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Um 4600 v.Chr. war Mitteleuropa noch von den
aus dem Karpatenbecken stammenden sog. do-
nauländischen Kulturen geprägt. Diese hatten sich
ein Jahrtausend zuvor in den Lössgebieten Mittel-
europas angesiedelt. Kennzeichen ist eine Ge-
fäßkeramik, die mit ihrer eingeritzten Bandorna-
mentik der Kultur auch gleich ihren Namen gab:
die Linienbandkeramik. Weitere Charakteristika
sind bis zu über 50 m lange, massive Häuser, run-
de, vermutlich Ritualen dienende kleine Erdwerke,
sog. Kreisgrabenanlagen sowie außerhalb der
Dörfer liegende Nekropolen. Um 4300 v.Chr. be-
stand dieser donauländische Einfluss nur noch
im östlichen Mitteleuropa, während sich in den
anderen Regionen Veränderungen größeren Aus-
maßes bemerkbar machten. Der Kulturwandel
manifestiert sich mit dem Wechsel von großen
Dörfern zu kleinen Weilern, von den Langhäusern
der donauländischen Kulturen zu leichten, schwer
nachweisbaren Strukturen sowohl im Siedlungs-
wesen als auch im Verschwinden der Friedhöfe
und dem Erscheinen von Ke ra mikstilen, bei denen
Verzierungen immer unauffälliger werden. Diese
Veränderungen stehen größtenteils im Zusam -
men hang mit der Michelsberger Kultur, die kurz
zuvor im Pariser Becken entstanden war. Spekta-
kulär sind vor allem die Erd werke, die enorme
Ausmaße erreichen können.
Hinter diesen formalen Veränderungen erahnt
man einen bedeutenden historischen Bruch. In
der Tat handelt es sich um eine neue Zivilisation,
um ein „anderes“ Neolithikum mit einer mate-
riellen Kultur und einem symbolischen System,
die in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu den do-
nauländischen Kulturen stehen. Im Folgenden
versuchen wir zu ergründen, wie sich diese neue
Synthese etabliert und sich im Laufe eines Jahr-
tausends – von 4400–3500 v.Chr. – entwickelt hat.
Ursprung und AusdehnungLange Zeit wurde die Michelsberger Kultur als
eine rheinische Kultur angesehen, deren Wurzeln
in der regionalen Sequenz Rössen-Bischheim zu
suchen seien. Diese Auffassung hing letztlich da-
mit zusammen, dass die Erforschung mit den
Ausgrabungen auf dem Michaelsberg – und damit
in Deutschland – ihren Anfang genommen hatte.
Die seit vier Jahrzehnten in Frankreich und Bel-
gien zusammengetragenen Ergebnisse haben je-
doch gezeigt, dass der Ursprung der Michelsber-
ger Kultur im Pariser Becken liegt, einer Gegend,
die lange Zeit als westliche Peripherie ihres Ver-
breitungsgebietes gedeutet worden war. Die
Rheinschiene wurde erst in einer zweiten Phase
besiedelt. Das Entstehungszentrum befindet sich
in der Gegend der Einmündung der Yonne in die
Seine, wo sich um 4500/4400 v.Chr. das Zu-
sammentreffen der Cerny-Kultur mit zwei sich
ausdehnenden Kulturen – der aus dem Süden
kommenden Chasséen-Kultur und der Bischhei-
mer Gruppe aus dem Rheintal – vollzieht. Die Ver-
mischung dieser drei Traditionen führte zur Her-
ausbildung einer neuen Kultur, die traditionell als
Noyen-Gruppe bezeichnet wird und bei der wir
eher dazu neigen, sie als Einleitungsphase der
Michelsberger Kultur anzusehen. Letztere ver-
breitet sich in östliche Richtung und damit ent-
gegengesetzt zu dem Ausbreitungsweg, der die
Bischheimer Gruppe bis zur Mitte des Pariser Be-
ckens geführt hatte. Schließlich verbreitet sich
die Michelsberger Kultur in Belgien, in der nieder-
ländischen Provinz Limburg, im Rhein- und im
Die Michelsberger Kulturvon Christian Jeunesse
46 Die Michelsberger Kultur
046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:51 Uhr Seite 46
Neckartal, die von diesem Phänomen ab 4400/
4300 v.Chr. berührt werden. Um 4000 v.Chr. er-
streckt sich die Michelsberger Kultur von der Sei-
ne bis zum Weserbecken und nach Bayern.
Aufgrund des klaren Bruchs zu den lokalen
Substraten ist es wahrscheinlich, dass diese Ex-
pansion auch mit Bevölkerungsverschiebungen
einhergegangen ist. Die Zügigkeit des Phänomens
und das gleichzeitige Verschwinden regionaler
Kulturtraditionen deuten aber auch darauf hin,
dass Akkulturationsprozesse ebenfalls eine Rolle
gespielt haben müssen.
Die Ankunft der Michelsberger Kultur in Mittel-
europa findet im Kontext des Niedergangs der do-
nauländisch geprägten Kulturen statt, deren sym-
bolisches System sich überall in Auflösung befand.
In den von der ersten Ausbreitungswelle betroffe-
nen Regionen scheint die neue Kultur eine befrie-
digende Alternative geboten zu haben. Große Erd-
werke mit unterbrochenen Gräben zeigen, dass die
Ausdehnung mit einer massiven Ritualentfaltung
einhergegangen ist und es zur „Michelsbergisie-
rung“ der einheimischen Bevölkerung kam. Die
Ausstrahlung der Michelsberger Kultur war auch
schon sehr früh außerhalb ihrer eigentlichen Gren-
zen zu spüren. Noch vor 4000 v.Chr. war der Mi-
chelsberger Einfluss ausschlaggebend für die Ent-
stehung der Trichterbecherkultur (abgekürzt: TRBK)
in der nordeuropäischen Ebene. Gleichzeitig war
ihr Einfluss in den Keramikstilen zweier neuer in
Böhmen entstandener Kulturgruppen spürbar.
Wichtige Fundorte dieses frühen Abschnittes sind
Noyen (Einmündung Yonne-Seine), Bazoches-sur-
Vesle (Aisne-Tal), Thieusies (Belgien), Koslar 10,
Miel und Mayen (Rheinland), Bruchsal „Aue“ und
Urmitz am Mittelrhein, Ilsfeld im Neckartal, Calden
in Niedersachsen und – am südöstlichen Rand des
ersten Ausbreitungsgebietes – die Höhensiedlung
Goldberg im Nördlinger Ries.
Diese vor 4000 v.Chr. angelegten Siedlungen
zeigen kulturelle Merkmale, die denen im franzö-
sischen Entstehungsgebiet sehr ähnlich sind. Erst
später werden die Kontakte und der Austausch
mit den benachbarten Regionen – den Kulturen
Maximale Verbreitung der Mi-chelsberger Kulturmit einigen wichti-gen Fundplätzen:
1. Spiere; 2. Noyen;3. Bazoches-sur-Vesle; 4. Thieusies;5. Mairy; 6. Jülich-Koslar; 7. Mayen; 8. Urmitz; 9. Geispols-heim; 10. Gougen-heim; 11. Munzingen;12. Michaelsberg beiBruchsal-Untergrom-bach; 13. Bruch sal„Aue“; 14. Heidel-berg-Handschuhs-heim; 15. Ilsfeld; 16. Heilbronn-Klin-genberg; 17. Calden;18. Goldberg
Die Michelsberger Kultur 47
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des Donauraums, den einheimischen Kulturen im
Norden, der Niederlande und Deutschlands sowie
der TRBK – das ursprüngliche Erscheinungsbild
nach und nach verändern. Ein Anzeichen dieser
Akkulturationsprozesse ist – in einem entwickelten
Abschnitt der Frühphase – das Auftreten des
Krugs, dessen Ursprung auf Einflüsse der donau-
ländischen Kulturen im Osten von Mitteleuropa
zurückzuführen ist. An den Rändern der Verbrei-
tungsgebiete bewirken Vermischungsprozesse –
alleine oder mit anderen Faktoren kombiniert – die
Entstehung von kulturellen „Kontaktgruppen“,
wie die Spiere-Gruppe (Westbelgien und Nord-
frankreich), die Michelsberger Kultur von Westfa-
len und die Munzinger Kultur (Oberrheinebene).
Auch wenn der Einfluss der Michelsberger Kultur
unterschiedlich stark ist, hat sie ohne Zweifel,
nachdem sie zur Entstehung des ersten vollstän-
dig ausgeprägten Neolithikums in Nordeuropa
(TRBK) beigetragen hatte, in den ersten Jahrhun-
derten des 4. Jt. v.Chr. auch den Grundstein für
die Entstehung des Frühneolithikums auf den Bri-
tischen Inseln gelegt.
In den Randzonen der Michelsberger Kultur
lassen sich sowohl die Annahme als auch die Ab-
lehnung einzelner Michelsberger Kulturelemente
beobachten: Die in Bayern und Oberösterreich
verbreitete Münchshöfener Kultur, deren Kera-
mikstil Verbindungen zur späten Lengyel-Kultur
des mittleren Donauraums aufweist, übernimmt
zwar Bestattungssitten der Michelsberger Kultur,
lehnt aber offenbar Erdwerke mit unterbroche-
nem Graben vom Michelsberger Typ ab. Diese
treten in Bayern erst mit der Altheimer Kultur –
nach 3750 v.Chr. – in Erscheinung. Im oberen
Donaugebiet bleibt die Schussenrieder Gruppe
ebenfalls der donauländischen Tradition treu, was
sowohl in der Keramik und der Siedlungsstruktur
als auch in der Ablehnung der Erdwerke mit unter-
brochenem Graben deutlich wird. Diese Kulturen
bilden gewissermaßen einen Puffer zwischen der
Michelsberger Kultur und den donauländischen
Kulturen, die im Karpatenbecken bis ca. 3700/
3600 v.Chr. bestehen bleiben. Nach der Aichbüh-
ler Gruppe (um 4300–4100 v.Chr.) bildet die
Schussenrieder Gruppe auch eine Schranke zwi-
schen der Michelsberger Kultur und den entste-
henden Kulturen im Voralpenland. Weiter im Wes-
ten und Südwesten sind die Grenzen schwerer zu
fassen. Eine „Chasséen-Kultur im Pariser Becken“,
deren Gemeinsamkeit mit jener von Südfrank-
reich überschätzt wurde, tritt ungefähr zur glei-
chen Zeit wie die Michelsberger Kultur auf und
entwickelt sich parallel zu dieser. Eine sehr starke
Verwandtschaft besteht auch zum Néolithique
Moyen Bourguignon (NMB), das als zweiter Ab-
leger der Noyen-Gruppe angesehen werden kann.
Die Keramik bleibt das Michelsberger „Leitfos-
sil“. Im Wesentlichen verzierungslos, kennzeich-
net die Feinkeramik (Becher, Krug, Flasche, Scha-
le, Schöpfschale) eine „lederne“ Farbe und eine
gute Politur. Auch die Gebrauchskeramik zum Ko-
chen und Backen, wie z.B. der sog. Backteller oder
die großen Vorratsgefäße, sind mit Fingerstrich-
verzierung und den sog. Arkadenrändern charak-
teristisch für diese Kultur.
VereinfachteChronologietabelleder MichelsbergerKultur und ihrerNachbarn
48 Die Michelsberger Kultur
Chasséen
Wartberg
Michelsberg
Bischheim
Cerny
Matignons
Artenac
Peu-Richard
Chasséen Baalberge
Schnurkeramik
Seine-Oise- Marne
Roessen
Grossgartach
Linienbandkeramik
Stichbandkeramik
Gatersleben
TRBK späte
Kugel- amphoren
Gord
Westfrankreich Pariser Becken Rhein Elbe
5500
5000
4500
4000
3500
3000
2500
2000 Frühbronzezeit
5500
5000
4500
4000
3500
3000
2500
2000
Glockenbecher
Néolithique ancien atlantique
Villeneuve-Saint- Germain
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Die Michelsberger Kultur 49
Siedlungen und ErdwerkeDie Michelsberger Kultur ist vor allem durch ihre
Erdwerke bekannt. Offene Siedlungen, die groß-
flächig ausgegraben wurden, sind selten. Bei bei-
den Fundplatzkategorien fehlen – abgesehen von
ein paar Halbgrubenhäusern (Urmitz, Echzell-
„Wannkopf“) – eindeutige Gebäudespuren. Über-
liefert sind lediglich Ansammlungen von meist
kreisförmigen Gruben, die in der Regel als Vor-
ratsgruben gedeutet werden. Das Erdwerk von
Mairy (s. Beitrag Jeunesse S. 62) mit seinen gro-
ßen, massiven Pfostenbauten bildet zweifellos
eine Ausnahme. Im Gegensatz zu den donaulän-
dischen Kulturen bevorzugte die Michelsberger
Kultur eine leichte Bauweise, die kaum Spuren
hinterlassen hat. Kleine Ansammlungen von Gru-
ben liegen z.T. weit voneinander entfernt, was
die Frage aufwirft, ob es sich um Dörfer aus weit
auseinanderliegenden Häusern oder um eine Rei-
he einzeln stehender Gehöfte gehandelt hat. Die
Existenz offener Siedlungen mit eng beieinan der -
liegenden Wohnhäusern ist für die Michelsberger
Kultur bis heute nicht nachgewiesen und die
Michelsberger Kultur steht damit in deutlichem
Gegensatz zu den Langbauten der donauländi-
schen Kulturen und auch zu den dicht besiedelten
Dörfern an den Seeufern. Exakte Angaben zur
Nutzungsdauer der Michelsberger Wohnkomple-
xe fehlen, ebenso wenig können bislang even-
tuell bestehende Unterbrechungen im Siedlungs -
geschehen erfasst werden. Sicher ist, dass die
Nutzungsdauer der offenen Siedlungen nur sehr
selten die einer Keramikperiode – d.h. höchstens
zwei Jahrhunderte – überdauerte.
Den Erdwerken und ihrer Deutung ist ein ge-
sonderter längerer Beitrag gewidmet (s. Beitrag
Jeunesse/Seidel S. 58–69), weswegen wir uns an
dieser Stelle nicht vertieft damit beschäftigen. Es
soll hier der Hinweis genügen, dass viele Mi-
chelsberger Erdwerke deutliche Anzeichen für
rituelle Praktiken zeigen, wohingegen oftmals ge-
äußerte Überlegungen zu einer Verteidigungs-
funktion dieser Anlagen sich eher nicht zu bestä-
tigen scheinen.
Gefäßensembleaus Grube 58 vomeponymen FundortMichaelsberg beiBruchsal-Unter-grombach (Kat. Nrn.30, 35, 42, 48, 54, 55)
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Eine Kultur ohne NekropolenDie Ankunft der Michelsberger Kultur bedeutet in
allen Regionen auch das Verschwinden der Fried-
höfe. Hingegen sind menschliche Überreste an
Michelsberger Fundplätzen allgegenwärtig und
treten in drei unterschiedlichen Formen auf: Kno-
chenkonzentrationen von dislozierten Skeletten
stammen aus den Verfüllungen der Gräben oder –
wie am Michelsberg – aus Gruben im Innern der
Erdwerke. Einzelne Individuen wurden in kleinen
länglichen, eigens für den Verstorbenen angeleg-
ten Gruben bestattet. Diese Gräber sind jedoch
niemals zu Friedhöfen gruppiert und besitzen nur
wenige Grabbeigaben. Der Großteil der bekann-
ten, im anatomischen Verband gefundenen Ske-
lette stammt jedoch aus kreisrunden Silogruben.
In diesen Gruben liegen ein oder mehrere In-
dividuen. Im Elsass, wo sie zahlreicher sind als an-
derswo, treten auch mehrere Dutzend pro Fund-
ort auf. Die Skelette wurden entweder in Hocklage
niedergelegt, oder in verschiedenen anderen Hal-
tungen, die jedoch keiner Norm folgen, was darauf
hindeutet, dass die betroffenen Personen in die
Gruben geworfen wurden. Die Befundlage hat in
der Vergangenheit zu dem Schluss geführt, diese
menschlichen Überreste als Ausnahmen zu be-
trachten. Eine Interpretation, die durch die neu-
esten Befunde in Zweifel gezogen werden kann.
Diesem Problem ist ebenfalls ein eigener Beitrag
gewidmet (s. Beitrag Jeunesse S. 90–95), weshalb
wir an dieser Stelle auf eine Vertiefung verzichten.
Die Bedeutung des KultesIm Zusammenhang mit den Erdwerken wurde be-
reits auf die bedeutende Rolle von Ritualen in den
Michelsberger Gemeinschaften hingewiesen. Da-
von zeugen sowohl zahlreiche menschliche Über-
reste als auch die Tierknochenfunde. Festmahl-
abfälle, Anhäufungen von geopferten Tieren,
Deponierungen von ganzen Tierkörpern oder
Bukranien (z.B. in Bazoches, Bruchsal „Aue“,
Bergheim usw.) belegen die zentrale Rolle, welche
Gefäßensembleaus Grube 84 vomeponymen FundortMichaelsberg beiBruchsal-Unter-grombach (Kat. Nrn.19, 21, 40, 52, 53)
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die Tiere in der Ritualpraxis spielten. Tierskelette
im Verband stammen in manchen Fällen aus Gru-
ben, in denen auch ein oder mehrere menschliche
Skelette gefunden wurden. Diese Tiere stehen
also offenbar auch mit komplexen und noch un-
genügend geklärten Bestattungspraktiken in Ver-
bindung, was zweifellos eine der Besonderheiten
der Michelsberger Kultur ist.
Das betrifft aber nicht nur die Knochenreste.
Die Konzentrationen von zerbrochenen Gefäßen –
manchmal in Verbindung mit Mahlsteinen –, die
man regelmäßig in Gruben vorfindet, scheinen
ebenfalls nicht zur Kategorie „einfacher Hausab-
fälle“ zu gehören. Neben diesen bescheidenen
„Opfergaben“, die man vielleicht mit den Depo-
nie rungen von Tieren in Verbindung bringen
kann, gibt es auch Depotfunde aus wertvollen
Gegenständen, vor allem Beilklingen: Beile aus
alpinen Gesteinen wie z.B. Jadeitit und Flachbei-
le aus Kupfer sind zwar relativ zahlreich im Sied-
lungsgebiet der Michelsberger Kultur, allerdings
stets ohne Fundkontext. Steinerne Streitäxte, re-
lativ häufig im Grenzgebiet zwischen der Mi-
chelsberger Kultur und der Trichterbecherkultur,
sind in den anderen Regionen eher selten. Die
Sitte, wertvolle Gegenstände zu deponieren, setzt
einerseits die Existenz von Austauschverbindun-
gen über große Entfernungen voraus, anderer-
seits wird dies aber im Hinblick auf das große
Verbreitungsgebiet und den langen Zeitraum von
rund 900 Jahren doch sehr stark relativiert. Die
verhältnismäßig wenigen nachgewiesenen Ob-
jekte lassen auf ein eher geringes Tauschvolumen
schließen, verglichen mit der am Ende des mittel-
europäischen Frühneolithikums weitaus größe-
ren Anzahl an Meeresmuscheln sowie Axt- und
Beilklingen aus karpatenländischen Gesteinen.
Die Freilegung von 56 Kupferperlen bei der Be-
stattung in einer Vorratsgrube der Munzinger Kul-
tur in Colmar-Houssen im Elsass (s. Beitrag Le-
franc / van Willigen S. 187) scheint auf den ersten
Blick außergewöhnlich, passt aber genau zu dem
VerschiedeneKrüge der Michels-berger Kultur vomMichaelsberg bei Bruchsal-Untergrombach (Kat. Nrn. 42–44)
Die Michelsberger Kultur 51
046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 51
Gesamteindruck, den man bei der Untersuchung
außergewöhnlicher Befunde im Kontext der Mi-
chelsberger Kultur gewinnt. Auch hierbei scheint
es sich eher um die Überreste von Ritualen zu
handeln. Was die Michelsberger Kultur auszeich-
net und auch mit anderen, gleichzeitigen Kulturen,
wie z.B. der Trichterbecherkultur, verbindet, ist die
Bedeutung von Ritualen im Zusammenhang mit
menschlichen und tierischen Überresten, die in
verschiedenen Formen in einem rituellen oder
„post-rituellen“ Kontext deponiert werden.
Welche Wirtschaftsweise?Bereits J. Lüning (2000) hat darauf hingewiesen,
dass sich hinsichtlich der tierischen und pflanz-
lichen Überreste aus den Fundkontexten der Mi-
chelsberger Kultur keine strukturellen Verände-
rungen oder gar Brüche im Vergleich zu der
vorhergehenden Zeitperiode oder auch den do-
nauländischen Kulturen in Mitteleuropa ergeben.
Eine Feststellung, die auf das gesamte wirt-
schaftliche Leben ausgeweitet werden kann. Die
Viehzucht, deren Erfassung durch die große Über-
zahl an Proben aus Fundorten mit Erdwerken ver-
fälscht wird, zeigt die gleichen regelmäßigen Ver-
teilungen zwischen den Arten und die gleiche
Variabilität wie im ersten Jahrtausend des Neoli-
thikums. Aufgrund der geringen Anzahl an unter-
suchten Fundserien ist der Pflanzenanbau wenig
bekannt. Er zeigt höchstens eine deutliche Zu-
nahme der Verwendung der Nacktweizenarten.
In einem auf die benachbarten Kulturen der Mi-
chelsberger Kultur erweiterten Raum ist die Ver-
wendung von Kräutern und Gewürzen (Sellerie,
Petersilie, Dill, Melisse) aus dem Mittelmeerraum
zu verzeichnen.
Die durch Fundorte wie Spiennes (Belgien) ge-
zeichnete Intensität von Silex-Abbauaktivitäten
in nie da gewesenem Umfang kann ebenfalls in-
frage gestellt werden, seit neuere Funde – insbe-
son dere aus Bayern – zeigen, dass der Abbau
von Silex bereits im Mittelneolithikum Ausmaße
erreichte, die von der Michelsberger Kultur nicht
übertroffen wurden. Ähnliches gilt auch für die
Verbreitung von Gütern. Die Verteilungsnetze der
Michelsberger Kultur sind kaum größer als in
den Perioden davor. Ein Beharren auf diesen As-
pekten folgt letztlich dem Ansinnen, die Michels-
berger Kultur mit den kupferzeitlichen Kulturen
(4600–3800 v.Chr.) Südosteuropas gleichzuset-
zen, die ihrerseits tatsächlich augenfällige struk-
turelle Veränderungen im Bereich der Produk-
tion und des Warenaustauschs erlebten. Auch
im Bereich der Metallurgie scheint die Michels-
berger Kultur – die im Übrigen von der Thematik
der Metallurgie erst in ihrer letzten Phase (nach
3800 v.Chr.) betroffen ist – außerhalb der gro-
ßen Produktions- und Umlaufgebiete zu bleiben.
Auch wenn die wenigen in Heilbronn-Klingen-
berg gefundenen Schmelztiegelfragmente auf
Metallverarbeitungs aktivitäten in der Michels-
berger Kultur hinweisen, gilt es dennoch zu be-
rücksichtigen, dass es sich bei den wenigen Kup-
fergegenständen, die im Verbreitungsgebiet der
Michelsberger Kultur gefunden wurden, um
Gegenstände handelt, die von den Metall verar-
beitenden Kulturen aus den Alpen oder dem kar-
patisch-balkanischen Raum stammen.
Zweifellos kann das Jungneolithikum als die
Zeit des „Auszugs aus den Lössgebieten“ be-
zeichnet werden. Letztlich liegen die Siedlungs-
gebiete der Michelsberger Kultur aber zum Groß-
teil in den alten Siedlungsgebieten der donaulän-
disch geprägten Kulturen, weshalb gerade der
Michelsberger Kultur diese Tendenz fehlt.
Sog. Backteller(Kat. Nr. 21–23)
52 Die Michelsberger Kultur
046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 52
Belastbare Indizien für die Existenz von Rad
und Wagen wie auch die Verwendung von Zug-
tieren fallen allesamt in die Zeit nach der Mi-
chelsberger Kultur. Die wirtschaftliche Revolution
des Jungneolithikums in Mittel- und Westeuropa
spart das Michelsberger Siedlungsgebiet also
gleichsam aus. Wie bereits ausgeführt, waren die
Austauschbeziehungen wertvoller Güter über wei-
te Entfernungen seit dem 6. Jt. v.Chr. mindestens
genauso intensiv wie jene, die die Michelsberger
Kultur auszeichnen, die darüber hinaus nur unzu-
reichend belegt und ungenügend datiert sind. Im
Hinblick auf das Fehlen wertvoller Grabbeigaben
zeigt der relativ geringe Umlauf wertvoller Objekte
deutlich, wie weit die Michelsberger Kultur vom
individuellen darstellerischen Gebaren, welches
das donauländische Neolithikum kennzeichnet,
entfernt ist.
Eine Gesellschaft mit geringen sozialen Unterschieden?Die Vorstellungen zur Gesellschaft der Michels-
berger Kultur waren lange Zeit von der neo-mar-
xistischen und evolutionistischen Klischeevor-
stellung eines egalitären und pazifistischen Früh-
und Mittelneolithikums und eines kriegerischen
und ungleichen Jung- bis Endneolithikums ge-
prägt. Inzwischen hat die Ethnologie gezeigt,
dass die Bezeichnung egalitär jedoch nur auf ein-
fachste Jäger- und Sammlergesellschaften anzu-
wenden ist. Was die Michelsberger Kultur angeht,
stützen sich die Anhänger der traditionellen
Sichtweise insbesondere auf das Vorhandensein
der großen Erdwerke mit unterbrochenem Gra-
ben, in denen sie Befestigungsanlagen sehen.
Deren Bau – so die Argumentation – sei nur denk-
bar, wenn er von einem Häuptling, der die Macht
hat und bei Bedarf auch mit Gewalt eine große
Anzahl an „Arbeitern“ mobilisieren kann, geplant
und verordnet wurde. Wie bei der Abhandlung
zu den Erdwerken (s. Beitrag Jeunesse / Seidel
S. 58–69) noch gezeigt wird, waren viele dieser
Erdwerke aber wahrscheinlich keine Befesti-
gungsanlagen. Stattdessen lässt sich ihre Er-
richtung auch im Kontext einer akephalen Ge-
sellschaft erklären.
Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhält-
nisse ist die Untersuchung der Siedlungen wenig
ergiebig. Außer Mairy (s. Beitrag Jeunesse S. 62)
gibt es keine Siedlung, bei der eine architektoni-
sche Variabilität, die auf soziale Unterschiede
schließen ließe, zu erkennen wäre, und die Häu-
ser aus Mairy sind zweifellos ein Sonderfall.
Schließlich fallen diese in einer Zeit, in der auf eu-
ropäischer Ebene kleine Häuser bevorzugt wur-
den, völlig aus dem Rahmen.
Hornzapfen einesmännlichen Wild -rindes aus dem Graben der Anlagevon Bruchsal „Aue“(Kat. Nr. 5)
046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 53
Der Befund des Grabes von Beaurieux verleitet
auf den ersten Blick ebenfalls dazu, die Michels-
berger Kultur als hierarchisch gegliederte Gesell-
schaft zu betrachten. Die nähere Betrachtung zeigt
aber, dass dieses Grab vom letzten Aufflammen
einer verschwindenden Tradition zeugt, nämlich
jener der mittelneolithischen Langhügel im Pari-
ser Becken, und dass – im Gegensatz dazu – die
Michelsberger Kultur ein durch unauffällige Grab-
bauten und bescheidene Grabbeigaben gekenn-
zeichnetes Zeitalter eröffnete. Sowohl bei den
Bestattungen in Silogruben wie auch anderen Be-
stattungen fehlen Beigaben entweder ganz oder
fallen bescheiden aus und bleiben auf ein oder
zwei Gefäße und einige wenige, eher unschein-
bare Schmuckobjekte beschränkt. Dieses Fehlen
wertvoller Gegenstände steht in deutlichem Kon-
trast zu den polierten Axt- und Beilklingen aus
fremden Gesteinen und dem Spondylusschmuck
des donauländischen Neolithikums. Deponie-
rungen wertvoller Güter außerhalb des Grabkon-
textes sind eher selten. Sie bestehen fast alle
aus auswärtigen Rohstoffen (alpine Jadeitite,
Mondseekupfer) und wurden meist in Gegenden
außerhalb des Siedlungsgebietes der Michels-
berger Kultur hergestellt. Die Michelsberger Ge-
meinschaften erscheinen deshalb – im Gegensatz
zu ihren donauländischen Vorläufern – als Ver-
braucher wertvoller Gegenstände, die anderswo
produziert und niemals im Grabkontext benutzt
wurden.
Deponierungen wertvoller Gegenstände kön-
nen letztlich auch sehr gut kollektiven Beigaben
entsprechen, die z.B. für übernatürliche Wesen
bestimmt waren. Ihr Vorkommen ist also nicht
unbedingt ein Beweis für die Existenz einer sozi-
alen Elite. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin,
dass die Michelsberger Gemeinschaften auf ihre
Art und Weise Objekte neu gedeutet haben, die
z.B. in den kupferzeitlichen Kulturen Südost euro -
pas tatsächlich als soziale Erkennungszeichen ge-
dient haben.
Eine Berücksichtigung der Kriterien, die zur
Bestimmung der sozialen Organisation vergan-
gener, vorschriftlicher Gesellschaften herange-
zogen werden können, lässt viel eher darauf
schließen, dass die Michelsberger Kultur zu den
„demokratischsten“ Kulturen der jüngeren Vor-
geschichte Europas gehört. Einziges Indiz, das
für die Existenz einer vertikalen Differenzierung
der Gesellschaft spricht, ist der bereits beschrie-
bene Brauch der Mitbestattung (s. S. 90–95). Die-
se beinhaltet jedoch nicht zwangsläufig eine Ab-
hängigkeitsbeziehung, sondern könnte auch im
Bereich der Opferbräuche – ohne gesellschaftliche
Konnotation – einzuordnen sein. Im gesamten
westeuropäischen Raum und insbesondere im
Gebiet der „Megalithkulturen“ der Atlantikküste,
ist es für den Michelsberger Zeithorizont aufgrund
fehlender gut differenzierter Grabbeigaben kaum
möglich, die soziale Stellung Einzelner zu be-
stimmen. Zweifellos können diese Grabbauten
enorme Ausmaße erreichen, letztlich handelt es
sich aber um Kollektivgräber mit einzelnen Be-
stattungen, deren Beigaben immer bescheiden
bleiben, sofern sie überhaupt vorhanden sind.
An der Atlantikküste erreicht der Austausch der
sog. Prestigegüter, die für Elitegräber bestimmt
waren, bereits zwischen 4800–4400/4300 v.Chr. mit
Depotfund von Jadeitbeilen ausMainz-Gonsenheim(Kat. Nr. 313)
54 Die Michelsberger Kultur
046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 54
Beilen aus alpinem Jadeit und den Schmuck -
objekten aus Variscit der Iberischen Halbinsel ei-
nen ersten Höhepunkt, der älter ist als der
Michelsberger Zeithorizont. Auch wenn die Mi-
chelsberger Kultur keine monumentalen Grab-
bauten errichtet, ist sie unbestreitbar näher an
dieser Welt als an den zeitgleichen Gesellschaften
der späten Donaukulturen im Osten Mitteleuropas
(Tiszapolgár, Bodrogkeresztúr, Brześć-Kujawski),
deren Bestattungssitten in der donauländischen
Kulturtradition verankert bleiben.
Eine Zunahme der Gewalt?Die Vorstellung vom Anbrechen einer gewalttäti-
geren Zeit gehört zweifellos zur traditionellen
Sichtweise der Übergangsperiode zwischen den
donauländischen Kulturen und dem Jungneoli-
thikum in Mitteleuropa. Die verfügbaren Daten
zur Michelsberger Kultur können diese These je-
doch nicht bestätigen. Sicher gibt das Grab von
Heidelberg-Handschuhsheim, mit sechs Individu -
en, von denen vier Schädelverletzungen aufwei-
sen, ein sicheres Zeichen für einen gewaltsamen
Tod (s. S. 93–94). Letztlich bleibt dieses Dokument
aber einzigartig. Schließlich ist die Wehrfunktion
gerade der größeren Erdwerke fragwürdig. Kleine
Höhenerdwerke, die am ehesten wie befestigte
Siedlungen aussehen und damit auf ein erhöhtes
Konfliktpotenzial hinweisen könnten, sind von ge-
ringer Anzahl und gehören im Wesentlichen in die
Spätphase der Michelsberger Kultur. Es gibt daher
keinen Grund, anzunehmen, dass das Jungneoli-
thikum „kriegerischer“ oder gewalttätiger war als
die vorhergehenden Perioden.
Ein anderes NeolithikumWie bereits hervorgehoben, werden die Unter-
schiede zwischen der Michelsberger Kultur und
den vorangehenden donauländischen Kulturen
traditionell in einer evolutionistischen Sichtweise
gedeutet. Demnach treten in der zweiten Hälfte
des 5. Jt. v.Chr. komplexere, hierarchisch geglie-
derte, kriegerischer wie auch technisch weiter
fortgeschrittene Gesellschaften in Erscheinung.
Diese Schilderung stellt jedoch keinesfalls ein ge-
naues Abbild der archäologischen Gegebenheiten
dar. Der Unterschied zu den vorangegangenen
donauländischen Kulturen ist jedoch nicht gra-
dueller Natur, sondern zeugt vielmehr von einer
ganz anderen Art und Weise: ein Neolithikum,
das nicht „weiterentwickelt“ ist, weder technisch
noch gesellschaftlich, sondern einfach nur an-
ders. Dieser Unterschied äußert sich in einer an-
deren Art, den Raum zu besiedeln, mit den Toten
umzugehen, das gesellschaftliche Leben und die
symbolischen Beziehungen zur natürlichen Um-
welt zu begreifen.
Das Verschwinden der Friedhöfe deutet auf ein
Zurücktreten des Individuums zugunsten der Ge-
meinschaft hin. Das Erscheinen monumentaler
Erdwerke als identitätsstiftende Markierungs-
punkte und regionale Kultzentren, gemeinschaft-
lich gebaut und verwaltet, zeugt offensichtlich
vom gleichen Phänomen. Mit dem Verschwinden
der wertvollen Grabbeigaben und der großen
Häuser vergeht alles, wodurch die individuelle
Stellung und die Abstammung angezeigt werden
kann. Die Energie, die man in den gesellschaft-
lichen Wettstreit investierte, scheint sich auf die
Errichtung der großen zeremoniellen Erdwerke
zu übertragen. Die archäologischen Überreste ver-
anschaulichen die Vielfalt und Intensität eines re-
ligiösen Lebens, das sein Pendant in den zeitglei-
chen Megalithkulturen der Atlantikküste findet.
So gibt es einen westlichen Block, der in jeder Hin-
sicht im Gegensatz zu dem alten donauländischen
Modell steht, dessen Erbe weiterhin – zumindest
bis zum Ende des ersten Viertels des 4. Jt. v.Chr.
– im Karpatenbecken und den umliegenden Ge-
genden lebendig bleibt. Die Übernahme dieses
neuen Modells durch die mitteleuropäische Be-
völkerung muss als Ablehnung gegen das do-
nauländische Modell, sowohl in seiner religiösen
als auch in seiner gesellschaftlichen Dimension,
gedeutet werden. Es existiert offensichtlich ein
revolutionärer Aspekt in den Veränderungen, von
denen das Aufkommen des Michelsberger „Mo-
dells“ um 4400/4300 vor Chr. zeugt.
Lit: Biel u.a. 1998 – Jeunesse 1998 – Jeunesse 2010 – Lüning 1968 – Lüning 2000 – Raetzel-Fabian 1999a – Schumacher 1891
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