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ÖPNV-Auftraggeber müssen genau prüfen, ob Notvergaben zulässig sind Bedingung ist die Dienstleistungskonzession des Auftragnehmers DÜSSELDORF. Das Oberlandesge- richt (OLG) Düsseldorf hat ent- schieden, wie die Verordnung für die Vergabe von Personenverkehrs- dienstleistungen angewendet wird und Dienstleistungskonzessionen vom Dienstleistungsauftrag abge- grenzt (OLG Düsseldorf, VII Verga- be 34/15 vom 23. Dezember 2015). Die Richter urteilten, dass ein Ver- trag über Busverkehrsdienste nicht ohne Ausschreibung abgeschlossen werden darf, wenn ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag vorliegt. Überwiegender Teil des wirtschaftlichen Risikos wichtig Es gibt zwar ein Sondervergabe- recht laut dieser Verordnung. Es gilt aber nur, wenn der ÖPNV-Unter- nehmer eine Dienstleistungskon- zession besitzt. Und dies ist ledig- lich dann der Fall, wenn er den überwiegenden Teil des wirtschaft- lichen Risikos übernimmt. Er muss den „Unwägbarkeiten des Mark- tes“ ausgesetzt sein, wie das OLG Düsseldorf formuliert. Die beiden im entschiedenen Fall betroffenen Unternehmer hat- ten eine „Notvergabe“ geltend ge- macht. Somit sei laut Verordnung für die Vergabe von Personenver- kehrsdienstleistungen eine direkte Beauftragung ohne Ausschreibung möglich. Die Voraussetzungen für eine „Notvergabe“ waren nach OLG-Ansicht aber nicht gegeben. Denn weder wurde ein interner Be- treiber beauftragt, noch handelte es sich um einen kleinen Auftrag oder um eine Notmaßnahme, etwa wenn die Gefahr der Unterbre- chung des Verkehrs besteht. Urteilsbewertung für die Vergabepraxis „ÖPNV-Aufgabenträger sollten bei vertraglichen ‚Notvergaben‘ genau prüfen, ob die Voraussetzungen ei- ner Dienstleistungskonzession tat- sächlich gegeben sind“, urteilt Hol- ger Schröder, Rechtsanwalt bei Rödl & Partner aus Regensburg, in seiner Bewertung für die Praxis. Sie müssten vor allem darauf achten, dass zumindest das überwiegende wirtschaftliche Nutzungs- und Ver- wertungsrisiko beim Verkehrs- dienstleister verbleibe. (raab) Busverkehrsbetreiber müssen einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag und den Vertrag über ihre Dienste nach einer Ausschreibung erhalten haben. FOTO: DPA 36 Ausschreibung & Vergabe Staatsanzeiger · Freitag, 15. April 2016 · Nr. 14 Verwirklicht nicht die Einheitliche Europäische Eigenerklärung eine Erleichterung? Hübner: Das ist die Monstranz, die die Kommission als große Bieter- erleichterung vor sich hergetra- gen hat. Sie soll Bietern in den verkürzten Angebotsfristen die Möglichkeit geben, sich auf die Angebotskalkulation zu konzen- trieren. Wir reden über im Regel- fall zehn Tage weniger, in Zeiten, in denen es schon bisher nicht leicht war, ein Angebot in 45 Ta- gen zu erstellen. Man sagt, die Nachweise für Eure Bietereig- nung, die müsst Ihr im ersten Schritt nur formularmäßig be- haupten, also nur ankreuzen. Erst mal muss man sich aber an dieses 13-seitige fürchterliche Formular mit vier Seiten Anlei- tung, wie man das auszufüllen hat, gewöhnen. Es ist gut ge- meint und wird nach einer Ge- wöhnungsphase zu einer Stan- dardisierung führen. Das Gespräch führte Ulrike Raab-Nicolai sie nicht diesen ganzen Aufwand haben, sofort ein komplettes An- gebot zu erstellen. Hübner: Das halte ich auch eher für ein zweischneidiges Schwert. Denn wir haben neuerdings Rege- lungen, die für den Regelfall den Nachweis der finanziellen Leis- tungsfähigkeit auf das Doppelte des geschätzten Auftragswerts be- schränken. Aber auch da gibt es den berühmten Satz zwei. Ausnah- men sind natürlich zulässig, wenn ein Auftraggeber es im konkreten Ausschreibungsfall für angemes- sen hält, mehr zu fordern. Auf alle Fälle sind die Regelungen wortrei- cher geworden und besser ver- ständlich geworden, von daher muss man eine Lanze brechen für das neue Vergaberecht. Aber man hätte auch denjenigen, die nicht so gerne lesen, entgegenkommen müssen. Deutschland durch die losweise Vergabe schon immer der Vorrei- ter. Wir haben in Baden-Württem- berg schon länger in unserer Ver- waltungsvorschrift Beschaffung 18 Möglichkeiten für die mittel- standsfreundliche Vergabe aufge- zeigt. Wir hoffen, dass das in der Praxis umgesetzt wird. Und ich glaube auch, dass das viele tun. Das neue EU-Vergaberecht bringt da nicht viel Neues. Also keine Erleichterung? Rosenauer: Erleichtert wird der Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Künftig wird es dafür eine Höchstgrenze geben. Die EU erhofft sich auch von der Wahlmöglichkeit zwischen offe- nem und nicht-offenem Verfah- ren, die gleichgestellt werden, dass sich kleine und mittlere Unterneh- men mehr beteiligen werden. Weil wem die Vereinfachung, Flexibili- sierung und Modernisierung zu- gute kommt. Sie stellt auf ihrer Homepage zehn Punkte dar, die neu, gut und fortschrittlich sein sollen. Für Bieter ist da genau ein Punkt von Interesse. Alles andere ist aus Sicht der Auftraggeberseite. Sind die Vergabestellen vorbereitet? Rosenauer: Wir warten noch auf die Vergabeverordnung, die ja der Hauptanwendungsbereich sein wird. Wir müssen noch die neuen Formulare erstellen, das wird ein paar Wochen dauern, bis alles wie- der rund laufen wird. Auf der ande- ren Seite dürfte das aber keine so großen Auswirkungen haben, weil das neue Vergaberecht ja nur für die Oberschwelle gilt. Die deutli- che Mehrheit der Aufträge, etwa 87 Prozent, sind in der Unterschwel- le. Und da wird sich vorerst nichts ändern. Für das Massengeschäft im Unter- schwellenbereich gelten weiter an- dere Regeln. Wie beurteilen Sie diese Diskrepanz? Rosenauer: Es war einfach nicht an- ders zu machen. Wir haben das in unseren Bund-Länder-Arbeits- gruppen immer wieder angespro- chen. Der Bund hätte es einfach nicht geschafft, gleichzeitig auch das Unterschwellenrecht zu refor- mieren. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr einen entsprechen- den Vorschlag haben. Hübner: Die Bieter schauen tradi- tionell mit großer Sorge darauf. Wir zählen auf den Tag, an dem der EuGH feststellt, dass das europäi- sche Primärrecht auch in Bieter- rechtsschutz umgesetzt werden muss. Das hat sich die EU-Kom- mission auf die Agenda gesetzt. Ein weiteres Ziel ist es, die Beteiligung von kleinen und mittleren Unterneh- men zu erleichtern. Wird es gelingen? Rosenauer: Aus unserer Sicht war Die Umsetzung der EU-Vergabe- richtlinien in deutsches Recht wird am 18. April rechtskräftig. Dies ist Anlass für eine kritische Einordnung zweier Experten. Staatsanzeiger: Eines der Ziele der Vergaberechtsreform ist die Vereinfa- chung. Wird es angesichts etwa von komplett neuen Formularen und Pa- ragrafen sowie der gestiegenen Kom- plexität verfehlt? Andrea Rosenauer: In der Tat könnte sich dieser Eindruck aufdrängen, weil das Gesetzesmaterial sehr umfangreich ist. Auf der anderen Seite hatten wir drei sehr umfang- reiche und detaillierte EU-Richtli- nien. Das Ergebnis ist ein guter Kompromiss zwischen allen Inte- ressen und dem, was wir umsetzen mussten. Wir haben auch die be- rühmte Kaskade teilweise aufge- hoben, das heißt, es gibt außer für den Baubereich nur noch eine Zweistufigkeit. Der Anwender muss nicht mehr so viel suchen, welche Vorschrift einschlägig ist. Aber es wird eine Zeit brauchen, bis man sich daran gewöhnt hat. Alexander Hübner: Also, ein bisschen brauchen, bis man sich dran ge- wöhnt, davon würde ich bei 900 Seiten deutschem und EU-Geset- zestext nicht sprechen (lacht). Ich erlebe es bei der Schulung von Be- teiligten am Vergabeverfahren in den letzten Monaten, dass man sich doch mit dieser Menge an Normen sehr schwertut. Sie sind teilweise völlig neu gestaltet oder in eine neue Systematik gebracht worden. Der Effekt ist erschla- gend. Gerade für Bieter, die nicht täglich mit öffentlichen Aufträgen zu tun haben, weil sie auch in pri- vaten Märkten unterwegs sind. Wird die Bieterseite vernachlässigt? Hübner: Ich habe mir mal ange- schaut, was sich die Kommission 2014, als die EU-Richtlinien verab- schiedet wurden, gedacht hat, Streitgespräch: Vergaberechtsreform Andrea Rosenauer, Leiterin des Referats Justitiariat, Kartell- und Vergaberecht im Ministerium für Finanzen und Wirtschaft Baden-Württemberg „Es wird eine Zeit brauchen, bis man sich daran gewöhnt hat“ Alexander Hübner, Rechtsanwalt und Partner bei Haver & Mailänder Rechtsanwälte, Stuttgart Von der EU kam der Anstoß: Die neuen Vergaberichtlinien sind in deutsches Recht umgesetzt und gelten ab 18. April. FOTO: DPA MEHR ZUM THEMA Eine Langfassung des Interviews lesen Sie ab 16. April unter: www.staatsanzeiger.de Lexikon „G“ wie Gemeinschaftsrecht: Von der EU geprägt Das Gemeinschaftsrecht, womit die Rechtsordnung der EU be- zeichnet wird, bestimmt das deut- sche Vergaberecht. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi- schen Union garantiert die Dienst- leistungsfreiheit, die Niederlas- sungsfreiheit, die Arbeitnehmer- freizügigkeit und das allgemeine Diskriminierungsverbot. Zu den gemeinschaftsrechtlichen Grund- sätzen zählen überdies der Grund- satz der Gleichbehandlung, der Transparenz und des Wettbe- werbs. Diese spielen eine zentrale Rolle im Vergaberecht, denn auf ihnen beruhen die unmittelbar anwendbaren EU-Verordnungen sowie die Vergaberichtlinien,die in deutsches Recht umgesetzt worden sind. (raab) Kurz notiert Drei Projektpartner für Offshore-Ausschreibung KARLSRUHE. Die EnBW Energie Baden-Württemberg, Siemens Fi- nancial Services und DEME Con- cessions Wind kooperieren im Ausschreibungsverfahren für den dänischen Offshorewindpark Kriegers Flak. Ein entsprechender Vertrag wurde in der vergangenen Woche unterzeichnet. Mit Krie- gers Flak schreibt Dänemark die Genehmigung für einen Windpark in einer Größenordnung von über 590 Megawatt aus. (sta) SBB plant Offensive in Deutschland KONSTANZ. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) Deutsch- land mit Sitz in Konstanz möchten ihr Netz im Grenzland ausbauen. Bis zu 125 elektrisch angetriebene Schienenfahrzeuge sollen laut ei- ner EU-weiten Ausschreibung für das deutsche Streckennetz gekauft werden. Die strategische Zielset- zung sei es laut SBB, Bahnlinien im Grenzgürtel von Deutschland und der Schweiz zu betreiben. Die SBB Deutschland wirtschafte mit einer deutschen Kostenstruktur. (sta) Busverkehrsgesellschaft verliert Auftrag SEELOW. Die Busverkehrsgesell- schaft Märkisch-Oderland (BMO) hat einen 60-Millionen-Euro-Auf- trag für Busdienstleistungen ver- loren. Sie wurde wegen Nichtein- haltung mehrerer absoluter und bedingter Ausschlusskriterien vom Vergabeverfahren ausge- schlossen. Ein wichtiges Kriterium war, dass der Zuschussbetrag ge- genüber der Basiskalkulation überschritten war. Bei einem Bie- terwechsel muss der neue Leis- tungserbringer alle Mitarbeiter zu den bestehenden Konditionen übernehmen. (sta) Kritik an Vergabepraxis der Schweiz BERN. Die Finanzdelegation des Schweizer Parlaments kritisiert in ihrem Jahresbericht das Projekt- management beim Bund. Es geht um die Erneuerung eines Funksys- tems, mit dem Polizei, Feuerwehr und Teile der Armee verschlüsselt kommunizieren. Das Verteidi- gungsdepartement hatte den 325-Millionen-Auftrag ohne Aus- schreibung vergeben. (sta) Korruptionsregister ist elektronisch abrufbar HAMBURG. Die Hamburger Fi- nanzbehörde hat am 5. April das Register zum Schutz fairen Wett- bewerbs zum elektronischen Ab- ruf zur Verfügung gestellt. Vor der Entscheidung über die Vergabe sind alle öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, zu prüfen, ob es über die künftigen Auftragnehmer be- lastende Eintragungen gibt. (sta) Ausschluss gebrauchter Software hinfällig MÜNSTER. Öffentliche Auftrag- geber dürfen bei Ausschreibungen Anbieter gebrauchter Lizenzen nicht diskriminieren. Dies ent- schied die Vergabekammer (VK) Westfalen in einem Verfahren ge- gen den Kreis Steinfurt, gegen den sich ein Händler gebrauchter Soft- ware gewehrt hatte. Der Kreis hat- te den Kauf von 1500 Microsoft- Office-Lizenzen ausgeschrieben. Obwohl gebrauchte Lizenzen günstiger sind als neue, waren sie ausdrücklich ausgeschlossen. „Gebrauchte Software mit einer gebrauchten Lizenz ist von der Neufassung nicht zu unterschei- den“, heißt es in der Begründung der VK. Der Europäische Gerichts- hof und der Bundesgerichtshof hätten klargestellt, dass der Han- del mit gebrauchter Software rechtlich nicht zu beanstanden sei. Klauseln in Verträgen, die den Weiterverkauf der Software ver- bieten, seien unwirksam. (raab) Schritte der Modernisierung des Vergaberechts Die größte Reform des EU-Vergaberechts seit 2004 in Deutschland Gestalt: 18.11.2014: Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWI) 30.4.2015: Referentenentwurf 6.7.2015: erster Gesetzentwurf der Bundesregierung 20.1.2016: Verabschiedung durch Bundeskabinett 18.3. 2016: Zustimmung Bundesrat 18. 4. 2016: Inkrafttreten

Staatsanzeiger á Freitag, 15. April 2016 á Nr. 14 Streitgespr ch: … · 2016. 5. 23. · 2014, als die EU-Richtlinien verab-schiedet wurden, gedacht hat, Streitgespr ch: Vergaberechtsreform

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  • ÖPNV-Auftraggeber müssen genau prüfen,ob Notvergaben zulässig sindBedingung ist die Dienstleistungskonzession des Auftragnehmers

    DÜSSELDORF. Das Oberlandesge-richt (OLG) Düsseldorf hat ent-schieden, wie die Verordnung fürdie Vergabe von Personenverkehrs-dienstleistungen angewendet wirdund Dienstleistungskonzessionenvom Dienstleistungsauftrag abge-grenzt (OLG Düsseldorf, VII Verga-be 34/15 vom 23. Dezember 2015).Die Richter urteilten, dass ein Ver-trag über Busverkehrsdienste nichtohne Ausschreibung abgeschlossenwerden darf, wenn ein öffentlicherDienstleistungsauftrag vorliegt.

    Überwiegender Teil deswirtschaftlichen Risikos wichtig

    Es gibt zwar ein Sondervergabe-recht laut dieser Verordnung. Es giltaber nur, wenn der ÖPNV-Unter-nehmer eine Dienstleistungskon-zession besitzt. Und dies ist ledig-lich dann der Fall, wenn er den

    überwiegenden Teil des wirtschaft-lichen Risikos übernimmt. Er mussden „Unwägbarkeiten des Mark-tes“ ausgesetzt sein, wie das OLGDüsseldorf formuliert.

    Die beiden im entschiedenenFall betroffenen Unternehmer hat-

    ten eine „Notvergabe“ geltend ge-macht. Somit sei laut Verordnungfür die Vergabe von Personenver-kehrsdienstleistungen eine direkteBeauftragung ohne Ausschreibungmöglich. Die Voraussetzungen füreine „Notvergabe“ waren nach

    OLG-Ansicht aber nicht gegeben.Denn weder wurde ein interner Be-treiber beauftragt, noch handelte essich um einen kleinen Auftrag oderum eine Notmaßnahme, etwawenn die Gefahr der Unterbre-chung des Verkehrs besteht.

    Urteilsbewertungfür die Vergabepraxis

    „ÖPNV-Aufgabenträger sollten beivertraglichen ‚Notvergaben‘ genauprüfen, ob die Voraussetzungen ei-ner Dienstleistungskonzession tat-sächlich gegeben sind“, urteilt Hol-ger Schröder, Rechtsanwalt beiRödl & Partner aus Regensburg, inseiner Bewertung für die Praxis. Siemüssten vor allem darauf achten,dass zumindest das überwiegendewirtschaftliche Nutzungs- und Ver-wertungsrisiko beim Verkehrs-dienstleister verbleibe. (raab)

    Busverkehrsbetreiber müssen einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag und denVertrag über ihre Dienste nach einer Ausschreibung erhalten haben. FOTO: DPA

    36 Ausschreibung & Vergabe Staatsanzeiger · Freitag, 15. April 2016 · Nr. 14

    Verwirklicht nicht die EinheitlicheEuropäische Eigenerklärung eineErleichterung?

    Hübner: Das ist die Monstranz, diedie Kommission als große Bieter-erleichterung vor sich hergetra-gen hat. Sie soll Bietern in denverkürzten Angebotsfristen dieMöglichkeit geben, sich auf dieAngebotskalkulation zu konzen-trieren. Wir reden über im Regel-fall zehn Tage weniger, in Zeiten,in denen es schon bisher nichtleicht war, ein Angebot in 45 Ta-gen zu erstellen. Man sagt, dieNachweise für Eure Bietereig-nung, die müsst Ihr im erstenSchritt nur formularmäßig be-haupten, also nur ankreuzen.Erst mal muss man sich aber andieses 13-seitige fürchterlicheFormular mit vier Seiten Anlei-tung, wie man das auszufüllenhat, gewöhnen. Es ist gut ge-meint und wird nach einer Ge-wöhnungsphase zu einer Stan-dardisierung führen.

    Das Gespräch führteUlrike Raab-Nicolai

    sie nicht diesen ganzen Aufwandhaben, sofort ein komplettes An-gebot zu erstellen.Hübner: Das halte ich auch eher fürein zweischneidiges Schwert.Denn wir haben neuerdings Rege-lungen, die für den Regelfall denNachweis der finanziellen Leis-tungsfähigkeit auf das Doppeltedes geschätzten Auftragswerts be-schränken. Aber auch da gibt esden berühmten Satz zwei. Ausnah-men sind natürlich zulässig, wennein Auftraggeber es im konkretenAusschreibungsfall für angemes-sen hält, mehr zu fordern. Auf alleFälle sind die Regelungen wortrei-cher geworden und besser ver-ständlich geworden, von dahermuss man eine Lanze brechen fürdas neue Vergaberecht. Aber manhätte auch denjenigen, die nicht sogerne lesen, entgegenkommenmüssen.

    Deutschland durch die losweiseVergabe schon immer der Vorrei-ter. Wir haben in Baden-Württem-berg schon länger in unserer Ver-waltungsvorschrift Beschaffung18 Möglichkeiten für die mittel-standsfreundliche Vergabe aufge-zeigt. Wir hoffen, dass das in derPraxis umgesetzt wird. Und ichglaube auch, dass das viele tun.Das neue EU-Vergaberecht bringtda nicht viel Neues.

    Also keine Erleichterung?Rosenauer: Erleichtert wird derNachweis der wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit. Künftig wird esdafür eine Höchstgrenze geben.Die EU erhofft sich auch von derWahlmöglichkeit zwischen offe-nem und nicht-offenem Verfah-ren, die gleichgestellt werden, dasssich kleine und mittlere Unterneh-men mehr beteiligen werden. Weil

    wem die Vereinfachung, Flexibili-sierung und Modernisierung zu-gute kommt. Sie stellt auf ihrerHomepage zehn Punkte dar, dieneu, gut und fortschrittlich seinsollen. Für Bieter ist da genau einPunkt von Interesse. Alles andereist aus Sicht der Auftraggeberseite.

    Sind die Vergabestellen vorbereitet?Rosenauer: Wir warten noch auf dieVergabeverordnung, die ja derHauptanwendungsbereich seinwird. Wir müssen noch die neuenFormulare erstellen, das wird einpaar Wochen dauern, bis alles wie-der rund laufen wird. Auf der ande-ren Seite dürfte das aber keine sogroßen Auswirkungen haben, weildas neue Vergaberecht ja nur fürdie Oberschwelle gilt. Die deutli-che Mehrheit der Aufträge, etwa 87Prozent, sind in der Unterschwel-le. Und da wird sich vorerst nichtsändern.

    Für das Massengeschäft im Unter-schwellenbereich gelten weiter an-dere Regeln. Wie beurteilen Sie dieseDiskrepanz?

    Rosenauer: Es war einfach nicht an-ders zu machen. Wir haben das inunseren Bund-Länder-Arbeits-gruppen immer wieder angespro-chen. Der Bund hätte es einfachnicht geschafft, gleichzeitig auchdas Unterschwellenrecht zu refor-mieren. Wir hoffen, dass wir nochin diesem Jahr einen entsprechen-den Vorschlag haben.Hübner: Die Bieter schauen tradi-tionell mit großer Sorge darauf.Wir zählen auf den Tag, an dem derEuGH feststellt, dass das europäi-sche Primärrecht auch in Bieter-rechtsschutz umgesetzt werdenmuss. Das hat sich die EU-Kom-mission auf die Agenda gesetzt.

    Ein weiteres Ziel ist es, die Beteiligungvon kleinen und mittleren Unterneh-men zu erleichtern. Wird es gelingen?

    Rosenauer: Aus unserer Sicht war

    Die Umsetzung der EU-Vergabe-richtlinien in deutsches Recht wirdam 18. April rechtskräftig. Dies istAnlass für eine kritische Einordnungzweier Experten.

    Staatsanzeiger: Eines der Ziele derVergaberechtsreform ist die Vereinfa-chung. Wird es angesichts etwa vonkomplett neuen Formularen und Pa-ragrafen sowie der gestiegenen Kom-plexität verfehlt?

    Andrea Rosenauer: In der Tat könntesich dieser Eindruck aufdrängen,weil das Gesetzesmaterial sehrumfangreich ist. Auf der anderenSeite hatten wir drei sehr umfang-reiche und detaillierte EU-Richtli-nien. Das Ergebnis ist ein guterKompromiss zwischen allen Inte-ressen und dem, was wir umsetzenmussten. Wir haben auch die be-rühmte Kaskade teilweise aufge-hoben, das heißt, es gibt außer fürden Baubereich nur noch eineZweistufigkeit. Der Anwendermuss nicht mehr so viel suchen,welche Vorschrift einschlägig ist.Aber es wird eine Zeit brauchen,bis man sich daran gewöhnt hat.Alexander Hübner: Also, ein bisschenbrauchen, bis man sich dran ge-wöhnt, davon würde ich bei 900Seiten deutschem und EU-Geset-zestext nicht sprechen (lacht). Icherlebe es bei der Schulung von Be-teiligten am Vergabeverfahren inden letzten Monaten, dass mansich doch mit dieser Menge anNormen sehr schwertut. Sie sindteilweise völlig neu gestaltet oderin eine neue Systematik gebrachtworden. Der Effekt ist erschla-gend. Gerade für Bieter, die nichttäglich mit öffentlichen Aufträgenzu tun haben, weil sie auch in pri-vaten Märkten unterwegs sind.

    Wird die Bieterseite vernachlässigt?Hübner: Ich habe mir mal ange-schaut, was sich die Kommission2014, als die EU-Richtlinien verab-schiedet wurden, gedacht hat,

    Streitgespräch:Vergaberechtsreform

    Andrea Rosenauer,Leiterin des Referats Justitiariat,Kartell- und Vergaberecht imMinisterium für Finanzen undWirtschaft Baden-Württemberg

    „Es wird eine Zeit brauchen, bisman sich daran gewöhnt hat“

    Alexander Hübner,Rechtsanwalt und Partner beiHaver & Mailänder Rechtsanwälte,Stuttgart

    Von der EU kam der Anstoß: Die neuen Vergaberichtlinien sind in deutsches Recht umgesetzt und gelten ab 18. April. FOTO: DPA

    MEHR ZUM THEMAEine Langfassung des Interviews lesenSie ab 16. April unter:www.staatsanzeiger.de

    Lexikon

    „G“ wie Gemeinschaftsrecht:Von der EU geprägt

    Das Gemeinschaftsrecht, womitdie Rechtsordnung der EU be-zeichnet wird, bestimmt das deut-sche Vergaberecht. Der Vertragüber die Arbeitsweise der Europäi-schen Union garantiert die Dienst-leistungsfreiheit, die Niederlas-sungsfreiheit, die Arbeitnehmer-freizügigkeit und das allgemeineDiskriminierungsverbot. Zu dengemeinschaftsrechtlichen Grund-sätzen zählen überdies der Grund-satz der Gleichbehandlung, derTransparenz und des Wettbe-werbs. Diese spielen eine zentraleRolle im Vergaberecht, denn aufihnen beruhen die unmittelbaranwendbaren EU-Verordnungensowie die Vergaberichtlinien,diein deutsches Recht umgesetztworden sind. (raab)

    Kurz notiert

    Drei Projektpartnerfür Offshore-Ausschreibung

    KARLSRUHE. Die EnBW EnergieBaden-Württemberg, Siemens Fi-nancial Services und DEME Con-cessions Wind kooperieren imAusschreibungsverfahren für dendänischen OffshorewindparkKriegers Flak. Ein entsprechenderVertrag wurde in der vergangenenWoche unterzeichnet. Mit Krie-gers Flak schreibt Dänemark dieGenehmigung für einen Windparkin einer Größenordnung von über590 Megawatt aus. (sta)

    SBB plant Offensivein Deutschland

    KONSTANZ. Die SchweizerischenBundesbahnen (SBB) Deutsch-land mit Sitz in Konstanz möchtenihr Netz im Grenzland ausbauen.Bis zu 125 elektrisch angetriebeneSchienenfahrzeuge sollen laut ei-ner EU-weiten Ausschreibung fürdas deutsche Streckennetz gekauftwerden. Die strategische Zielset-zung sei es laut SBB, Bahnlinien imGrenzgürtel von Deutschland undder Schweiz zu betreiben. Die SBBDeutschland wirtschafte mit einerdeutschen Kostenstruktur. (sta)

    Busverkehrsgesellschaftverliert Auftrag

    SEELOW. Die Busverkehrsgesell-schaft Märkisch-Oderland (BMO)hat einen 60-Millionen-Euro-Auf-trag für Busdienstleistungen ver-loren. Sie wurde wegen Nichtein-haltung mehrerer absoluter undbedingter Ausschlusskriterienvom Vergabeverfahren ausge-schlossen. Ein wichtiges Kriteriumwar, dass der Zuschussbetrag ge-genüber der Basiskalkulationüberschritten war. Bei einem Bie-terwechsel muss der neue Leis-tungserbringer alle Mitarbeiter zuden bestehenden Konditionenübernehmen. (sta)

    Kritik an Vergabepraxisder Schweiz

    BERN. Die Finanzdelegation desSchweizer Parlaments kritisiert inihrem Jahresbericht das Projekt-management beim Bund. Es gehtum die Erneuerung eines Funksys-tems, mit dem Polizei, Feuerwehrund Teile der Armee verschlüsseltkommunizieren. Das Verteidi-gungsdepartement hatte den325-Millionen-Auftrag ohne Aus-schreibung vergeben. (sta)

    Korruptionsregisterist elektronisch abrufbar

    HAMBURG. Die Hamburger Fi-nanzbehörde hat am 5. April dasRegister zum Schutz fairen Wett-bewerbs zum elektronischen Ab-ruf zur Verfügung gestellt. Vor derEntscheidung über die Vergabesind alle öffentlichen Auftraggeberverpflichtet, zu prüfen, ob es überdie künftigen Auftragnehmer be-lastende Eintragungen gibt. (sta)

    AusschlussgebrauchterSoftware hinfälligMÜNSTER. Öffentliche Auftrag-geber dürfen bei AusschreibungenAnbieter gebrauchter Lizenzennicht diskriminieren. Dies ent-schied die Vergabekammer (VK)Westfalen in einem Verfahren ge-gen den Kreis Steinfurt, gegen densich ein Händler gebrauchter Soft-ware gewehrt hatte. Der Kreis hat-te den Kauf von 1500 Microsoft-Office-Lizenzen ausgeschrieben.Obwohl gebrauchte Lizenzengünstiger sind als neue, waren sieausdrücklich ausgeschlossen.

    „Gebrauchte Software mit einergebrauchten Lizenz ist von derNeufassung nicht zu unterschei-den“, heißt es in der Begründungder VK. Der Europäische Gerichts-hof und der Bundesgerichtshofhätten klargestellt, dass der Han-del mit gebrauchter Softwarerechtlich nicht zu beanstandensei. Klauseln in Verträgen, die denWeiterverkauf der Software ver-bieten, seien unwirksam. (raab)

    Schritte der Modernisierung des Vergaberechts

    Die größte Reform des EU-Vergaberechtsseit 2004 in Deutschland Gestalt:� 18.11.2014: Eckpunktepapier des

    Bundesministeriums für Wirtschaftund Energie (BMWI)

    � 30.4.2015: Referentenentwurf

    � 6.7.2015: erster Gesetzentwurf derBundesregierung

    � 20.1.2016: Verabschiedung durchBundeskabinett

    � 18.3. 2016: Zustimmung Bundesrat� 18. 4. 2016: Inkrafttreten