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U m 4600 v. Chr. war Mitteleuropa noch von den aus dem Karpatenbecken stammenden sog. do- nauländischen Kulturen geprägt. Diese hatten sich ein Jahrtausend zuvor in den Lössgebieten Mittel- europas angesiedelt. Kennzeichen ist eine Ge- fäßkeramik, die mit ihrer eingeritzten Bandorna- mentik der Kultur auch gleich ihren Namen gab: die Linienbandkeramik. Weitere Charakteristika sind bis zu über 50 m lange, massive Häuser, run- de, vermutlich Ritualen dienende kleine Erdwerke, sog. Kreisgrabenanlagen sowie außerhalb der Dörfer liegende Nekropolen. Um 4300 v. Chr. be- stand dieser donauländische Einfluss nur noch im östlichen Mitteleuropa, während sich in den anderen Regionen Veränderungen größeren Aus- maßes bemerkbar machten. Der Kulturwandel manifestiert sich mit dem Wechsel von großen Dörfern zu kleinen Weilern, von den Langhäusern der donauländischen Kulturen zu leichten, schwer nachweisbaren Strukturen sowohl im Siedlungs- wesen als auch im Verschwinden der Friedhöfe und dem Erscheinen von Keramikstilen, bei denen Verzierungen immer unauffälliger werden. Diese Veränderungen stehen größtenteils im Zusam- menhang mit der Michelsberger Kultur, die kurz zuvor im Pariser Becken entstanden war. Spekta- kulär sind vor allem die Erdwerke, die enorme Ausmaße erreichen können. Hinter diesen formalen Veränderungen erahnt man einen bedeutenden historischen Bruch. In der Tat handelt es sich um eine neue Zivilisation, um ein „anderes“ Neolithikum mit einer mate- riellen Kultur und einem symbolischen System, die in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu den do- nauländischen Kulturen stehen. Im Folgenden versuchen wir zu ergründen, wie sich diese neue Synthese etabliert und sich im Laufe eines Jahr- tausends – von 4400–3500 v. Chr. – entwickelt hat. Ursprung und Ausdehnung Lange Zeit wurde die Michelsberger Kultur als eine rheinische Kultur angesehen, deren Wurzeln in der regionalen Sequenz Rössen-Bischheim zu suchen seien. Diese Auffassung hing letztlich da- mit zusammen, dass die Erforschung mit den Ausgrabungen auf dem Michaelsberg – und damit in Deutschland – ihren Anfang genommen hatte. Die seit vier Jahrzehnten in Frankreich und Bel- gien zusammengetragenen Ergebnisse haben je- doch gezeigt, dass der Ursprung der Michelsber- ger Kultur im Pariser Becken liegt, einer Gegend, die lange Zeit als westliche Peripherie ihres Ver- breitungsgebietes gedeutet worden war. Die Rheinschiene wurde erst in einer zweiten Phase besiedelt. Das Entstehungszentrum befindet sich in der Gegend der Einmündung der Yonne in die Seine, wo sich um 4500/4400 v. Chr. das Zu- sammentreffen der Cerny-Kultur mit zwei sich ausdehnenden Kulturen – der aus dem Süden kommenden Chasséen-Kultur und der Bischhei- mer Gruppe aus dem Rheintal – vollzieht. Die Ver- mischung dieser drei Traditionen führte zur Her- ausbildung einer neuen Kultur, die traditionell als Noyen-Gruppe bezeichnet wird und bei der wir eher dazu neigen, sie als Einleitungsphase der Michelsberger Kultur anzusehen. Letztere ver- breitet sich in östliche Richtung und damit ent- gegengesetzt zu dem Ausbreitungsweg, der die Bischheimer Gruppe bis zur Mitte des Pariser Be- ckens geführt hatte. Schließlich verbreitet sich die Michelsberger Kultur in Belgien, in der nieder- ländischen Provinz Limburg, im Rhein- und im Die Michelsberger Kultur von Christian Jeunesse 46 Die Michelsberger Kultur

43 Die Michelsberger Kultur

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Um 4600 v.Chr. war Mitteleuropa noch von den

aus dem Karpatenbecken stammenden sog. do-

nauländischen Kulturen geprägt. Diese hatten sich

ein Jahrtausend zuvor in den Lössgebieten Mittel-

europas angesiedelt. Kennzeichen ist eine Ge-

fäßkeramik, die mit ihrer eingeritzten Bandorna-

mentik der Kultur auch gleich ihren Namen gab:

die Linienbandkeramik. Weitere Charakteristika

sind bis zu über 50 m lange, massive Häuser, run-

de, vermutlich Ritualen dienende kleine Erdwerke,

sog. Kreisgrabenanlagen sowie außerhalb der

Dörfer liegende Nekropolen. Um 4300 v.Chr. be-

stand dieser donauländische Einfluss nur noch

im östlichen Mitteleuropa, während sich in den

anderen Regionen Veränderungen größeren Aus-

maßes bemerkbar machten. Der Kulturwandel

manifestiert sich mit dem Wechsel von großen

Dörfern zu kleinen Weilern, von den Langhäusern

der donauländischen Kulturen zu leichten, schwer

nachweisbaren Strukturen sowohl im Siedlungs-

wesen als auch im Verschwinden der Friedhöfe

und dem Erscheinen von Ke ra mikstilen, bei denen

Verzierungen immer unauffälliger werden. Diese

Veränderungen stehen größtenteils im Zusam -

men hang mit der Michelsberger Kultur, die kurz

zuvor im Pariser Becken entstanden war. Spekta-

kulär sind vor allem die Erd werke, die enorme

Ausmaße erreichen können.

Hinter diesen formalen Veränderungen erahnt

man einen bedeutenden historischen Bruch. In

der Tat handelt es sich um eine neue Zivilisation,

um ein „anderes“ Neolithikum mit einer mate-

riellen Kultur und einem symbolischen System,

die in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu den do-

nauländischen Kulturen stehen. Im Folgenden

versuchen wir zu ergründen, wie sich diese neue

Synthese etabliert und sich im Laufe eines Jahr-

tausends – von 4400–3500 v.Chr. – entwickelt hat.

Ursprung und AusdehnungLange Zeit wurde die Michelsberger Kultur als

eine rheinische Kultur angesehen, deren Wurzeln

in der regionalen Sequenz Rössen-Bischheim zu

suchen seien. Diese Auffassung hing letztlich da-

mit zusammen, dass die Erforschung mit den

Ausgrabungen auf dem Michaelsberg – und damit

in Deutschland – ihren Anfang genommen hatte.

Die seit vier Jahrzehnten in Frankreich und Bel-

gien zusammengetragenen Ergebnisse haben je-

doch gezeigt, dass der Ursprung der Michelsber-

ger Kultur im Pariser Becken liegt, einer Gegend,

die lange Zeit als westliche Peripherie ihres Ver-

breitungsgebietes gedeutet worden war. Die

Rheinschiene wurde erst in einer zweiten Phase

besiedelt. Das Entstehungszentrum befindet sich

in der Gegend der Einmündung der Yonne in die

Seine, wo sich um 4500/4400 v.Chr. das Zu-

sammentreffen der Cerny-Kultur mit zwei sich

ausdehnenden Kulturen – der aus dem Süden

kommenden Chasséen-Kultur und der Bischhei-

mer Gruppe aus dem Rheintal – vollzieht. Die Ver-

mischung dieser drei Traditionen führte zur Her-

ausbildung einer neuen Kultur, die traditionell als

Noyen-Gruppe bezeichnet wird und bei der wir

eher dazu neigen, sie als Einleitungsphase der

Michelsberger Kultur anzusehen. Letztere ver-

breitet sich in östliche Richtung und damit ent-

gegengesetzt zu dem Ausbreitungsweg, der die

Bischheimer Gruppe bis zur Mitte des Pariser Be-

ckens geführt hatte. Schließlich verbreitet sich

die Michelsberger Kultur in Belgien, in der nieder-

ländischen Provinz Limburg, im Rhein- und im

Die Michelsberger Kulturvon Christian Jeunesse

46 Die Michelsberger Kultur

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:51 Uhr Seite 46

Neckartal, die von diesem Phänomen ab 4400/

4300 v.Chr. berührt werden. Um 4000 v.Chr. er-

streckt sich die Michelsberger Kultur von der Sei-

ne bis zum Weserbecken und nach Bayern.

Aufgrund des klaren Bruchs zu den lokalen

Substraten ist es wahrscheinlich, dass diese Ex-

pansion auch mit Bevölkerungsverschiebungen

einhergegangen ist. Die Zügigkeit des Phänomens

und das gleichzeitige Verschwinden regionaler

Kulturtraditionen deuten aber auch darauf hin,

dass Akkulturationsprozesse ebenfalls eine Rolle

gespielt haben müssen.

Die Ankunft der Michelsberger Kultur in Mittel-

europa findet im Kontext des Niedergangs der do-

nauländisch geprägten Kulturen statt, deren sym-

bolisches System sich überall in Auflösung befand.

In den von der ersten Ausbreitungswelle betroffe-

nen Regionen scheint die neue Kultur eine befrie-

digende Alternative geboten zu haben. Große Erd-

werke mit unterbrochenen Gräben zeigen, dass die

Ausdehnung mit einer massiven Ritualentfaltung

einhergegangen ist und es zur „Michelsbergisie-

rung“ der einheimischen Bevölkerung kam. Die

Ausstrahlung der Michelsberger Kultur war auch

schon sehr früh außerhalb ihrer eigentlichen Gren-

zen zu spüren. Noch vor 4000 v.Chr. war der Mi-

chelsberger Einfluss ausschlaggebend für die Ent-

stehung der Trichterbecherkultur (abgekürzt: TRBK)

in der nordeuropäischen Ebene. Gleichzeitig war

ihr Einfluss in den Keramikstilen zweier neuer in

Böhmen entstandener Kulturgruppen spürbar.

Wichtige Fundorte dieses frühen Abschnittes sind

Noyen (Einmündung Yonne-Seine), Bazoches-sur-

Vesle (Aisne-Tal), Thieusies (Belgien), Koslar 10,

Miel und Mayen (Rheinland), Bruchsal „Aue“ und

Urmitz am Mittelrhein, Ilsfeld im Neckartal, Calden

in Niedersachsen und – am südöstlichen Rand des

ersten Ausbreitungsgebietes – die Höhensiedlung

Goldberg im Nördlinger Ries.

Diese vor 4000 v.Chr. angelegten Siedlungen

zeigen kulturelle Merkmale, die denen im franzö-

sischen Entstehungsgebiet sehr ähnlich sind. Erst

später werden die Kontakte und der Austausch

mit den benachbarten Regionen – den Kulturen

Maximale Verbreitung der Mi-chelsberger Kulturmit einigen wichti-gen Fundplätzen:

1. Spiere; 2. Noyen;3. Bazoches-sur-Vesle; 4. Thieusies;5. Mairy; 6. Jülich-Koslar; 7. Mayen; 8. Urmitz; 9. Geispols-heim; 10. Gougen-heim; 11. Munzingen;12. Michaelsberg beiBruchsal-Untergrom-bach; 13. Bruch sal„Aue“; 14. Heidel-berg-Handschuhs-heim; 15. Ilsfeld; 16. Heilbronn-Klin-genberg; 17. Calden;18. Goldberg

Die Michelsberger Kultur 47

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des Donauraums, den einheimischen Kulturen im

Norden, der Niederlande und Deutschlands sowie

der TRBK – das ursprüngliche Erscheinungsbild

nach und nach verändern. Ein Anzeichen dieser

Akkulturationsprozesse ist – in einem entwickelten

Abschnitt der Frühphase – das Auftreten des

Krugs, dessen Ursprung auf Einflüsse der donau-

ländischen Kulturen im Osten von Mitteleuropa

zurückzuführen ist. An den Rändern der Verbrei-

tungsgebiete bewirken Vermischungsprozesse –

alleine oder mit anderen Faktoren kombiniert – die

Entstehung von kulturellen „Kontaktgruppen“,

wie die Spiere-Gruppe (Westbelgien und Nord-

frankreich), die Michelsberger Kultur von Westfa-

len und die Munzinger Kultur (Oberrheinebene).

Auch wenn der Einfluss der Michelsberger Kultur

unterschiedlich stark ist, hat sie ohne Zweifel,

nachdem sie zur Entstehung des ersten vollstän-

dig ausgeprägten Neolithikums in Nordeuropa

(TRBK) beigetragen hatte, in den ersten Jahrhun-

derten des 4. Jt. v.Chr. auch den Grundstein für

die Entstehung des Frühneolithikums auf den Bri-

tischen Inseln gelegt.

In den Randzonen der Michelsberger Kultur

lassen sich sowohl die Annahme als auch die Ab-

lehnung einzelner Michelsberger Kulturelemente

beobachten: Die in Bayern und Oberösterreich

verbreitete Münchshöfener Kultur, deren Kera-

mikstil Verbindungen zur späten Lengyel-Kultur

des mittleren Donauraums aufweist, übernimmt

zwar Bestattungssitten der Michelsberger Kultur,

lehnt aber offenbar Erdwerke mit unterbroche-

nem Graben vom Michelsberger Typ ab. Diese

treten in Bayern erst mit der Altheimer Kultur –

nach 3750 v.Chr. – in Erscheinung. Im oberen

Donaugebiet bleibt die Schussenrieder Gruppe

ebenfalls der donauländischen Tradition treu, was

sowohl in der Keramik und der Siedlungsstruktur

als auch in der Ablehnung der Erdwerke mit unter-

brochenem Graben deutlich wird. Diese Kulturen

bilden gewissermaßen einen Puffer zwischen der

Michelsberger Kultur und den donauländischen

Kulturen, die im Karpatenbecken bis ca. 3700/

3600 v.Chr. bestehen bleiben. Nach der Aichbüh-

ler Gruppe (um 4300–4100 v.Chr.) bildet die

Schussenrieder Gruppe auch eine Schranke zwi-

schen der Michelsberger Kultur und den entste-

henden Kulturen im Voralpenland. Weiter im Wes-

ten und Südwesten sind die Grenzen schwerer zu

fassen. Eine „Chasséen-Kultur im Pariser Becken“,

deren Gemeinsamkeit mit jener von Südfrank-

reich überschätzt wurde, tritt ungefähr zur glei-

chen Zeit wie die Michelsberger Kultur auf und

entwickelt sich parallel zu dieser. Eine sehr starke

Verwandtschaft besteht auch zum Néolithique

Moyen Bourguignon (NMB), das als zweiter Ab-

leger der Noyen-Gruppe angesehen werden kann.

Die Keramik bleibt das Michelsberger „Leitfos-

sil“. Im Wesentlichen verzierungslos, kennzeich-

net die Feinkeramik (Becher, Krug, Flasche, Scha-

le, Schöpfschale) eine „lederne“ Farbe und eine

gute Politur. Auch die Gebrauchskeramik zum Ko-

chen und Backen, wie z.B. der sog. Backteller oder

die großen Vorratsgefäße, sind mit Fingerstrich-

verzierung und den sog. Arkadenrändern charak-

teristisch für diese Kultur.

VereinfachteChronologietabelleder MichelsbergerKultur und ihrerNachbarn

48 Die Michelsberger Kultur

Chasséen

Wartberg

Michelsberg

Bischheim

Cerny

Matignons

Artenac

Peu-Richard

Chasséen Baalberge

Schnurkeramik

Seine-Oise- Marne

Roessen

Grossgartach

Linienbandkeramik

Stichbandkeramik

Gatersleben

TRBK späte

Kugel- amphoren

Gord

Westfrankreich Pariser Becken Rhein Elbe

5500

5000

4500

4000

3500

3000

2500

2000 Frühbronzezeit

5500

5000

4500

4000

3500

3000

2500

2000

Glockenbecher

Néolithique ancien atlantique

Villeneuve-Saint- Germain

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Die Michelsberger Kultur 49

Siedlungen und ErdwerkeDie Michelsberger Kultur ist vor allem durch ihre

Erdwerke bekannt. Offene Siedlungen, die groß-

flächig ausgegraben wurden, sind selten. Bei bei-

den Fundplatzkategorien fehlen – abgesehen von

ein paar Halbgrubenhäusern (Urmitz, Echzell-

„Wannkopf“) – eindeutige Gebäudespuren. Über-

liefert sind lediglich Ansammlungen von meist

kreisförmigen Gruben, die in der Regel als Vor-

ratsgruben gedeutet werden. Das Erdwerk von

Mairy (s. Beitrag Jeunesse S. 62) mit seinen gro-

ßen, massiven Pfostenbauten bildet zweifellos

eine Ausnahme. Im Gegensatz zu den donaulän-

dischen Kulturen bevorzugte die Michelsberger

Kultur eine leichte Bauweise, die kaum Spuren

hinterlassen hat. Kleine Ansammlungen von Gru-

ben liegen z.T. weit voneinander entfernt, was

die Frage aufwirft, ob es sich um Dörfer aus weit

auseinanderliegenden Häusern oder um eine Rei-

he einzeln stehender Gehöfte gehandelt hat. Die

Existenz offener Siedlungen mit eng beieinan der -

liegenden Wohnhäusern ist für die Michelsberger

Kultur bis heute nicht nachgewiesen und die

Michelsberger Kultur steht damit in deutlichem

Gegensatz zu den Langbauten der donauländi-

schen Kulturen und auch zu den dicht besiedelten

Dörfern an den Seeufern. Exakte Angaben zur

Nutzungsdauer der Michelsberger Wohnkomple-

xe fehlen, ebenso wenig können bislang even-

tuell bestehende Unterbrechungen im Siedlungs -

geschehen erfasst werden. Sicher ist, dass die

Nutzungsdauer der offenen Siedlungen nur sehr

selten die einer Keramikperiode – d.h. höchstens

zwei Jahrhunderte – überdauerte.

Den Erdwerken und ihrer Deutung ist ein ge-

sonderter längerer Beitrag gewidmet (s. Beitrag

Jeunesse/Seidel S. 58–69), weswegen wir uns an

dieser Stelle nicht vertieft damit beschäftigen. Es

soll hier der Hinweis genügen, dass viele Mi-

chelsberger Erdwerke deutliche Anzeichen für

rituelle Praktiken zeigen, wohingegen oftmals ge-

äußerte Überlegungen zu einer Verteidigungs-

funktion dieser Anlagen sich eher nicht zu bestä-

tigen scheinen.

Gefäßensembleaus Grube 58 vomeponymen FundortMichaelsberg beiBruchsal-Unter-grombach (Kat. Nrn.30, 35, 42, 48, 54, 55)

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:51 Uhr Seite 49

Eine Kultur ohne NekropolenDie Ankunft der Michelsberger Kultur bedeutet in

allen Regionen auch das Verschwinden der Fried-

höfe. Hingegen sind menschliche Überreste an

Michelsberger Fundplätzen allgegenwärtig und

treten in drei unterschiedlichen Formen auf: Kno-

chenkonzentrationen von dislozierten Skeletten

stammen aus den Verfüllungen der Gräben oder –

wie am Michelsberg – aus Gruben im Innern der

Erdwerke. Einzelne Individuen wurden in kleinen

länglichen, eigens für den Verstorbenen angeleg-

ten Gruben bestattet. Diese Gräber sind jedoch

niemals zu Friedhöfen gruppiert und besitzen nur

wenige Grabbeigaben. Der Großteil der bekann-

ten, im anatomischen Verband gefundenen Ske-

lette stammt jedoch aus kreisrunden Silogruben.

In diesen Gruben liegen ein oder mehrere In-

dividuen. Im Elsass, wo sie zahlreicher sind als an-

derswo, treten auch mehrere Dutzend pro Fund-

ort auf. Die Skelette wurden entweder in Hocklage

niedergelegt, oder in verschiedenen anderen Hal-

tungen, die jedoch keiner Norm folgen, was darauf

hindeutet, dass die betroffenen Personen in die

Gruben geworfen wurden. Die Befundlage hat in

der Vergangenheit zu dem Schluss geführt, diese

menschlichen Überreste als Ausnahmen zu be-

trachten. Eine Interpretation, die durch die neu-

esten Befunde in Zweifel gezogen werden kann.

Diesem Problem ist ebenfalls ein eigener Beitrag

gewidmet (s. Beitrag Jeunesse S. 90–95), weshalb

wir an dieser Stelle auf eine Vertiefung verzichten.

Die Bedeutung des KultesIm Zusammenhang mit den Erdwerken wurde be-

reits auf die bedeutende Rolle von Ritualen in den

Michelsberger Gemeinschaften hingewiesen. Da-

von zeugen sowohl zahlreiche menschliche Über-

reste als auch die Tierknochenfunde. Festmahl-

abfälle, Anhäufungen von geopferten Tieren,

Deponierungen von ganzen Tierkörpern oder

Bukranien (z.B. in Bazoches, Bruchsal „Aue“,

Bergheim usw.) belegen die zentrale Rolle, welche

Gefäßensembleaus Grube 84 vomeponymen FundortMichaelsberg beiBruchsal-Unter-grombach (Kat. Nrn.19, 21, 40, 52, 53)

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die Tiere in der Ritualpraxis spielten. Tierskelette

im Verband stammen in manchen Fällen aus Gru-

ben, in denen auch ein oder mehrere menschliche

Skelette gefunden wurden. Diese Tiere stehen

also offenbar auch mit komplexen und noch un-

genügend geklärten Bestattungspraktiken in Ver-

bindung, was zweifellos eine der Besonderheiten

der Michelsberger Kultur ist.

Das betrifft aber nicht nur die Knochenreste.

Die Konzentrationen von zerbrochenen Gefäßen –

manchmal in Verbindung mit Mahlsteinen –, die

man regelmäßig in Gruben vorfindet, scheinen

ebenfalls nicht zur Kategorie „einfacher Hausab-

fälle“ zu gehören. Neben diesen bescheidenen

„Opfergaben“, die man vielleicht mit den Depo-

nie rungen von Tieren in Verbindung bringen

kann, gibt es auch Depotfunde aus wertvollen

Gegenständen, vor allem Beilklingen: Beile aus

alpinen Gesteinen wie z.B. Jadeitit und Flachbei-

le aus Kupfer sind zwar relativ zahlreich im Sied-

lungsgebiet der Michelsberger Kultur, allerdings

stets ohne Fundkontext. Steinerne Streitäxte, re-

lativ häufig im Grenzgebiet zwischen der Mi-

chelsberger Kultur und der Trichterbecherkultur,

sind in den anderen Regionen eher selten. Die

Sitte, wertvolle Gegenstände zu deponieren, setzt

einerseits die Existenz von Austauschverbindun-

gen über große Entfernungen voraus, anderer-

seits wird dies aber im Hinblick auf das große

Verbreitungsgebiet und den langen Zeitraum von

rund 900 Jahren doch sehr stark relativiert. Die

verhältnismäßig wenigen nachgewiesenen Ob-

jekte lassen auf ein eher geringes Tauschvolumen

schließen, verglichen mit der am Ende des mittel-

europäischen Frühneolithikums weitaus größe-

ren Anzahl an Meeresmuscheln sowie Axt- und

Beilklingen aus karpatenländischen Gesteinen.

Die Freilegung von 56 Kupferperlen bei der Be-

stattung in einer Vorratsgrube der Munzinger Kul-

tur in Colmar-Houssen im Elsass (s. Beitrag Le-

franc / van Willigen S. 187) scheint auf den ersten

Blick außergewöhnlich, passt aber genau zu dem

VerschiedeneKrüge der Michels-berger Kultur vomMichaelsberg bei Bruchsal-Untergrombach (Kat. Nrn. 42–44)

Die Michelsberger Kultur 51

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 51

Gesamteindruck, den man bei der Untersuchung

außergewöhnlicher Befunde im Kontext der Mi-

chelsberger Kultur gewinnt. Auch hierbei scheint

es sich eher um die Überreste von Ritualen zu

handeln. Was die Michelsberger Kultur auszeich-

net und auch mit anderen, gleichzeitigen Kulturen,

wie z.B. der Trichterbecherkultur, verbindet, ist die

Bedeutung von Ritualen im Zusammenhang mit

menschlichen und tierischen Überresten, die in

verschiedenen Formen in einem rituellen oder

„post-rituellen“ Kontext deponiert werden.

Welche Wirtschaftsweise?Bereits J. Lüning (2000) hat darauf hingewiesen,

dass sich hinsichtlich der tierischen und pflanz-

lichen Überreste aus den Fundkontexten der Mi-

chelsberger Kultur keine strukturellen Verände-

rungen oder gar Brüche im Vergleich zu der

vorhergehenden Zeitperiode oder auch den do-

nauländischen Kulturen in Mitteleuropa ergeben.

Eine Feststellung, die auf das gesamte wirt-

schaftliche Leben ausgeweitet werden kann. Die

Viehzucht, deren Erfassung durch die große Über-

zahl an Proben aus Fundorten mit Erdwerken ver-

fälscht wird, zeigt die gleichen regelmäßigen Ver-

teilungen zwischen den Arten und die gleiche

Variabilität wie im ersten Jahrtausend des Neoli-

thikums. Aufgrund der geringen Anzahl an unter-

suchten Fundserien ist der Pflanzenanbau wenig

bekannt. Er zeigt höchstens eine deutliche Zu-

nahme der Verwendung der Nacktweizenarten.

In einem auf die benachbarten Kulturen der Mi-

chelsberger Kultur erweiterten Raum ist die Ver-

wendung von Kräutern und Gewürzen (Sellerie,

Petersilie, Dill, Melisse) aus dem Mittelmeerraum

zu verzeichnen.

Die durch Fundorte wie Spiennes (Belgien) ge-

zeichnete Intensität von Silex-Abbauaktivitäten

in nie da gewesenem Umfang kann ebenfalls in-

frage gestellt werden, seit neuere Funde – insbe-

son dere aus Bayern – zeigen, dass der Abbau

von Silex bereits im Mittelneolithikum Ausmaße

erreichte, die von der Michelsberger Kultur nicht

übertroffen wurden. Ähnliches gilt auch für die

Verbreitung von Gütern. Die Verteilungsnetze der

Michelsberger Kultur sind kaum größer als in

den Perioden davor. Ein Beharren auf diesen As-

pekten folgt letztlich dem Ansinnen, die Michels-

berger Kultur mit den kupferzeitlichen Kulturen

(4600–3800 v.Chr.) Südosteuropas gleichzuset-

zen, die ihrerseits tatsächlich augenfällige struk-

turelle Veränderungen im Bereich der Produk-

tion und des Warenaustauschs erlebten. Auch

im Bereich der Metallurgie scheint die Michels-

berger Kultur – die im Übrigen von der Thematik

der Metallurgie erst in ihrer letzten Phase (nach

3800 v.Chr.) betroffen ist – außerhalb der gro-

ßen Produktions- und Umlaufgebiete zu bleiben.

Auch wenn die wenigen in Heilbronn-Klingen-

berg gefundenen Schmelztiegelfragmente auf

Metallverarbeitungs aktivitäten in der Michels-

berger Kultur hinweisen, gilt es dennoch zu be-

rücksichtigen, dass es sich bei den wenigen Kup-

fergegenständen, die im Verbreitungsgebiet der

Michelsberger Kultur gefunden wurden, um

Gegenstände handelt, die von den Metall verar-

beitenden Kulturen aus den Alpen oder dem kar-

patisch-balkanischen Raum stammen.

Zweifellos kann das Jungneolithikum als die

Zeit des „Auszugs aus den Lössgebieten“ be-

zeichnet werden. Letztlich liegen die Siedlungs-

gebiete der Michelsberger Kultur aber zum Groß-

teil in den alten Siedlungsgebieten der donaulän-

disch geprägten Kulturen, weshalb gerade der

Michelsberger Kultur diese Tendenz fehlt.

Sog. Backteller(Kat. Nr. 21–23)

52 Die Michelsberger Kultur

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 52

Belastbare Indizien für die Existenz von Rad

und Wagen wie auch die Verwendung von Zug-

tieren fallen allesamt in die Zeit nach der Mi-

chelsberger Kultur. Die wirtschaftliche Revolution

des Jungneolithikums in Mittel- und Westeuropa

spart das Michelsberger Siedlungsgebiet also

gleichsam aus. Wie bereits ausgeführt, waren die

Austauschbeziehungen wertvoller Güter über wei-

te Entfernungen seit dem 6. Jt. v.Chr. mindestens

genauso intensiv wie jene, die die Michelsberger

Kultur auszeichnen, die darüber hinaus nur unzu-

reichend belegt und ungenügend datiert sind. Im

Hinblick auf das Fehlen wertvoller Grabbeigaben

zeigt der relativ geringe Umlauf wertvoller Objekte

deutlich, wie weit die Michelsberger Kultur vom

individuellen darstellerischen Gebaren, welches

das donauländische Neolithikum kennzeichnet,

entfernt ist.

Eine Gesellschaft mit geringen sozialen Unterschieden?Die Vorstellungen zur Gesellschaft der Michels-

berger Kultur waren lange Zeit von der neo-mar-

xistischen und evolutionistischen Klischeevor-

stellung eines egalitären und pazifistischen Früh-

und Mittelneolithikums und eines kriegerischen

und ungleichen Jung- bis Endneolithikums ge-

prägt. Inzwischen hat die Ethnologie gezeigt,

dass die Bezeichnung egalitär jedoch nur auf ein-

fachste Jäger- und Sammlergesellschaften anzu-

wenden ist. Was die Michelsberger Kultur angeht,

stützen sich die Anhänger der traditionellen

Sichtweise insbesondere auf das Vorhandensein

der großen Erdwerke mit unterbrochenem Gra-

ben, in denen sie Befestigungsanlagen sehen.

Deren Bau – so die Argumentation – sei nur denk-

bar, wenn er von einem Häuptling, der die Macht

hat und bei Bedarf auch mit Gewalt eine große

Anzahl an „Arbeitern“ mobilisieren kann, geplant

und verordnet wurde. Wie bei der Abhandlung

zu den Erdwerken (s. Beitrag Jeunesse / Seidel

S. 58–69) noch gezeigt wird, waren viele dieser

Erdwerke aber wahrscheinlich keine Befesti-

gungsanlagen. Stattdessen lässt sich ihre Er-

richtung auch im Kontext einer akephalen Ge-

sellschaft erklären.

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhält-

nisse ist die Untersuchung der Siedlungen wenig

ergiebig. Außer Mairy (s. Beitrag Jeunesse S. 62)

gibt es keine Siedlung, bei der eine architektoni-

sche Variabilität, die auf soziale Unterschiede

schließen ließe, zu erkennen wäre, und die Häu-

ser aus Mairy sind zweifellos ein Sonderfall.

Schließlich fallen diese in einer Zeit, in der auf eu-

ropäischer Ebene kleine Häuser bevorzugt wur-

den, völlig aus dem Rahmen.

Hornzapfen einesmännlichen Wild -rindes aus dem Graben der Anlagevon Bruchsal „Aue“(Kat. Nr. 5)

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 53

Der Befund des Grabes von Beaurieux verleitet

auf den ersten Blick ebenfalls dazu, die Michels-

berger Kultur als hierarchisch gegliederte Gesell-

schaft zu betrachten. Die nähere Betrachtung zeigt

aber, dass dieses Grab vom letzten Aufflammen

einer verschwindenden Tradition zeugt, nämlich

jener der mittelneolithischen Langhügel im Pari-

ser Becken, und dass – im Gegensatz dazu – die

Michelsberger Kultur ein durch unauffällige Grab-

bauten und bescheidene Grabbeigaben gekenn-

zeichnetes Zeitalter eröffnete. Sowohl bei den

Bestattungen in Silogruben wie auch anderen Be-

stattungen fehlen Beigaben entweder ganz oder

fallen bescheiden aus und bleiben auf ein oder

zwei Gefäße und einige wenige, eher unschein-

bare Schmuckobjekte beschränkt. Dieses Fehlen

wertvoller Gegenstände steht in deutlichem Kon-

trast zu den polierten Axt- und Beilklingen aus

fremden Gesteinen und dem Spondylusschmuck

des donauländischen Neolithikums. Deponie-

rungen wertvoller Güter außerhalb des Grabkon-

textes sind eher selten. Sie bestehen fast alle

aus auswärtigen Rohstoffen (alpine Jadeitite,

Mondseekupfer) und wurden meist in Gegenden

außerhalb des Siedlungsgebietes der Michels-

berger Kultur hergestellt. Die Michelsberger Ge-

meinschaften erscheinen deshalb – im Gegensatz

zu ihren donauländischen Vorläufern – als Ver-

braucher wertvoller Gegenstände, die anderswo

produziert und niemals im Grabkontext benutzt

wurden.

Deponierungen wertvoller Gegenstände kön-

nen letztlich auch sehr gut kollektiven Beigaben

entsprechen, die z.B. für übernatürliche Wesen

bestimmt waren. Ihr Vorkommen ist also nicht

unbedingt ein Beweis für die Existenz einer sozi-

alen Elite. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin,

dass die Michelsberger Gemeinschaften auf ihre

Art und Weise Objekte neu gedeutet haben, die

z.B. in den kupferzeitlichen Kulturen Südost euro -

pas tatsächlich als soziale Erkennungszeichen ge-

dient haben.

Eine Berücksichtigung der Kriterien, die zur

Bestimmung der sozialen Organisation vergan-

gener, vorschriftlicher Gesellschaften herange-

zogen werden können, lässt viel eher darauf

schließen, dass die Michelsberger Kultur zu den

„demokratischsten“ Kulturen der jüngeren Vor-

geschichte Europas gehört. Einziges Indiz, das

für die Existenz einer vertikalen Differenzierung

der Gesellschaft spricht, ist der bereits beschrie-

bene Brauch der Mitbestattung (s. S. 90–95). Die-

se beinhaltet jedoch nicht zwangsläufig eine Ab-

hängigkeitsbeziehung, sondern könnte auch im

Bereich der Opferbräuche – ohne gesellschaftliche

Konnotation – einzuordnen sein. Im gesamten

westeuropäischen Raum und insbesondere im

Gebiet der „Megalithkulturen“ der Atlantikküste,

ist es für den Michelsberger Zeithorizont aufgrund

fehlender gut differenzierter Grabbeigaben kaum

möglich, die soziale Stellung Einzelner zu be-

stimmen. Zweifellos können diese Grabbauten

enorme Ausmaße erreichen, letztlich handelt es

sich aber um Kollektivgräber mit einzelnen Be-

stattungen, deren Beigaben immer bescheiden

bleiben, sofern sie überhaupt vorhanden sind.

An der Atlantikküste erreicht der Austausch der

sog. Prestigegüter, die für Elitegräber bestimmt

waren, bereits zwischen 4800–4400/4300 v.Chr. mit

Depotfund von Jadeitbeilen ausMainz-Gonsenheim(Kat. Nr. 313)

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Beilen aus alpinem Jadeit und den Schmuck -

objekten aus Variscit der Iberischen Halbinsel ei-

nen ersten Höhepunkt, der älter ist als der

Michelsberger Zeithorizont. Auch wenn die Mi-

chelsberger Kultur keine monumentalen Grab-

bauten errichtet, ist sie unbestreitbar näher an

dieser Welt als an den zeitgleichen Gesellschaften

der späten Donaukulturen im Osten Mitteleuropas

(Tiszapolgár, Bodrogkeresztúr, Brześć-Kujawski),

deren Bestattungssitten in der donauländischen

Kulturtradition verankert bleiben.

Eine Zunahme der Gewalt?Die Vorstellung vom Anbrechen einer gewalttäti-

geren Zeit gehört zweifellos zur traditionellen

Sichtweise der Übergangsperiode zwischen den

donauländischen Kulturen und dem Jungneoli-

thikum in Mitteleuropa. Die verfügbaren Daten

zur Michelsberger Kultur können diese These je-

doch nicht bestätigen. Sicher gibt das Grab von

Heidelberg-Handschuhsheim, mit sechs Individu -

en, von denen vier Schädelverletzungen aufwei-

sen, ein sicheres Zeichen für einen gewaltsamen

Tod (s. S. 93–94). Letztlich bleibt dieses Dokument

aber einzigartig. Schließlich ist die Wehrfunktion

gerade der größeren Erdwerke fragwürdig. Kleine

Höhenerdwerke, die am ehesten wie befestigte

Siedlungen aussehen und damit auf ein erhöhtes

Konfliktpotenzial hinweisen könnten, sind von ge-

ringer Anzahl und gehören im Wesentlichen in die

Spätphase der Michelsberger Kultur. Es gibt daher

keinen Grund, anzunehmen, dass das Jungneoli-

thikum „kriegerischer“ oder gewalttätiger war als

die vorhergehenden Perioden.

Ein anderes NeolithikumWie bereits hervorgehoben, werden die Unter-

schiede zwischen der Michelsberger Kultur und

den vorangehenden donauländischen Kulturen

traditionell in einer evolutionistischen Sichtweise

gedeutet. Demnach treten in der zweiten Hälfte

des 5. Jt. v.Chr. komplexere, hierarchisch geglie-

derte, kriegerischer wie auch technisch weiter

fortgeschrittene Gesellschaften in Erscheinung.

Diese Schilderung stellt jedoch keinesfalls ein ge-

naues Abbild der archäologischen Gegebenheiten

dar. Der Unterschied zu den vorangegangenen

donauländischen Kulturen ist jedoch nicht gra-

dueller Natur, sondern zeugt vielmehr von einer

ganz anderen Art und Weise: ein Neolithikum,

das nicht „weiterentwickelt“ ist, weder technisch

noch gesellschaftlich, sondern einfach nur an-

ders. Dieser Unterschied äußert sich in einer an-

deren Art, den Raum zu besiedeln, mit den Toten

umzugehen, das gesellschaftliche Leben und die

symbolischen Beziehungen zur natürlichen Um-

welt zu begreifen.

Das Verschwinden der Friedhöfe deutet auf ein

Zurücktreten des Individuums zugunsten der Ge-

meinschaft hin. Das Erscheinen monumentaler

Erdwerke als identitätsstiftende Markierungs-

punkte und regionale Kultzentren, gemeinschaft-

lich gebaut und verwaltet, zeugt offensichtlich

vom gleichen Phänomen. Mit dem Verschwinden

der wertvollen Grabbeigaben und der großen

Häuser vergeht alles, wodurch die individuelle

Stellung und die Abstammung angezeigt werden

kann. Die Energie, die man in den gesellschaft-

lichen Wettstreit investierte, scheint sich auf die

Errichtung der großen zeremoniellen Erdwerke

zu übertragen. Die archäologischen Überreste ver-

anschaulichen die Vielfalt und Intensität eines re-

ligiösen Lebens, das sein Pendant in den zeitglei-

chen Megalithkulturen der Atlantikküste findet.

So gibt es einen westlichen Block, der in jeder Hin-

sicht im Gegensatz zu dem alten donauländischen

Modell steht, dessen Erbe weiterhin – zumindest

bis zum Ende des ersten Viertels des 4. Jt. v.Chr.

– im Karpatenbecken und den umliegenden Ge-

genden lebendig bleibt. Die Übernahme dieses

neuen Modells durch die mitteleuropäische Be-

völkerung muss als Ablehnung gegen das do-

nauländische Modell, sowohl in seiner religiösen

als auch in seiner gesellschaftlichen Dimension,

gedeutet werden. Es existiert offensichtlich ein

revolutionärer Aspekt in den Veränderungen, von

denen das Aufkommen des Michelsberger „Mo-

dells“ um 4400/4300 vor Chr. zeugt.

Lit: Biel u.a. 1998 – Jeunesse 1998 – Jeunesse 2010 – Lüning 1968 – Lüning 2000 – Raetzel-Fabian 1999a – Schumacher 1891

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