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Sonderdruck aus Margarete Grandner / Thomas König (Hg.) Reichweiten und Außensichten Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche Mit einer Abbildung V& R unipress Vienna University Press ISBN 978-3-8471-0414-8

\"Ein universitärer Vielvölkerstaat: Die Universität Wien in Textbildern.\"

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Sonderdruck aus

Margarete Grandner / Thomas König (Hg.)

Reichweiten und Außensichten

Die Universität Wien als Schnittstellewissenschaftlicher Entwicklungen undgesellschaftlicher Umbrüche

Mit einer Abbildung

V& R unipress

Vienna University Press

ISBN 978-3-8471-0414-8

Inhalt

Thomas KönigFigurationen der Wissenschaft und Universität. Annäherung an dieFrage: Welche Bedeutung hat die Universität Wien? . . . . . . . . . . . . 7

Katherine ArensEin universitärer Vielvölkerstaat: Die Universität Wien in Textbildern . . 35

Oliver Jens SchmittBalkanforschung an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Klaus TaschwerNachrichten von der antisemitischen Kampfzone. Die Universität Wienim Spiegel und unter dem Einfluss der Tageszeitungen, 1920 – 1933 . . . 99

Christian FleckAkademische Wanderlust im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Maria WirthDie Universität Wien am Campus Vienna Biocenter –(Austausch)beziehungen im Bereich der Life Sciences . . . . . . . . . . . 153

Herbert PoschTimeline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Katherine Arens

Ein universitärer Vielvölkerstaat: Die Universität Wien inTextbildern

Eine 2014 informell, aber gründlich durchgeführte Umfrage unter fast 300Fachprofis für österreichische Literatur- und Kulturgeschichte ergab etwasUnerwartetes. Gefragt wurde nach Literaturtexten, in denen die UniversitätWien eine bedeutende Rolle spielt;1 die daraus resultierende Liste allerdings warkeine 15 Zeilen lang, selbst wenn einzelne Szenen in Texten zu anderen Themenberücksichtigt wurden. In einigen Romanen und Theaterstücken kommen zwarkurze Erwähnungen von Vorlesungen an der Universität vor ; in anderen liestman Geschichten über Universitätsprofessoren und (durchaus seltener) ihreForschungen, die aber sonst wenig mit der Universität zu tun hatten. Der ge-plante Aufsatz zu den Erscheinungsformen der Universität Wien in der hohenLiteratur wäre also angesichts des Fehlens eines solchen Kanons recht kurzausgefallen.

Nun weist freilich die sogenannte kritische Diskursanalyse darauf hin,2 dassbeim Deuten von Repräsentationen nicht nur besondere Textarten in Betrachtgezogen werden müssen, wie zum Beispiel die »Literatur«, sondern auch dasRepertoire von Sprech- und Schreibhandlungen – »Performances« –, die mitsprachlichen Mitteln das Diskursobjekt realisieren und umschreiben. Es wareine reizvolle Herausforderung, dies als Anlass zu nehmen, um die Frage nachden diskursiven Repräsentationen der Universität auszuweiten und mit solchenText- und Diskursformen zu beantworten, die neben der »hohen« Literaturexistieren. Ein solches Repertoire wäre nicht nur weitaus umfangreicher als dieeingangs erwähnte schmale Liste, es könnte auch leichter Rechenschaft legenüber das textuelle und sprachliche Leben der Universität, ihren Ruf und ihre

1 Ich bin vielen KollegInnen für ihre Textvorschläge dankbar, besonders Günter Bischof, GeoffChew, Gary B. Cohen, Nele Hempel-Lamer, Julie Johnson, Wynfrid Kriegleder, Ferenc L.Laczo, Jonathan J. Long, Gloria Man, Lorraine Markotic, Melanie Murphy, Helga Schre-ckenberger und Marianne Windsperger. Cindy Walter-Gensler leistete wichtige Hilfe beimFertigstellen des Aufsatzes.

2 Die kritische Diskursanalyse ist mit Forschern wie Norman Fairclough, Ruth Wodak undTeun van Dijk assoziiert.

Stellung als Element der (österreichischen) Öffentlichkeit und ihrer gesell-schaftlichen Imaginäre.3 Freilich ist die Flüchtigkeit dieses Materials ein zen-trales Problem, genauer gesagt der Umstand, dass Aufzeichnungen dieser»niedrigen« Text- und Diskursformen in historischer Perspektive nur sehr se-lektiv zur Verfügung stehen.

Dennoch: Von der ursprünglichen Aufgabenstellung – einen Abriss derUniversität Wien in der österreichischen Belletristik zu liefern – verlagerte(oder : vergrößerte) sich der Schwerpunkt dieses Aufsatzes zu einer Erörterungvon Diskurserscheinungen des Hauses am Universitätsring (der bis vor kurzemnoch Luegerring hieß), mithin: Wer von diesem Haus spricht, und wie. Ge-staltung, Stellenwert und Aussagekraft der Universität als eine Art Denkfiguroder Trope in literarischen Texten sind aber nur zu verstehen, wenn das Umfeldder sinnstiftenden Diskurse in Betracht gezogen wird: Der Ort, an dem und vondem aus man über es spricht; die Ideologien dahinter, die Identitäten sprachlicheinrichten und performativ (in Handlungen) umsetzen.

Zuerst behandelt der vorliegende Aufsatz die örtliche Eingrenzung der TropeUniversität in Österreich, besonders im Vergleich zu Universitätsromanen ausder angelsächsischen Sphäre. Zweck dieses Vergleichs ist eine generelle Erör-terung der Bedeutung von Universität als sinn- und identitätsstiftender Ortinnerhalb der Gesellschaft. Danach werden die Erscheinungsformen der Uni-versität Wien in literarischen Texten behandelt, ihre Rollenbesetzung in derDiskurswelt. Vom ersten Anfang an erweist sich nicht die Institution sonderneher ihre Bevölkerung als Schwerpunkt dieser Diskurse, einer Bevölkerung, diedie Universität als Teil der Stadt Wien und des Staates Österreich darstellt. Derletzte Teil widmet sich (exemplarisch) der performativen Selbstdarstellung des»niedrigen« Universitätsvolkes (der Studierenden und wissenschaftlichen An-gestellten), konkret den Uni brennt Protesten gegen die Bologna-Reformen.Dieses zeitnahe Phänomen ist auch deshalb so interessant, weil es die ideolo-gischen Inhalte der Uni-Repräsentationen in Taten umzusetzen versucht – esdient somit als Hinweis dafür, dass die Identität der Universität Wien bis heuteals Kernbestandteil der Wiener Gesellschaft und des österreichischen Staatsverstanden wird und seit 150 Jahren erstaunlich stabile Ausdrucksformen ge-funden hat, trotz wechselnder soziopolitischer Rahmenbedingungen.

3 Das »Imaginäre« wurde von Jacques Lacan als das Sinnbild der Wirklichkeit umschrieben, dassich das Individuum durch Sprache und Erfahrung erstellt, und aufgrund dessen Identität undHandlungsmuster gefunden werden können.

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1. Die Universität als Grundlage und Standort einer sozialenIdeologie

Europas berühmteste Universitäten nehmen in Textdarstellungen oft die Gestaltbeinahe sakraler Orte an, abgetrennt vom Alltagsleben und der Bildung einesGeistesadels gewidmet. Dies ist bei der Alma Mater Rudolphina Vindobonensisnicht der Fall. Ihre textuellen Erscheinungsformen in Biographien, Geschichteund Literatur weichen von denen etwa Oxfords und Cambridges stark ab. Der»Universitätspalast« Wiens von 1884 erscheint in öffentlichen (besonders tou-ristischen) Darstellungen als Prachtbau an der Ringstraße, aber nur selten alsTempel der Weisheit.4 Man sieht in Literatur und Filmen eher flüchtige Blicke inSeminarräume oder Büros oder Touristen, die die Philosophenstiege hinauf-steigen, um die Gedenktafel für den ermordeten Moritz Schlick zu betrachten.Ob aber im alten Gebäude in der Postgasse oder im neuen am Ring, die Uni-versität scheint stets als Teil der Stadt Wien auf, nie abseits. Ob in Literatur,Essayistik, Zeitungen oder Tagesnachrichten, viele Textstellen handeln davon,dass das Univolk, die Bevölkerung dieses Staates der Weisheit, aus diesen Sälenund Räumlichkeiten auf die Strassen und Gassen Wiens hinauskommt, undumgekehrt sich recht umstandslos aus der Alltagswelt in die Uni hineinbewegt– wie uns schon vor anderthalb Jahrhunderten Adalbert Stifter zeigte (was imfolgenden Abschnitt zu behandeln ist).

Genauere Vergleiche mit anderen europäischen Universitäten ähnlichenFormats machen die wesentlichen Unterschiede in der Repräsentation schnellklar. Die Jeunesse dor�e Englands zum Beispiel erlebt (und inszeniert) an eng-lischen Universitäten eine Art Arkadien; nach ein paar Jahren abgeschnitten vonder Aussenwelt ist sie (auf ewig, wie es scheint) dazu verurteilt, sich an dasVerpasste und das Vergangene zu erinnern, an einen Ort, wo sie einmal etwas anund für sich war – eigenständig und nicht als Abgesandte der Familie, desStandes oder der Nation. Das Wiedersehen mit Brideshead (Brideshead Revisi-ted, Evelyn Waugh, 1945) läuft beispielsweise so ab.5 Und Dorothy SayersDetektiv Lord Peter Wimsey macht in der Gaudy Night (1935) seiner heißge-liebten Harriet Vane den Heiratsantrag beim Klassentreffen in Oxford, wobei ersie als Magistra anredet: der akademische Grad macht sie zu einer standesge-

4 Kurt Mühlberger erzählt die Geschichte des 1884 eröffneten Hauses am Ring, sowie derNeuorganisation der Universität nach dem Humboldtschen Modell, in Palast der Wissen-schaft. Ein historischer Spaziergang durch das Hauptgebäude der Alma Mater RudolphinaVindobonensis, Wien: Böhlau 2007. Die Gedenktafel ist bei URL: http://sciencev1.orf.at/gastgeber/139360.html abgebildet (abgerufen am 15. 5. 2014).

5 England hatte 1848 nur drei Universitäten: Oxford, Cambridge und die neue University ofLondon. Siehe Christophe Charle, »Pattern«, in: Walter Rüegg, A History of the University inEurope, Cambridge: Cambridge University Press 2004, Bd. 3, 53.

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mäßen Partnerin für ihn. Thomas Hardy wiederum stellt uns in Jude, theObscure (dt. 1901, Juda, der Unberühmte, oder 1988, Im Dunklen) den SteinmetzJude Frawley vor : Er versucht Klassengrenzen zu überspringen und eine Uni-versität zu besuchen, die frappant an Oxford erinnert. Er scheitert jedoch undsetzt stattdessen das Mauerwerk der Hochschule instand, wobei er durch dieoffenen Fenster den Vorlesungen lauscht. David Edmonds und John Eidinowerzählen von Wittgenstein’s Poker (2001):6 In den Wohnstuben der Philosophenin Cambridge werden Debatten geführt und Portwein getrunken und dabei aufLebenszeit Bündnisse geschmiedet und Konflikte produziert. Die (fiktionale)Auseinandersetzung zwischen Wittgenstein und Popper soll laut Edmonds undEidinow einen Charakterzug britischer Philosophie widerspiegeln: hitzigeTemperamentsanfälle als Zeugnis für angehendes Nationalgenie. Wenn selbstdie gebürtigen Österreicher Wittengenstein und Popper zu englischen Philo-sophen geworden sind, sind die Grenzen aufgezeigt, welche nur die begabtestenNicht-Engländer überschreiten dürfen. Viele andere, wie Jude Frawley, wollendazugehören, bleiben aber Aussenseiter, auch wenn sie ihre Klassenkameradenin Londons elitären Zirkeln wiedertreffen, in Klubs oder im Parlament.

Universitäten als besondere Erlebnisorte zu betonen bleibt nicht nur engli-schen Texten vorbehalten: Literatur und Berichte aus Frankreich und Italienreferieren zwar auch auf die dortigen städtischen Universitäten, und besonderswenn Studierende auf der Strasse demonstrieren gehen. Aber betont wird immerauch, wie etwa die Pariser Universitäten von der Außenweld abgeschnitten sind,und dass ihre Studierenden für Ausserordentliches bestimmt sind. Die Pariser�cole normale sup�rieure (ENS) hat als geläufiges Herzstück ihrer Repräsenta-tion den Innenhof des Hauptgebäudes in der Rue d’Ulm, wo sich FrankreichsBildungselite von Sartre bis Foucault versammelte, um zu rauchen, Kaffee ausder Mensa zu trinken und Streitgespräche zu führen. Anders als an diesem Ortder Geistesüberlegenheit zieht die Sorbonne junge Menschen in die Metropole,und zugleich oft unter die Räder der französischen Gesellschaft (wie in GustaveFlauberts L’�ducation sentimentale [1869]). Eliteschulen wie Sciences Po (dasInstitut d’�tudes politiques de Paris) entscheiden über die Zukunft ihrer Stu-dierenden: wer aufgenommen wird, kommt direkt in die elitären Kreise derPariser Gesellschaft und in Anstellungen, die der breiten Öffentlichkeit vonvornherein verschlossen bleiben.

In den USA liest man als erste ausführliche Beschreibung der modernenUniversität den Aufsatz The Education of Henry Adams (1919), in dem Harvard

6 David Edmonds/John Eidinow, Wittgenstein’s Poker. The Story of a Ten-Minute ArgumentBetween Two Great Philosophers, New York: Ecco/Harper Collins 2001 [Dt.: Wie LudwigWittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte. Eine Ermittlung, Frankfurt a.M.:Fischer Taschenbuch Verlag 2005].

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als noch fest im 19. Jahrhundert verankert und den Anforderungen des 20.Jahrhunderts nicht gewachsen dargestellt wird. In den Vereinigten Staatentauchen Unigelände außerdem oft als Krimitatorte auf, wo ProfessorInnenMörderInnen werden, etwa um akademische RivalInnen von der Bildflächeverschwinden zu lassen. Universitätsromane wie etwa David Lodges ChangingPlaces (1975)7 zeigen die feinen Unterschiede zwischen ProfessorInnen, die es anEliteinstitutionen geschafft haben, und solchen, die in der akademischen Pro-vinz geblieben sind.

Eine besondere Rolle nahmen Universitäten im heutigen Deutschland ein.»University academics have always enjoyed more status, deference and attentionin the German-speaking world than in the United Kingdom«, meint AnthonyBushell.8 In Texten zu deutschen Universitäten werden ihre Forscher als Geis-teselite beschrieben (und fast so getan, als bildeten sie die Führungsschicht derNation).9 Bedeutende Professoren wie Hegel in Berlin tauchen in Biographienund Werken der Geschichtsschreibung auf. Studierende werden ab und zuportraitiert; sie bilden aber ein Volk für sich, das säuft, ficht und Bruderschafttrinkt. Die beiden Schichten der Uni-Welt bleiben grundsätzlich voneinandergetrennt.

Von all dem weichen die Repräsentationen der Universität Wien ab: Dieseerscheint als Teil des Stadtbildes, eher als Sammelpunkt von Studierenden undProfessoren, oder aber als Ort der Arbeit, der Träume, des Kummers und derGeistesanstrengungen. Die diskursiven Repertoires der Erscheinungsform derUniversität Wien liegen nicht im unmittelbar eigenen Bereich, wie das bei ver-gleichbaren nationalen Flaggschiffen wie ENS, Harvard, Oxford, oder Cam-bridge der Fall ist. Die Alma Mater stellt sich als Mikrokosmos und wesentlicherBestandteil der Gemeinschaft dar, der Bürger der Stadt Wien und des österrei-chischen Staats (in seinen wechselnden Formen).

Jeder Diskurs schafft seine Bevollmächtigten (die Akteure, die durch ihn inder Gesellschaft wirksam werden) und gibt ihren jeweiligen Ideologien Aus-druck (die durch den Diskurs in der Gesellschaft wirken). Ersteres betrifft dieBevölkerung der Universität Wien. Die Belletristik hat uns insbesondere Ein-

7 Changing Places, London: Penguin Books 1975, erzählt von einem britischen Austausch-professor, der an die »Euphoric State University« (Berkeley) kommt, um den Jet-Setter MorrisZapp zu ersetzen; der Roman gibt daher trotz seines UK-Ursprungs die Verhältnisse in denUSA wieder.

8 Siehe Anthony Bushell, Polemical Austria. The Rhetorics of National Identity: From Empire tothe Second Republic, Cardiff: University of Wales Press 2013, 201.

9 Siehe z. B. Fritz K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German AcademicCommunity, 1890 – 1933, Cambridge, MA: Harvard University Press 1969, der erste in einerGeneration von Historikern, die die Forschung und Lehrtätigkeit deutscher Professoren be-legen, ohne Studenten besondere Aufmerksamkeit zu widmen (außer wenn sie selber Pro-fessoren wurden).

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sichten zum universitären Mittelbau erlaubt. Wir wollen uns diese Fundstücke inden folgenden beiden Kapiteln näher ansehen, ehe wir uns den Ideologien zu-wenden. In nahezu jeder literarischen Erscheinung begegnen wir der Verflech-tung von Universität, dem Alltag der Stadt Wien, und den jeweils gängigenUmgangsformen des dazugehörigen Staates – Diskurse, die immer gemeinsamauftreten. Diejenigen, die am Universitätsdiskurs teilnehmen, verkörpern ver-schiedenartige Rollen innerhalb dieser eigenartigen Gesellschaft. Eine Ethno-logie der Universität lässt sich eruieren, eine Art Staat im Kleinen, durch denDiskurs in viele standesbewusste Schichten gegliedert. Welche Stände den Dis-kurs in die Wirklichkeit umsetzen, ist im Einzelnen zu besprechen.

2. Eine Anthropologie des Herrn Studiosus

Die Wiener Studentenkultur (wie auch die Kultur der Lehrkräfte) erscheint inLiteraturtexten weniger als die einer zukünftigen Elite, sondern eher als die dergesellschaftlichen Mittelschicht und insbesondere der pflichtbewussten Gruppeder Beamten – letztere ist ja auch ihr Herzstück, weil sie eng miteinander ver-flochten sind.10 Als Wiener Typen beanspruchen diese Studenten der Universitätselbstbewusst ihre Rolle in der jeweiligen österreichischen Gesellschaft. DieStudiosi (erst viel später wird daraus das gender-neutrale StudentInnen) kom-men in die Hauptstadt, um an der Rudolphina ihre Studien aufzunehmen; da-nach verbreiten sie sich übers ganze Land, als Fachleute und Bürger, einem Staatzu dienen, dessen Schalthebel sie nicht zu manipulieren vermögen. Solange siein Wien wohnhaft sind, gliedern sie sich in das Strassenbild der Stadt ein undeignen sich die Kennzeichen sowie das Benehmen der mitteleuropäischen Ge-sellschaft an. Einige kehren wieder nach Hause zurück; andere bleiben in derHauptstadt, um dort Assistenten, Professoren oder Beamte zu werden; immeraber vertreten sie die Gesellschaft und den Staat, nicht nur die einzelne Insti-tution.

Ein Text von Anno dazumal, ein Feuilleton von Adalbert Stifter, stellt uns inausführlicher Weise die Studentenschaft und das typische studentische Lebenzur Mitte des 19. Jahrhunderts, im violetten Licht des Vormärzes vor, in Formenfreilich, die bis heute noch vertraut wirken. Stifter verrät en passant, was Stu-denten als Rollenspieler in der universitären Diskurswelt tun und erwarten; sein»Leben und Haushalt dreier Wiener Studenten« (1841),11 später in den Sam-

10 Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848 – 1918, WestLafayette, IN: Purdue University Press 1992, führt Beweise für diese Behauptung aus.

11 Adalbert Stifter, Leben und Haushalt dreier Wiener Studenten, in: Werke und Briefe. His-torisch-kritische Gesamtausgabe, Band 9.1, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2007, 197 – 213.

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melband Wien und die Wiener aufgenommen (1844), fügt zum Repertoire derWiener Typen den studentischen hinzu. Stifter ist es wichtig, dass Studentenvorkommen, weil »wir der Meinung sind, in einem Buche über Wien dürfe derWiener Student und sein akademisches wie auch häusliches Leben gar nichtfehlen«.12

Seine Ethnologie beginnt mit der Ankunft dreier Studenten aus der Provinz inWien, nach ihrem abgeschlossenen Studium der Philosophie am »Landlyceum«:

»der abstrakte Student, sich durchschlagend durch alle Fährden und Abentheuer-lichkeiten seines poetischen Standes, bis er endlich absolviert ist und dahin geht undPhilister wird, schmählich entkleidet von aller Glorie und allem Schwunge seines vo-rigen Standes.«13

Stifter besteht darauf, dass »der echte Student Wiens« gerade durch solcheAnkömmlinge repräsentiert wird. Ein Student aus Wien, »der Eingeborne,«bietet keineswegs ein reines Beispiel des Typus14, »weil ihm doch immer dieFarbe seiner Familie, Verwandtschaft und Cotterie anklebt«.15 Der echte Student

ist kein Bürger dieser Welt, außer wenn er Schulden hat; er ist kein Landsmann, keinEingesessener, kein Stand, kein Familienglied, nicht einmal ein Liebhaber, weil erimmer wechselt; sondern er ist nur ein Quartaner, ein Quintaner, Jurist, Philosoph undin den Ferien eine Zugschwalbe […].16

Die »unsichtbare Republik« der Studenten existiert nur befristet: »da vergeht siewie der Rauch auf den Bergen, und der kahle Broderwerb steht da«.17 Sicherkommen auch einige nie aus den Universitätshallen weg, da »das akademischeMoos fingerdick auf ihnen wächst«. Oder, wenn sie diese Zuflucht verlieren,»überschnappen« sie leicht »ins Philistertum«.18

Stifters drei Helden meinen schon vieles über ihre neue Situation zu wissen,es kursieren »furchtbare Sagen über Wien und das Leben daselbst«.19 Sie würdenangeblich sofort »verhungern«, und »die Unschuld wird gleich am ersten Tageverführt,« da die Kosten so hochgetrieben und die Moral so tief gesunken ist. Siehatten fest vor, zusammen zu wohnen, um solche Probleme und Sorgen zu

12 Stifter, Leben, 197. Vgl. Wolfgang Kos (Hg.), Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit, Wien:Wien Museum und Christian Brandstätter Verlag 2013. Der Student ist in diesem Katalognicht vorzufinden.

13 Stifter, Leben, 197.14 Tone Smolej, Etwas Größeres zu versuchen und zu werden. Slowenische Schriftsteller als

Wiener Studenten (1850 – 1926) (Schriften des Archivs der Universität Wien 17), Göttingen:V& R Unipress 2014, liefert dafür Beweis.

15 Stifter, Leben, 197.16 Stifter, Leben, 197 – 198.17 Stifter, Leben, 198.18 Stifter, Leben, 198.19 Stifter, Leben, 199.

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vermeiden. Sie wollten sich Bärte wachsen lassen, sie fürchteten sich vor derschlechten Stadtluft; dem Problem der bedrohten Unschuld freilich standen sielässiger gegenüber ; sie kamen auch mit »der riesenfesten Gesundheit der Ju-gend« an.20

Die Protagonisten suchen neue Identitäten: »der Kandidat der Rechtsge-lehrsamkeit, Franz Xaver Pfeiffer [… und] die angehenden Heilkünstler UrbanSchmidt und Heinrich Quirin«, »jeder mit den eigenen Stärken und Schwächen«.»Der ehrliche Pfeiffer [war] der tüchtigste unter ihnen und daher auch bei allenUnternehmungen der Führer«; der schwächere Urban »fühlte eben seine Infe-riorität«, und Quirin blieb der »Schelm« des Dreierbundes.21 Als sie schließlichim Oktober (noch in den Ferien) in Nussdorf ankommen, finden sie keineschlechte Luft, »sondern rechts waren schöne grüne Berge und links schönegrüne Auen, und aus diesen ragte ein sonnenbeglänzter, grauer, feinzackigerThurm empor – der Thurm von St. Stephan«.22 Die letzte Strecke des Weges legensie zu Fuss zurück. In der Stadt scheinen ihnen die Spaziergänger, Wägen,Kutscher und die schönen Herren und Damen alle ganz gesund, und ihnen fälltauf, dass der Ort »gar nicht anders aussehe als auf jedem andern Platze derErde«.23 Leider verstößt ihre Bekleidung »gegen die Eleganz und Pfiffigkeit«;Leistungsangst kommt auf, als sie die noch leere Universität besuchen, beson-ders bei Urban, wegen der »vielen dünnen ersten Klassen« der Lyceumszeit.24

»Ermüdet bis zum Tode, melancholisch und betrübt durch das fortbrausendeGetöse«,25 und erfolglos bei der Wohnungssuche, übernachten sie in einemGasthaus. Als sie dort Wein bestellen, bemerken sie, dass ihr »Armengesetz« inVerfall geraten war.26 Am nächsten Morgen wachen sie verkatert auf und machensich bald auf den Weg, jeder mit einem besonderen Auftrag: der erste setzt dieSuche nach einer passenden Wohnung fort, der zweite bemüht sich um »ihregemeinschaftliche fahrende Habe«27, der dritte soll sich über die Einschreibe-verfahren an der Universität erkundigen. Alle haben Glück. Wohnhaft wird manin Zimmern in einem verfallenen Fürstenpalais »in einer Seitengasse der Vor-stadt Landstraße,« das »nun wie eine verwitwete Ritterburg« dastand.28 DieBevölkerung des zweiten Stockes ist »ein ganzes Volk von Studenten undJunggesellen«, eine Welt für sich, die auch noch »Kühe, eine Ziegenfamilie und

20 Stifter, Leben, 199.21 Stifter, Leben, 200 – 201.22 Stifter, Leben, 200.23 Stifter, Leben, 200.24 Stifter, Leben, 202.25 Stifter, Leben, 203.26 Stifter, Leben, 204.27 Stifter, Leben, 205.28 Stifter, Leben, 205 – 206.

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mehrere Hühner« in einer alten Reitschule beherbergt und einen ungepflegtenGarten dem Vogelvolk widmet.29 Einrichtungen kamen vom Tandelmarkt; vondort bringen sie sogar »einen unerhört großen Nachttopf nach Hause […], derdann nachts (echt republikanisch, dass es keiner zu weit habe) mitten insZimmer gestellt und mit einer steif gebundenen Flötenschule zugedecktwurde«.30 Alle Geschäfte des Hauses werden gewissenhaft aufgeteilt »in diestaubigen und flüssigen. Letztere untergliederten sich wieder in die reinen undstinkenden«. Am Ende sollte ihnen das zuviel werden; sie stellen »eine rüstigeHausmeisterin der Nachbarschaft« ein,31 trotz des steten Geldmangels.

Mit Habe und Bleibe versorgt, suchen sie »ihr Akademieleben«.32 Ein »erstesKollegium« wird beschrieben, in einem Universitätsgebäude, das an »einenwimmelnden Ameisenhaufen« erinnert:

Schon unter dem Schwibbogen, der von der Wollzeil auf den Universitätsplatz führt,standen Gruppen bärtiger und unbärtiger Leute, sämmtlich als Musensöhne erkenn-bar, und lasen die ungeheuren angeklebten Zettel, auf denen Kost, Wohnung, Unter-richt, Theater, Meerschaum, verlorne Gelder, Lehrbücher, verlaufene Hunde, Bälle undKonzerte angeschlagen waren; die nicht lasen, neckten sich oder rauchten gar Cigarren.[…] und da unsre Freunde die Hallen betraten, schlug erst das rechte Brausen überihnen zusammen, als wären sie in den Bauch eines ungeheuren Resonanzkastens ge-kommen; dicht und schwarz drängte sich die Menge durcheinander, das Schallen vontausend Fußtritten, das Gewirre der Stimmen, das Klappern der Stöcke, das Rufen, dasLachen, alles wie ein Chaos, wälzte sich durch die Räume, die Saaltüren standen offen,es strömte aus ihnen aus und ein und trieb sich auf den Stiegen auf und nieder […]; einProfessor schreitet hie und da durch die Menge, und die Hüte flogen von den Häupternin der Gegend, wo er ging – die fröhlichen Gesichter, die zuversichtlichen Mienen, dieleichte Haltung, die dem Großstädter eigen ist, die prächtigen Kleider, die grimmigenBarte – das alles imponierte unsern Freunden […].33

Zugehörigkeit zu »diese[n] kosmopolitischen Clubbs« hoffen sie durch Grüßenund Begrüßtwerden zu finden, aber letzteres bleibt beschränkt auf ein Dasein inden »Grenzgebieten«34 der Hallen. Der Ort der ersten Vorlesungsstunde ist »einbedeutend großer Saal«: »die Thürflügel thaten sich auf und – Stille überall –denn der Professor war hereingetreten«.35 Stifter beschreibt den weiteren Vor-gang nicht; »nur das erwähnen wir, daß unsre drei Freunde wacker aufhorchten

29 Stifter, Leben, 206.30 Stifter, Leben, 207.31 Stifter, Leben, 208.32 Stifter, Leben, 208.33 Stifter, Leben, 209.34 Stifter, Leben, 210.35 Stifter, Leben, 210.

Ein universitärer Vielvölkerstaat 43

und gewissenhaft nachschrieben«.36 Als die erste Vorlesung vorüber war, flossendie Menschen wieder aus den Hallen,

lauter heitere Gesichter, glänzende Augen und all das lustige Funkeln und Flackern deseigentlich beginnenden Lebens, und das Ganze noch gehoben durch die Tatsache, daß,obwohl Wien ordentlich wimmelt von schönen Mädchen, es im Durchschnitte dochnoch viel mehr schöne Männer als Damen gibt.37

Im Laufe des Winters lässt die Aufmerksamkeit nach, durch »Studentenwitze«und »Leichtsinn« ersetzt, wobei man versucht, »[dem Professor] eines anzu-hängen«38. Ihre Wohnung »verwandelte sich in einen Wespenstock von Stu-denten, die wie Adler von allen Weltgegenden herbeigeflogen kamen, um in deralten Burg zu horsten«.39 Stifter fasst zusammen: »An allen Enden und Ortenstanden die Flegeljahre in Blüthe […]«.40 Neue Hobbys (Ölmalerei, Flöte, Piano,Schubertsche Lieder) und neuer Kleidungsstil werden eingeführt, als »manleider von Tag zu Tag vernünftiger, und kälter« wurde.41 So vergehen die Stu-dentenjahre, »und man ward leider etwas im Reiche der Menschheit«.42 Pfeifferwird Hauslehrer (»ein reicher Graf mit seiner Gemahlin […] trugen ihm dieErziehung ihres Söhnleins auf«):

Pfeiffer ist Verwalter auf einer großen Herrschaft seines Grafen und hat bereits fünfBuben, mit bester Aussicht auf deren noch einige – er correspondirt mit Quirin, demgeehrten Arzte zu ***, und sie besuchen sich öfter und lieben sich noch immer. IhreFrauen wurden Freundinnen und theilen sich Kochrezepte und Romane mit. Urban istein Stutzer [Dandy oder Geck] geworden.43

Hier das Los der Studentenschaft, nach Adalbert Stifter : man wird halt Nor-malfall, das Alltägliche nimmt seinen Lauf. Tüchtig wird man, nicht elitär odergebildet; ungleich Goethes Wilhelm Meister findet man keine Turmgesellschaftals Oberschicht, an die man sich bindet. Wo Meister in die Welt des Geldes undder Beziehungen einheiratet, nachdem er seine Flegeljahre auf dem Theaterhinter sich lässt, finden Stifters Wiener Studenten Freunde auf Lebzeit undnützliche Arbeit.

Dieser erste Akt des studentischen Lebens wird im Großen und Ganzen inanderen Texten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wiederkeh-ren, immer ungefähr nach demselben Muster, das Stifter umrissen hat. Arthur

36 Stifter, Leben, 210.37 Stifter, Leben, 210.38 Stifter, Leben, 211.39 Stifter, Leben, 212.40 Stifter, Leben, 213.41 Stifter, Leben, 213.42 Stifter, Leben, 213.43 Stifter, Leben, 213.

Katherine Arens44

Schnitzler zeigt uns eine Menge Bürgerlicher, die studiert haben (oft Medizin);seine Therese (1928)44 musste ihr Studium abbrechen, wie auch MarleneStreeruwitz’ Helene auf Grund ihrer Ehe mit einem Mathematikdozenten – siekehrt an die Universität zurück, um einen Vortrag Thomas Bernhards anzu-hören (Verführungen, 1996).45 In seiner Familienbiographie, The Hare withAmber Eyes,46 erzählt Edmund de Waal von Elisabeth Ephrussi, die aus denFenstern des Familienpalais am Schottentor auf die gegenüberliegende Uni-versität schaut, flehend und wartend, sich gegen die Gepflogenheiten ihresStandes dort einschreiben zu dürfen:

Elisabeth has known since she was ten that she must get from this room, her school-room with its yellow carpet, across the Franzenring to that room, the lecture hall of theuniversity. It is only 200 yards away–but for a girl, it might as well be a thousand miles.There are more than 9,000 students this year [1914], and just 120 of them are female.47

Endlich Erfolg: »[S]he adds in the final, triumphant line [of her memoir]: ›I hadregistered at the university‹. She had escaped. She had made it from one side ofthe Ringstrasse to the other«.48 Sie entkam damit auch der Welt der großbür-gerlichen Gesellschaftsdamen, um als Rechtsanwältin berufstätig zu werden.

Andere verlaufen sich nach dem akademischen Abschluss, wie Robert Me-nasses Don Juan de la Mancha (2007), der zum Verführer akademischer (undanderer) Frauen wird.49 Robert Musils Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften(1930), wird Mathematiker ; er scheitert am Anfang des Berufslebens, nimmt imAugust 1913 einen »Urlaub vom Leben« und verwickelt sich in die Gespräche füreine geplante (und nie stattfindende) Feier des siebzigjährigen Thronjubiläums

44 Arthur Schnitzler, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Berlin: S. Fischer 1928.45 Marlene Streeruwitz, Verführungen, 3. Folge. Frauenjahre, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.46 Edmund de Waal, The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance, New York: Farrar, Straus

and Giroux 2010 (dt. Der Hase mit den Bernsteinaugen: Das verborgene Erbe der FamilieEphrussi, Wien: Paul Zsolnay 2011).

47 de Waal, The Hare with Amber Eyes, 184.48 de Waal, The Hare with Amber Eyes, 201. Elisabeth Ephrussis erstes Studienjahr (1919) war

chaotisch (212); sie brachte das Studium trotzdem zu Ende und wurde Rechtsanwältin,indem sie auch Gedichte veröffentlichte. Was Ephrussi vorhatte, war noch gewagt, nicht nurim Hinblick auf Wünsche der Familie. Die medizinische Fakultät immatrikulierte Frauenzuerst 1900, die juridische 1919 (Bushell, Polemical Austria, 174), die philosophische 1897.Die erste Professorin der Universität, Elise Richter (1865 – 1943), legte als erste Frau dieMatura für Frauen in Wien ab (1896, mit 31 Jahren), habitilierte 1905 als Romanistin (wiederals erste Frau überhaupt), wurde 1907 die erste Dozentin an der Universität Wien, dann 1921(wiederum als erste Frau) zum Außerordentlichen Professor ernannt. 1943 nach Theresi-enstadt deportiert, starb Richter dort im selben Jahr.

49 Robert Menasse, Don Juan de la Mancha, oder, Die Erziehung der Lust. Roman, Frankfurta.M.: Suhrkamp 2007.

Ein universitärer Vielvölkerstaat 45

von Kaiser Franz Joseph (1918).50 Heimito von Doderer, in seinem Roman DieDämonen (1956), erzählt von drei Historikern, jeder am Anfang oder am Randedes nach-universitären Lebens: der Chronist, der alte Sektionsrat von Geyren-hoff; R�n� Stangeler, der angehende Historiker, der eine Handschrift zu einemHexenprozess entdeckt und sich dadurch zu etablieren hofft; und LeonhardKakabsa, der über die lateinische Sprache aus der Arbeiterklasse zum Studiumkommt, um Privatbibliothekar zu werden.51

Auch in der aristokratischen Welt gab es Restriktionen – so durfte KronprinzRudolf seine Matura nicht ablegen, weil andere es notwendiger hatten, wie seinVater meinte. Rudolf aber setzte seine Studien mit Universitätsprofessoren alsHauslehrern fort. Alles aus der Uni Wien Hervorgebrachte soll angeblich derNation dienen, sie ist Schmelztiegel der Völker und Klassen des Staates. Derstudentische Stand stellt Versuchskaninchen für die Zukunft dar ; irgendwanneinmal aber müssen die Studenten über die Altersgrenze des Studentenlebenshinaus schreiten und neue Ämter als Staatsdiener und Familienväter (seltener :-mütter) antreten. Dadurch wiederum gewinnt die Alma Mater neue Gesichteram gewohnten Ort. Erst die jüngere Literatur interessiert sich auch für andereStände der Universität und für exemplarische Geschichten ihrer Leben.

3. Nachleben an der Alma Mater: Mittelbau und Professoren

Das Leben innerhalb der Mauern des universitären Prachtgebäudes am Ringwird in Sachbüchern zur Instituts- und Fachgeschichte ausführlich beschrie-ben.52 Geschichten der verschiedenen Institute, Festschriften zu Professoren,

50 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Hamburg: Rowohlt 1952 [1. Band1930].

51 Heimito von Doderer, Die Dämonen. Roman, nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff,München: Biederstein 1956.

52 Bibliographien zur Universität Wien sind online zu finden: URL: http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/literatur/literaturauswahl/ und URL: http://bibliothek.univie.ac.at/archiv/ausgewaehlte_literatur_zur_geschichte_der_universitaet_wien.html (abgeru-fen am 15.5.2014). Die altehrwürdigen Geschichten sind vom Akademischen Senat der Uni-versität Wien (Hg.), Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898. Als Huldigungsfest-schrift zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum seiner k. u. k. apostolischen Majestät desKaisers Franz Josef I., Wien: Alfred Hölder 1898, URL: https://archive.org/details/geschichtederwie00vienuoft (abgerufen am 5.5.2014) und Akademischer Senat der UniversitätWien/Richard Wettstein (Hg.), Die Universität Wien. Ihre Geschichte, ihre Institute und Ein-richtungen, Düsseldorf: Lindner-Verlag 1929, sowie Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichenUniversität zu Wien, Wien: Carl Gerold & Sohn 1854, URL: https://archive.org/details/geschichtederka01untegoog (abgerufen am 20. 5.2014). Thomas König, Die Frühgeschichte desFulbright Program in Österreich. Transatlantische »Fühlungnahme auf dem Gebiete der Er-ziehung«, Innsbruck: Studien Verlag 2012, erzählt Universitätsgeschichte aus der Perspektivedes österreichischen Fulbright-Programms; Claudia Feigl (Hg.), Schaukästen der Wissenschaft.

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Universitätsfeiern und Beschreibungen von Forschungsprogrammen lieferndetaillierten Erzählstoff zur Universitätsgeschichte (durchaus mehr als zudeutschen Universitäten). Die darin angeführten Handlungen sind selten he-roisch; eher zeugen sie von Ausdauer und Planung in der Forschung und Lehre,von Zusammenarbeit und von Hingabe. Antisemitismus und unangenehmeErbschaften aus dem Nationalsozialismus kommen inzwischen auch vor,53

Die Sammlungen an der Universität Wien, Wien: Böhlau 2012, bespricht die verschiedenenSammlungen im Besitz der Universität Wien. Geschichtswissenschaften werden grundsätzlichbesprochen in Fritz Fellner, Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme undLeistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien: Böhlau 2002, und Fritz Fellner/Franz Adlgasser/Doris Corradini, »… ein wahrhaft patriotisches Werk«. Die Kommission fürNeuere Geschichte Österreichs 1897–2000, Wien: Böhlau 2001. Pavel Kol�r, Geschichtswissen-schaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Kempten: AVA-Verlag-Allgäu 2008, ergänzt diese Ausführungen mit einer Besprechung der Geschichtswis-senschaft um 1900, wie Arnold Suppan/Marija Wakounig/Georg Kastner (Hg.), OsteuropäischeGeschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, Innsbruck: StudienVerlag 2007, dies auch für die osteuropäische Geschichte bieten. Erna Lesky, Die Wiener Me-dizinische Schule im 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte der Universität Wien 6),Wien–Graz: Böhlau 1965, bleibt weiterhin maßgebend für Medizin; für Orientalistik liefertWolfdieter Bihl, Orientalistik an der Universität Wien. Forschungen zwischen Maghreb und Ost-und Südasien – Die Professoren und Dozenten, Wien: Böhlau 2009, ähnliches. Archivare steuernvieles dazu bei, in zwei grossen Ausführungen: Verband deutscher Archivarinnen und Ar-chivare e.V. (Hg.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Ar-chivtag 2005 in Stuttgart, Essen: Klartext Verlag 2006, und Generaldirektion des Österreichi-schen Staatsarchivs (Hg.), Österreichs Archive unter dem Hakenkreuz (Mitteilungen desÖsterreichischen Staatsarchivs 54), Innsbruck: Studien Verlag 2010. Johann Reikerstorfer/Martin Jäggle (Hg.), Vorwärtserinnerungen. 625 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät derUniversität Wien, Göttingen: V& R unipress 2009, bietet die Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät; Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Maria Staudigl-Ciechowic(Hg.), Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1918 – 1938. Göttingen:V& R unipress 2014, verspricht ähnliches für die Geschichte der Rechts- und Staatswissen-schaftlichen Fakultät 1918 – 1938. Richard Meisters Geschichte des Doktorates der Philoso-phie an der Universität Wien. Mit 7 Tafeln, Wien: In Kommission bei Rudolf M. Rohrer 1958,ist nach wie vor von historischem Interesse.

53 Die »braune Vergangenheit« der Universität wird in jüngster Zeit vielfach besprochen, be-sonders mit der Erscheinung des Bandes von Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils(Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien,Göttingen: V& R Unipress 2010. Irene Ranzmaier, Germanistik an der Universität Wien zurZeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft, Wien: Böhlau 2005,bespricht das Fach Germanistik; Oliver Rathkolb bietet einen Band zum Antisemitismus ander Universität : Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. KritischeAuseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert(Zeitgeschichte im Kontext 8), Göttingen: V& R Unipress 2013. Sehr wichtig sind auch dieRekonstruktion der Auswirkungen der Nürnberger Rassengesetze auf die Studentenschaftnach dem Anschluss, Herbert Posch/Doris Ingrisch/Gert Dressel, »Anschluß« und Aus-schluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Berlin: LITVerlag 2008, und die Überprüfung der akademischen Würden in jener Zeit von HerbertPosch, Akademische »Würde«. Aberkennungen und Wiederverleihungen akademischerGrade an der Universität Wien, Berlin: LIT Verlag 2013. Disziplinarfälle an der Universität

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ebenso wie die bemerkenswerten Kontinuitäten unter den Lehrenden zwischender NS- und Nachkriegszeit.54 Letzendlich gewinnen die Forschungsaufgabe undLehrtätigkeit der Universität Gestalt am deutlichsten in den Geschichten derbetroffenen Individuen, auch wenn diese sich dadurch nicht von ihrer bestenSeite zeigen, besonders in der Zeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Li-teratur ergänzt diese Geschichten, und nicht immer in erfreulicher Art undWeise.

Die bissigste Widerspiegelung der NS-Zeit finden wir bei Ingeborg Bach-mann, in einer Kurzgeschichte aus Das dreissigste Jahr (1961).55 Dort zeigt sieeine »Herrenrunde« im Wien der Nachkriegszeit, wo sich eine Gruppe ältererMänner aus der Oberschicht trifft, um sich zu betrinken und die Vergangenheitzu besprechen. Einer von ihnen ist Professor an der Universität :

Er war zwei Jahre lang ohne Bezüge gewesen, aber jetzt war er wieder Professor an derUniversität. Er hatte in seiner »Geschichte Österreichs« alle Seiten umgeschrieben, diedie neuere Geschichte betrafen und sie neu herausgegeben. [… Der Kollege sagt dazu:]»Jeder weiss, dass er es aus Opportunismus getan hat und unbelehrbar ist, aber er weisses auch selber. Darum sagt es ihm keiner. Aber man müßte es ihm trotzdem sagen«.56

Bachmanns Erzählung geht nicht weiter in diese Richtung, aber bezeugt dasGrundproblem Österreichs in der Nachkriegszeit: die kollektive Belastungdurch die große Zahl an Mitläufern und Mittätern und die engen Grenzen desSchuldbewusstseins, ja des Eingeständnisses darüber. Als zentrale Institutionder neuen Republik teilt die Universität auch deren Sorgen.

Die Ethik des Mitlebens zwischen »town and gown« (Stadt und akademi-schem Talar) wird klar umrissen. Scheitern heißt nicht nur, sich aus dem Uni-versitätsleben zu entfernen, sondern auch aus dem Leben. Elias Canettis RomanDie Blendung (geschrieben 1931 – 1932) berichtet von Peter Kien, einem Sino-logen, dessen Wohnungswände aus lauter Büchern bestehen.57 Diese angeblichwichtigste Privatbibliothek Wiens kommt in Bedrängnis, als Kien eine Ehe mitseiner Haushälterin schließt und sie daraufhin den Zugang zu einigen Regalenversperrt. Der bibliomane Kien verfällt in Wahnvorstellungen; er findet die ihmverlorenen Bände in seiner »Kopfbibliothek« wieder. Sein Bruder, der PsychiaterGeorg, versucht eine Behandlung, scheitert jedoch. Der Sinologe verbrennt sichund seine Bibliothek.

sind das Thema von Andreas Huber/Katharina Kniefacz/Alexander Krysl, Universität undDisziplin. Angehörige der Universität Wien und der Nationalsozialismus, Berlin: LIT Verlag2011.

54 Siehe z. B. Bushell, Polemical Austria, 201.55 Ingeborg Bachmann, Unter Mördern und Irren, in: Das dreissigste Jahr. Erzählungen,

München: R. Piper & Co. Verlag 1961, 105 – 141.56 Bachmann, Unter Mördern und Irren, 115.57 Elias Canetti, Die Blendung. Roman, Wien: Verlag Herbert Reichner 1935.

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Auch an der Universität bleiben heißt noch lange nicht, dass Rollen richtigbesetzt werden. Ein Professor der Mathematik ist der Protagonist von HermannBrochs Die unbekannte Größe (1933).58 Richard Hieck bringt es als Stipendiatzum Doktorgrad und zur Anstellung an »einer Universität«, wo er sich ganz derForschung und Lehrtätigkeit widmet. Broch beschreibt das Werk als »Roman desintellektuellen Menschen, d. h. jenes Menschen, dessen Leben – ›intellektuell‹ imradikalsten Sinn verstanden – rein auf Erkenntnis abgestellt ist«;59 Hieck sehe »inseiner Wissenschaft eine Art modernes Mönchsideal«.60 Ganz im Gegensatz zumgeistigen Klima der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wollte Broch Licht auf die»Anti-Intellektualität der Zeit« werfen: auf »den Kampf gegen alles Geistige« undeine »Frage nach den Vorbedingungen, unter welchen ein außerbürgerlicher –hier ein halbproletarischer – Mensch zur Einschlagung eines rein intellektuellenerkenntnismäßigen Lebens gebracht wird«.61 Der Professor wird Mensch erstnachdem der Bruder stirbt und er sich entschliesst, sich zur Liebe – und zur Weltausserhalb der Universität – zu bekennen.

Thomas Bernhards Heldenplatz (1988)62 behandelt eine ähnlich deprimie-rende Thematik. Ein Professor, der von den Nazis vertrieben wurde und nachdem Krieg trotzdem nach Wien zurückgekehrt ist, begeht am Anfang des StücksSelbstmord. In den vergangenen zehn Jahren seines Lebens hörte er die Men-schenmassen, die 1938 am Heldenplatz Hitlers Einzug in Wien gefeiert hatten,immer wieder jubeln; nach seinem Tod breitet sich dieser Wahn über seineFamilie hinweg aus. Die Wissenschaft kann ihr nicht mehr helfen.

Das Fach Chemie gegen Schluss des Zweiten Weltkrieges bildet den ersten Teilvon Johannes Mario Simmels Wir heissen euch hoffen (1980).63 Der SchweizerChemiker, der am Institut für Chemie an der Wiener Universität arbeitet (undviel später den Nobelpreis für seine Arbeit gewinnt), bringt seine Forschungdurch, trotz Bomben, den vom Nerobefehl ausgelösten Sabotageakten über-zeugter nationalsozialistisch gesinnter »Kollegen«, der Doppelmoral der Kriegs-und Nachkriegszeit und des Verlusts von Geliebten und der eigenen Identität.Die Forschung lebt weiter, sie muss zu Ende gebracht werden.

Ruth Klüger berichtet in ihren Memoiren unterwegs verloren (2010) von einerGastprofessur am Germanistischen Institut wenige Jahre zuvor.64 Sie war, wie sie

58 Hermann Broch, Die Unbekannte Größe. Roman (Kommentierte Werkausgabe, Bd. 2.),Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.

59 Broch, Die Unbekannte Größe, 243.60 Broch, Die Unbekannte Größe, 247.61 Broch, Die Unbekannte Größe, 243.62 Thomas Bernhard, Heldenplatz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012 [Erstveröffentlichung

1988].63 Johannes Mario Simmel, Wir heißen euch hoffen. Roman, Ascona: Droemer Knaur Verlag &

Co. 1980.64 Ruth Klüger, unterwegs verloren. Erinnerungen, München: dtv 2010.

Ein universitärer Vielvölkerstaat 49

selbst meinte, dem Institut »aufgehalst« worden als Fachexpertin für Frauenli-teratur : »Die Kollegen lernte ich überhaupt nicht kennen«,65 trotz des Erfolgsihrer Vorlesungen, der über 200 HörerInnen folgten, die im übrigen zum erstenMal von jenen SchriftstellerInnen hörten, die Klüger referierte. »Niemand hießmich bei meiner Ankunft willkommen, niemand sagte Dankeschön, als ichging«.66 Nach einer akademischen Laufbahn in den USA versteht Klüger dieUniversität als Treffpunkt für akademische Eliten, und wird von ihren WienerKollegInnen enttäuscht.

Politik liegt nicht notwendigerweise außerhalb der Interessen der Professo-rInnenschaft. Eine Verbindung zwischen Israel und Wien bildet den Kern vonDoron Rabinovicis Erzählung von einem Professor, der dem Ruf ans Institut fürGeschichte (Andernorts [2010]) folgte, mit einem möglichen, bis dahin unbe-kannten Halbbruder als direktem Konkurrenten.67 Als er in der Entschei-dungszeit zwischen Israel und Wien pendelt, löst der Professor mit einem Zei-tungsartikel, der als Streitschrift gelesen wird, Aufruhr aus. Infolge der Ereig-nisse und eines Bewusstseinswandels beschliesst er, in Israel zu bleiben undlehnt auch die Berufung ans Institut ab – oder er wird abgelehnt, wie es dieUniversitätsverantwortlichen darstellen wollen.

Neben Dauerspuren der jugendlichen Ausgelassenheit der Adalbert-Stifter-schen Studentenzeit und den bedrückenden Ergebnissen der politisch-gewalt-samen Ereignisse zur Mitte des 20. Jahrhunderts bekommen wir schließlich auchStresserscheinungen im Mittelbau der Universität zu Gesicht. Die fiktionalenGrubenarbeiterInnen der Wissenschaft treten in einer Serie von Krimis vonMartin Mucha auf.68 Der Held, Dr. Arno Lindner, widmet sich der Habilitation inklassischer Philologie. Leib und Seele hält er zusammen, indem er als externerLektor an der Universität Wien tätig ist – ganz unten in der universitären Nah-rungskette.69 Als Student musste er sich oft entscheiden, ob er essen oder Mietezahlen sollte, und seine Lage hat sich seitdem nicht wesentlich verbessert. Da-mals hat er im Casino gearbeitet, wo er offenbar einen Großteil der zwielichtigenBürger aus Wiens Unterwelt kennenlernte; während er sich im akademischen

65 Klüger, unterwegs verloren, 207.66 Klüger, unterwegs verloren, 209.67 Doron Rabinovici, Andernorts. Roman, Berlin: Suhrkamp 2010.68 Bisher : Martin Mucha, Papierkrieg. Kriminalroman, Meßkirch: Gmeiner Verlag 2010; See-

lenschacher. Kriminalroman, Meßkirch: Gmeiner Verlag 2011; Beziehungskiller. Kriminal-roman, Meßkirch: Gmeiner Verlag 2012.

69 In der Tradition von österreichischen Schriftstellern, die sich Romanfamilien aus bekann-teren Vorläufern leihen, hat Mucha höchstwahrscheinlich eine Nebenfigur aus Musils Mannohne Eigenschaften als Familienmitglied seines Lindners erkoren: Musils August Lindner,aus dem Umkreis von Ulrichs Schwester Agatha, hat als mögliches Vorbild Friedrich Wil-helm Foerster (1869 – 1966), Philosoph und Reformpädagoge, der 1913 – 1914 an der Uni-versität Wien tätig war.

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Umfeld mühsam hinaufarbeitet, muss er immer noch Nebenjobs annehmen,gesetzliche wie auch ungesetzliche. In der Tradition des roman noir können ihmFrauen kaum widerstehen, aber er bleibt ein Einzelgänger. Als Mitglied desMittelbaues der Universität Wien ist er »ein Angestellter der Alma Mater Vin-dobonensis«;70 seine Chefin, Frau Ordinaria Glanicic-Werffel, bedroht ihnständig damit, seinen Vertrag nicht mehr zu verlängern:

Die Philologie ist zwar eine schöne, sinnliche und verständnisvolle Geliebte, aber Geldlässt sich mit ihr nur schwer verdienen. Sie ist eine Göttin und keine Hure. Zuerst mussman jahrelang schuften und sich quälen und nach mancher Prüfung, Arbeit undDissertation landet man, wenn man Glück hat, an der Uni. Man beginnt, die akade-mische Karriereleiter hinaufzuklettern, als Externer Lektor, der niedrigsten Lebens-form an einer Hochschule. Sogar die malaiischen Putzfrauen blicken auf einen herab.Kein Wunder bei einem Einkommen von zehn mal 535 Euro jährlich. Sozialversichertist man damit selbstverständlich nicht.71

Wir Philologen sind Tänzer am Rande des Vulkans, Buhlen der Gefahr. Wir genießendas Adrenalin, denn bereits ein einfacher Beinbruch oder eine kariesbedingte Zahn-extraktion kann das Ende der Existenz bedeuten.72

Der Teefeinschmecker und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel Lindner wohntebenso prekär wie Stifters Studiosi. Lindner hat aber Aussichten, erklärt die FrauDoktor Ordinaria:

Ein ausgezeichneter Philologe, alles rennt zu Ihnen um Rat, die Kollegen bewundernSie, an jedem Finger fünf Mädchen, und sogar Ihre widerlichen Gesetzeswidrigkeitenschaden weder Ihrer Karriere noch Ihrer Gesundheit. Weil Sie der Einzige am Institutmit Grips sind. In zehn Jahren sitzen Sie auf meinem Stuhl wie ein Gott.73

Noch dazu ist er am Pult begabt: Er weiß, was es alles zu unterrichten gibt, undwie man Studierende für das Fach interessiert. Zu einer seiner Unterrichts-stunden bietet er detaillierten Kommentar :

Um mich herum tobte der Kampf der Intellekte, den ich immer wieder durch ein paargezielte Fragen aufstachelte, wenn er abzuebben drohte, ansonsten aber hielt ich michzurück. Ein gutes Seminar soll von den Studenten getragen werden, der Lehrer suchtnur die Texte aus. Natürlich schaltet man sich selbst auch hin und wieder ein,schließlich gilt es Überlegenheit zu demonstrieren und sich den Respekt zu erhalten.74

Und alle paar Tage begibt er sich in die Nationalbibliothek, um seine Habilitationweiterzubringen, auch wenn er mal wegen Wohnungsproblemen im Büroschlafen muss. Die »town and gown« Grenze ist hier groß; Lindner wendet nur

70 Mucha, Papierkrieg, 69.71 Mucha, Papierkrieg, 29.72 Mucha, Papierkrieg, 37.73 Mucha, Seelenschacher, 142.74 Mucha, Seelenschacher, 92.

Ein universitärer Vielvölkerstaat 51

selten seine philologischen Fähigkeiten an, um sich aus brenzligen Situationenzu retten, und sein Image und seine Abenteuer stammen aus einer früheren Zeit,die von »hard-boiled« Detektiven bevölkert ist.

4. #unibrennt

Erdichtet allerdings ist die prekäre finanzielle Lage von Muchas Held keineswegs– arm ist er und oft hoffnungslos der Zukunft gegenüber. Der Druck, unter demLindner und zugleich die (europäische) Gesellschaft steht, fordert neue Veran-staltungen, neue »performances« der Identitäten des Univolks. Der Vergleich deroffiziellen Ideologie des österreichischen Universitätsdiskurses und die damit inZusammenhang stehenden bildungspolitischen Reformen mit der Wirklichkeitvor Ort zwingt zu Reaktionen gegen ersteren in der Hoffnung, dadurch zweiterezu verbessern. Durch die neuen Medien werden Stimmungen an der Universitätschneller verstärkt und die Stimmen aus der Universität leichter in die breitereÖffentlichkeit getragen. Die kritischen Stellungnahmen zeigen sich interessan-terweise der Universität deutlich enger verbunden als der fiktive Lindner. Ge-legentlich bringen die Versuche, die Ethik des Diskurses neu zu ordnen und sichetwa gegen den Bologna-Prozess und die geforderten Revisionen der Studien-ordnungen zu wehren, sogar die Studierenden mit dem Mittelbau der Universitätzusammen.

Damit kommen wir zum jüngsten Gesicht der Alma Mater Vindobonensis:Ihrer Rolle in Zusammenhang des Bologna-Prozesses und der (angeblich) ver-einigten Bildungspolitik in Europa, wie sie in den medialisierten Selfies der Unibrennt Bewegung bezeugt wurde – eine Bewegung, die 2009 ihren Anfang fand.Dokumentationen zu den Frühphasen der damals noch laufenden Bewegungerschienen schon 2010 in zwei Ausgaben eines Bandes, herausgegeben vonStefan Heissenberger, Viola Mark, Susanne Schramm, Peter Sniesko und RahelSüss.75 Hier äußert sich der Diskurs zur Universität in Texten, die sich sowohl derherkömmlichen Gattungen bedienen (Gedichte, Essays, Erzählungen, Augen-zeugenberichte) als auch neuer (Twitter-Texte, Blog-Einträge, Email-Blasts). Esgibt Links zu virtuellen Pinbrettern, Hinweise zu Aufführungen und Kunster-eignissen, aber auch zu Trivialem wie ausführliche Berichte zu den eigens ge-kochten Tagesmenüs.

Vieles, was damals im Netz aufzufinden war, ist inzwischen klarerweise ver-schwunden, aber die Aktion hat im erwähnten Band als Zettelkasten und ar-

75 Stefan Heissenberger/Viola Mark/Susanne Schramm/Peter Sniesko/Rahel Süss (Hg.), Unibrennt. Grundsätzliches, Kritisches, Atmosphärisches (2., erweiterte Aufl.), Wien–Berlin:Verlag Turia + Kant 2010.

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chäologische Fundstelle verlorener Sprechakte seine Vertretung gefunden, alsschriftliche Zeugnisse einer Studierendenbewegung, die selbstbewusst ihreWirklichkeit verändern wollte. Durch den Universitätsdiskurs finden Studie-rende auch zu Identitäten innerhalb der Gesellschaft – Identitäten gestiftet inden Uniräumlichkeiten, aber in ihren Handlungen ethisch der Aussenwelt ver-pflichtet.

Die Dokumentation der Protestbewegung gegen die Reformen des soge-nannten Bologna-Prozesses zeigt deutlich: Lindners universitäre MitbürgerIn-nen stellen Forderungen, und sie positionieren sich dabei bewusst als Stand derUniversität und des Staates zugleich. Bildung steht im Dienst des Staates und derStaat ist Förderer der Bildung: So lautet die Ethik der Proteste. Das politischeBewusstsein des alternativen Universitätsstaates hebt aber eher die ethischenPflichten jeder Schicht hervor als die Rechte, die ihnen zukommen sollen.

Die Szene erinnert ein wenig an 1968 und darin am ehesten an den WienerAktionismus.76 Am 22. Oktober 2009 wurde das 1000-sitzige AudiMax derWiener Universität von einer Studierendenflut als Protest gegen die herr-schenden Studienbedingungen besetzt. Zuvor hatten KollegInnen bereits dieAula der Akademie der Bildenden Künste besetzt; vom Wiener AudiMax ver-breiteten sich dann diese Proteste in alle wissenschaftlichen Institute Öster-reichs – und hinein in viele europäische Universitäten. In Wien umfasstenKundgebungen zuweilen bis zu 20.000 DemonstrantInnen.77

76 Die insbesondere zwischen 1962 und 1970 gemeinsam aktiven Aktionisten Günter Brus,Otto Muehl, Peter Weibel und Oswald Wiener führtenam 7. Juni 1968 vor rund 300 Zu-schauern im Hörsaal 1 der Universität Wien eine Aktion Kunst und Revolution (imVolksmund Uni-Ferkelei) durch. Brus wurde 1970 wegen »Herabwürdigung der öster-reichischen Staatssymbole« in einer anderen Demonstration angeklagt.

77 Die ursprüngliche Website (URL: http://unsereuni.at/wiki/Aktueller_Stand_%C3%B6sterreichweit [abgerufen am 27. 5. 2014]) läuft immer noch mit Auflistungen europaweiterTagesereignisse, widmet sich aber immer mehr der studentischen Beratung. Die Face-book-Seite der Bewegung (URL: https ://www.facebook.com/unsereuni [abgerufen am27. 5. 2014]) beinhaltet einige der früheren Liveübertragungen und viele der Dokumen-tationen der ehemaligen »unibrennt« wikisite (jetzt anscheinend verloren, und weiter-geleitet auf URL: unsereuni.at), sowie Links zu weiteren Dokumentationen der Geschichte(siehe auch URL: http://www.facebook.com/unsereuni?v=app_2344061033& ref=nf[abgerufen am 27. 5. 2014]). Facebook »Max Audi« (URL: https://www.facebook.com/max.audi?fref=ts [abgerufen am 27. 5. 2014]) hält weitere Dokumentationsquellen bereit.Die ABK Proteste fanden Webdokumentation auf ihrer Website, jetzt fortgesetzt unterURL: https://www.facebook.com/malen.zahlen (abgerufen am 27. 5. 2014). Noch mehrDokumentation ist bei URL: https://www.facebook.com/befreite.aula?composeropen=1(abgerufen am 27. 5. 2014). zu finden. Die Demonstranten twittern unter vielen Twitter-namen, einschließlich #unsereuni, #unibrennt, #audimax und #unibrennt_en (auf Eng-lisch). Im Laufe der ersten Protestwelle arbeitete eine Aktionsgruppe für Übersetzung, diedie Dokumentation in anderen Sprachen zugänglich machte, mit ausführlichen Presse-mappen und Fotos, mit Links zu weiteren Blogs und Websites,und auch zu einem Livefeed

Ein universitärer Vielvölkerstaat 53

Der Twitter-Hashtag #unibrennt bedeutete zunächst Widerstand gegen be-fristete Studienzeit, gegen neue Prüfungen und Pflichtkurse (besonders »knock-out Kurse«), gegen die Einführung von Kursvoraussetzungen und gegen dieRegulierung des Zugangs zu besonders nachgefragten Studiengängen. Aussen-stehende konnten leicht dem Glauben verfallen, dass die Studierenden sich nichtdem Konkurrenzdruck aussetzen wollten und damit auch die politische Not-wendigkeit ignorierten, dass der Staat die Ausgaben für Bildung unter Kontrollebringen muss. Die Medienberichterstattung wollte (und will) aber wohl auchgeflissentlich einen anderen Aspekt des Protests unterschlagen: die ernste undgründliche Kritik des Neoliberalismus und dessen Auswirkungen auf das Bil-dungssystem in Europa.78

Die ErbInnen des Wiener Aktionismus also führten Blogs, twitterten, stelltenVideos direkt aus dem AudiMax ins Netz, schrieben Facebook-Einträge undbetreuten ein Archiv unter Creative Commons Lizenz. Es fehlte aber auch nichtan Handzetteln, Infoblättern und Sonderzeitungen; virtuelle Plakate fanden ihrePinwände online. Die Medienpräsenz war nahezu lückenlos und jedenfalls in-tensiv, und es gab einen eigenen »Tag der offenen Universität«. Die Kreise, die dieBesprechungen zogen, ließen es keineswegs zu, dass die Proteste auf das Univolkbeschränkt werden konnten. Der bekannteste Spruch des Aufstands verlangte»Bildung für alle – und zwar umsonst«. Ebenso programmatisch war die De-klaration »Bildung statt Ausbildung«, der gegen die Einführung der Bologna-Studienarchitektur gerichtet war. Gefordert wurden die faire Auswertung vonAbschlüssen und erweiterte Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsinstitutionenauf allen Ebenen und für Schüler und Studierende aus allen Gesellschafts-schichten. Ein früher Text dazu (vom 2. November 2009) verfügte über einePräambel, welche die Studienverhältnisse mit der Gesundheit des Staats zu-sammenbrachte, und die versicherte, dass Studierende fähig seien, ihre eigenenBildungswege vernünftig zu gestalten.79 StudentIn sein heißt hier Verantwortungden MitbürgerInnen gegenüber.

Die kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen (und europäi-

aus dem AudiMax und dessen ProgrammrednerInnen und Mitwirkenden aus Kunst,Theater und Musik.

78 Armin Thurnher liefert einen typischen Aufsatz hierzu »Protest in Zeiten des Neolibera-lismus«, in: Heissenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 297 – 304. Robert Pfaller, in der WienerZeitung Der Standard, nannte das »Ein Aufstand gegen die Kanalisateure des Wissens«, 29.10. 2009, URL: http://derstandard.at/1256743629208/ (abgerufen am 10. 5. 2014) [Druck-version, 30. Oktober]. Eine Analyse der begleitenden Kommentare findet sich bei ThomasKönig, »Das kann doch nicht alles sein!«, in: Kurswechsel (2010) 1, 122 – 125 URL: http://www.beigewum.at/wordpress/wp-content/uploads/kurswechsel-1-2010-koenig.pdf (abge-rufen am 27. 5. 2014).

79 Heissenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 177 – 185, bietet zwei spätere Varianten desselbenForderungsdokuments.

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schen) Bildungspolitik umfasste folgende zentrale Punkte: Redemokratisierungder Bildung, Umstrukturierung der Entscheidungsverfahren der Bildungsin-stitutionen und Verringerung der Macht der Universitätsleitung. Bei der Eva-luierung von Studiengängen zum Beispiel sollten Lehrkräfte und Studierendebeteiligt werden, nicht nur BildungsbürokratInnen. Eine barrierefreie Umge-bung wurde als Voraussetzung für hochleistungsfähige Studierende gesehen,und durchgehende Anti-Diskriminierungsmaßnahmen sollten die soziale In-tegration ermöglichen; vollausgelastete SchülerInnen und StudentInnen, so dieKritik, würden keinen Stress mehr ertragen, besonders bei Prüfungen; Trans-parenz und Rechenschaftspflicht im Bildungssystem müssten auf jeder Ebenevorhanden sein. Bildung solle demokratische Willensbildung ermöglichen,nicht bloß individuelle Karrieren fördern. Sogar große historische Ungerech-tigkeiten wurden thematisiert, etwa die Frage nach Shoa-Eigentum, welches sichnoch »in Besitz« der Universitäten und anderer staatlicher Einrichtungen be-fände. »Wir bestehen auf der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit derTeilhabe der Wissenschaft und ihrer Institutionen, an Kolonialismus, Faschis-mus und Nationalsozialismus«80.

Weit oben auf der Liste der Forderungen stand die Verfügbarkeit vonRäumlichkeiten – die »Uni als Lebensraum«, oder, wie es später heißen sollte,»autonome Räume«.81 Die DemonstrantInnen wollten Zugang zu Räumen fürstudentische Vertretungen und Organisationen und sonstige kulturelle Institu-tionen, die diese als Begegnungsstätte und Konferenzzimmer verwenden kön-nen sollten. Um die studentische Kommunikation zu verbessern, war darin auchein Anrecht auf Büroräume und passende Infrastruktur inkludiert, ganz imSinne des Schlagworts »Kooperation statt Konkurrenz«. InteressenvertreterIn-nen sollten auch besser ins Bildungswesen eingegliedert werden, durch»gleichberechtigte Einbeziehung aller vier Kurien: Studierende, Mittelbau,Professor_innen und allgemeines Universitätspersonal«, durch Reduktion der»Dominanz von Rektorat, Unirat und Ministerium«, sowie durch »Zusam-menlegung des Ministeriums für Unterricht und Kunst und des Ministeriumsfür Wissenschaft und Forschung«.82

Die Studierenden solidarisierten sich auch mit dem universitären Mittelbau,der in vielen Hinsichten als entrechtet wahrgenommen wurde: den Drittmit-telangestellten, wissenschaftlichen AssistentInnen und externen LektorInnen,83

sowie den PrivatdozentInnen mit Lehrbefugnis (venia legendi).84 Solche Situa-

80 Heißenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 180.81 Heißenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 178.82 Heißenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 178.83 Heißenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 179.84 Die Problematik von Gratislehrveranstaltungen aufgrund der Venia ist keineswegs neu; sie

existiert in Österreich mindestens seit 1873. Neuere Entwicklungen (hervorgerufen durch

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tionen würden durch neoliberale Maßnahmen der Regierung verschlimmert, dievom »gesunden Wettbewerb« reden, um ökonomische Missstände zu über-spielen.85 Daher hieß es nicht nur »Demokratisierung der Universitäten« son-dern auch »Keine Ökonomisierung von Bildung«.

Diese (immer noch unvollständige) Liste an Forderungen ist um die Weltgegangen und doch meist offen geblieben. Erreicht hat #unibrennt in erster Linieeinmal das Hinterfragen jener Dinge, die zuvor als selbstverständlich und not-wendig dargestellt wurden. Baut der europäische Integrationsprozess Natio-nalgrenzen ab? Beenden Privatisierungen die Unwirtschaftlichkeit staatlicherVerwaltung? Ist Wettbewerb der beste Weg, eine gesamteuropäische Volks-wirtschaft zu ermöglichen? Vor allem aber : ist Hochschulbildung nach Bologna-Kriterien tatsächlich das Mittel, um die Wissensgesellschaft der Zukunft zuerreichen? Vieles wurde mit dem Schlagwort des Neoliberalismus belegt, ob-gleich dieser Begriff sehr vage bleiben musste; das verlieh den Proklamationenzuweilen einen holzschnittartigen Zuschnitt. Jedenfalls aber, so die Protestie-renden, seien diese angeblichen Vorteile Mythen, und man berief sich nicht vonungefähr auf globalisierungskritische Bewegungen wie ATTAC, die schon längerdarauf hinweisen, dass dahinter eine Umverteilung nach oben abläuft, welchedie nach dem Zweiten Weltkrieg auf allgemeinem Wohlstand basierenden eu-ropäischen Demokratien zunehmend aushöhlen würde.86 Die Proteste basiertenalso durchaus auf schon länger diskutierten, alternativen Entwürfen zu Bil-dungs- und Sozialpolitik auf Europaebene – Basispolitik aus den Händen derdritten Nachkriegsgeneration, eine Art Ankunftsprotest.87

Auffällig an der Bewegung war auch ihr Anfang: Jede Arbeitsgruppe war fürdie Umsetzung des Protestprogramms in Aktionen verantwortlich, wie auch fürihre Finanzen, ihre Berichterstattung über Aktionen und die Aufrechterhaltungder Kommunikation mit beteiligten Interessensgruppen innerhalb und ausser-halb der Universität Wien und Österreichs. Sie suchten nicht die charismatischeFührungsschicht von 1968, sondern virales Marketing der sozialen Gerechtigkeit

den Bologna-Prozess), wie Teilzeitarbeit für Akademiker und die Neuerfindung von »JuniorProfessoren« in Deutschland (oft Dozenten aus anderen europäischen Ländern, die Unter-richt in den neuen Pflichtkursen abhalten und bewerten, also die nationalen Prüfungen zurErlangung akademischer Würden) schaffen aber neue »Stände« im Universitätswesen meistohne Aussicht auf eine permanente Anstellung und oft unterbesoldet im Vergleich zu dentraditionellen universitären Arbeitsverhältnissen.

85 Als Beispiel des Weiterlebens dieser Rhetorik siehe URL: http://derstandard.at/1397522040137/Unsicherheit-stachelt-zu-Hoechstleistungen-an (abgerufen am 11. 6. 2014).

86 Siehe z. B. den Aufsatz von Christian Felber, Aushungern der Unis ist kein Naturgesetz, in:Stefan Heissenberger et al. (Hg.), Uni brennt, 310 – 316, der die neue Bildungspolitik inVerbindung mit dem ökonomischen Umbau des Staates unter Wolfgang Schüssel nach 2002sieht.

87 In Anlehnung an die Politik der letzten Generation von DDR Intellektuellen, der An-kunftsgeneration.

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in Blitzgeschwindigkeit. Im kreativen Chaos der Proteste bildeten die StudentenPutzteams für das AudiMax, eröffneten eine Volksküche (VoKü), führten Buchmit Postings der zu besetzenden Räume (und über Ausfallszeiten von Elektri-zität, Wasser und Heizung, als Eingriffe seitens der Univerwaltung), schriebenund verteilten Annoncen zur Geldverschwendung im Universitätswesen.88

Strassentheater wurde gemacht;89 das Filmfest Viennale verlegte die Premiereeines Dokumentarfilms ins AudiMax.90 Man komponierte sogar einen Titelsongfür die Besetzung, mit Äußerungen wie »Das Plenum ist unsere Festung. DieBasis sind wir!«91 Weitere Arbeitsgruppen bildeten sich, um zum BeispielTransparente zu fertigen.92 Die »Nur-Dasitz und Nix-Tu AG« verlangte Aner-kennung für ihre Tätigkeit beim Verhindern der Rücknahme des AudiMax vonder Unileitung. Strassendemonstrationen setzten sich fort.93 Im Dezember 2009gaben die Studierenden an, mit Hilfe einer »Weihnachtsprogramm AG« so langwie möglich mit der Besetzung fortzufahren. Dann aber wurde das AudiMaxwährend der Weihnachtsferien geräumt: Polizisten fanden hauptsächlich Ob-dachslose vor, die sich als stellvertretende Bankwärmer gemeldet hatten, um ausder Kälte zu kommen.94

Mittlerweile hatte auch die arrivierte Politik reagiert. Johannes Hahn, damalsnoch Bundesminister für Wissenschaft und Forschung, stellte 34 Mio. Euro auseiner Reserve des ministeriellen Universitätsbudgets bereit und lud Demon-strantInnen ab spätem Oktober 2009 zu einem »Hochschul-Gespräch« ein. Daswar eine geschickte politische Strategie, der Bewegung ihre eigene Dynamik zunehmen. Als Hahn Anfang 2010 in die Europäische Kommission wechselte, tagtedie Gesprächsrunde weiter, aber den Studierenden fiel es schon schwer, über-haupt VertreterInnen in das Gremium zu schicken, und noch viel mehr, sich aufkonkrete Verhandlungsziele zu einigen. So blieb nach den euphorischen undgenialen Anfängen wenig übrig – weder auf den Strassen Wiens noch am Ver-handlungstisch.

88 Ein Beispiel: die Universität musste Räume mieten, um Veranstaltungen unterzubringen, diefür das besetzte AudiMax geplant waren. Eine AG schlug vor, das AudiMax oder ein kleineresAuditorium an die Unileitung zurück zu vermieten. Siehe http://unsereuni.at/wiki/index.php/Raumvermietung_(univie) (abgerufen am 28. 5. 2010).

89 Z. B. https://www.youtube.com/watch?v=d7QkUrGPCYo (abgerufen am 27. 5. 2014).90 Siehe URL: http://www.viennale.at/ (abgerufen am 27. 5. 2014).91 Siehe URL: https://www.youtube.com/watch?v=p4LyOX2ccMw (abgerufen am 27. 5. 2014).92 Siehe URL: http://ichmachpolitik.at/questions/546 (abgerufen am 27. 5. 2014).93 Siehe URL: https://www.youtube.com/watch?v=8cLg7HQUIqo oder https://www.youtube.

com/watch?v=tykwlg_unAg (abgerufen am 27. 5. 2014).94 Darüber gab es dann noch vereinzelt weitere Proteste: Die Weihnachtszeit 2009 war be-

sonders kalt, und so galt diese Räumaktion als unmenschlich, weil man Obdachslose beiMinus-Graden auf die Strasse setzte – die Uni gehöre sowieso allen Staatsbürgern Öster-reichs. Eine ausführliche Chronologie der Proteste findet man in Heissenberger et al. (Hg.),Uni brennt, 339 – 345.

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5. Nach den Protesten – textuelle Verarbeitung

Die erregte Phase der Proteste ist längst vorbei, aber die Basisdemokratie gegenBologna ist an der Donau noch vorhanden, zumindest als Textbilder, welche dieperformative Ethik der Situation hinterlassen hat und die uns über die Ideologieder Universität und ihres Volks informieren. Aus der Diskursperspektive kanndaher keineswegs von einem Scheitern gesprochen werden: Der Uni brennt Banddokumentiert nicht nur politische Auseinandersetzungen dieser Protestbewe-gung, sondern auch Atmosphärisches: Interviews, Aufsätze, welche die Ge-dankengänge der Proteste weiterführen, Repliken von KommentatorInnenausserhalb der Universität (einschließlich Beiträgen von Marlene Streeruwitzund Christian Fleck) und Beiträge von Arbeitsgruppen (auch einen von der »AGSquatting Teachers«). Selbst aktuelle Zeitungsausgaben enthalten immer nochZeugnisse davon, dass die Studierenden in Wien gerne bereit sind, zur Bil-dungspolitik beizusteuern, und erst jüngst erinnerte die Tageszeitung DerStandard ans fünfjährige Jubiläum der Proteste.95 #unibrennt, so der Tenor, habewenig erreicht, ausser vielleicht vage Hoffnungen zu erwecken. Die Bewegungmag vielleicht noch existieren, aber derzeit zumindest illustriert sie eher, dassdie Kritik an der (neoliberalen) Politik Europas ohnmächtig ist: »Leistung«, soeine aktuelle Forderung, solle mehr als ökonomische Produktivität einschlie-ßen; Effizienzsteigerungsmaßnahmen wie der Bolognaprozess zwängen derGesellschaft Kosten auf, die im politischen Diskurs nicht wahrgenommen wer-den wollten.

Was noch zu betonen ist, ist eine Besonderheit in der Rhetorik der WienerProtestbewegung. Während die Kritik des Neoliberalismus sich global immerauf Menschenrechte beruft, wird in Wien eine Ethik der Situation betont – wasdie Gesellschaft als Ganzes bedürfe, nicht nur was Individuen wollen. Das weistanders als herkömmlich auf Unzulänglichkeiten des neoliberalen Denkens hin,und unterstreicht damit die Bedeutung des Bildungswesens als Teil einer grö-ßeren Gesellschaft. Individuen haben weniger Anrecht auf Bildung zur Selbst-verwirklichung; vielmehr nehmen sie durch Bildung Verpflichtungen der Stadtund der Republik gegenüber auf sich. Diese politische Rhetorik könnte sich mit#unibrennt als Fixpunkt des politischen Diskurses fester verwurzeln.

Nicht überraschend ist daher die Tatsache, dass der Bologna-Prozess und dieProteste auch bereits in der Literatur aufgetaucht sind. Im »ersten Wiener Uni-

95 Was von der Unibrennt-Bewegung blieb, Der Standard, URL: http://derstandard.at/2000007128220/Was-von-der-Unibrennt-Bewegung-blieb? (abgerufen am 22. 10. 2014),sowie Produktives Scheitern einer Studentenbewegung, URL: http://derstandard.at/2000007103265/Fuenf-Jahre-Audimax-Produktives-Scheitern-einer-Studentenbewegung(22. 10. 2014).

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Krimi«, Vatermord von Isabel Bernardi (2012),96 liest man die Geschichte dieser»strukturellen Veränderung« in den Kulturwissenschaften, welche das Institutfür Geschichte abbauen und in ein »Department for Historical and CulturalStudies« eingliedern sollte.97 Diese (fiktionale) Veränderung sollte helfen, dieWiener Universität in eine »Spitzenuniversität in derselben Liga wie Princeton«zu verwandeln.98 Held der Geschichte ist der Assistent Martin Heiser, der anseiner Habilitation schreibt; er ist als Vertreter des Mittelbaus daran beteiligt,eine wichtige Berufung in der Geschichtswissenschaft durchzuführen. Dannaber findet man zwei Leichen: Einen Professor im Büro und eine Studentin imArkadenhof vor den Gedenktafeln verstorbener Professorengrößen der Ver-gangenheit. In der polizeilichen Vernehmung zu den beiden Fällen erzähltHeiser vom Stress an der Uni: der Hetze nach Drittmitteln,99 der Umstruktu-rierung der Studiengänge im Bologna-Prozess und der Besetzung des Audi-max.100 Bologna bedeute

[e]ine enorme Unruhe und Arbeit, ich hab’ auch in den letzten drei Semestern über-wiegend Curricula umgebaut. Also ich verstehe gut, dass die Studenten dagegen pro-testieren. Die Hochschullehrer waren auch nicht so dafür. Aber das kam wie ein Tsu-nami über uns; was es wirklich bedeutet, haben wir zu spät erkannt.101

Vom Land in die Stadt für das Studium gekommen, hilft Heiser, die Mordeaufzuklären, aber er wartet immer noch darauf, ordentliches Mitglied der Uni-versität zu werden. Noch einer von Stifters Herren Studenten sucht sein Lebennach der Promotion und gewährt uns in Vatermord Einblick in die Verfloch-tenheit der Universität mit der Gesellschaft und der Wissenschaft und For-schung. Das Unheil dieses Falles, so erfahren wir zuletzt, fand seinen Ursprungim Tsunami der Erneuerung mit ihren ungewollten Auswirkungen; Professo-rInnen, so die Moral der Story, haben vergessen, was sie der Gesellschaft ei-gentlich schulden.

96 Isabel Bernardi, Vatermord, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. Der Buchdeckelbesteht darauf, dass der Text »der erste Uni-Krimi« sei – vielleicht weil die Autorin dieMorde im Universitätsgebäude stattfinden lässt. Muchas Krimis, die wir weiter vorn schonkennen gelernt haben, handeln von Uni-Angestellten, haben aber die Uni nicht alsSchauplatz.

97 Bernardi, Vatermord, 11 – 12.98 Bernardi, Vatermord, 16.99 Bernardi, Vatermord, 29.

100 Bernardi, Vatermord, 162.101 Bernardi, Vatermord, 98.

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6. Ein universitärer Vielvölkerstaat

Die textuellen Erscheinungsformen der Alma Mater Rudolphina Vindobonensishaben sich mit der Zeit geändert, aber bezeugen immer noch, wie die Wissen-schaft mit der Gesellschaft, dem Fleiß der WissenschafterInnen, der Staatsmoralund dem Wiener Stadtbild eng verbunden bleibt – wenigstens in einer be-währten Diskurstradition im Umkreis der Universität Wien. Katastrophen po-litischer, bildungspolitischer, ökonomischer und kultureller Art sind des öfterenüber die vielen Völker dieser Uni gekommen und haben deutliche Spuren hin-terlassen, aber es besteht kein Zweifel darüber, dass die Wiener ForscherInnen,Lehrkräfte und Fachleute sich lieber als DienerInnen der Wissenschaft denn alsGenies oder Söhne oder Töchter des Prometheus sehen. Die Weimarsche Ein-stellung der deutschen Klassik bleibt ihnen meistens fremd, als ExpertInnenbetonen sie eher das Wohl der Gemeinschaft innerhalb und ausserhalb derUniversität. Die Diskurstropen im Umfeld der Universität Wien beginnen undenden bei der Universitätsgesellschaft und der Universität in der Gesellschaft –verkörpert und sinnstiftend in Identitäten und performances (Eingriffen) auchausserhalb der Unigelände, wie noch die jüngste Generation an Textbildernanschaulich vor Augen führt.

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