11
sich letztlich um Reihen aus Gruben unterschied- licher Länge. Das Erdwerk von Urmitz übertrifft dabei mit seiner über 90 ha großen Innenfläche bei Weitem alle aus dem älteren Neolithikum bekannten An- lagen. Große Erdwerke mit segmentierten Gräben begleiten die Michelsberger Kultur während ihrer gesamten Laufzeit – von den ersten Anlagen im Pariser Becken um 4400 v. Chr. bis zu den Bau- werken der Phase V, um 3700/3600 v. Chr. Diese finden sich – bis auf wenige Ausnahmen wie z. B. im Elsass – im gesamten Verbreitungsgebiet der Michelsberger Kultur. Bis heute sind weit über 100 Orte mit Erdwerken bekannt: 96 in Deutsch- land, vierzehn in Frankreich, neun in Belgien und ein Erdwerk in Tschechien. Die Verteilung ist je- doch nicht gleichmäßig: Während etwa im nord- französischen Aisne-Tal, um Heilbronn und Bruch- sal sowie am Nordrand der Eifel und im Nordharzvorland mehrere Erdwerke auf engem Raum zu finden sind, bleiben andere Regionen, wie z. B. das Elsass, davon ausgespart. Die Geschichte der Erforschung der Erdwerke beginnt mit den Ausgrabungen durch K. Schu- macher (1891) auf dem Michaelsberg bei Bruch- sal-Untergrombach. Die Erdwerke werden jedoch erst mit den Ausgrabungen von Urmitz und Mayen ein wesentlicher Gegenstand der Vorge- schichtsforschung. Seit den 1980er-Jahren bekam die Forschung durch die nach modernen Stan- dards dokumentierten Ausgrabungen von Heil- bronn-Klingenberg (1985–1987), Bruchsal „Aue“ (1987–1993), Calden (1988–1992), Mairy (1978– 1987) und Bazoches-sur-Vesle (1994–2003) neue Impulse. Diese neuen Untersuchungen öffneten einerseits den Blick für die Vielfalt der Befunde, an- Die Erdwerke von Christian Jeunesse und Ute Seidel 58 Die Michelsberger Kultur Verbreitung der Erdwerke der Michelsberger Kul- tur nach Zusammen- stellungen von Geschwinde / Fabian 2009 und Seidel 2008. E rdwerke stellen die am besten erforschte und zu- gleich charakteristischste Befundgattung der Mi- chelsberger Kultur dar. Nach den ersten Grabun- gen am namengebenden Fundplatz wurde durch die Ausgrabungen in Mayen (1910) und Urmitz (zwischen 1935 und 1947) die enge Verbindung zwischen der Michelsberger Kultur und den Erd- werken mit unterbrochenen, d.h. segmentierten Gräben deutlich. Anlagen dieses Typs besitzen einen oder mehrere Gräben mit zahlreichen Unterbrechungen. Bei den „Gräben“ handelt es

45 Die Erdwerke der Michelsberger Kultur

Embed Size (px)

Citation preview

sich letztlich um Reihen aus Gruben unterschied-

licher Länge.

Das Erdwerk von Urmitz übertrifft dabei mit

seiner über 90 ha großen Innenfläche bei Weitem

alle aus dem älteren Neolithikum bekannten An-

lagen. Große Erdwerke mit segmentierten Gräben

begleiten die Michelsberger Kultur während ihrer

gesamten Laufzeit – von den ersten Anlagen im

Pariser Becken um 4400 v.Chr. bis zu den Bau-

werken der Phase V, um 3700/3600 v.Chr. Diese

finden sich – bis auf wenige Ausnahmen wie z.B.

im Elsass – im gesamten Verbreitungsgebiet der

Michelsberger Kultur. Bis heute sind weit über

100 Orte mit Erdwerken bekannt: 96 in Deutsch-

land, vierzehn in Frankreich, neun in Belgien und

ein Erdwerk in Tschechien. Die Verteilung ist je-

doch nicht gleichmäßig: Während etwa im nord-

französischen Aisne-Tal, um Heilbronn und Bruch-

sal sowie am Nordrand der Eifel und im

Nordharzvorland mehrere Erdwerke auf engem

Raum zu finden sind, bleiben andere Regionen,

wie z.B. das Elsass, davon ausgespart.

Die Geschichte der Erforschung der Erdwerke

beginnt mit den Ausgrabungen durch K. Schu -

macher (1891) auf dem Michaelsberg bei Bruch-

sal-Untergrombach. Die Erdwerke werden jedoch

erst mit den Ausgrabungen von Urmitz und

Mayen ein wesentlicher Gegenstand der Vorge-

schichtsforschung. Seit den 1980er-Jahren bekam

die Forschung durch die nach modernen Stan-

dards dokumentierten Ausgrabungen von Heil-

bronn-Klingenberg (1985–1987), Bruchsal „Aue“

(1987–1993), Calden (1988–1992), Mairy (1978–

1987) und Bazoches-sur-Vesle (1994–2003) neue

Impulse. Diese neuen Untersuchungen öffneten

einerseits den Blick für die Vielfalt der Befunde, an-

Die Erdwerkevon Christian Jeunesse und Ute Seidel

58 Die Michelsberger Kultur

Verbreitung derErdwerke der Michelsberger Kul-tur nach Zusammen-stellungen von Geschwinde / Fabian2009 und Seidel 2008.

Erdwerke stellen die am besten erforschte und zu-

gleich charakteristischste Befundgattung der Mi-

chelsberger Kultur dar. Nach den ersten Grabun-

gen am namengebenden Fundplatz wurde durch

die Ausgrabungen in Mayen (1910) und Urmitz

(zwischen 1935 und 1947) die enge Verbindung

zwischen der Michelsberger Kultur und den Erd-

werken mit unterbrochenen, d.h. segmentierten

Gräben deutlich. Anlagen dieses Typs besitzen

einen oder mehrere Gräben mit zahlreichen

Unterbrechungen. Bei den „Gräben“ handelt es

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 58

dererseits verdeutlichten sie die Einheitlichkeit

des Phänomens. Schließlich lieferten sie vor allem

wichtige Informationen zu den beiden zentralen

Fragen, die die Forschung von jeher beschäfti-

gen: Es sind die Fragen nach dem Ursprung und

der Funktion der Erdwerke. In der Vergangenheit

wurde – abhängig von der Entdeckung, aber auch

dem Zeitgeist – fortifikatorischen (befestigte Sied-

lung), wirtschaftlichen (Viehkral oder Marktplatz),

politischen (Versammlungsplatz) oder religiösen

(Ort für Rituale) Aspekten der Vorzug gegeben.

Neue Ausgrabungen belegen, dass die Erdwerke

mit unterbrochenen Gräben ältere Vorläufer be-

sitzen. Die Zunahme der dokumentierten Fund-

stellen und die Untersuchung größerer Flächen

sowie auch eine verbesserte Grabungstechnik er-

lauben heute eine neue Sicht auf die Erdwerke der

Michelsberger Kultur.

Auf den ersten Blick: Eine große VielfaltDer erste Eindruck einer enormen Variabilität der

Erdwerke mit unterbrochenem Graben lässt sich

bei näherer Betrachtung auf wenige strukturelle

Grundzüge reduzieren. Beeindruckend sind zu-

nächst die Größenunterschiede: Die vier größten

Anlagen – von Urmitz (Rheinland-Pfalz), Jülich

(Nordrhein-Westfalen), Wiesbaden-Schierstein

(Hessen) und Ottenbourg (Belgien) – mit fast ei-

nem Quadratkilometer bzw. 90–100 ha Innenflä-

che, sind fast 200-mal größer als z.B. Swisttal-Miel

(Nordrhein-Westfalen), das nur 0,5 ha Innenflä-

che aufweist. Die vier „Riesen“ ragen allerdings

aus der Menge der Erdwerke heraus: Keine der

anderen Anlagen umfasst mehr als 40 ha Fläche.

Unterschiede zeigen sich auch hinsichtlich der

Topografie: Einige Erdwerke wurden in der Ebe-

ne – zum Teil direkt an einem Flusslauf – angelegt,

andere am Rand einer Hochebene, an einem Ab-

hang oder auf einem Berg; Letzteres ist jedoch die

Ausnahme.

Unter den bekannten vollständigen Grundris-

sen überwiegt eine annähernd ovale Form. In Cal-

den wird das Oval durch die Abflachung einer

Seite gestört; hier entsteht der Eindruck einer

Schauseite oder „Fassade“, vergleichbar den

gleichzeitigen Anlagen der Baalberger Kultur

Mitteldeutschlands oder des Frühneolithikums

der Britischen Inseln. Solche „Fassaden“ erinnern

an einige Monumentalgräber, die in dieser Zeit in

Westeuropa (z.B. in Newgrange, Irland) errichtet

wurden. In Bazoches wurde der polygonale Ver-

lauf in einer zweiten Phase durch einen halb-

kreisförmigen Anbau ergänzt. Anbauten und Um-

gestaltungen sind relativ häufig zu beobachten.

Dies verwundert jedoch nicht, wenn man bedenkt,

dass einige Anlagen wie Urmitz über mehr als ein

halbes Jahrtausend genutzt wurden.

Erdwerk von Witt-mar/Niedersachsen.Der Grabenverlaufist deutlich an posi-tiven Bewuchsmerk-malen zu verfolgen

Die Erdwerke 59

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 59

Die weniger tiefen Strukturen sind heute oft

von der Erosion abgetragen. Im Prinzip bestand

eine Anlage aber aus einem Grabenzug, der auf

der Innenseite von einem Fundamentgräbchen

begleitet wurde, wohl der Standort einer Palisade.

Der durch den Aushub des Grabens gebildete

Erdwall ist nur in Ausnahmefällen erhalten. Es

sind durchaus Anlagen mit mehreren, d.h. bis zu

vier Gräben und/oder mehreren Palisadenzügen

belegt. Die Vervielfachung der Strukturen könnte

mit der langen und komplizierten Baugeschichte

erklärt werden. Für Urmitz beispielsweise wurde

eine Abfolge von vier Phasen vorgeschlagen: Auf

eine Palisade (1) folgte eine Palisade mit Graben

(2), später ein einzelner Graben (3) und zuletzt

zwei parallel laufende Gräben ohne Palisade (4).

Betrachtet man die Gräben genauer, so bestehen

diese aus mehr oder weniger regelmäßigen Gru-

ben unterschiedlicher Form und Größe, die stets

eine flache Sohle besitzen. Die einzelnen Seg-

mente sind zwischen weniger als einem und bis

zu 15 m lang, 1–8 m breit und können bis zu 4 m

tief erhalten sein.

Die Maßangaben – insbesondere der großen

Erdwerke – beeindrucken: Im Fall von Urmitz ist

der äußere Graben 2550 m lang, durchschnittlich

2 m tief und 7 m breit. Vor dem Hintergrund der

langen und mehrphasigen Baugeschichte wer-

den diese Zahlen allerdings relativiert.

Detailliert untersuchte Michelsberger Erdwerke

geben stets Umbau- und Ausbaumaßnahmen zu

erkennen. So wurden in Noyen, Bruchsal „Aue”

und Ilsfeld offensichtlich Reihungen aus kürzeren

Gruben durch Reihen aus längeren Gruben er-

setzt und damit Grabenunterbrechungen entfernt.

Die einzelnen Erdwerke zeigen eine unter-

schiedliche Anzahl an Grabenunterbrechungen,

die nicht alle zweifelsfrei als „Tore“ interpretiert

werden können. Oftmals scheint es sich um blo-

ße Lücken zwischen Gruben zu handeln. Einige

Unterbrechungen sind jedoch durch mehr oder

weniger komplexe Strukturen als Eingänge bzw.

Tore ausgewiesen: Diese reichen von einfachen

Gräbchen im oder am Durchlass (z.B. Heilbronn-

Klingenberg, Bruchsal „Aue“, Vignely), bis zu

komplexen Konstruktionen, welche vormals als

„Bastionen“ bezeichnet wurden (z.B. Maizy,

Noyen-sur-Seine, Grisy, Urmitz, Calden) und von

denen die eindrucksvollste in Calden immerhin

Grundriss desErdwerks von Urmitz(nach Eckert 1991)

Grundriss des Erd-werks von Bazoches

60 Die Michelsberger Kultur

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:52 Uhr Seite 60

21 m lang und 11 m breit ist. Die Funktion dieser

Einbauten bleibt vorerst unbekannt. Jeweils der

Gesamtinterpretation folgend, sollen sie in Ur-

mitz Verteidigungszwecken gedient haben, in Cal-

den waren sie hingegen ein „rituelles Element“,

das den Zugang reglementiert. Unabhängig von

ihrer tatsächlichen Funktion bezeichneten die Kon-

struktionen markant den Durchgang zwischen

dem Erdwerkinneren und der Außenwelt.

Ganz unterschiedlich sind offenbar auch die

Innenflächen der Erdwerke gestaltet. Manche, z.B.

der Michaelsberg, Klingenberg oder Mairy, haben

eine große Dichte an Strukturen geliefert, andere,

wie z.B. Urmitz oder Ilsfeld, weit verteilte einzel-

ne Gruben, wieder andere, wie Calden oder Not-

tuln, weisen keinerlei Siedlungsspuren auf. Das

Fehlen von Spuren im Innenraum kann zumindest

in einigen Fällen durch Erosion verursacht worden

Die Erdwerke 61

Schematische Rekonstruktion derHolzarchitektur imBereich einer Gra-benunterbrechungam Erdwerk von Calden (nach Raet-zel-Fabian 2000,Abb. 10 u.11)

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 61

sein. So werden in der Regel nur die tieferen Vor-

ratsgruben (Silos) gefunden. Strukturen, die als

Häuser interpretiert werden können, wie z.B. die

„Halbgrubenhäuser“ in Urmitz oder große, kom-

plexe Grundrisse wie in Mairy, sind hingegen sel-

ten – ein Umstand, der auch für die unbefestigten

Siedlungen gilt.

Auf den zweiten Blick: Ein einheitliches PhänomenTrotz aller Unterschiede zeigen die Michelsberger

Erdwerke deutliche Gemeinsamkeiten und ihre

Errichtung wie auch Nutzung scheint einem fest-

gelegten Schema zu folgen. Dazu gehören die

unterbrochenen Gräben mit ihren verschiedenen

Bau- und Nutzungsphasen. Die Gräben wie auch

Gruben im Innenbereich waren mit Keramik, aber

auch mit Knochen von Menschen und Tieren

verfüllt und gehen damit oftmals nicht auf All-

tagsaktivitäten zurück. Die eingangs erwähnte

Vielfalt erscheint daher eher gradueller Natur.

Stattdessen wird deutlich, dass die Errichtung der

Erdwerke der Michelsberger Kultur einem fest-

gelegten Schema folgt, dessen Logik eher von

den Bedürfnissen eines Rituals als von Überle-

gungen seiner Nutzung bestimmt wird.

Ursprung und VerbreitungDie Erdwerke mit unterbrochenem Graben des

Jungneolithikums stehen in einer langen Tradi-

tion, die im Folgenden kurz betrachtet wird. Die

frühesten Erdwerke dieses Typs sind schon aus

der Zeit der Bandkeramik bekannt. Durch Be-

fundbeobachtungen an der Anlage von Rosheim

im Elsass weiß man, dass die Gräben aus Einzel-

gruben bestehen, die über einen Zeitraum von

mehreren Generationen entlang eines vorbe-

stimmten Verlaufs ausgehoben wurden. Die ein-

zelnen Gruben hatten eine kurze Nutzungsdauer

und wurden verfüllt, bevor sie von späteren Gru-

ben geschnitten wurden. Sind die Überschnei-

dungen sehr zahlreich, wie z.B. im Fall der Anla-

ge von Herxheim (Rheinland-Pfalz), verschwinden

die Erdgrate zwischen den einzelnen Gruben und

im Grabungsbefund erscheint ein durchgehen-

Die Erdwerke 63

der Graben, der in Wirklichkeit jedoch niemals

existiert hat. Die enorme Vielfalt in Größe und

Form der aneinandergereihten Gruben lässt an

verschiedene Bautrupps denken, die nicht nach

einheitlichen Vorgaben arbeiteten. Der Nachweis

dieser „Pseudogräben“ bzw. „Grubenanlagen“

verändert die bisherige Auffassung der Erdwerke

völlig und schließt eine Interpretation als Vertei-

digungsanlage aus. Nachgewiesen ist dieser Erd-

werkstyp vorläufig für die Bandkeramik und im

Elsass auch für die zweite Hälfte des Mittelneoli-

thikums, d.h. für die Zeit unmittelbar vor der Her-

ausbildung der Michelsberger Kultur.

Die besten Beispiele von solchen segmentier-

ten Grabenanlagen des Mittelneolithikums (4900–

4300 v.Chr.) finden sich im Pariser Becken, aber

auch im Elsass, in Polen und in Niederösterreich.

In der zuletzt genannten Region zeigen Fundorte

wie Puch und Kammegg, dass das Prinzip des

unterbrochenen Grabens, zumindest in einigen

Fällen, auch beim Bau von Kreisgrabenanlagen

der Lengyel-Kultur angewandt wurde. Mit Aus-

nahme der Elsässer Befunde, die der zweiten Hälf-

te des Mittelneolithikums angehören, wissen wir

momentan nicht, ob alle diese Erdwerke in der

gleichen Weise angelegt wurden wie die Gruben -

anlagen der Bandkeramik. Unregelmäßigkeiten

Grundriss desErdwerks von Balloy

0 50m

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 63

im Verlauf, die Vielfalt in Größe und Form der Gru-

ben sowie die immer wieder auftretenden Über-

schneidungen sind jedoch geeignet, die Hypo-

these zu bestätigen. Für die ersten Erdwerke der

Michelsberger Kultur, die im Pariser Becken die

Erdwerke des Mittelneolithikums unmittelbar ab-

lösen, stellt sich dieselbe Frage. Auch hier wissen

wir nicht, ob es sich bei diesen Erdwerken um

Grubenanlagen handelt. Der Grund für diese Un-

kenntnis ist die Tatsache, dass kein Erdwerk des

Jungneolithikums je unter diesem Gesichtspunkt

ausgegraben und ausgewertet wurde.

Dabei mangelt es nicht an Beobachtungen, die

das Augenmerk auf eine mögliche Grubenstruktur

der Michelsberger Erdwerke lenken. In Mayen wa-

ren die Ausgräber von der Vielfalt hinsichtlich der

Breite und der Form der Gruben überrascht und

erklärten dies mit unterschiedlichen Bautrupps.

Getreppte Grabensohlen sind ein Indiz für Über-

schneidungen und auf beiden Seiten einer Grube

bzw. eines Grabenabschnittes abgelagerter Aus-

hub könnte gegen eine Verteidigungsfunktion

sprechen.

Entsprechende Beobachtungen lassen sich an

den Erdwerken machen, die in ausreichend großer

Fläche und Sorgfalt erfasst wurden. Auch wenn

diese Einzelbeobachtungen bislang nicht ausrei-

chen, um nachzuweisen, dass die Michelsberger

Erdwerke Grubenanlagen waren, so veranschau-

licht das Modell des Erdwerks vom Typ Rosheim

zum jetzigen Zeitpunkt am besten die festgestell-

te Vielfalt und zwingt dazu, zumindest einige Erd-

werke, wie z.B. Noyen, Ilsfeld oder Bruchsal

„Aue“, unter dem Aspekt der Grubenanlagen zu

betrachten. Selbst bei den späten Anlagen mit

längeren Grabensegmenten, wie z.B. Klingenberg,

Michaelsberg oder Calden, bemerkt man Unre-

gelmäßigkeiten in den Gräben, die auf die Tätig-

keit verschiedener Bautrupps hinweisen könnten.

Die Kontinuität zu den Grubenanlagen des

Früh- und Mittelneolithikums äußert sich auch in

den Funden: Deponierungen menschlicher und

tierischer Überreste, von denen noch im Abschnitt

über die Funktion die Rede sein wird, treten seit

der Bandkeramik auf. Im Erdwerk von Menne ville

(Pariser Becken) wurden in Gruben menschliche

Überreste verschiedener Art gefunden: Skelette in

anatomischem Verband, Teilskelette und einzelne

Knochen. Sie waren mit tierischen Überresten

vermischt, deren Zusammensetzung sich deut-

lich von einfachem Hausabfall un terscheidet. Am

spektakulärsten sind Gehörne vom Urrind. Sie

bilden eine Art Leitmotiv in der Entwicklung der

Anlagen mit segmentiertem Graben. Im Erdwerk

von Balloy (Cerny-Gruppe; 4800–4500 v.Chr.), im

Mündungsgebiet der Yonne in die Seine gelegen,

fanden sich neben Depots aus Ur-Gehörnen und

Rinderunterkiefern tierische Überreste, die als

Überbleibsel von Festmahlen gedeutet werden

können. Die Verbindung zwischen unterbroche-

nen Gräben und rituellen Aktivitäten, welche die

Deponierung von ausgewählten menschlichen

und tierischen Überresten einbezieht, ist dem-

Grabenabschnittdes Erdwerks vonBruchsal „Aue“

64 Die Michelsberger Kultur

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 64

nach seit dem Früh- und Mittelneolithikum nach-

gewiesen.

Die Besonderheiten des Erdwerks von Balloy

machen es – zusammen mit den anderen Erd-

werken der Cerny-Gruppe – zu einem Vorläufer

der Michelsberger Erdwerke. Die Erdwerke der

Cerny-Gruppe finden sich im Kerngebiet der die

Cerny-Gruppe um 4500 v.Chr. ablösenden Noyen-

Gruppe, welche die Grundlage der Michelsberger

Kultur bildet. Die Charakteristika der Michelsber-

ger Erdwerke sind dort bereits alle vertreten, mit

Ausnahme der Deponierungen von menschlichen

Überresten. Da diese nicht in jedem Erdwerk der

Michelsberger Kultur auftreten, ist ihr Fehlen je-

doch kein Argument gegen die Hypothese einer

Abfolge Cerny–Noyen–Michelsberg. Zur typolo-

gischen Kontinuität gesellt sich eine topografi-

sche Beobachtung: In Villeneuve-la-Guyard folgt

auf einen Graben der Cerny-Gruppe einer der

Noyen-Gruppe und in Crécy-sur-Serre ist die Gra-

benfolge Cerny–Bischheim–frühes Michelsberg

belegt. Die ältesten Gräben der Michelsberger

Kultur wurden in Noyen (Seine-et-Marne) und in

Bazoches-sur-Vesle (Aisne) gefunden. Bazoches

zeigt durch den unregelmäßigen Verlauf seiner

Gräben und die Vielfalt seiner Gruben deutliche

Anklänge an die segmentierten Anlagen der Cer-

ny-Gruppe sowie an die des Früh- und Mittelneo-

lithikums.

In Noyen wird ein erstes Erdwerk mit unregel-

mäßigen Gruben durch ein zweites Bauwerk er-

setzt, dessen Gruben größer und auch regelmä-

ßiger sind. Dieser Prozess der Standardisierung,

bei dem ein unregelmäßiger Graben mit sehr

unterschiedlichen Gruben durch einen regelmä-

ßigen Graben mit längeren Gruben ersetzt wird,

könnte auch bei zwei Erdwerken der älteren Mi-

chelsberger Kultur – nämlich Ilsfeld (Seidel 2008)

und Bruchsal „Aue“ (Regner-Kamlah 2009) – statt-

gefunden haben.

Die Ausbreitung der Erdwerke mit unterbro-

chenen Gräben nach Norden (Belgien) und Osten

(Deutschland) verläuft parallel zu jener der Mi-

chels berger Kultur. Die Erdwerke der älteren

Ausbreitungsphase sind am zahlreichsten und

spektakulärsten. Wie die frühe Datierung der vor-

Bruchsal „Aue“:Rindergehörne amGrabenkopf in Fund-lage

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 65

er keine Spuren einer Innenbesiedlung kannte. Er

bemerkte jedoch, dass wegen fehlender Quellen

im Fall einer Belagerung die Wasserversorgung

nicht gesichert sei. In den 1930er- und 1940er-

Jahren kam durch Rest und Paret die Interpreta-

tion als Viehkral auf. In den 1960er-Jahren brach-

te dann Maier Argumente für eine kultische

Funktion der Anlagen neu in die Diskussion ein.

Als Argumente für eine Verteidigungsfunktion

wurden die Wall-Graben-Systeme, die Topografie

(Lage auf einer Anhöhe oder am Lauf eines Flus-

ses), die Konstruktionen an den Durchlässen

(„Bastionen“), menschliche Überreste in den Grä-

ben (Gewaltopfer) und verkohlte Holzreste (Pali-

saden, Brustwehren o.Ä.) angeführt. Eine Prüfung

der topografischen Lagen zeigt aber, dass das Ver-

teidigungspotenzial des Geländes selten von den

Erbauern ausgeschöpft wurde. Viele der älteren

„Höhen-Erdwerke“ wurden in Wirklichkeit am Ab-

hang und nicht auf dem Berggipfel selbst errichtet.

Schließlich wurde auch die Tatsache, dass

manche Bauwerke an einem Flusslauf errichtet

wurden, als Beleg für eine Verteidigungsfunktion

angeführt. Die Anlage von Urmitz entkräftet dieses

Argument weitgehend. Die eingefasste Fläche (ca.

1 km2) und die Länge des Grabens (ca. 2500 m)

sind angesichts der Größe neolithischer Popula-

tionen nur wenig vereinbar mit den Ansprüchen

einer wirksamen Verteidigung, außer man stellt

sich richtige Armeen vor, was im neolithischen

Kontext schwer vorstellbar ist. Die zahlreichen

Grabenunterbrechungen sprechen ebenfalls ge-

gen eine Verteidigungsanlage, zumal – wie in

Mayen – der Grabenaushub sowohl auf der ei-

nen als auch auf der anderen Seite abgelagert

wurde. Auch die Tatsache, dass die Toreinbauten

einen monumentalen Charakter besitzen, ist kei-

nesfalls ein zwingendes Argument für eine Wehr-

funktion. Sie könnten auch dazu bestimmt gewe-

sen sein, die Besucher zu beeindrucken.

Eher an eine Verteidigungsfunktion lassen die

Erdwerke der spätesten Michelsberger Kultur den-

ken. Diese Anlagen mit langen Grabensegmenten

sind in natürlicher Verteidigungsposition errichtet,

etwa in Spornlage, wie Ranstadt-Dauernheim

Grundriss desErdwerks von Wind-mill Hill

66 Die Michelsberger Kultur

gefundenen Keramik anzeigt, z.B. in Miel, Urmitz

oder Ilsfeld, könnte der Bau eines Erdwerks zu

den „Gründungshandlungen“ bei der Ansiedlung

der neuen Kultur gehört haben. Einige dieser frü-

hen Erdwerke bleiben mehrere Jahrhunderte lang

wichtige Zentren, und die entsprechenden Ge-

genden sind auch in der Folgezeit verschiedent-

lich durch eine Häufung von Erdwerken gekenn-

zeichnet. Das gilt z.B. für das Aisne-Tal, die

Gegend um Bruchsal und um Heilbronn sowie

das Nordharzvorland. Die Hypothese, dass sich

um Pioniersiedlungen zentrale Orte entwickelten,

knüpft sich an die Beobachtung, dass in man-

chen Regionen, in denen die Michelsberger Kul-

tur später auftritt (z.B. im Elsass), Erdwerke bis-

lang vollständig fehlen.

FunktionWelche Funktion die Erdwerke der Michelsberger

Kultur erfüllten, wird nach wie vor diskutiert. Seit

Beginn der Forschung kreisen die Interpretationen

um das Thema Verteidigungsanlage. Lehner

sprach Urmitz und Mayen als Fliehburgen an, weil

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 66

(Hessen) oder Heilbronn-Klingenberg. Hervorzu-

heben ist, dass so gut wie keine Ortskontinuität

zwischen diesen späten Erdwerken und den Erd-

werken der klassischen Michelsberger Kultur nach-

gewiesen werden kann.

Nicht zuletzt die große Zahl der Öffnungen wä-

re ein Indiz für eine Interpretation als Viehkral.

Als weitere Argumente hierfür werden hohe An-

teile an Rinderknochen (bis 90%) an den Tierkno-

chen verschiedener Anlagen (z. B. „Hetzenberg“)

und die oft dünnen oder ganz fehlenden Nut-

zungsspuren im Innenraum angeführt. Schließlich

wird die Lage einiger Erdwerke entlang alter Ver-

kehrswege mit der Nutzung als „ Basisstation“

entlang von Routen einer saisonalen Fernweide-

wirtschaft in Verbindung gebracht (s. S. 88–89),

ein Modell, das jedoch nicht auf alle Michelsber-

ger Erdwerke übertragbar ist.

Die Frage nach der Funktion hängt letztlich mit

der Bauart der Erdwerke zusammen. Folgt man

der Annahme, dass die Erdwerke mit unterbro-

chenen Gräben der Michelsberger Kultur das Er-

be der Grubenanlagen der späten Bandkeramik

sind, muss der Hypothese einer zeremoniellen

Funktion der Vorrang gegeben werden.

Bislang wurden als Argumente für eine zere-

monielle Nutzung der Erdwerke menschliche

Überreste – einzelne Knochen, Teilskelette und

Schädelkonzentrationen –, etwa aus den Gräben

von Obereisesheim „Hetzenberg“, Heidelsheim

„Altenberg“ oder „Goldberg“ angeführt, ausge-

wählte Tierknochen, wie die Urgehörne von Berg-

heim und Bruchsal „Aue“ oder die Hirschgewei-

he von Bazoches, Teile von Tierkadavern, die von

Opfergaben oder Festen stammen könnten (Mai-

ry, „Hetzenberg“, „Altenberg“) oder kaum zer-

brochene Gefäße („Hetzenberg“; „Goldberg“; Ba-

zoches; Bruchsal „Aue“, „Altenberg“). Zwar

erlaubt es der Forschungsstand kaum, diese The-

matik weiter zu vertiefen, und einige Befunde ent-

ziehen sich einer rituellen Interpretation, doch

scheint die Aus übung von Ritualen offensicht-

lich. In deren Zusammenhang kam es zu Be-

handlungen menschlicher und tierischer Körper

und zur Zerstörung und Deponierung von Gefä-

ßen. Diese Art der Überreste findet man in vielen

Erdwerken.

Die Art der ausgeübten Rituale ist in jedem Fall

schwer zu rekonstruieren, was sich auch in der

vorsichtigen Benutzung des Ausdrucks „zeremo-

nielles“ Erdwerk widerspiegelt. Die umfassendste

Interpretation für eine rituelle Funktion ist jene, die

für das dänische Erdwerk von Sarup vorgeschla-

gen wurde. Dieser Fundort aus der zweiten Hälf-

te des 4. Jt. v.Chr. gehört der Trichterbecherkultur

an und reiht sich in die Tradition der Erdwerke mit

unterbrochenen Gräben ein. Der Ausgräber sieht

Sarup als einen Versammlungsplatz, den mehre-

re verstreute Gemeinschaften in regelmäßigen

Abständen aufsuchten, um in der Ausübung ihrer

Rituale ihre Zusammengehörigkeit zu bekräftigen

(Andersen 1997). Seiner Auffassung nach stellten

die Erdwerke unter anderem einen Ort dar, an

dem die Verstorbenen behandelt wurden, bevor

man sie endgültig in den Megalithgräbern der

Umgebung bestattete. Eine Funktion im Rahmen

der Totenbehandlung wurde für die Michels -

berger Erdwerke bereits von anderer Seite erwo-

gen (s. Beitrag Jeunesse S. 90–95).

Die Erdwerke mit unterbrochenen Gräben las-

sen sich nach diesem diachronen Überblick neu in

den Kontext eines Langzeitphänomens einord-

nen, das sich über zwei Jahrtausende – vom Ende

des 5. bis zum Ende des 4. Jt. v.Chr. – erstreckte.

Die Perspektive hat es erlaubt, sich von den for-

schungsinternen Diskussionen des Jungneoli -

thikums freizumachen. Ein Weiterkommen in

diesen Fragen kann letztlich nur durch die Weiter-

führung systematischer Untersuchungen erreicht

werden, die alle Befunde und Funde eines Erd-

werkes einschließen. Fortschritte sind erstens nur

durch Berücksichtigung neuer Arbeitshypothesen

– wie z.B. der hier formulierten – zu erzielen und

zweitens in der Weiterführung systematischer

Untersuchungen der freigelegten mit den Erd-

werken in Zusammenhang stehenden Befunde.

Beispielhaft seien hier die Untersuchungen zu

den menschlichen Überresten aus den Heilbron-

ner Erdwerken durch J. Wahl genannt (Wahl

2008).

Die Erdwerke 67

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 67

Teilrekonstruk-tion des Erdwerksvon Sarup I (nachAndersen 1997, Fig. 73)

Die gesellschaftliche Bedeutung der ErdwerkeDie zeitgleiche Existenz von Erdwerken und un-

befestigten Wohnsiedlungen führte zur Annah-

me einer Siedlungshierarchie, in welcher Erd-

werke den Rang von Zentralplätzen einnehmen.

Diese Überlegung wurde fortgeführt, unter der

Vorstellung, diese räumliche Organisation bilde

eine hierarchische Gesellschaftsorganisation ab.

Der Ort der Erdwerke könnte zugleich der Ort ei-

ner oder mehrerer für die Gesellschaftsstruktur

wichtiger Personen oder Rituale sein. Schließlich

wurde der Standpunkt geäußert, die Existenz

dieser Zentralplätze lasse auf eine zentralisierte

Macht schließen und diese sei mit einem „Häupt-

lingstum“ gleichzusetzen. Auch wenn die her-

ausgehobene Stellung unserer Erdwerke unan-

fechtbar ist, gibt es nach dem derzeitigen For-

schungsstand nichts, was dazu zwingt, in der

zentralen Stellung der Erdwerke das Abbild einer

gesellschaftlichen Hierarchie zu sehen. Noch we-

niger Anhaltspunkte gibt es für die Vorstellung,

dass ein Erdwerk als Residenz eines „Häuptlings“

diente, der über die offenen Wohnsiedlungen des

jeweiligen Gebietes gebot. So liegen die Erdwer-

ke im Nordharzvorland, mit einer bislang uner-

reichten Zahl von 26 Anlagen, oft kaum 5 km von-

einander entfernt. Ähnliches gilt für die Gegenden

um Bruchsal und Heilbronn. Entweder waren die

Territorien nur klein oder es gab keine Territo-

rien oder die Erdwerke waren nur jeweils derart

kurz in Nutzung, dass sie nie gleichzeitig bestan-

den. Im Gegensatz dazu erlaubt die Hypothese der

Grubenanlage, das Erdwerk als gemeinschaftli-

ches Bauwerk anzusehen, das ein Identitätssym-

bol für mehrere verstreute Gemeinschaften dar-

stellt, woraus sich eine ähnliche Funktion wie jene

der Kollektivgräber ableiten lässt, die zur gleichen

Zeit durch ihre beeindruckende Monumentalität

die Landschaft an der europäischen Atlantikküste

kennzeichnen.

Jenseits der Grenzen der Michelsberger KulturDer Exkurs zu den Bauwerken des Früh- und

Mittelneolithikums hat gezeigt, dass Erdwerke mit

unterbrochenem Graben schon lange vor der Mi-

chelsberger Kultur existierten. Ihre Verbreitung

68 Die Michelsberger Kultur

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 68

erstreckt sich über die räumlichen und zeitlichen

Grenzen der Michelsberger Kultur hinaus.

Erdwerke mit unterbrochenen Gräben erleben

in Mittel- und Westeuropa vom Ende des 5. bis

zum Anfang des 4. Jt. v.Chr. eine beachtliche Ver-

breitung. In der Tat sind sie in einem weiträumi-

gen Gebiet, das sich über den Südwesten, den

Westen und die Mitte Frankreichs erstreckt, anzu-

treffen, ebenso auf den Britischen Inseln und in

einigen Kulturen der östlich angrenzenden Ge-

biete, wie z.B. in der Altheimer Kultur in Bayern.

Das zuletzt genannte Beispiel zeigt, wie die Über-

nahme durch eine neue Kultur mit einer Neudeu-

tung „nach dem lokalen Geschmack“ einherge-

hen kann. Die quadratische Form und die geringe

Größe der Altheimer Erdwerke machen aus ihnen

nämlich die direkten Nachfolger der kleinen Erd-

werke der vorangehenden Münchshöfener Kultur.

Sehr wahrscheinlich – wenn auch bislang nicht

nachweisbar – ist, dass die der Michelsberger Kul-

tur entliehene Form hier und da mit neuen sym-

bolischen Inhalten gefüllt wurde – und umgekehrt

die späte Michelsberger Kultur Anleihen machte.

Andere Kulturen, obwohl sie der Michelsberger

Kultur in anderen Bereichen nahestehen, legten

zu keiner Zeit Erdwerke mit unterbrochenem Gra-

ben an, z.B. im süddeutschen bzw. nordost-

schwei zerischen Raum die Schussenrieder und

die Pfyner Kultur.

Die Verbreitung jenseits der kulturellen Gren-

zen hat sich in mehreren Wellen vollzogen. In

Frank reich legt das Chasséen seit den Anfangs-

zeiten der Michelsberger Kultur vor 4000 v.Chr.

Erdwerke mit segmentierten Gräben an. Eine

zweite Welle, zeitgleich mit der jüngeren Mi-

chelsberger Kultur, beginnt um 3800 v.Chr. und

erfasst England, Westfrankreich, Bayern und

Mitteldeutschland. Die dritte Welle schließlich be-

rührt erst nach dem Ende der Michelsberger Kul-

tur, in der zweiten Hälfte des 4. Jt. v.Chr., Bevöl-

kerungsgruppen in Norddeutschland und

Südskandinavien, jene der Trichterbecherkultur.

Damit vergehen rund 2000 Jahre zwischen den

ersten Anlagen mit unterbrochenen Gräben am

Ende des Frühneolithikums und den Bauwerken,

die an den Beginn des Endneolithikums datieren.

SchlussfolgerungenAuch wenn die Michelsberger Erdwerke mit unter-

brochenem Graben nicht, wie früher angenom-

men, die ersten Ausprägungen des Prinzips sind,

das ihrer Anlage zugrunde liegt, sind sie doch un-

bestreitbar dessen vollendeter Ausdruck. Ausge-

hend von den kleinen Erdwerken von Cerny, die

ihrerseits auf bandkeramische Prototypen zu-

rückgehen, werden seit der ältesten Phase der

Michelsberger Kultur große Anlagen errichtet, die

zugleich die sichtbarsten Wahrzeichen der neuen

Kultur sind und deren Ausbreitung nach Osten be-

gleiten. Einige dieser „Stamm“-Erdwerke zogen

regional eine Errichtung neuer Bauwerke nach

sich. Auch wenn die Verteidigungsfunktion lange

Zeit die bevorzugte Deutung der Bauwerke war,

treten ihnen heute Argumente für eine zeremo-

nielle und gesellschaftliche, aber auch wirtschaft-

liche Funktion zunehmend zur Seite. Bleibt auch

die Bedeutung der Knochenreste in den Erdwer-

ken immer noch weitgehend im Dunkeln, scheint

es nicht ausgeschlossen, dass die Opferung von

Tieren oder Menschen in Zukunft nachgewiesen

wird.

Die gesellschaftliche Dimension der Bauwerke

ist auf ihren kollektiven Ursprung zurückzufüh-

ren. Die Eigenschaften der Erdwerke reichen nicht

aus, um sie zum Häuptlingssitz einer hierarchisch

organisierten Gesellschaft zu machen – eine Or-

ganisationsform, die sich im Übrigen auch nicht

durch andere Funde und Befunde der Michels-

berger Kultur belegen lässt. Unter den vorge-

schlagenen Hypothesen ist jene einer Gemein-

schaftsanlage, die als Versammlungsplatz klei-

nerer verstreuter Gemeinschaften diente, bei

Weitem die überzeugendste.

Lit: Andersen 1997 – Bertemes 1991 – Dubouloz u.a. 1991 – Eckert 1990 –Eckert 1992 – Jeunesse 1996 – Matuschik 1991 – Meyer 1995 – Meyer /Raetzel-Fabian 2006 – Regner-Kamlah 2009 – Seidel 2008 – Wahl 2008 –Whittle u.a. 1999

Die Erdwerke 69

046_101_B_MICH_Kultur.qxd:Beitrage_ANA.qxd 22.10.2010 17:53 Uhr Seite 69