tel Aviv.

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ausländischen Juden Visa zu ertei-len; zum Glück hielten sich manche türkische Diplomaten nicht daran. So ehrt die zentrale Gedenkstätte Jad Waschem in Israel den türkischen Konsul zu Rhodos, Selahattin Ülkü-men, als Gerechten unter den Völkern, weil er Juden die türkische Staatszuge-hörigkeit verlieh und somit vor der Deportation und Vernichtung rette-te; dennoch wurden am 23. Juli 1944 1.604 Juden von dieser Mittelmeerin-sel deportiert. Im Holocaust kamen auch Juden türkischer Staatsangehö-rigkeit um; 1.282 der 67.488 Perso-nen, die vom Sammellager Drancy in verschiedene KZ eingeliefert wurden, waren türkische Staatsbürger.

Antisemitische Propaganda

Der Antisemitismus der Gegen-wart hängt wesentlich mit dem Kon-flikt zwischen Israel und Palästina

zusammen. Nach jeder Konfrontati-on zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern steigt die Zahl anti-semitischer Artikel in der islamisti-schen Presse, organisieren das linke ebenso wie das ultrarechte Spektrum Demonstrationen, auf denen israeli-sche Fahnen verbrannt werden. Die langjährige Leitfigur des politischen Islams, Necmettin Erbakan, warf "den Juden“ die Spaltung des türkischen Volkes in zwei verfeindete ideologi-sche Lager vor. Antikommunismus und Antisemitismus vereinen Natio-nalisten und Islamisten. Beide mach-ten konvertierte und angeblich „heim-liche“ Juden (türk. Dönme) für die Verbreitung sozialistischer und kom-munistischer Ideen verantwortlich.

Zum wichtigsten Handbuch der Islamisten wurden die Protokolle der Weisen von Zion, im ultranationa-listischen Spektrum kam Adolf Hit-lers »Mein Kampf« (türk. „Kavgam“)

hinzu. Zwischen 1934 und 2003 er-schienen die »Protokolle« 97 Mal, die Übersetzung von »Mein Kampf« brachte es seit der türkischen Erst-ausgabe 1939 auf 33 Ausgaben. Das Buch ist äußerst wohlfeil zu haben und wird von den Jugendgruppen der MHP, von der Genc Partisi („Jugend-partei“) sowie auf Polizeiakademien gern gelesen.

Regierungschefs Erdoğan lautstar-ke Parteinahme für die Palästinenser im Januar 2009 haben die Ängste vie-ler türkischer Juden neu belebt, ob-wohl die Türkei 1948 Israel als einer der ersten Staaten offiziell anerkannt hat. Die Erinnerung an den 15. No-vember 2003 ist noch frisch, als das Al Qaida-Mitglied Gökhan Elatuntas aus Bingöl einen mit Sprengstoff be-ladenen Laster in der Straße unweit der Newe Schalom-Synagoge („Oase des Friedens“, Istanbul) zündete, wäh-rend sein Komplize Meşut Cabuk ei-

Gedenkfeier in Yad Vashem für den türkischen Konsul Selehattin Ülkümen, der Tausende Juden gerettet hat.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

nen zweiten Bombenwagen vor der Beth-Israel-Synagoge im benachbar-ten Stadtteil Şişli in die Luft jagte, um die Juden der Türkei außer Landes zu treiben.

Öffentliche Äußerungen türkischer Staatspolitiker sind oft unverantwort-lich antijüdisch. Als sich im Sommer 2013 Proteste gegen Erdogans Regie-rung vom Gezi Park in die gesamte Türkei ausbreiteten, machte der Stell-vertretende Ministerpräsident Besir Atalay dafür die „jüdische Diaspora“ verantwortlich, weil sie „eifersüchtig auf das Wachstum der Türkei“ sei. Die antiisraelische und antijüdische Rhe-torik des früheren Ministerpräsiden-ten und jetzigen Staatschefs Erdogan treibt seit fast zwei Jahrzehnten Juden außer Landes.

Die jüngste antijüdische Politiker-Äußerung erfolgte am 21.11.2014 durch den Gouverneur von Edirne, Dursun Ali Şahin, der mit der Um-wandlung der örtlichen Synagoge in ein Museum drohte; sie gilt als größte Europas, doch statt der einst 13.000 jüdischen Einwohner (1923) zählte man bereits 1998 nur noch drei Ju-den in der ostthrakischen Hauptstadt. Gouverneur Şahin: „Während diese Banditen (Anm.: die israelischen Si-cherheitskräfte) den Wind des Krieges in die Al-Aqsa-Moschee tragen und Muslime abschlachten, errichten wir ihre Synagogen. Ich äußere dies mit großem Hassgefühl. Wir halten ihre Friedhöfe in Ordnung. Aber die Syna-goge hier wird nur als Museum regis-triert werden und innen wird es keine Ausstellungen geben.“

Obwohl Şahin sich später öffentlich entschuldigte und die Umwandlung der Moschee in ein Museum zurück-genommen wurde, löste der Vorfall eine breite Debatte in der Türkei und ihrer Diaspora aus. Der in Frankfurt/Main registrierte Verein der Völker-mordgegner warf linken und liberalen Wortführern in der Türkei vor, unter dem Deckmantel des Antizionismus ähnliche Positionen wie der von ihnen kritisierte Gouverneur zu vertreten:

„Der ‚Anti-Zionismus‘ ist heutzuta-ge eine Hülle, in der jegliche Form des Antisemitismus zum Ausdruck kommt und hinter der sich die gegen Israel und

das jüdische Volk gerichtete Desinfor-mation, Verleumdung und Komplott-Theorien verbergen. Würde man die Anhänger dieser antisemitischen Be-wegung fragen, dann wäre keiner von ihnen ein Feind der Juden! Sie würden sich stattdessen als aktive ‚Anti-Zionis-ten‘ bezeichnen. (…) Der ‚Anti-Zionis-mus‘ ist das Tuch, das über die zu Ste-

reotypen gewordenen antisemitischen Gedanken geworfen wird.“

Ischak Alaton, ein achtzigjähriger Geschäftsmann, fasst die Lage mit den Worten zusammen: „Das Bes-te für einen Juden in der Türkei von heute ist es, sich ruhig und schweig-sam zu verhalten und ein bisschen unsichtbar.“ 3)

1) Jischub (hebr.; auch: Jischuw): wörtlich „Siedlung“ (auch „Stadt“ oder „Dorf “), im Sinne des zionistischen Siedlungsgedankens.

2) Böhm, Adolf: Die zionistische Bewegung. Band 1: Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges. 2., erweiterte Auflage. Tel Aviv: Hozaah Ivrith Co. Ltd., 1935, Seite 643 ff.

3) Krajeski, Jenna: In Trouble, Turkey’s Leader Blames Israel—Raising Tension for His Country’s Jews. „Tablet _ A New Read for Jewish Life“, 6 January 2014, http://tabletmag.com/jewish-news-and-politics/157689/istanbul-jews-erdogan-problem

Gedenkstein für die 1944 deportierte Juden in der Altstadt von Rhodos.

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Armenien zwischen historischer Bürde und aktuellen Konflikten

Seit 1991 gibt es erstmals in der Geschichte einen international anerkannten armenischen Natio-nalstaat, in dem knapp ein Drittel der weltweit etwa zehn Millionen Armenier leben. Neben dem traumatischen historischen Erbe befindet sich Armenien in viele politische und wirtschaftliche Konflikte verwickelt, wie der folgende Beitrag beleuchtet.

Der ungarische Schriftsteller Bela Hamvas fasst in Worte,

wie ein Trauma wirkt – auch in einer großen zeitlichen Distanz – bewusst und unbewusst. Die Erinnerung an den Völkermord ist einer der iden-titätsstiftenden Faktoren, die die auf über 100 verschiedene Länder ver-teilten Armenier, die Nachfahren der Opfer, vereint. Verstärkt wurde dies noch durch die lange Geschichte der Verleugnung und des Verschweigens des Genozids durch die Türkei, die Sowjetunion und viele andere Staaten.

Gerade die Diasporagemeinden und ihre Organisationen, die ja mehr

als die Armenier in Armeniern der Diskussion um die Anerkennung ausgesetzt sind und sich häufig für diese engagieren, befinden sich in ei-nem Spannungsverhältnis zwischen dem Wissen um den Genozid und seine Folgen und die Verleugnung in den Staaten, in denen sie leben. Dia-sporagemeinden setzen sich für die Kommunikation zwischen ihren Mit-gliedern und dem Residenzland ein, treten für die Interessen der Mitglie-der und die Verständigung zwischen Herkunfts- und Residenzland ein. Hierbei liegt in der armenischen Di-aspora ein besonderes Augenmerk auf

der Durchsetzung der Anerkennung des Völkermordes weltweit. Das Le-ben in der Diaspora verändert immer auch Traditionen, Meinungen und Le-bensformen – das kann dazu führen, dass diese Traditionen strenger befolgt werden als im Heimatland, oder auch zur weitgehenden Assimilation. Das gemeinsame Ziel und die kollektive Erinnerungskultur, die auf den Völ-kermord zurückgeht, wirken in den armenischen Exilgemeinden zusam-menhaltend und identitätsstiftend. Allein die Fülle der Veranstaltungen zum Thema des Genozids, die für den Jahrestag von der armenischen

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Ein Genozid-Mahnmal in Armenien.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

Gemeinde in Deutschland organi-siert werden, zeigt die Wichtigkeit der Erinnerung und auch des Öffentlich-Machens dieses Themas.

Gerade durch finanzielle Unter-stützung und internationale Kontakte hat die Diaspora einen großen Einfluss auf die armenische Politik. „Es ist kein Geheimnis, dass es ein gewisses Miss-trauen gibt zwischen den Armeniern vor Ort und denen im Ausland. Die Diaspora-Armenier wollen die Ergeb-nisse ihrer Investitionen sehen. Die Diaspora spielt also eher die Rolle des Investors als die des Partners“, so Armi-ne Sadikyan, Mitarbeiterin der Organi-sation Helsinki Citizen's Assembly Für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Region spielte die Diaspora in der Ver-gangenheit eine große Rolle, indem sie bei Projekten wie den Ausbau der In-frastruktur finanzielle Unterstützung bot. Durch die Abhängigkeit Arme-niens von der Diaspora konnte diese auch politisch Einfluss nehmen. In den Verhandlungen mit der Türkei über eine Wiederaufnahme der Handelsbe-ziehungen verlangte die Diaspora die Anerkennung des Völkermordes von der Türkei als Vorbedingung. Jedoch sind in letzter Zeit die Investitionen und damit auch der Einfluss auf Politik und Wirtschaft gesunken. Der jährli-che Spendenbetrag des All-Armenian-Fund etwa ist von 35,9 Millionen US $ 2008 auf 12,2 Millionen US $ 2011 ge-sunken. Als Gründe für diesen Rück-gang nennen Experten wie Sadikyan das Misstrauen in die armenischen Be-hörden, die weit verbreitete Korruption und Oligarchie.

Minderheiten in Armenien

Statistischen Angaben zufolge sind von den 3.015.500 Einwohnern Arme-niens ungefähr 96 Prozent ethnische Armenier. Die restlichen vier Prozent machen Minderheiten wie Yeziden, Russen, Kurden, Assyrer, Griechen, Ukrainer und Juden aus. Früher gab es auch eine große aserbaidschani-sche Gemeinde, die jedoch in Folge des Berg-Karabach-Konfliktes zum größten Teil vertrieben wurde. Trotz der eigenen bitteren Erfahrung als Minderheit in anderen Staaten, ist die

Minderheitenpolitik der armenischen Regierung selbst kritikwürdig. Für die yezidische Minderheit, die größte des Landes, stellt die mangelnde Un-terstützung Probleme dar. Gerade im Schulwesen wären Gelder für yezidi-sche Lehrer und Schulbücher nötig. Viele Yeziden in Armenien leben auf

dem Land und klagen immer wieder über verschiedene Formen der Diskri-minierung: Bei der postsozialistischen Bodenprivatisierung kam es seit 1991 besonders zu Streitigkeiten über die

Verteilung des Landbesitzes. Yeziden sahen sich administrativ benachtei-ligt und werfen örtlichen Behörden sowie reichen Landbesitzern bis heu-

te vor, ihnen Weide- und Ackerland zu rauben. Die bereits angesproche-ne wichtige Rolle der Kirche führt zur Dominanz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften, anstatt die Toleranz und das friedliche Zusam-menleben unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften zu fördern. Im 1997

geänderten Religionsgesetz wurde die armenisch-apostolische Kirche zur Nationalkirche erklärt und somit trotz der proklamierten Religions-freiheit privilegiert. „Der Einfluss der

Armenischen Apostolischen Kirche ist weniger auf ihre spirituellen und religiösen Aktivitäten zurückzuführen als auf ihre Verbindungen zu den öf-fentlichen Behörden. Vor allem in den letzten sechs bis sieben Jahren ist die öffentliche Wahrnehmung der Kirche, dass sie die gleichen korrupten und ›

„Etwas Schreckliches ist geschehen [...]. Man sollte nicht glauben, dass dieses Schreckliche [...] spurlos verschwunden ist.

Vielleicht ist es unbemerkt in unserem Sein eingeschlossen, und wir wissen nichts davon, weil wir es ständig begehen.“

(Béla Hamvas)

Das Kloster Noravank.

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oligarchischen Strukturen aufweist wie die Behörden“, sagt Artur Sakunts, Vorsitzender der Helsinki Citizen’s Assembly. Die Kirche versuche, ihre monarchische Stellung in Armenien zu festigen und zu zeigen, dass nur sie religiöser Vertreter Armeniens sein kann.

Die Beziehungen Armeniens zur Türkei sind aus historischen Gründen und aufgrund der fortwährenden Wei-gerung der Türkei, den Völkermord anzuerkennen, sehr angespannt. Die Beziehung zu Aserbaidschan ist vom Konflikt um die Republik Berg-Kara-bach, auf die beide Parteien Anspruch erheben, geprägt. Die Türkei stellt sich in dem Konflikt auf die Seite Aserbai-dschans, was von vielen Armeniern als eine Fortsetzung der Verbrechen, die von türkischer Seite an Armeni-en begangen wurden, gesehen wird. Seit dem Beginn des Konfliktes gibt es zwischen der Türkei und Armenien keinerlei diplomatische Beziehungen

mehr. Dies wirkt sich negativ auf die Wirtschaft Armeniens aus.

Berg-Karabach-Konflikt

Der Berg-Karabach-Konflikt ist ein Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach im Südkaukasus. 1919 wur-de das Gebiet in einem provisorischen Abkommen Aserbaidschan zugestan-den. 1923, während der Sowjetzeit, wurde es zu einem Autonomen Gebiet der aserbaidschanischen SSR, aller-dings bestand der Großteil der Bevöl-kerung aus ethnischen Armeniern.

In den 60er Jahren wurde in drei Memoranden die sehr beschränkte Autonomie beklagt und der Anschluss an Armenien gefordert, jedoch ohne Erfolg. 1988 kam es nach einem wei-teren gescheiterten Memorandum zu Demonstrationen in Berg-Karabach und Teilen Armeniens, infolge derer mehrere tausend Aseri aus Armenien

vertrieben wurden. Daraufhin kam es auch in Aserbaidschan zu blutigen Auseinandersetzungen und Pogromen an den dort lebenden Armeniern. In der folgenden Zeit nahm die Gewalt massiv zu: Die Menschen flohen vor Pogromen oder wurden brutal ver-trieben. Friedensverhandlungen, die von Russland und Kasachstan initi-iert wurden, scheiterten. 1991 erklär-te sich Berg-Karabach dann zu einer autonomen Republik. In den Jahren 1992-1994 eskalierte der Konflikt wei-ter und es kam zu weiteren Massen-morden auf beiden Seiten. Im Verlauf des Krieges besetzten die Truppen der Republik Berg-Karabach zusammen mit der armenischen Armee große Teile des Gebietes und auch einige aserbaidschanische Bezirke.

Im Krieg und den vorhergehen-den Auseinandersetzungen starben schätzungsweise insgesamt zwischen 25.000 und 50.000 Menschen, über 1,1 Millionen wurden vertrieben. Die

Blick auf den Ararat. Foto: Khor Virao/Flickr BY 2.0

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

Spannungen zwischen den Ländern konnten bis heute nicht gelockert wer-den und es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen an den Gren-zen. Beide Seiten nehmen eine kom-promisslose Haltung ein und beharren auf ihren Forderungen. Die Unterstüt-zung der Unabhängigkeitsbewegung in Berg-Karabach ist bis heute eine identitätsfestigende Aufgabe für viele Armenier – sowohl in Armenien, als auch in der Diaspora.

Das russisch-armenische Verhältnis

Die Russische Föderation spielt in dem Berg-Karabach-Konflikt eine ambivalente Rolle, die nicht zum Frie-den, sondern zur Verlängerung des Konflikts führt. Einerseits liefert sie den Großteil der aserbaidschanischen Waffen, andererseits gibt sie sich als militärische Schutzmacht Armeniens aus und liefert auch Armenien Waf-fen. Russland wird vorgeworfen, den Konflikt dazu zu benutzen, seinen Einfluss in der Region zu verstärken. Armenien zeigt sich größtenteils ent-täuscht über diese Doppelmoral Russ-lands: „Während Russland an seine eigenen wirtschaftlichen Interessen denkt, wenn es Waffen nach Aserbai-dschan verkauft, sollte es auch unsere Interessen berücksichtigen, aber das passiert nicht“, klagt Hakobian, Abge-ordneter der regierenden Republika-nischen Partei Armeniens.

Traditionell sind die Beziehungen zwischen Russland und Armenien sehr gut. Dennoch orientierte sich Armenien lange Zeit eher in Richtung des Westens. Aufgrund von Verhand-lungen mit der EU über ein Assozi-ierungsabkommen erhöhte Russland die Gaspreise für Armenien und setzte die Regierung somit stark un-ter Druck. Im September 2013 dann erklärte Armenien entgegen vieler Proteste den Beitritt in die Eurasische Zollunion (EEU), der seit Januar 2015 vollzogen ist.

Auch in der Ukraine-Frage stellt sich Armenien auf die Seite Russlands. Die

einzige Militärbasis Russlands im Süd-kaukasus befindet sich in Armenien, demnach ist die militärische Koopera-tion der beiden Länder sehr eng. Russi-sche Streitkräfte bewachen die Grenzen zur Türkei und zum Iran und schützen auch den armenischen Luftraum.

Die wirtschaftliche, strukturelle, energetische und militärische Ab-hängigkeit Armeniens von Russland gestaltet eine Annäherung an die EU schwierig. Entgegen der Hoffnung, dass die Sanktionen der EU armeni-sche Exporte nach Russland erhöhen würden, ist das Handelsvolumen eher gefallen. Eurasianet berichtet, dass schon jetzt mehr in die EU exportiert

wird als in EEU-Staaten. (http://www.eurasianet.org/node/71986).

Menschenrechte in Armenien

Die politische Entwicklung in Ar-menien bereitet Kritikern auch im Hinblick auf die menschenrechtliche Lage Sorgen. Korruption und Nepo-tismus sind Teile dieses Teufelskreises aus Armut, Unterdrückung und poli-tischer Instabilität. „Natürlich können wir nicht bestreiten, dass wir schon immer Probleme mit verantwortungs-bewusster Regierungsführung, Men-

schenrechten und demokratischen, fairen Wahlen hatten, doch die Un-terzeichnung des EU-Assoziierungs-abkommens bedeutete die Hoffnung, dass Armenien seine demokratischen Institutionen ausbauen und die Wirt-schaft ankurbeln kann, aber das ist leider nicht passiert“, beschreibt Sady-kian die Enttäuschung über den Kurs-wechsel der Regierung. Sie bezeichnet die momentane politische Situation in Armenien als eine „Rückkehr zur So-wjetunion“, da Russland als übergeord-nete Instanz die Entscheidungen trifft. Sadikyan wirft dem armenischen Prä-sidenten Serzh Sargsyan vor, die Ernst-haftigkeit dieses Themas nicht wahrzu-

nehmen und die Macht über das Land in Russlands Hände übertragen zu ha-ben, um seinen Einfluss zu behalten.

Ein Beispiel für die potentielle Ent-wicklung hin zu einer Unterdrückung ziviler Stimmen ist die „Warnung“ des russischen Botschafters an die arme-nische Regierung, dass internationale Nichtregierungsorganisationen einen Keil zwischen Russland und Arme-nien treiben könnten. Er verwies auf Methoden wie das russische Gesetz, das Organisationen, die Geld aus dem Ausland beziehen, als „ausländische Agenten“ behandelt.

Viele alte Klöster wurden in abgelegenen Bergregionen gebaut.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

Hundert Jahre in Vergessenheit – Eine kritische

BestandsaufnahmeDas Trauma der Christen im Nahen Osten, vor allem der relativ kleinen Gruppe der Assyrer, ist keinesfalls Vergangenheit. In einem sehr persönlichen Beitrag beschreibt einer der Betroffenen schonungslos die Situation und fragt nach den Schritten, die unternommen werden müssen, da-mit die Assyrer in ihrer Heimat noch eine Chance haben.

Auch auf die Gefahr hin, dass diese Aussage missverstan-

den werden mag: Für mich steht das Gedenken an die Opfer in diesem Jahr nicht mehr im Vordergrund, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Vielmehr ist dieses Jahr für mich ein Anlass, weitergehende Fragen auf-zuwerfen: Wo stehen wir als Volk in der Diaspora mit unserem Wunsch nach Anerkennung des Völkermor-des? Welchen Bedingungen ist unser Volk in den Heimatländern ausgesetzt und welche Konsequenzen ergeben sich für uns in Europa daraus?

Nach dem Genozid ist vor dem Genozid

Die Geschichte der Unterdrückung von Christen durch Moslems beginnt mit der Expansion des Islam in Me-sopotamien und Kleinasien ab dem Jahr 630 n. Chr. Die Etablierung des „Millet“-Systems 1) ab Mitte des 15 Jahrhunderts, welches Nicht-Muslime zu Religionsgemeinschaften zusam-menfasste, die gegen eine Steuerab-gabe dem Schutz des Sultans unter-standen, brachte sicherlich so etwas wie eine strukturelle Sicherheit für die religiösen Minderheiten, institu-tionalisierte aber zugleich auch deren unterste Stellung in der gesellschaftli-chen Hierarchie.

Eine Garantie für Unversehrtheit indes waren die Millets keineswegs. Insbesondere auf dem Land waren Christen ihren muslimischen Nach-barn meist hilflos ausgeliefert, vor al-

lem wenn sie nicht in großen Clans or-ganisiert waren, wie etwa die Kurden.

So kamen in den Jahren 1843 - 46 im Zuge von Kämpfen zwischen rivalisierenden Kurdenstämmen in der Region von Hakkari etwa 10.000 Assyrer ums Leben oder wurden ver-trieben.

Unter der Herrschaft von Sultan Abdulhamid II. (1876 bis 1909) wur-

den die Übergriffe Teil der Politik gegen die Christen im Osmanischen Reich. Die Massaker von 1894 – 1896 richteten sich zwar in erster Linie gegen die armenischen Unabhängig-keitsbestrebungen, entwickelten sich

aber in manchen Regionen zu regel-rechten antichristlichen Pogromen.

Nur ein Jahr nach ihrer Macht-übernahme wurden unter den Jung-türken in der Region Adana 1909 große Teile der armenischen und as-syrischen Bevölkerung massakriert. Es sollte sich als eine Fingerübung für das große Morden ab 1914 heraus-stellen. Unter den Wirren des Ersten

Weltkrieges vollzog sich schließlich die nahezu vollständige Auslöschung der Armenier, Assyrer und Griechen in der Türkei.

Während der kurdischen Aufstän-de 1924 und 1925 in der Türkei kam

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Initiative „Mit einer Stimme sprechen“: von links Anastasia Dick (Verein der Griechen aus Pontos in München), Erika Steinbach (MdB) und Janet Abraham (Assyrische Demokratische Organisation)

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

es vermehrt zu Angriffen und Plünde-rungen insbesondere von kurdischen Milizen gegen assyrische Dörfer und Klöster. Im Zuge der zunehmenden Türkisierungsbestrebungen durch die nationalistisch-kemalistische Füh-rung wurden 1934 alle Nicht-Mus-lime mit türkischen Familiennamen zwangsumbenannt.

Im Jahr 1949 folgte nach demsel-ben Muster die Umbenennung aller nicht-türkischen Ortschaftsnamen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hing die Situation der Assyrer stark von den innen- und außenpolitischen Ereignissen ab, in welche die Türkei verwickelt war. So hatten die verschie-denen Zypern-Krisen der Jahre 1955, 1964 und 1974 eine Welle von natio-nalistischem und religiösem Hass ge-gen Teile der christliche Bevölkerung zur Folge, welche auch durch die tür-kischen Medien geschürt wurde.

Auch der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der Kurdi-

schen Arbeiterpartei PKK zwischen 1984 und 1999 löste eine Fluchtwelle aus der Region aus. Zahllose assyri-sche Dörfer wurden zwangsgeräumt und niedergebrannt, die Menschen vertrieben.

Mit der Unabhängigkeit Iraks vom britischen Mandat 1933 entlud sich die Aggression der kurdischen und arabischen Bevölkerung an den Assy-rern im Norden des Landes und in der Mossul-Ebene. Schätzungsweise 9.000 Assyrer kamen während dieses Mas-sakers ums Leben, welches nach der Ortschaft „Simele“ benannt ist.

Der dritte Golfkrieg im Irak 2003 sowie die Besetzung des Landes bis 2011 löste eine hinlänglich bekannte Spirale der Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten aus, in deren Schatten die Vertreibung der irakischen Assy-rer brutal umgesetzt wurde. Große Teile der Assyrer flohen in den Wes-ten oder in den autonomen Norden des Landes, wo sie unter kurdischer

Führung Schutz fanden. Mit Beginn der Irak-Krise 2014 und dem Vorstoß der IS-Milizen in die Mossul-Ebene wurde aber auch diese letzte Zuflucht zunichte gemacht.

Der Exodus der Assyrer aus dem Irak bedeutet zusammen mit dem Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 das Ende der größten assyrischen Ge-meinschaft, welche bis vor einigen Jahren noch in ihrer seit Jahrtausen-den angestammten Heimat gelebt hat. Als zynischen Abschlusses hat der IS im Frühjahr damit begonnen, auch die archäologischen Spuren der As-syrer in Mesopotamien auszulöschen. Damit bringt er exakt einhundert Jah-re später ihre Elimination aus der Re-gion zur Vollendung.

Diese Chronik zeigt zum ei-nen, dass den Übergriffen gegen die christlichen Minderheiten sowohl re-ligiöse als auch nationalistische bzw. ethnische Motive zugrunde liegen. Die unheilvolle Vermischung bezeugt ›

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Assyrische Schulkinder aus Harpoot.

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Aktuelle Herausforderungen und Konfl ikte

das Versagen einer säkularen Geis-teshaltung in den Gesellschaften des Nahen Ostens.

Zum anderen wird deutlich, dass wir es nicht mit einem singulären Er-eignis von 1915 zu tun haben. Die Un-terdrückung der nicht-muslimischen und ethnischen Minderheiten war und ist im Nahen Osten systemim-manent. Teils geschah dies als Agen-da der herrschenden Muslime. Aber auch sämtliche Gesellschafts- oder Staatsformen, die ein scheinbar fried-liches Nebeneinander der Religionen ermöglichen, sind oder waren mehr oder weniger diktatorische Regime, die keinem Teil der Bevölkerung eine politische Bewegungsfreiheit zuge-standen haben. Das gilt für den Irak, Syrien, Ägypten, Iran und in Teilen auch die Türkei. Mit jeglicher Destabi-lisierung dieser Autoritäten kam und kommt es offensichtlich zwangsläufig und reflexhaft zu Übergriffen auf die christlichen Bevölkerungen.

Angesichts all dessen verlieren die Ereignisse von 1915 bis 1923 keines-wegs an Bedeutung. Die Kriterien für eine Charakterisierung als Völker-mord sind jedoch durch die gesamten letzten 150 Jahre erfüllt.

Mit einer Stimme sprechen

Von 2005 bis 2011 fanden in Mün-chen jährlich Gedenkveranstaltungen unter dem Titel “Mit einer Stimme sprechen“ zum Völkermord von 1915 statt, die auf die Initiative von Janet Abraham (von assyrischer Seite) und Anastasia Dick (von pontisch-griechi-scher Seite) zurückgingen. Zusammen mit verschiedenen armenischen Verei-nen und Verbänden waren diese Ver-anstaltungen mit die ersten in Europa, die über mehrere Jahre kontinuierlich und erfolgreich eine Zusammenarbeit aller drei betroffenen Volksgruppen mit Fokus auf den Genozid etabliert hatten.

Neben dem Gedenken an die Op-fer war ein wesentlicher Teil der Ziel-setzung, das Thema nicht nur besser in die Öffentlichkeit, sondern auch auf eine politische Ebene zu bringen.

Dies ist in gewisser Weise auch ge-lungen, und wir konnten eine Reihe

von Unterstützern in der Politik ge-winnen, welche uns z. B. bei aktuellen Problemen in den Heimatländern 2)

große Hilfe geleistet haben.Darüber hinaus war es gelungen,

den bislang Vergessenen unter den Vergessenen einen Raum zu geben, um auf sich aufmerksam zu machen. Denn wenn die Geschichte der Arme-nier in einer breiteren Wahrnehmung gerade noch existiert haben mag, so war das Schicksal der Assyrer sowie der Griechen aus Pontos und Thra-kien außer einer kleinen Gruppe von Historikern und Theologen (neben den Betroffenen selbst) weitgehend unbekannt.

Die Rolle Deutschlands

Anlässlich des 90. Jahrestages wur-den 2005 im Bundestag der Völker-mord sowie der unrühmliche Anteil Deutschlands an den Ereignissen be-handelt. 3) Die explizite Bezeichnung als Genozid wurde zwar vermieden, aber die Ausführungen ließen deut-lich werden, dass die Kriterien für eine Definition als Völkermord durchaus erfüllt sein könnten.

Leider zeigte bereits 2010 eine An-frage an den Bundestag, dass Deutsch-land seine Rolle bei der Vernichtung der christlichen Völker Kleinasiens offensichtlich als nicht mehr nennens-wert einschätzt. Wesentlich schwerer wiegt jedoch die Antwort, die Bewer-tung der Ergebnisse von 1915 solle der wissenschaftlichen Diskussion vorbe-halten bleiben; weiterhin sei die The-matik letztlich eine Frage zwischen Türkei und Armenien, welche beide Länder untereinander zu klären hät-ten. 4)

Eine erneute Anfrage an den Bun-destag im Dezember 2014, ob denn anlässlich des einhundertsten Jahres-tages eine Neubewertung der Ereig-nisse möglich sei, lieferte als Antwort nur dieselbe ablehnende Position, wie vier Jahre zuvor. 5)

Die Gründe für ein derartiges Zurückrudern seitens der Regierung sind zu vielfältig, als dass sie in diesem Rahmen behandelt werden könnten. Ein Aspekt könnten die rund drei Mil-lionen Menschen türkischer Abstam-

mung sein, die in Deutschland leben, sowie die Bedeutung der Türkei als Wirtschafts- sowie als NATO-Partner, gerade in einer Zeit, da der gesamte Nahe Osten im Umbruch begriffen ist.

Es ist illusorisch, auf die Anerken-nung des Genozids durch Deutschland aufgrund seiner eigenen Verwicklung zu hoffen. Die Beteiligung oder Ver-wicklung Dritter an Völkermorden derart zu differenzieren, dass sich hie-raus völkerrechtliche Konsequenzen ableiten ließen, ist bislang wohl noch nie gelungen. 6)

Allerdings wäre ein positives Vo-tum Deutschlands in vielerlei Hin-sicht deutlich mehr als nur ein symbo-lischer Erfolg; zunächst aufgrund der erwähnten engen Verbindung zwi-schen Deutschland und der Türkei. Und nicht zuletzt als Signalwirkung an die türkisch-stämmige Diaspora in Europa, welche in der Diskussion um die Anerkennung bislang deutlich konservativer reagiert, als dies in der Türkei mittlerweile der Fall ist.

Denn hier steht seit einigen Jahren das Thema zunehmend im Mittel-punkt eines wissenschaftlichen und kulturellen Diskurses; verschiedenste Konferenzen haben die Vergangenheit der Türkei untersucht und zahllose, auch sehr kritische Bücher sind er-schienen. 7) Die Ermordung des arme-nischen Publizisten Hrant Dink 2007 hat hier Tabus gebrochen.

Demgegenüber gibt es von offizi-eller türkischer Seite zu viele wider-sprüchliche Aussagen und Tendenzen, als dass sich aus ihnen eine sinnvolle Deutung oder potentielle Entwick-lung ableiten ließe. Staatspräsident Erdogan machte keinen Hehl daraus, dass die Enteignungsprozesse gegen das Kloster Mor Gabriel eine Reaktion auf die Bestrebungen der assyrischen Diaspora zur Anerkennung des Völ-kermordes sind. Umgekehrt sprach er am 24. April 2014 als erster Regie-rungschef der Türkei den Armeniern sein Beileid für die Opfer während des Ersten Weltkrieges aus sowie von der Notwendigkeit, unterschiedliche Mei-nungen und Äußerungen zu den Er-eignissen 1915 zu akzeptieren. 8) Wie sich die Türkei im April 2015 offiziell positionieren wird, bleibt noch der

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Spekulation überlassen; persönlich zumindest glaube ich nicht, dass sich die Haltung mittelfristig in bedeutsa-mem Maße ändern wird.

Erbe und Auftrag

Innerhalb der nächsten Jahre ste-hen wir vor vielen Aufgaben, die uns wenig Zeit lassen. Die verbliebenen christlichen Minderheiten im Orient benötigen unsere volle Unterstützung, um die endgültige Entwurzelung eines ganzen Volkes zu verhindern.

Wenn wir erreichen wollen, dass der Völkermord in Europa anerkannt wird, müssen wir dafür sorgen, dass auf politischer Ebene der Druck auf die Türkei nicht nachlässt, der eine Wandlung hin zu einem demokrati-schen Staat ermöglicht. In dem Maße, wie sich die Türkei eines Tages ihrer Geschichte stellen mag, wird dies auch in den westlichen Staaten eine neue Bewertung ermöglichen. Daher wird

es auch notwendig sein, einen Dialog mit den Türken und Kurden in Euro-pa über den Völkermord von 1915 zu beginnen, denn mit der Migration in den Westen muss die Auseinanderset-zung mit der Vergangenheit auch hier ausgetragen werden.

Martin Tamcke hat diese Aufgaben mit diesen Worten zusammengefasst:

„Zum Auftrag gehört dann also auch das Finden von Spuren, die Wandel ermöglichen, die gestatten, dass ein anderes Selbstverständnis bei Tätern und Opfern wachsen kann als die vorurteilsschwangeren Spuren, die seit Jahrhunderten die Koexistenz der Angehörigen beider Religionen im-mer wieder unmöglich machten.“ 9)

1) Dem „Millet“-System im Osmanischen Reich vorausgegangen war das „Dhimmi“-System der arabisch-islamischen Herrscher ab dem 8. Jhd.

2) Beispielsweise die Enteignungsprozesse des türkischen Staates gegen das Kloster Mor Gabriel im Tur Abdin. http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt; Drucksache 17/9185

3) http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt; Drucksache 15/5689; Drucksache15/49334) http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt; Drucksache 17/687; Drucksache 17/8245) http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt; Drucksache 18/3533; Drucksache 18/37226) Als Beispiele hierfür seien genannt die Rollen von Ungarn und Rumänien bei der Judenver-

nichtung während des Zweiten Weltkrieges oder die Anwesenheit und Kenntnisnahme von den Geschehnissen in Ruanda oder Srebrenica durch Blauhelm-Truppen der UN.

7) „Neue Ansätze in den türkisch-armenischen Beziehungen“, Istanbul 2006 http://www.welt.de/print-welt/article204923/1634-tuerkische-Offiziere-zum-Tode-verurteilt.

html „Workshop on Social and Economic History of Diyarbakır and Region“, Diyarbakir 2011 http://www.hrantdink.org/?Detail=404&Activities=3&Lang=en

8) http://www.bbm.gov.tr/Forms/pgNewsDetail.aspx?Id=%2012457&Type=19) Prof. Martin Tamcke; „Erbe und Auftrag“; Vortrag in München 2008

Das älteste Genozid-Mahnmal der Assyrer, das am 7. August 2000 in Chicago errichtet wurde.

Foto: Assyrian International News Agency (AINA)

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Autorenver zeichnis

Autorenverzeichnis

n Abraham, Thomas Dr., als Kind einer assyrischen Einwandererfamilie in Deutsch-land geboren. Facharzt für Anästhesie, In-tensiv- und Notfallmedizin. Engagiert sich seit seiner Jugend als Autor, Übersetzer und Ghostwriter sowie als Mitorganisator zahl-reicher Veranstaltungen v. a. zum Thema Völkermord an den Assyrern.

n Akin, Fatih, als Sohn türkischer Ein-wanderer in Hamburg geboren. Mehrfach ausgezeichneter Filmemacher und Regis-seur. Sein Werk "The Cut" thematisiert den Völkermord an den Armeniern.

n Al-Jeloo, Nicholas Dr., ist Dozent am Institut für „Hebrew, Biblical and Jewish Studies“ der Universität von Sydney.

n Arnold, Werner Prof. Dr. ist Leiter der Abteilung für Semitistik am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

n Barthoma, Soner A., ist Doktorant der Politikwissenschaft der Universität von Amsterdam.

n Bet-Sawoce, Jan, ist Leiter der Meso-potamian Library an der Södertörn Uni-versität, Schweden, und Autor zahlreicher Bücher sowie Verleger (Nsibin Publishing). In seinem Buch "Tur Abdin 1915" lässt er Genozid-Überlebende zu Wort kommen.

n Bitschnau, Martin, ist Menschen-

rechtsaktivist mit armenischen Vorfahren. Er setzt sich seit Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz für eine Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ein und ist Berater der »Gesellschaft Schweiz Armeni-en (GSA)« im Anti-Rassismus-Rechtsfall gegen 17 Türken. Er lebt seit 2003 in Wien, wo er »Voelkermord.at – Gesellschaft für die Dokumentation von Völkermord« mitbegründete und das Buch »Armenien Tabu und Trauma« herausgegeben hat.

n Böttcher, Michaela, ist Online-Redak-teurin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

n Giordano, Ralph (1923 – 2014), war Schriftsteller, Publizist, Journalist und Re-gisseur jüdischer Abstammung. In seinen Werken setzte er sich vor allem mit dem Holocaust und dessen Folgen auseinander.

n Hofmann, Tessa Dr. phil. Prof. h.c., Armenologin, Soziologin und Autorin; zahlreiche Publikationen zur Geschichte, Kultur und Gegenwartslage Armeniens und seiner Diaspora; Ehrenmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker; Vorsit-zende der Menschenrechtsorganisation „Arbeitsgruppe Anerkennung - Gegen Genozid, für Völkerverständigung“ e.V.

n Müller, Cora, absolvierte ein Prakti-kum bei der Gesellschaft für bedrohte Völ-ker (GfbV) in Berlin.

n Reinke, Sarah, ist Referentin für die

GUS-Staaten und leitet das Berliner Büro der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

n Sido, Kamal Dr., ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

n Steinbach, Erika Dr., ist seit 1990 Mit-glied des Deutschen Bundestages und war von 1998 bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). Darüber hinaus ist sie Sprecherin für Menschenrechte und humani-täre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und gehört dem Fraktionsvorstand an.

n Tamcke, Martin, Prof. Dr. lehrt Öku-menische Theologie sowie Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.

n Travis, Hannibal, Prof. Dr., hat an der Washington University sowie der Havard Law School studiert und ist Jura-Professor an der Florida International University in Miami mit dem Schwerpunkt Cyber-Ver-brechen, geistiger Diebstahl, Völkerrecht und Menschenrechte.

n Yacoub, Joseph, ist Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Katholi-schen Universität von Lyon und Spezialist für Minderheiten.

n Zülch, Tilman, ist Gründer und Ge-neralsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

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Literatur

Literatur

Weiterführende Literatur

WEBSEITEN: www.aga-online.org (Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V.)www.armenocide.netwww.seyfocenter.com/ www.aina.org/www.bvdad.de

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Campaign of Extermination of the Christians of Asia Minor (1912-1922) and Its Aftermath: History, Law, Memory; 2011- Hosfeld, Rolf (Hg.): Johannes Lepsius - Eine deutsche Ausnahme: Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, 2013- Hosfeld, Rolf: Tod in der Wüste: Der Völkermord an den Armeniern, München 2015- Hovannisian, Richard (Hg.): The Armenian People, vol. I, 1997 - Kaya, Nurcan: Forgotten or Assimilated?: Minorities in the Education System of Turkey, 2009- Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide: A Complete History, 2011- Kieser, Hans-Lukas. Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Zürich 2000- Mayersen, Deborah: On the Path to Genocide: Armenia and Rwanda Reexamined, 2014- Mesrobian MacCurdy, Marian: Sacred Justice: The Voices and Legacy of the Armenian Operation Nemesis, 2015- Mirza, Abrohom Mirza: Dokumentation über Ermordungen und Verfolgungen der assyrischen Christen in der Türkei 1976-2007, Frauenfeld 2007- Odian, Yervant: Accursed Years: My Exile and Return from Der Zor, 1914-1919; 2009- Özdemir, Bülent, Assyrian Identity and the Great War: Nestorian, Chaldean and Syrian Christians in the 20th Century. Dunbeath:

Whittles Publishing, 2012.- Procházka, Stephan: Die arabischen Dialekte der Çukurova (Südtürkei). Wiesbaden 2002 - Robel, Yvonne: Verhandlungssache Genozid: Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe; 2013- Shirinian, George (Ed.): The Asia Minor Catastrophe and the Ottoman Greek Genocide: Essays on Asia Minor, Pontos und Eastern Thrace,

1912-1922; 2012- Sonyel, Salâhi R.: The Assyrians Of Turkey Victims Of Major Power Policy., Ankara 2001,- Walker, Christopher: Die Armenier, 1985- Stafford, Ronald Sempill: The Tragedy of the Assyrians, London 1935- Ternon, Yves: Tabu Armenien. Frankfurt am Main 1981- Travis, Hannibal: Genocide in the Middle East: The Ottoman Empire, Iraq, and Sudan, Carolina Academic Press, 2010- Üngör, Uğur Ümit; Polatel, Mehmet: Confiscation and Destruction: the Young Turk Seizure of Armenian Property, 2011- Yacoub, Joseph: Qui s'en souviendra? 1915: le génocide assyro-chaldéo-syriaque, Cerf 2014- Yonan, Gabriele: Assyrer heute, Hamburg 1978- Yonan Gabriele: Ein vergessener Holocaust, Die Vernichtung der christlichen Assyrer in der Türkei, Göttingen 1989

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Plakatwettbewerb der GfbV„Auf keinem Auge blind“

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„Die Arbeit der Gesellschaft ist für mich in dieser Zeit des wachsenden Egoismus als Folge von Angst unter den Völkern wirkliche Liebes- und damit Zukunftsarbeit. Wie Angst zu be-kämpfen ist, können uns gerade die kleinen, ausgegrenzten, bedrohten Völker lehren.“

Bärbel BohleyBürgerrechtlerin (1945-2010)

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