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Einleitung
Sind die modernen Zuschreibungen der Geisteskrankheiten lediglich das Produkt der
Entwicklung einer rationalen Methode und wissenschaftlichen Sprache, oder steckt
mehr hinter diesen Manifestationen, die uns teilweise Angst machen, da sie andeuten,
wie zerbrechlich die Vernunft ist. In traditionellen Gesellschaften ist der Wahn in Feste
und Heilungsrituale eingebunden, wohingegen wir diese Formen der kollektiven
Exaltation nicht mehr kennen, weil wir sie aus unserer vom Nützlichkeitsdenken
bestimmten Gesellschaft verdrängt zu haben scheinen.
Diese Arbeit folgt von einem persönlichen Dokument ausgehend den Fährten, die von
der Trance und der Besessenheit im rituellen Rahmen bis hin zu den Geisteskrankheiten
in der Moderne führen, um zu rekonstruieren, was unter dem Konzept der mentalen
Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu verstehen ist.
Im ersten Teil wird hierfür ausgehend von einem Brief, den Bastide an Duvignaud
richtete die Konzeption der Geisteskrankheiten als Fest dargestellt, in der Bastide seinen
eigenen Ansatz wieder erkannte (S. 2- 9).
In einem zweiten Schritt wird anschließend ausführlich Bastides Beitrag zur Soziologie
der mentalen Krankheiten (S. 9- 12) mit besonderem Fokus auf das Sakrale (S. 12- 21)
skizziert. Hierbei wird sich herausstellen, dass das Sacré ein recht vager Begriff ist und
das Konzept der Krankheiten des Sacré sich nicht unmittelbar erschließen lässt. Aus
diesem Grund war es nötig die Verwendung des Terminus im Werk von Bastide zu
erläutern (S. 21- 24). Dieser Umweg scheint den Schlüssel zum Verständnis des
Konzeptes der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré zu liefern, das trotz
allem recht vage zu bleiben scheint und nicht ohne zu Hilfenahme von Interpretationen
verständlich wird.
Ziel der vorliegenden Arbeit besteht vorrangig darin, die Ausführungen Bastides zu
einer sakralen Soziologie der mentalen Krankheiten herauszustellen und die
Argumentation zu entschlüsseln. Auf eine ausführliche Kritik der Konsistenz der Thesen
wurde hierbei verzichtet, da es bedeutender schien ein Verständnis zu bahnen, als zu
dekonstruieren. Anstatt einer methodologischen Kritik findet sich in der
Zusammenfassung (S. 24- 27) ein Vergleich der Thesen von Bastide und Duvignaud, die
auf jeweils eigene Weise versucht hatten einen Zugang zum Problem der
Geisteskrankheiten in der Moderne zu bahnen.
1
1. Duvignauds Konzeption der Geisteskrankheiten als Fest
Am 9. Oktober 1973 sandte Bastide einen Brief an Duvignaud, in dem er sich für die
Zusendung von „Fêtes et Civilisations“1 bedankt und bezüglich des Inhalts ausführt:
„Mein werter Freund!
Ich schreibe Ihnen aus Andiye, wo ich mich nach unserer Reise durch Brasilien erhole, solange dieschönen Tage andauern. Vielen Dank für Ihre „Fêtes“. Sie waren für mich ein wahrliches Fest, weilbestimmte Bücher ebenso Feste sein können, die einen trunken machen, einen in die wonnigstenVerzückungen eintauchen lassen (ist das nicht eine Halb- Trance, da man danach nicht mehr arbeitenkann und wenn man die Lektüre der Thesen wieder aufnimmt, so sehr tanzen die Ideen im Geist undlassen einen in außerordentlicher Verzückung ausharren). Ich danke Ihnen wahrhaftig für diese Freude,die ich empfunden hatte, als ich Sie las, es gibt so viele Dinge und neue Dinge über den Barock, über denCandomblé, über die mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré (eine mir altbekannte Vorstellung,die erklärt, warum ich mich aus Ermangelung des Candomblé in Paris der Psychiatrie zugewandt hatteund ich freue mich darüber, dies in Ihrem Text bestätigt zu finden) und viele andere Dinge noch, dieeinem den Kopf verdrehen.
Gewiss war ich mit Ihnen nicht immer einer Meinung, wenn Sie mich entgegen meines Willensnicht in Ihr Fest der Intelligenz miteinbeziehen. Beispielsweise hinsichtlich dem Fest als Zerstörung (dasist nicht seine letztgültige Definition, das ist der Charakter eines Festes in einem bestimmten Moment,reklamiert der Soziologe in mir)- oder die Entdeckung der Unschuld der Natur (das ist für mich dieEntdeckung des Sacré, doch ist das keine Frage der Wörter, denn wir wissen nicht mehr, so denke ich,weder was die Natur ist, noch das, was das Sacré ist: vielleicht wäre es besser von einer Andersartigkeitoder einer Transzendenz zu sprechen? Ich ziehe es jedoch vor, mich dem Vergnügen hinzugeben, das Sieuns in dieser Überfülle verschaffen.
Eine kurze Geschichte über den Mai ´68, um zu schließen. Meine kleine Tochter, deren Eltern siezur Sorbonne begleitet hatten, sagte beim Herausgehen:“Es ist ein Glück hier zu arbeiten Papi, das istein Jahrmarktsfest“ und sie wollte nicht weggehen...
mit meinen besten Erinnerungen
Roger Bastide“2
Der Inhalt dieses Briefes verweist auf eine Reihe intellektueller Gemeinsamkeiten der
Interessen, die Bastide und Duvignaud miteinander verband. Für die vorliegende Arbeit
ist jedoch vorrangig der Verweis auf die mentalen Krankheiten als Krankheiten des
Sacré von Belang. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, was die Autoren darunter
verstanden haben, bietet es sich an von dem entsprechenden Kapitel aus „Fêtes et
Civilisations“ auszugehen, um somit einen Ausgangs- und Zugangspunkt zum
1 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984). Dieses Werk erschien erstmals 1973. Die folgenden Ausführungen dieser Arbeit basieren auf der 1984 publizierten zweiten Auflagen. Inwiefern sich die Erstausgabe von der hier verwendeten
unterscheidet, konnte ich leider nicht ausfindig machen. Das Vorwort zur zweiten Edition (S. 7- 10) gibt darüber keinen Aufschluss.
2 Jean Duvignaud, Le Pandémonium du présent: Idées sages, idées folles (Tours 1998), S. 184.
2
Verständnis des Konzeptes zu schaffen.
Duvignaud interessierte sich in diesem Buch nicht für das Fest im Sinne der
Notwendigkeit der sozialen Stabilität, einer geregelten Transgression im Sinne von
Caillois und Bataille, sondern als regellose Aufsprengung der Normen.3 Eine seiner
wissenschaftlichen Anstrengungen bestand darin, zu verstehen, „wie vom Kollektiven
ausgehend, das Individuum zu Tage tritt.“4 Aus diesem Grund führt die Studie der Feste
hier zu anderen Ergebnissen als der Aufdeckung von Klassifikations- und
Symbolsystemen.5 Besonders im Hinblick auf die modernen, „industriellen“
Gesellschaften stellt sich die Frage, welchen Transformationen die Manifestationen des
Festes unterlegen sind. Das Fest scheint der Verdrängung zum Opfer gefallen zu sein
und die Entwicklung der mentalen Krankheiten wie der Schizophrenie oder der
Paranoia sind demnach nicht nur das Resultat der Heraufkunft einer wissenschaftlichen
Sprache.6 Die Geisteskrankheiten, in denen sich die Betroffenen selbst von ihrer eigenen
Vernunft ausgehend zerstören, dürften demnach zumindest teilweise als Entsprechungen
der Trance gewertet werden. Als schillernde Beispiele dieser tragischen Wende, die das
Fest in die innere Einsamkeit poetischer Schaffenskraft verlagert hat, stehen in der
Moderne unter anderem Hölderlin, Lenz, Nietzsche und Artaud.7
Diese eingangs recht vage formulierten Reflexionen über den Zusammenhang zwischen
Fest und mentalen Krankheiten werden im letzten Kapitel von „Fêtes et Civilisations“
wieder aufgegriffen und die historischen Prozesse, über die die einstigen Momente
kollektiver sozialer Gärung in den Wahnsinn abgedriftet sind, näher ausgeführt.8
3 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 8- 9.4 ebenda, S. 8.
Ähnliche Formulierungen findet man in seinen Werken verstreut immer wieder, so z.B:„Die soziologische Kritik sollte den Unterschied ersichtlich machen, der zwischen dem regulativen Bild, das jenem des Staates ähnlich ist, und einer Erfahrung besteht, die sich auf einer Gruppendynamik gründet, die von einem einmaligen und schöpferischen Ensemble ergriffen wird.“Jean Duvignaud, Indroduction à la sociologie (Saint Amand 1975), S. 15.oder:„Das Privatleben, die winzigen Geselligkeiten, die Gastlitchkeiten, die Nischen ähneln den Individuen mehr als die großen nationalen oder ideologischen Einheiten: kann man hier eine Verteidigung gegen die Macht des Staates und der Abstraktion der obsoleten Ideologien sehen, die die politischen Klasse unterhalten? Man entdeckt hier auch die besondere Form einer Anomie, die außerhalb der traditionellen Regeln dem Menschen in engen Kreisen seine existenzielle Fülle zu geben sucht.“
Jean Duvignaud, Hérésie et subversion: Essais sur l´anomie (Mayenne 1986), S. 170.5 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 14.6 ebenda, S. 14- 15.7 ebenda, S. 15.8 ebenda, S. 237- 262.
3
Die Mystiker, so Duvignaud, durchlebten eine Erfahrung, die nicht von der Sprache
beherrscht wurde.9 So habe beispielsweise Theresa von Avila vor der Niederschrift ihrer
Gedichte ihre Gefährten zu wundersamen Trommeltänzen angestachelt, Zeremonien, die
jenen der Besessenheitskulte ähnlich scheinen. Unter anderem soll sie davon
ausgegangen sein, dass ihr das Hohelied des Salomon das Geheimnis göttlicher Liebe
offenbaren könne, eine Erfahrung, die sich nicht einfach auf Worte reduzieren lässt.
Duvignaud verweist darauf, dass sie erst nach den Bitten ihrer Prioren die körperlichen
Formen der Ekstase aufgegeben habe, um der mystischen Energie der Erfahrung in der
Poesie Ausdruck zu gewähren. 10
Die Schrift, die gerne als Indiz für die Überlegenheit der westlichen Kultur über die
anderen gesehen wird, hat sich selbst erst durch die Zerstörung anderer Formen der
Kommunikation durchgesetzt, die unter anderem von der Inquisition eifrig befördert
wurde.11 Letztere verhalf der Schrift zum Sieg über die orphischen Formen der Existenz,
der Besessenheit und der Erotik. Die durch Folter erzwungenen Geständnisse,
unabhängig von der Frage, ob die Verbrechen nur in der Imagination der Henker
existierten, verwandelten die Schmerzen in eine Sprache, die sich wiederum in den
Diskurs der Inquisition einfügten.
Der Körper als Instrument der Erfahrung tritt ab dem Moment in den Hintergrund, da
die Mystiker nicht mehr ihr Fleisch, sondern ihre Psyche zum Gegenstand göttlicher
Vereinigung erklären.12 In der europäischen Mystik wird das, was in der Trance
schreiende und gefühlte Erfahrung ist, zu einer Metapher.13 In beiden Fällen geht es
darum eine unbeschreibliche Realität wiederzugeben. Während der von seinem Gott
besessene Tänzer jedoch in der Identifikation mit dem was er begehrt endet, so
Duvignaud, „besteht zwischen dem was man bezeichnet und dem was man erreichen
kann ein unendlich großer Abstand.“14
Die Sprache ist zum Gefängnis des modernen westlichen Menschen geworden.15 Die
Regung der Sinne in der Trance wird zu einer Abwesenheit des Inhalts in der Mystik.
9 ebenda, S. 240.10 ebenda, S. 240- 241.11 ebenda, S. 241.12 ebenda, S. 242.13 ebenda, S. 242- 243. 14 ebenda, S. 243.
Es scheint nicht ganz klar, ob die sprachlich formulierte Mystik allgemein die Vereinigung mit Gottnicht erfahrbar machen kann, oder ob der auf die Erfahrung folgende Text diese nicht vermitteln kann.
15 ebenda, S 244.
4
Die Sprache absorbiert diese körperliche Energie und gliedert das, was einst Geste war,
über die Metapher in den Diskurs mit ein.
Duvignaud sieht in der poetischen Kraft der Gedichte von Theresa von Avila und
Johannes vom Kreuz Anzeichen dafür, dass diese Mystiker eine dem Candomblé und
dem Voodoo ähnliche Praxis entwickelt hatten, in der die Metapher nicht bloß Allegorie
ist.16 Die Übertragung der Besessenheit in Sprache und Poesie hat aber letztendlich
Europa in ähnlicher Weise erschüttert wie das Aufkommen der Marktwirtschaft und die
technischen Errungenschaften. Das, was ein körperliches Mittel ist, um sich in der
Trance für eine bestimmte Zeit von der Gesellschaft loszureißen, wandelt sich in unserer
Kultur zu Paranoia und Schizophrenie. Nicht selten haben Mediziner die sozialen
Formen der Besessenheitskulte aufgrund ihrer klinischen Erfahrungen an einzelnen
Subjekten mit Manifestationen von Geisteskrankheit in Verbindung gebracht.17 Wenn
der Arzt die Hysterie mit der Trance vergleicht, so besteht aber dahingegen ein
Unterschied, da der Psychiater in der Regel seinen Patienten nicht zur Identifikation in
der Besessenheit leitet, sondern ihm diesen Weg versperrt und im Raum der Sprache
gefangen hält.18
Duvignaud stellt hier nun die Hypothese auf, dass sich Trance und Geisteskrankheit von
einer Gesellschaft zur anderen ineinander umwandeln.19 Während es auf der einen Seite
den Menschen gewährt wird die transkulturellen Zustände der Trance und Besessenheit
zu erreichen, wird ihnen auf der anderen Seite unter dem Vorzeichen der psychischen
Erkrankung lediglich der Wert des Gestammels von Individuen zuerkannt, „die durch
die Störung normaler Funktionen hindurch verzweifelt nach Kommunikation suchen.“
Duvignaud zieht in Folge das Modell von David Cooper zu Rate, um zu erklären,
warum das Fest aus unserer Gesellschaft fast vollständig verschwunden ist. Dieser
Psychiater beschreibt, dass jedes Individuum vom Moment seiner Geburt an auf einen
Weg gebracht wird, der über die Institutionen der Familie und der Schule dem Eintritt
ins Leben und in die Kultur gleichzusetzen ist. Die Entwicklung der meisten Menschen
geht nicht über das Erreichen des Zustandes der gesellschaftlichen Normalität und des
Annehmens einer Rolle sowie des Akzeptierens eines Status hinaus.20 Einige schlagen
16 ebenda, S. 245.17 Roger Bastide, Transe mystique, psycho- pathologie et psychiatrie, in: ders. (Hrsg.), La rêve, la transe
et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 87- 90.18 Jean Duvignaud, Fêtes et Civilisations (Saint Amand Montrond 1984), S. 245.19 ebenda, S. 246.20 ebenda, S. 246- 247.
5
den umgekehrten Weg ein und landen im Wahn, während wiederum andere aus der
kulturellen Normalität heraustreten und mit dem Zustand der psychotischen Depression
eine dem Wahnsinn komplementäre Stellung einnehmen. Ein Rest, der aus wenigen
Menschen besteht, entwickelt sich über die Normalität hinweg hin zum Zustand der
Gesundheit.21 Diesen Letzteren gelingt es auch anormale und deviante Elemente in ihr
Verhalten zu assimilieren, ohne deswegen jedoch als krank zu gelten.22 Darunter fallen
unter anderem Künstler, die das Tremendum, die Selbstzweifel und den Wahn in ihre
Persönlichkeit und ihre Schöpfungen integrieren können.23 Die Politik, die Wissenschaft
und die Philosophie ermöglichen gleichfalls ähnliche Wege. Cooper stellt fest, dass die
Gesundheit und der Wahnsinn bei jenen Persönlichkeiten, deren subjektive Realität sich
mit der Natur vereinigt, zusammentrifft.24 Duvignaud verweist aber darauf, dass in dem
Aufeinandertreffen dieser scheinbaren Gegensätze stets eine Lücke bestehen bleibt, die
es unmöglich macht „die Persönlichkeit zu unterscheiden, die sich in dieser
Entdeckung isoliert und diejenige die im Wahnsinn untergegangen ist.“25 Nietzsche,
Hölderlin und Artaud liefern in ihren Biographien hierfür die Beispiele einer
Transfusion der Existenz.
Das Fest und die Transe erlauben es dem Menschen einen Zustand zu erreichen, in dem
alles möglich wird, da er in diesen Momenten auf eine Natur trifft, die seine Erfahrung
vollendet. Die Entdeckung des Anderen verändert das Subjekt, das über die
außeralltäglichen Zustände eine zerstörende Kraft aufdeckt, die das persönliche
Bewusstsein aufsprengt.26 Die Geisteskranken und die Besessenen zeugen für
Duvignaud von der Auffindung dieser Gewalt und dieses Verlangens.
Während das soziale Bewusstsein auf der Vorstellung der Geschichte und der
Wiederholung bedeutender Ereignisse gründet, die sich zu einer Struktur verfestigen,
sprengt das Fest die etablierten Regeln auf und führt den Menschen über die
Transgression zu einer Erfahrung, die außerhalb der institutionalisierten Ordnung liegt.27
Die Französische Revolution zeugt von dieser Aufdeckung natürlicher Instanzen,
21 ebenda, S. 247.Auf dieser Seite findet sich auch eine Skizze, die das Modell veranschaulicht.
22 ebenda, S. 247- 248.23 ebenda, S. 248.24 ebenda, S. 248- 249.25 ebenda, S. 249.26 ebenda, S. 250.27 ebenda, S. 250- 251.
6
„denen man nicht gegenübertreten kann, ohne aufzuhören zu sein.“28
In Griechenland sind ähnliche Phänomene unter anderem in dem Mysterienkult von
Eleusis greifbar, dessen ekstatische Formen eines Festes durch die städtische
Intellektualisierung zur geordneten Abhaltung einer Zeremonie degradiert wurden.29 Die
Techniken der Ekstase eines Mircea Eliade, so Duvignaud, werden erst dann kodifiziert,
wenn die Möglichkeiten der Auflösung in Vergessenheit geraten.30 Die Manifestationen
des Festes, die Besessenheitstänze, die Masken, die Trance und die Erotik sind
ausschließlich Vorwegnahmen des „noch nicht Erlebten“.31
Da es bislang keine Konzepte gibt diese unerwarteten Phänomene zu erfassen, die
verhindern, dass die Gesellschaften durch starre Kodifikationen versteinern und sich
abnutzen, fällt es überaus schwer das Neue zu beschreiben.32 Duvignaud postuliert, dass
die Konzepte, die davon ausgehen, dass es eine Einheit der Möglichkeiten der Sprache
und jener Formen gibt, die das menschliche Verhalten regeln, eine Glaubensvorstellung
und letztendlich eine Ideologie ist.33 Zu diesen Entwürfen zählt auch der Versuch
universelle Charakteristika aufzudecken, die für die gesamte Menschheit Gültigkeit
besitzen sollen. Hierin entdeckt der Theoretiker des Festes eine Fortführung des
Imperialismus und er kritisiert, dass die reellen Innovationen sowie die nicht auf die
Kultur zurückführbaren Elemente mit solchen Ansätzen nicht zu erfassen sind. Dies ist
umso beklagenswerter, da die Fähigkeit den Mangel zu ertragen sowie noch nicht
bekannten Emotionen entgegenzutreten und jenseits etablierter Wege zu wandeln zu den
Grundeigenschaften des menschlichen Wesens zu gehören scheint.34
Vor allem die städtischen Zivilisationsformen neigen dazu die Vielfalt der Erfahrungen
in verschriftlichte Diskurse, in Religion und in Ethik zu überführen.35 Die kollektiven
Beziehungen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft sind auf eine begrenzte Anzahl
reduziert, während das Fest diese Endlichkeit durch die Teilhabe an der Zahllosigkeit
der Möglichkeiten durchbricht.36
28 ebenda, S. 252.29 ebenda, S. 252- 253.30 ebenda, S. 253.31 ebenda, S. 254.
„le non encore vécu“32 ebenda, S. 254- 255.33 ebenda, S. 255.34 ebenda, S. 255- 256.35 ebenda, S. 256.36 ebenda, S. 259.
7
Unsere Gesellschaft der Schriftkultur hat die heftigen Manifestationen des Festes
gezähmt und in den Rahmen des Diskurses eingehüllt und somit diese Erfahrung in den
literarischen Raum überführt.37 Diese Dimension der Existenz ist jedoch selbst nur eine
zeitlich begrenzte, innerhalb der die Techniken der Übertragung des Denkens selbst ein
neues Universum zum Vorschein bringen werden. Die Schrift scheint aber bislang Verrat
an der Gewalt und der Natur, die im Fest zu Tage tritt, zu begehen.38
Das Denken von Duvignaud ist ein komplexes Universum, das den starr strukturierten
und methodologisch exakten wissenschaftlichen Gewohnheiten widerstrebt. Sein
Schüler David Le Breton charakterisiert seine Soziologie als unter dem magnetischen
Einfluss zwielichtiger Ereignisse des individuellen und kollektiven Lebens stehend, in
dessen Werken von einer Seite auf die andere ein Austausch zwischen Freunden
stattfindet, Ideen geboren werden, sich entwickeln und sich wieder wegschleichen.39
Der oben ausgeführte Ansatz, der davon ausgeht, dass die mentalen Krankheiten der
Moderne Relikte des Festes sind, eine Konzeption, die bei Bastide als Krankheiten des
Sacré ihre Entsprechung zu finden scheint, bleibt an bestimmten Stellen unklar. So lässt
sich beispielsweise fragen, ob alle Formen des Wahnsinns impliziert werden, oder ob es
sich nur um bestimmte Erkrankungen handelt. Gleichfalls bleibt eine genauere
Kennzeichnung dessen, was Duvignaud unter Natur versteht, in der Schwebe. Handelt
es sich hierbei um gleichsam zerstörerische wie schöpferische Kräfte und Triebe?
Bastide hat in seinem Brief die Reduktion des Festes auf seine destruktiven Elemente,
sowie die Auffassung über die Entdeckung der Unschuld der Natur kritisiert. Es wäre
durchaus interessant auch diese Aspekte weiter zu vertiefen, doch können die
Unklarheiten in dieser Arbeit lediglich angedeutet werden, um aufzuzeigen, dass die
Ausführungen Duvignauds nicht ohne Zuhilfenahme von Interpretationen verständlich
werden. Zieht man eine Formulierung aus „Le don du rien“ zu Rate, so wird zumindest
die in vorliegender Arbeit angenommene Deutung, dass die Geisteskrankheiten
Transformationen der kollektiven Ekstasen sind, plausibel. „Es ist möglich, dass in
unserer technologischen und rationalisierten Zivilisation, die die Bedürfnisse festlegt,
ohne die Wünsche zu berücksichtigen, die Trance und das Fest durch den Traum und
37 ebenda, S. 261.38 ebenda, S. 262.39 David Le Breton, Le théâtre du monde: Lecture de Jean Duvignaud (Québec 2004), S. 17- 20.
8
wer weiß? durch den Wahnsinn ersetzt wurden... .“40
Es wäre dahingehend ebenso interessant zu untersuchen, welchen Einfluss Batailles
Theorie über die modernen pathologischen Selbstverstümmelungen als
Transformationen des religiösen Opfers auf Duvignaud ausgeübt hatte.41 Auch in dieser
Studie, die erstmals 1930 in der Zeitschrift Documents erschien, steht wiederum ein
Künstler, Vincent van Gogh, als tragisches Beispiel für die Verbindung einer strukturell
religiösen Handlung und dem Wahnsinn.
Bastide hatte in seinem Brief betont, dass er aus der Lektüre viele neue Dinge über die
mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré gefunden hatte. Duvignaud verwendet
diese Formulierung in seinem Text nicht explizit, so dass hier eine Interpretation seitens
Bastides vorzuliegen scheint. Es bietet sich dadurch an im Folgenden zu untersuchen,
was er selbst unter diesem Konzept versteht, um abschließend zu vergleichen, inwieweit
sich beider Ausführungen decken.
2. Die Stellung der Geisteskrankheiten im Werk von Bastide
Bastide verwies in dem Brief an Duvignaud darauf, dass er sich in Paris aus
Ermangelung des Candomblé der Psychiatrie zugewandt hatte. Nachdem er zwischen
1938 und 1954 die Nachfolge von Lévi- Strauss an der Universität von São Paulo
ausgeübt hatte, kehrte er wieder nach Frankreich zurück, wo er 1958 zum Professor für
Soziologie an der Sorbonne ernannt wurde.42 Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr
nach Paris machte er sich daran in seinen Seminaren die Geisteskrankheiten aus den
unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten, indem er unter anderem Psychiater,
Ethnologen und Afrikanisten als Vortragende und Ratgeber einlud.43
1959 gründete er das Centre de Psychiatrie sociale, das zunächst in Centre Charles
Richet und schließlich in CREDA umbenannt wurde. Diese Einrichtung, an der Bastide
mit Baruk, Morazé, Devereux und Raveau zusammenarbeitete, hatte sich thematisch
unter anderem der Erforschung psychischer Erkrankungen in Folge von
40 Jean Duvignaud, Le don du rien (Condé sur Noireau 2007), S. 75.41 Georges Bataille, La mutilation sacrificielle et l´oreille coupée de Vincent van Gogh (Paris 2009), S.
7- 32.42 François Laplantine, Préface, in: Roger Bastide, Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq
2003), S. 8, Anm. 2.43 Claude Ravelet, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la
psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 18.
9
Adaptionsschwierigkeiten bei Immigranten, sowie des Einflusses der Erfahrungen im
Konzentrationslager auf die Psyche verschrieben.44 Das Forschungszentrum wurde 1996
geschlossen und die Dokumente wurden in das Archiv des IMEC in Saint Germain la
Blanche Herbe überführt.
Obgleich die intensive Phase der Beschäftigung mit den psychiatrischen Erkrankungen
unter soziologischen Gesichtspunkten erst mit der Rückkehr aus Brasilien beginnt, ist
die Auseinandersetzung mit den morbiden Phänomenen des Geistes bereits in seinen
frühen Schriften greifbar. Sowohl 1928 in „Mysticisme et sociologie, 1931 in „Les
problèmes de la vie mystique“ als auch 1934 in „Mysticisme“ verarbeitet er unter
anderem die Fallstudie Madeleine von Pierre Janet.45 Im Gegensatz zu dem Psychiater,
der vorwiegend Analogien zwischen den mystischen Zuständen der Theresa von Avila
und den pathologischen Symptomen seiner Patientin herzustellen vermeinte, kommt
Bastide in „Les problèmes de la vie mystique“ zu dem Schluss, dass die Mystik keine
Krankheit ist, da ein fundamentaler Unterschied zwischen Madeleine und der Heiligen
Theresa besteht.46 Während Erstere durch ihre Zustände vom Handeln abgehalten wird,
war Theresa dazu in der Lage zugleich zu beten sowie zu arbeiten und somit sowohl
moralisch als auch sozial in die Gesellschaft eingebunden. Der Irrtum vieler
Psychologen, so führt Bastide an einer anderen Stelle aus, bestand darin, dass sie
willkürlich eine Interpretation auf alle Mystiker ausgeweitet haben, die jedoch nur für
begrenzte Fälle Gültigkeit besitzt.47 Die Vertreter der pathologischen These haben den
entscheidenden Teil übersehen, dass die Mystik nicht nur eine Auflösung des Ich ist,
sondern sie in der Regel zur Schaffung eines neuen Ich führt.48
Auch in seiner 1958 veröffentlichten Monographie über den Candomblé zeigt sich
Bastide darum bemüht ein weiteres religiöses Phänomen, diesmal die Besessenheit
gegen das Vorurteil der Pathologie zu verteidigen.49 Eine Reihe von Forschern, die sich
mit der Trance auseinandergesetzt hatten, haben dieses Phänomen mit der Hysterie, der
Autosuggestion und dem Hypnotismus in Verbindung gebracht und in den Rahmen der
44 http://www.imec-archives.com/fonds/bastide-roger/ (Zugriff: 02.03.2014 19:15).45 Claude Ravelet, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la
psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 16- 17.46 Roger Bastide, Les problèmes de la vie mystique (Paris 1931), S. 153.47 ebenda, S. 163.48 ebenda, S. 168.49 Roger Bastide, Le candomblé de Bahia: Transe et possession du rite du Candomblé (La Flèche 2001),
S. 218- 220.
10
psychiatrischen Konzepte gestellt.50 Bastide wendet demgegenüber ein, dass es dann
aber nur möglich wäre chaotische Bewegungen oder rituelle Symbole frühkindlicher
Traumata aufzudecken.51 Ungeordnete Aspekte bleiben im Candomblé in der Regel
jedoch auf die Trance noch nicht Initiierter beschränkt.52 Einige Orixá stacheln ihre
menschlichen Pferde zwar zu heftigen Bewegungen an, doch die hier zum Vorschein
kommende Gewalt ist kein pathologisches Symptom, sondern Ausdruck einer im
Mythos verankerten Rolle. Die Tänze der Besessenheitskulte folgen sozial
sanktionierten Choreographien und wenn sich anormale Elemente in die Gesten
einschleichen, reagieren die leitenden Priester mit entsprechenden Ritualen darauf.53
Bastide geht es in den beiden genannten Werken über die Mystik und den Candomblé
an den entsprechenden Stellen darum, zu erweisen, dass die ekstatischen Elemente der
Religionen keineswegs krankhafte Äußerungen, sondern normale und strukturierte
Manifestationen sind. Die tieferliegende symbolische Bedeutung der Konvulsionen der
Körper lässt sich nicht über die Analogien mit den Symptomen der Psychiatriepatienten
erfassen, sondern nur über die Kontextualisierung der Gesten im Rahmen der
entsprechenden Kulturen.
Während hier im Gegensatz zu Duvignauds Ausführungen der Eindruck entsteht, als ob
der Wahnsinn in der modernen Zivilisation und die ekstatischen Formen der Existenz in
religiösen Gesellschaften zwei getrennte Phänomene darstellen, die keinerlei Beziehung
zueinander aufweisen, findet sich in jenen Werken Bastides, die dezidiert den
Zusammenhang zwischen mentaler Pathologie und Soziologie behandeln, eine andere
Perspektive. „Sociologie et Psychanalyse“ (1950), „Sociologie des maladies mentales“
(1965) und „Le rêve, la transe et la folie“ (1972) bilden eine Trilogie, in der er
versuchte die generelle Missachtung von Seiten der Soziologen sowie Ethnologen
hinsichtlich der Arbeiten der Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker zu
überwinden.54
Da Bastide in dem Werk aus dem Jahr 1950 vorrangig das Verhältnis von Libido und
sozialer Norm untersucht sowie analysiert auf welch unterschiedliche Weisen die
jeweiligen Gesellschaften die individuellen Triebe ihrer Mitglieder in sozial akzeptierte
50 ebenda, S. 218.51 ebenda, S. 218- 219.52 ebenda, S. 219.53 ebenda, S. 219- 220.54 François Laplantine, Préface, in: Roger Bastide, Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq
2003), S. 9 + Anm. 3.
11
Kanäle leiten, jedoch kaum auf mentale Krankheiten Bezug nimmt, ist der Inhalt für die
vorliegende Arbeit kaum von Interesse.55 Diese Vernachlässigung wiegt aber weniger
schwer, sofern man in Betracht zieht, dass diese Schrift in der Rezeption einen relativ
großen Platz einnimmt. Der Sammelband einer Konferenz, die 1994 im Andenken des
1974 verstorbenen Soziologen in Caen abgehalten wurde, vereint drei Beiträge, die
unter der Rubrik Sociologie et Psychanalyse; La Psychiatrie Sociale stehen und sich
fast ausschließlich mit dem 1950 erschienenen Werk auseinandersetzen.56 Das Konzept
der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré hat demgegenüber in dem
Sammelband keinerlei Beachtung gefunden. Es bietet sich dadurch an aus den Werken
von 1965 und 1972 jene Passagen herauszuarbeiten, die helfen ein genaueres Bild
dieses Ansatzes zu skizzieren.
2.1 Das Konzept der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré
Die ausführlichste Darstellung der Konzeption der mentalen Krankheiten als
Krankheiten des Sacré findet sich in dem erstmals 1965 herausgegebenen Werk
„Sociologie des maladies mentales“.57 Diese Monographie, die versucht eine Soziologie
der Geisteskrankheiten unter Berücksichtigung der Verbindungen zwischen
Sozialpsychiatrie und Ethnopsychiatrie zu formulieren, ist in drei Teilen aufgebaut.58
Zuerst werden allgemeine theoretische und methodologische Probleme der Soziologie
der mentalen Krankheiten dargestellt. Darauf folgt eine Zusammenstellung
verschiedener von Gelehrten auf diesem Gebiet durchgeführten empirischen
Forschungen, um mit einer „strukturellen“ These zu schließen.
Obgleich die Geschichte dieses Teilzweiges der Soziologie, der sich bis auf Comte
zurückführen lässt, auch für den Religionswissenschaftler fruchtbare Fakten liefert, vor
allem was die cartesianische Trennung von Körper und Geist betrifft, muss sich die
folgende Darstellung auf den letzten Teil des Werkes von Bastide beschränken.59
55 Roger Bastide, Sociologie et Psychanalyse (Mayenne 1950).56 Louis Moreau de Bellaing, Les rapports entre Ethnologie, Sociologie et Psychanalyse dans l´oeuvre de
Roger Bastide, in: Claude Ravelet (Hrsg.), Études sur Roger Bastide: De l´acculturation à la psychiatrie sociale (Condé sur Noireau 1996), S. 127- 141.Norbert Le Guérinel, „Sociologie et Psychanalyse“ revisite, in: ebenda, S. 143- 148Robert Barthelier, Bastide et moi, ou comme l´esprit vient au(x) psychiatre(s), in: ebenda, S. 149- 156.
57 Roger Bastide, Sociologie des maladies mentales (Bourges 1977).58 ebenda, S. 20- 21.59 Zu Comte als Begründer der Soziologie der Geisteskrankheiten siehe:
12
Bastide verweist im zehnten Kapitel darauf, dass der Wahnsinn in den sogenannten
primitiven Gesellschaften unter die Kategorien des Sacré fällt, die unter dem religiösen
Vorzeichen einen positiven und unter dem dämonischen Vorzeichen einen negativen
Wert annehmen kann.60 Selbst im Neuen Testament wird der Wahnsinn als Besessenheit
aufgefasst, die aus dem Körper des Kranken vertrieben werden muss, um ihn zu heilen.
Obgleich die Wurzeln der Medizin und die Anwendung in unserem Sinne rationaler
Erklärungen für Erkrankungen im antiken Griechenland verortet werden, trifft dies nur
für den Körper zu.61 Die Krankheiten des Geistes wurden weiterhin mit dem mystischen
Konzept behandelt. Die Systematisierungen unter den Römern zielten in erster Linie
darauf ab, die sozialen Konsequenzen und Störungen des Wahnsinn klassifizieren zu
können.62
Erst in der Renaissance vollzieht sich ein Wandel in der Wahrnehmung der
Geisteskranken, die fortan gemeinsam mit den Kriminellen, den Wüstlingen und
Bettlern unter die gefährlichen Subjekte eingereiht werden. Unter anderem mit
Bezugnahme auf Foucault führt Bastide aus, dass diese „asozialen“ Individuen aus der
Gesellschaft ausgeschlossen und oftmals zusammen interniert wurden. Der
Geisteskranke wird zum Sinnbild des Fremden in der Welt und solange die religiösen
Ideologien in der Renaissance noch nachwirken, wird er auch unter die Obhut der
übernatürlichen Welt gestellt.63 Sein Status als Außenseiter ändert sich auch nach der
Französischen Revolution nicht. Während die Aufklärung der Freiheit der menschlichen
Person zum Siege verhilft, bleibt der Wahnsinnige als derjenige, der seine Freiheit
verloren hat, aus der Gesellschaft ausgestoßen. Bis in die erste Hälfte des 20. Jh. hinein,
bleibt der Geisteskranke aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Erst dann beginnt man
sich für die Wahnsinnigen als Bestandteile der Gesellschaft zu interessieren.
Die Öffnung der Irrenhäuser betrachtet Bastide aber weniger als Akt der Menschenliebe,
sondern vielmehr als Resultat des Aufkommens der industriellen Zivilisationsformen.64
Der Wahnsinn ist eine Form der Unproduktivität, die es gilt (wieder) in die Sphäre der
Produktion einzugliedern.65 Die Pharmakologie, die Bastide als „chemische
ebenda, S. 23- 25.60 ebenda, S. 261.61 ebenda, S. 261- 262.62 ebenda, S. 262.63 ebenda, S. 262- 263.64 ebenda, S. 276- 277.65 ebenda, S. 277.
13
Zwangsjacken“ bezeichnet, sei weniger an der Heilung der Individuen interessiert als
daran den letzten Rest der Nützlichkeit der Geisteskranken aktiv zu halten. Die
Verwendung von Heilmitteln ist keine rezente Erfindung, bereits die Schamanen und
Priester von Inititationskulten bedienten sich ihrer.66 Während es in den traditionellen
Gesellschaften jedoch darum geht die Pflanzen als rituelle Heilmittel oder als Auslöser
ekstatischer Krisen zu verwenden, wiederentdeckt die Psychiatrie diese Mittel, um die
antisozialen und psychotischen Verhaltensweisen zu kontrollieren und einer
Gesellschaft dienstbar zu machen, in der die Arbeit ein grundlegender Wert ist.67
Bastide bestreitet nicht, dass in dieser Entwicklung auch moralische Absichten eine
Rolle spielen, doch verweist er darauf, dass in der Regel utilitaristische Erwägungen in
den technokratischen Gesellschaften der Auslöser für den Wandel im Umgang mit den
Geisteskranken sind.
Béguin postuliert, dass die einzige Möglichkeit eine Sozietät zu diskreditieren, die
wahnsinnig geworden ist, darin besteht, selbst wahnsinnig zu werden.68 Bastide sieht
den „soziologischen“ Sinn der Geisteskrankheit darin, die Erschütterung zwischen den
Systemen der Technik und der Poesie im Inneren unserer Gesellschaft aufzuzeigen.69
Die Welt der Technik hat grundlegend menschliche Werte wie die Affektivität und das
Irrationale eliminiert, wogegen der Wahnsinn Widerstand leistet.70 Da dieser Ansatz
jedoch nur auf die sogenannten modernen Gesellschaft zutrifft, scheint es notwendig zu
betonen, dass „man nur in Bezug auf eine bestimmte Gesellschaft wahnsinnig ist“.71
Die mentale Krankheit ist kein Phänomen, das alleine zwischen dem Patienten und dem
Psychiater ausgehandelt wird, sondern die Gesellschaft liefert zugleich die Definition
dessen was pathologisch ist sowie das Ziel der Behandlung.72
Diese Tatsache hilft unter anderem zu erklären, warum die psychiatrische
pharmakologische Behandlung von Afrikanern in Europa oftmals nicht gelingt, obgleich
physiologisch betrachtet beide völlig identisch sind. In vielen Fällen kehren die
neurotischen und psychotischen Symptome des Immigranten unmittelbar nach der
Behandlung wieder.73 Begibt sich der afrikanische Patient jedoch in seine ursprüngliche
66 ebenda, S. 277- 27867 ebenda, S. 278.68 ebenda, S. 279.69 ebenda, S. 280.70 ebenda, S. 280- 281.71 ebenda, S. 282.72 ebenda, S. 28373 ebenda, S. 283- 284.
14
Heimat zurück und in Behandlung eines Zauberers, verschwinden die Symptome
endgültig.74 Bastide geht davon aus, dass dieser Umstand daran liegt, dass der Kranke in
seiner ursprünglichen Umgebung auch die entsprechende „Öffentlichkeit“ wiederfindet,
die es ihm erlaubt in die kollektive Übereinstimmung zurückzukehren. Der Wahnsinn
scheint demnach keine rein individuelle Angelegenheit zu sein und so ist es nötig, um
das Phänomen der Geisteskrankheiten verstehen zu können, auch die Beziehungen zur
Gesellschaft zu berücksichtigen.
Die Problematik der Behandlung psychisch Erkrankter in einem ihrem ursprünglichen
Milieu fremden Umfeld wird deutlicher, wenn man die Ausführungen Bastides aus
einem 1966 publizierten Artikel zu Rate zieht.75 In diesem Text bedient er sich
Durkheims Typologie der vier unterschiedlichen Solidaritäten, um zu untersuchen,
inwieweit sie auch einen geeigneten Rahmen für eine Soziologie der mentalen
Krankheiten liefert.76 Je nachdem, ob man eine Sozietät mit mechanischer, organischer,
aufgezwungener oder anomischer Solidarität betrachtet, wandeln sich die Symptome
und Zuschreibungen der Störungen.
Die Gesellschaften mit mechanischer Solidarität sind nicht immun gegen psychische
Krankheiten, wie es einige Forscher postulierten, die in die exotischen kleinen
Völkerschaften ihre Vorstellungen des Paradieses hineinprojizierten.77 Die Störungen
nehmen hier einen religiösen Charakter an und der Wahn wird als Ausdruck des Sacré
aufgefasst. Das Symptom wird hier als Angelegenheit für den Schamanen betrachtet und
die Störung wird als Folge von Hexerei beziehungsweise Übertretung eines Tabus
aufgefasst.78 In diesen Gesellschaftsformen äußert sich die Krankheit in der Regel über
somatische Symptome.79 Die frühen Ethnologen verkannten die enge Verbindung
zwischen dem Körper, dem Geist und dem Religiösen, so dass sie auf ein völliges
Fehlen mentaler Erkrankungen schlossen.
Im Gegensatz zu Durkheim verwendet Bastide für die Störungen innerhalb dieser
Gesellschaft nicht das Attribut altruistisch, sondern integriert. In bestimmten isolierten
sowie geschlossenen volkstümlichen und mittelalterlichen Gesellschaften sind die
74 ebenda, S. 28475 Roger Bastide, La sociologie durkheimienne peut- elle nous offrir le cadre conceptuel de la sociologie
de maladies mentales?, in: ders., Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 173- 192.76 ebenda, S. 173- 175.77 ebenda, S. 175.78 ebenda, S. 175- 176.79 ebenda, S. 176.
15
Störungen demnach ein Resultat eines zu hohen Grades an Integration.80 Darunter
scheinen die religiösen Epidemien sowie die messianischen und prophetischen
Bewegungen zu fallen, die in organischen Sozietäten nur mehr einzelne Segmente des
gesamten Volkskörper befallen.
In diesen letztgenannten Formen der Solidarität sind die meisten pathologischen
Störungen durch einen Mangel an Integration gekennzeichnet.81 Für diese
Gesellschaften kann Bastide auch statistische Daten aufführen, die den Einfluss sozialer
Faktoren verdeutlichen helfen. So führt er unter anderem eine Statistik aus den U.S.A
auf, die die Raten der mental Erkrankten pro 100.000 Einwohnern im Jahr 1923 gemäß
Ehestand nach Männern und Frauen getrennt aufführt.82 Hieraus ergibt sich folgendes
Bild:
Verheiratet: Männer – 170,9; Frauen – 255,9
Ledig: Männer – 292,7; Frauen – 189,3
Verwitwet: Männer – 428,2; Frauen – 423,0
Geschieden: Männer – 1112,5; Frauen – 1120,3
Die höhere Rate der verheirateten gegenüber den ledigen Frauen erklärt Bastide mit der
stabilisierenden Funktion der Familie, in die Unverheiratete meist eingebunden bleiben,
während die Ehe als Übergang in einen neuen bislang ungewohnten Status bestimmte
Stressfaktoren mit sich führt, die pathogen wirken können.
Das Ergebnis einer mikrosoziologischen Statistik für den Staat New York, in der die
Ersteinweisungen in die Psychiatrie zwischen 1929 und 1930 aufgeführt sind, deckt sich
weitestgehend mit den oben angeführten makrosoziologischen Daten.83 Die Ehe als
Institution wirkt sich hier jedoch für Männer und Frauen in gleichem Maße
stabilisierend aus. Marginale geschlechtsspezifische Unterschiede bleiben dennoch
bestehen. So ist das Risiko sich an Syphilis zu infizieren für ledige Männer in der Regel
höher als für ledige Frauen, die trotz Lockerung der Sitten nicht die gleichen
Gelegenheiten zur Ansteckung haben. Darüber hinaus ist der Alkoholismus bei den
verheirateten Frauen weiter verbreitet als bei den ledigen, während sich bei Männern
das umgekehrte Bild ergibt. Auch hinsichtlich der Familie spielen die Integration in ein
stabiles oder zerbrochenes Elternhaus und der soziale Status eine gewichtige Rolle für
80 ebenda, S. 176- 177.81 ebenda, S. 177.82 ebenda, S. 178.83 ebenda, S. 179.
16
die mentale Gesundheit.84
Die Konfessionszugehörigkeit scheint zudem ein bedeutender Faktor in Gesellschaften
mit organischer Solidarität zu sein.85 Mehr Protestanten als Katholiken und mehr
Katholiken als Juden leiden prozentual auf die Gesamtgesellschaft berechnet an
mentalen Krankheiten. Hierbei muss man jedoch eine Unterscheidung zwischen
Judentum als Religion und ethnischer Gruppe treffen. Als religiöse Gemeinschaft bietet
das Judentum eine höhere Resistenz gegenüber psychischen Störungen, während es als
ethnische Gruppe betrachtet anfälliger ist.86 Diese Unterscheidung macht Bastide an den
unterschiedlich hohen Daten zwischen Psychosen und Neurosen fest.
Unter die Gesellschaften mit aufgezwungener Solidarität fallen unter anderem die
Kolonien, in denen sich zumindest gemäß der Daten für den brasilianischen Bundesstaat
Pernambuco für „Weiße“ und „Schwarze“ unterschiedliche psychiatrische
Krankheitsbilder erschließen lassen.87 Die „Weißen“ leiden vorrangig unter
Funktionspsychosen, während die „Schwarzen“ und Indianer vermehrt an organischen
und toxischen Psychosen erkranken.88 Dieser Dualismus der Pathologien spiegelt nach
Bastide die Zweiteilung der Gesellschaft wieder. Diese Unterschiede finden sich jedoch
nicht nur in den kolonialisierten Ländern, sondern auch in den Ländern der sogenannten
ersten Welt. Obgleich der Dualismus der Pathologien zwischen „Weißen“ und
„Schwarzen“ hier bestehen bleibt, argumentieren die meisten Autoren, dass die
mentalen Störungen bei den afrikanischstämmigen Patienten das Resultat der
Diskriminierung und sozialer Desorganisierung aufgrund von Migration sind.
Der vierte Typus von Solidarität wird aufgrund des Fehlens von Regeln und Normen für
die harmonische Kooperation der verschiedenen Segmente der organischen Gesellschaft
als anomisch bezeichnet.89 Unter die typischen Krankheitsbilder in diesen Sozietäten
fallen die Manager- Krankheit, die Alters- und die Zwangsneurosen. Ein Kennzeichen
des Lebensstils hier besteht darin, dass durch die Massenmedien immer neue, bislang
unbekannte Bedürfnisse hervorgerufen werden, was zu einem Bruch zwischen den
Wünschen und den Möglichkeiten diese zu befriedigen führt.90 Das prekäre an
84 ebenda, S. 180- 181.85 ebenda, S. 181.86 ebenda, S. 182.87 ebenda, S. 182- 183.88 ebenda, S. 183.89 ebenda, S. 184.90 ebenda, S. 185.
17
anomischen Gesellschaften besteht darin, dass sie die Krankheitsauslöser befördern.
Insofern kann sich die Anzahl der pathologisch veranlagten Personen auf dem gleichen
Niveau befinden wie in organischen Sozietäten, während sich die Rate der Erkrankten
in beiden Fällen signifikant voneinander unterscheidet, weil die stabilisierenden
Mechanismen einbrechen.
Bastides Ausführungen weisen darauf hin, dass die mentalen Krankheiten soziale
Tatsachen sind.91 Akzeptiert man die Verbindung zwischen ökonomischen, sozialen und
mentalen Strukturen, die je nach Typus der Solidarität und hierarchischer Stellung des
Individuums innerhalb der Gesellschaft mehr oder weniger kongruent sind92, so erklärt
sich auch, warum in einem anderen als dem gewohnten kulturellen Milieu mitunter
weniger Hoffnung auf Heilung besteht.93
Die Gründe dafür werden werden noch deutlicher, wenn man die Ausführungen aus dem
elften Kapitel von „Sociologie des maladies mentales“ hinzuzieht.94 Hier versucht
Bastide aufzuzeigen, dass es nicht nur möglich ist die Stellung der Geisteskranken
innerhalb der Gesellschaft soziologisch zu erfassen, sondern auch eine Soziologie „der
Welt des Wahns“ zu formulieren.95
Das innere Chaos der Geisteskranken gleicht auf den ersten Blick einem „Fest“, doch
weist es bei genauerer Betrachtung einen überraschenden Rationalismus und eine
Geometrie auf.96 Obgleich der Kranke das Leben und seine Bewegungen nicht mehr
assimilieren kann, versucht er nach eigenen Gesetzmäßigkeiten die Ordnung der Welt in
seinem Inneren wieder zu errichten. Vor allem die englischsprachigen Psychiater haben
hier sowohl auf den Bruch mit der sozialen Umwelt wie auch auf die Verwendung rein
individueller und dadurch nicht- kommunizierbarer Symbole im schizophrenen Wahn
hingewiesen. „Die Geisteskrankheit schreibt sich in ein System ein, an dem sowohl der
Deviante wie auch die Gesellschaft zusammenarbeiten.“97 Diese liefert, wie bereits
angedeutet, nicht nur das Modell für die Pathologie, sondern setzt auch die
Anforderungen an die Heilung fest.
Die Psychiater konnten erweisen, dass die Geisteskrankheiten funktionale Aspekte
91 ebenda, S. 186.92 Roger Bastide, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Les sciences de la folie (La Haye 1972), S. 35- 36.93 Siehe oben, S. 14.94 Roger Bastide, Sociologie des maladies mentales (Bourges 1977), S. 285- 309.95 ebenda, S. 285.96 ebenda, S. 287.97 ebenda, S. 291.
18
aufweisen. „Wenn man nicht in einer komplexen Welt leben kann, steigt man hinab auf
ein niedrigeres Niveau, man ökonomisiert seine Gesten und Worte, man beschränkt die
Realität auf die Grenzen seiner persönlichen Schwäche.“98 Die Nützlichkeit der
Krankheit für den Betroffenen begrenzt sich aber nicht nur auf die psychische Funktion.
Die Krisen des Neurotikers beispielsweise, die ausbrechen, wenn sich die soziale
Umwelt den Wünschen oder dem Willen des Neurotikers widersetzen sind auch Signale
an diese. Gleichfalls stellt der mit Exkrementen beschmierte Körper keine Rückkehr zur
Natur dar, sondern ist Ausdruck des Protests gegen die entfremdende Gesellschaft.99
Diese Übertretungen der Tabus einer gegebenen Kultur können folglich als Spiegelbild
ihrer Normen erachtet werden. Das Verhalten der Geisteskranken ist ein Stereotyp, da es
sich den Vorstellungen gemäß ausdrückt, die die Gesellschaft liefert.100 Jede Sozietät hat
ihr spezifisches Bild vom Schwachsinnigen, vom Epileptiker, vom Neurastheniker.
Gleichzeitig hat sie aber auch ihre räumlichen und zeitlichen Rahmen, so dass die
Vielfalt der Verhaltensweisen der Variabilität jener entspricht.101 Der Wahn hat ebenso
seine Periodizität, so zum Beispiel jene mentalen Krankheiten, die vermehrt zu
Weihnachten oder Ostern ausbrechen.102 In diesen Fällen liefert die Kirche das
mythische Modell, nach dem sich der Rhythmus der psychischen Störungen richtet.103
Bastide postuliert weiter, dass es möglich wäre aufzuzeigen, dass die magischen Gesten,
die sich in den morbiden Raum einschreiben bestimmten Archetypen antiker Religionen
folgen.104 Hierbei handele es sich aber wohl eher um nachträgliche Rationalisierungen
bestimmter Zwangshandlungen.
Bestimmte Soziologen und Ethnologen beharren auf einem Übergang vom Sacré zum
Profanen, auf dem Gesetz der Säkularisierung.105 Bastide merkt jedoch an, der Einwurf,
dass der mystische Wahn, die Lykanthropie sowie die Identifikation mit Jesus oder der
Heiligen Jungfrau abnehmen und durch physikalische und technische Inhalte ersetzt
werden, sei banal.
In Brasilien finden sich im Gegensatz viele Patienten mit religiösen Wahnvorstellungen:
katholischer Volksglaube als Inhalt auf dem Land, Geister bei den „Weißen“ der Stadt,
98 ebenda, S. 292.99 ebenda, S. 293.100 ebenda, S. 294.101 ebenda, S. 294- 295.102 ebenda, S. 295.103 ebenda, S. 296.104 ebenda, S. 297.105 ebenda, S. 298.
19
afrikanische Götter bei den „Schwarzen“. In Paris lässt sich zudem bei den internierten
Bewohnern der Antillen ein Synkretismus der Wahninhalte zwischen Elektrizität und
Zauberei aufzeigen.
Säkularisierung, so Bastide, bedeutet keineswegs Profanisierung.106 Dieser Prozess
entzieht bestimmten sakralen Objekten die mit ihnen verbundenen Emotionen, um diese
unverändert auf andere Dinge zu übertragen. Der Kult der unbekannten Soldaten setze
demnach den Totenkult fort, die Revolutionshelden übernehmen die Funktion der
katholischen Heiligen und so dürfte sich auch bei den Geisteskranken eine ähnliche
Verschiebung aufzeigen lassen.
Hauptsächlich, so Bastide, ist der Wahn eine Krankheit des Sacré, aber nicht im Sinne
der Regression, dass hier die Vorstellungen der primitiven Magie oder des Totemismus
wieder aufgegriffen werden würden. Die religiösen Gefühle werden vom Sacré
abgeknüpft und ins Profane transferiert. Bei der Krankheit handelt es sich nicht um eine
Zerstörung, sondern um eine Substitution. In der normalen Welt spielt sich dieser
Prozess rein äußerlich ab, während er in jender der Kranken die obskuren Schichten der
Persönlichkeit betrifft.
Vergleicht man die sogenannten primitiven Gesellschaften mit den säkularisierten
Modernen, so fällt auf, dass die Verbindung zwischen Natürlichem und
Übernatürlichem nach und nach abgekappt und die Wege verschlossen werden.107 Die
Toten und die Götter verschwinden aber nicht einfach, sondern sie nehmen eine
Revanche und suchen sich Schleichwege.108 Sie kehren, um mit Freud zu sprechen109, als
Phantasma zurück. Während die Toten und Götter in religiösen Gesellschaften nur
bedingt gefährlich sind, da ihr Erscheinen sozialer Kontrolle unterliegt und sie sich vor
allem zu den großen Festen manifestieren, stellt diese heimliche, nächtliche sowie
ungeregelte Rückkehr in den säkularisierten Sozietäten eine Bedrohung für die mentale
Gesundheit dar. Die heutigen Phantasma sind die säkularisierte Form der maskierten
Priester „und ebenso wie der Ethnologe die Kommunikationskanäle zwischen Natur und
Übernatürlichem in einer archaischen Gemeinschaft beschreiben sowie analysieren
kann, auf gleiche Weise kann der Psychiater die Spiele der Interkommunikation
106 ebenda. S. 299.107 ebenda, S. 299- 300.108 ebenda, S. 300.109 ebenda, S. 300, Anm. 22.
20
zwischen dem Phantasma und dem Kranken beschreiben.“110
Die Zensuren, Verbote und Verdrängungen der Gesellschaft können vom Kranken
mitunter als Kastration wahrgenommen werden, gegen die sich der Patient durch mehr
oder minder bewusste Phantasma verteidigt, wobei das Gegenmittel darin besteht in
einer Gruppentherapie das Alter Ego, die säkularisierte Variante des Doubles
beziehungsweise des mythischen Zwillings hervorzurufen. In anderen Fällen drückt sich
die Säkularisierung durch Somatisierung der psychischen Leiden aus. Bastide nimmt an,
dass die rezent signifikante Zunahme der Organpsychosen und psychosomatischen
Krankheiten in den klinischen Berichten darauf hinweist, dass sich eine Metamorphose
der Symptome vollzieht.
Obgleich die Somatisierung auch in den Kulturen mit mechanischer Solidarität bei den
psychischen Leiden eine bedeutende Rolle spielt, sind die Funktionen hier andere. Bei
den schriftlosen Völkern gibt es einen „Exzess des Sacré“, so dass bestimmte
Neigungen, die bei uns als krankhaft gelten würden, sich in äußeren Dingen, vor allem
in Riten objektivieren lassen.111 Hier legt sich all das, was sich nicht objektivieren lässt
auf den Körper.
Die psychischen Krankheiten der Moderne zeichnen sich dagegen in erster Linie durch
eine Desorganisation des Verstandes aus.112 Durch die Ausweitung der
wissenschaftlichen Kenntnisse durch Massenmedien und Aufklärungskampagnen in
unserer Gesellschaft, schockieren die Manifestationen des Wahnsinns und vor allem die
Mittelklasse versucht die Störungen zu kaschieren sowie dorthin zu verlagern, wo sie
am wenigsten auffallen.113 Bastide sieht in den Symptomen der psychosomatischen
Krankheiten den Triumph der Medizin als rationaler Wissenschaft und einen der Wege
der morbiden Säkularisierung, da sie auf einen Rückgang des Sacré verweisen.
2.2 Der Begriff des Sacré bei Bastide
Aus der vorangegangenen Ausführung zu Bastides Konzept der mentalen Krankheiten
als Krankheiten des Sacré wurde zwar ersichtlich, dass er ähnlich wie Duvignaud von
110 ebenda, S. 301- 302.111 ebenda, S. 303.112 ebenda, S. 302.113 ebenda, S. 303.
21
einer Verdrängung der religiösen Formen der Ekstase innerhalb der säkularisierten
modernen Gesellschaft ausgeht, die zumindest teilweise unter der Gestalt der
Geisteskrankheiten wiederkehren. Ein weiterer Bereich in den die sakralen Energien
abgewandert sind, scheint der Traum zu sein.114 Der Begriff des Sacré bleibt jedoch bei
Bastide zumindest in den angeführten Werken sowie Artikeln unscharf und erscheint
noch schwerer zu fassen, wenn er schreibt, „dass wir nicht mehr wissen was das Sacré
ist, weil wir nicht mehr wissen was das Religiöse ist – man könnte sagen, dass all
unsere Religionen im Grunde genommen Säkularisationen sind.“115 Auf der gleichen
Seite führt er weiter aus, dass „wir in ein banales und alltägliches Leben, in ein Leben
eingebunden sind, in dem alles von anderen Dingen als dem Sacré bestimmt wird... .“
Es ist in unserer Gesellschaft zu etwas Störendem und Fremden geworden, das wir nicht
wie die sogenannten Primitiven als Realität anerkennen. In einem anderen Aufsatz
postuliert Bastide, dass die Religion von der Asymmetrie zwischen polaren Kategorien
ausgeht, die die Angst des Individuums fördert.116 Die religiösen Mythen und Riten
dienen dazu das Asymmetrische mit dem Symmetrischen in Einklang zu bringen und
wirken dadurch beruhigend. In diesem Text finden sich jedoch keine weiteren
Anhaltspunkte, die helfen könnten den Begriff des Sacré einzuengen. Auch seine
erstmals 1935 erschienenen „Éléments de sociologie religieuse“, in denen ein Kapitel
mit Le Domaine du Sacré überschrieben ist, geben nur bedingt Auskunft.117 Er bezieht
sich hier unter anderem auf die Studie zur Vorherrschaft der rechten Hand von Robert
Hertz, doch verkennt die Zweiteilung des Sacré, wenn er postuliert, dass das Profane
zum Unreinen neigt, um in Gegensatz zur Sphäre des Sakralen zu treten.118 Zwar
formuliert er an anderer Stelle, dass Religion und Magie zwei Formen des Sacré sind,
von der die eine zur Kommunion der Gläubigen führt, während die andere sich
individualisiert, aber er bleibt eine genauere Definition des Sakralen schuldig.119
Es wäre ein eigenständiges Unterfangen eine tiefgreifende Analyse dieses Begriffes im
114 Roger Bastide, Sociologie du rêve, in: ders., Le rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 58- 59.
115 ebenda, S. 59.116 Roger Bastide, Des fausses fenêtres ou de la symétrie dans la pensée morbide, in: ders., Le rêve, la
transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 295. Hier verweist Bastide darauf, dass er die in diesem Artkel nur angedeutete These in einem früheren Kolloquium näher ausgeführt hatte. Leider fehlt ein Verweis darauf, ob der entsprechende Vortrag veröffentlicht wurde.
117 Roger Bastide, Éléments de sociologie religieuse (Orléans 1947), S. 11- 39.118 ebenda, S. 15.119 ebenda, S. 36- 37.
22
Werk von Bastide durchzuführen. In dieser Arbeit können lediglich Indizien aufgeführt
werden, die darauf hinweisen, dass er selbst je nach Kontext der Thematik und Jahrgang
der Studien variierte.
Da es hier jedoch darum geht das Konzept der mentalen Krankheiten als Krankheiten
des Sacré zu fassen zu kriegen, ist eine diachrone Analyse der Verwendung des Begriffs
nur von bedingtem Nutzen. In der Monographie und den Artikeln zur Soziologie der
mentalen Krankheiten versuchte Bastide aufzuzeigen, dass die Geisteskrankheiten in
religiösen Gesellschaften unter die Kategorie des Sacré fallen.120 Eine mögliche
Interpretation wäre, dass er mit diesem Konzept auf die ursprünglich historische
Einbindung der mentalen Pathologien in religiöse Systeme abzielte.121 In den
entsprechenden Solidaritäten würden demnach mentale Krankheiten als Krankheiten des
Sacré in Erscheinung treten.
Diese Deutung scheint mir, obgleich sie meine eigene ist, allzu naiv und vergisst
die Tatsache, dass er bezüglich Duvignauds Ausführungen zum Fest von dieser ihm
altbekannten Vorstellung spricht. Jener scheint die mentalen Krankheiten in den
modernen Gesellschaften als Resultat einer Verdrängung der ekstatischen Formen der
Existenz zu sehen. In unserer Zivilisation sind die Wege zur kollektiven Entfesselung
aber weitestgehend verstopft, so dass es sich bei dem Konzept wohl eher um die
Vorstellung handelt, dass das Sacré selbst krankt.
Indizien für diese Deutung finden sich in dem Text eines 1973 gehaltenen
Konferenzbeitrags mit dem Titel „Le sacré sauvage“.122 Das wilde Sakrale bezeichnet
bei Bastide eine Kraft stetiger sozialer Gärung, die sich nicht zähmen lässt.123 Es
erweckt den Anschein, als ob eine vom Atheismus geprägte Latenzzeit eine Lücke des
Sinns in den Menschen aufgerissen habe, durch die sich das Sacré auf noch ungeahnte
Weise seinen Weg zurück bahnt.124 Diese ungeordneten Impulse haben aber nichts mit
der geordneten und ritualisierten Ekstase der sogenannten Primitiven gemein.125 Die
traditionellen Gesellschaften kennen das wilde Sacré zwar durchaus, doch bändigen die
entsprechenden Institutionen die chaotischen Kräfte.126 Die Folgen der
120 Siehe oben S. 11.121 Siehe oben S. 14.122 Roger Bastide, Le sacré sauvage, in: http://sociologies.revues.org/3238 (Zugriff: 04.03.2014 04:21).123 ebenda, § 3.124 ebenda, §2.125 ebenda, § 6.126 ebenda, §9- 12.
23
Industrialisierung, die Urbanisierung und das Aufkommen des Rationalismus haben die
sozialen Beziehungen erschüttert und die traditionellen kollektiven Bindungen
zersplittert.127 Der Tod Gottes, der als Sinnbild für diese Entwicklungen steht, so
Bastide, ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Absterben des Sacré, das sich an neue
Objekte knüpft. Das wilde Sakrale der modernen Gesellschaften ist ein paradoxes
Phänomen, das zwischen der Suche nach neuen Formen der Solidarität als Ausflucht aus
der Sinnleere des Individualismus und der Zersetzung und Wieder- Abkehr von den so
eben entstandenen Gruppen oszilliert.128 Selbst dort, wo es zu kollektiven Ekstasen
führt, bleibt im Endeffekt jeder für sich, da es zu keinem Austausch von Erfahrungen
kommt, sondern alles rein persönlich bleibt.129 Das domestizierte Sacré hingegen
ermöglicht gleichzeitig eine soziale und kosmische Kommunikation.130
Es scheint, als ob Bastide in den mentalen Krankheiten der Moderne eben jene Störung
des sozialen Kraftflusses wähnt, der im normalen Zustand einen geregelten Austausch
von Affekten, Emotionen und materiellen Gaben zwischen den diversen Gliedern einer
Gesellschaft gewährt.
Zusammenfassung
Den Ausgangspunkt dieser Arbeit lieferte eine Bemerkung aus einem Brief, den Bastide
am 9. Oktober 1973 an Duvignaud sandte. In „Fêtes et Civilsations“ hatte
Letztgenannter die mentalen Krankheiten unter einer Perspektive behandelt, die Bastide,
wie er betont, bereits früher eingeschlagen hatte. Es bot sich deshalb an, zuerst
Duvignauds Ausführungen darzustellen, um einen Anhaltspunkt zu geben, was er unter
Krankheiten des Sacré versteht. Obgleich er diesen Terminus selbst nicht verwendet,
erlaubt ein Vergleich der Konzeptionen beider Autoren darauf zu schließen, dass die
Auffassung der Geisteskrankheiten als Fest die Entsprechung darstellt. In diesem
erstmals 1973 publizierten Werk bleibt eine begriffliche Unschärfe zwischen Trance und
Besessenheit bestehen, die erst in den späteren Schriften klar formuliert wird. Die
Besessenheit verlangt ein organisiertes Pantheon und eine stereotype mythische
Verkleidungen, in die sich der Wahn einfügt, während die Trance eine Lücke der
127 ebenda, § 23.128 ebenda, § 27- 29129 ebenda, § 31.130 ebenda, § 30- 31.
24
Existenz öffnet, die frei jeden Inhalts ist, erschließt sich aus einer 1980 publizierten
Monographie.131
Die Theorie der regellosen Bereiche innerhalb des sozialen Lebens ist wahrscheinlich
für viele Wissenschaftler nur schwer verständlich, da die akademische Praxis für
gewöhnlich darin besteht die Fakten in bereits vorgegebene Kategorien einzupassen.
Duvignauds Ansatz, so scheint mir, muss jedoch als Reaktion auf die deterministische
diskursanalytische Philosophie Foucaults verstanden werden. Der Theoretiker des
Festes kritisiert an dem Autoren der Geschichte des Wahnsinns, dass jener in seinem
Buch „Les mots et les choses“ „die menschliche Erfahrung auf einige grundlegende
Kompositionen der „Metasprache“, der Infrastruktur des Bewusstseins und der
Sprache reduziert, was es ihm nicht erlaubt das Problem des Menschen in seiner
Totalität zu stellen.“132 Diese gegensätzlichen Auffassungen dürften aber rein
intellektueller, nicht persönlicher Natur gewesen sein, da sich beide zumindest während
ihrer Zeit in Tunesien heiter miteinander unterhalten hatten.133
Duvignaud geht davon aus, dass die Trance als kulturelle Praxis eine Möglichkeit liefert
für bestimmte Momente aus der Organisation der Gesellschaft herauszutreten. Diese
Erfahrungen sind innerhalb unserer rationalisierten Welt teils der Verdrängung und teils
der Schrift zum Opfer gefallen. Die Schizophrenie und die Paranoia fasst Duvignaud als
Transformationen der Phänomene der Trance und Besessenheit auf.134 Die Anfänge
dieser Umwandlung setzt er bei den europäischen Mystikern des 16. Jh. an. Diese
Prozesse vollziehen sich aber nicht mit einem Schlag. Die Verdrängung des Festes
nimmt in Europa in den protestantischen Ländern ihren Anfang und weitet sich in Folge
der Industrialisierung auch auf die katholischen Regionen aus.135
Duvignauds Ausführungen bleiben recht vage hinsichtlich der Bestimmung, ob die
modernen Geisteskrankheiten allgemein oder nur bestimmte Typen als
Transformationen der Ekstase zu werten sind. Es muss künftigen Forschungen
vorbehalten bleiben, diese Thematik genauer zu analysieren.
Ein wesentlicher Unterschied der Ansätze zwischen Bastide und Duvignaud besteht
hinsichtlich der Auffassung, dass das Kennzeichen unserer Gesellschaft die Schrift sei.
131 Jean Duvignaud, Le jeu du jeu (Saint Amand 1980), S. 52- 53.132 Jean Duvignaud, La sociologie est un humanisme, in: L´homme et la société 1 (1966), S. 35, Anm. 1.133 Jean Duvignaud, Le sous texte (Mayenne 2005), S. 86.134 Siehe oben, S. 2.135 Jean Duvignaud, Le jeu du jeu (Saint Amand 1980), S.115.
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Der Soziologe der mentalen Krankheiten beschreibt, dass wir die Gesellschaft des
Buches hinter uns lassen und sich bereits eine neue Zivilisation des Bild- Spektakels
konstituiert.136 Auch die traditionellen Sozietäten gebrauchen hauptsächlich Bilder zur
Kommunikation, doch während sie dort Symbole sind, die in Mythen zusammengefasst
ein kohärentes Ganzes formen, verkümmern sie bei uns zu desorganisierten Zeichen,
die nur mehr Information sind. Die Konsequenzen für die mentalen sowie sozialen
Strukturen, die in einer Isolierung der Individuen münden, scheinen aber jenen analog,
die Duvignaud für die Schrift aufführte.137 Die kollektive Ekstase des Festes bleibt auch
hier unmöglich.
Bastide geht in seinen Ausführungen methodologischer vor als Duvignaud. Er analysiert
Statistiken und skizziert die Transformationen der Geisteskranken sowohl historisch als
auch soziologisch. Er stellt dar wie der Wahn ab der Renaissance aus den religiösen
Erklärungs- und Behandlungssystemen herausgehoben wird und die Geisteskranken mit
Kriminellen sowie Landstreichern gemeinsam aus der Gesellschaft verbannt in den
Zuchthäusern isoliert werden. Die Öffnung der Psychiatrie in der Moderne ist nach
Bastide weniger ein Ausdruck der Menschenliebe als vielmehr Ausdruck der
gesellschaftlichen Interessen auch bislang heterogene Elemente der Produktivität zu
unterwerfen.
Die Geisteskrankheiten werden je nach Form der Solidarität einer Gesellschaft
unterschiedlich bewertet und behandelt. Während die mechanischen Typen durch die
Religion und das Sacré gekennzeichnet sind, ist ein Merkmal unserer Gesellschaft zum
einen die Individualisierung und in anomischen Phasen die Atomisierung sowie
allgemein der Rückgang des Sakralen im kollektiven Leben. Bastide zieht aus einem
Vergleich zwischen unserer und den traditionellen Zivilisationen den Schluss, dass wir
die Kommunikation mit dem Übernatürlichen abgeschnitten haben und diese Sphäre zu
einer Illusion degradiert wurde. Die somit abgestoßenen und verdrängten Kräfte haben
wir aber nicht einfach hinter uns gelassen. Die Entzauberung der Welt führt nicht nur zu
einer Begrenzung der Wirklichkeit auf die Empirie, denn die Götter und Toten suchen
sich Schlupflöcher und kehren dort wieder, wo die sozialen Schranken am
durchlässigsten sind: in der Psyche.
136 Roger Bastide, L´homme en proie aux images: psychanalyse et société technicienne, in: ders., La rêve, la transe et la folie (Villeneuve d´Ascq 2003), S. 311.
137 ebenda, S. 313.
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Die mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré sind bei Bastide, so wurde
versucht aufzuzeigen, nur ein Symptom eines allgemeinen Leidens unserer Gesellschaft,
die durch die Unruhe des wilden Sakralen gekennzeichnet ist.
Inwiefern die Ansätze von Duvignaud und Bastide zum Problem der Geisteskrankheiten
den wissenschaftlichen Ansprüchen der Gegenwart Genüge leisten, kann und soll hier
nicht beurteilt werden. Die „strukturelle“ These Bastides weist ähnliche Unklarheiten
auf wie die Ausführungen von Duvignaud, doch konnte die Soziologie der mentalen
Krankheiten aufzeigen, dass die Symptome der Geisteskranken keinen rein
individuellen Ursprung haben, sondern sich die gestörte Sprache und die abnormen
Gesten in räumliche und zeitliche Matrizen einschreiben, die die Gesellschaft selbst
liefert. Wenn die Kultur das Verhalten des psychisch Kranken mitbestimmt, hat man
darin nicht in gewisser Weise eine Form der Besessenheit zu sehen, die Übernahme
einer Rolle? Weist das aber nicht wiederum darauf hin, dass die Geisteskrankheiten nur
auf den ersten Blick ungeordnetes Chaos und Fest sind, während sich bei näherer
Betrachtung auch hinter diesen Phänomenen logische Strukturen aufdecken lassen? Die
Auffassung der mentalen Krankheiten als Krankheiten des Sacré ist ein vages
gleichzeitig aber auch komplexes Konzept, dessen Umrisslinien hier lediglich
aufgezeichnet werden konnten. Es scheint sich zu gewissen Teilen einer methodologisch
sauberen Beschreibung zu entziehen, doch dies liegt womöglich am Gegenstand des
Wahns selbst, der sich nur schwer mittels der Kategorien, die die Normalität bereitstellt,
fassen lässt.
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Literaturverzeichnis
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