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  • ÖPNV-Auftraggeber müssen genau prüfen,ob Notvergaben zulässig sindBedingung ist die Dienstleistungskonzession des Auftragnehmers

    DÜSSELDORF. Das Oberlandesge-richt (OLG) Düsseldorf hat ent-schieden, wie die Verordnung fürdie Vergabe von Personenverkehrs-dienstleistungen angewendet wirdund Dienstleistungskonzessionenvom Dienstleistungsauftrag abge-grenzt (OLG Düsseldorf, VII Verga-be 34/15 vom 23. Dezember 2015).Die Richter urteilten, dass ein Ver-trag über Busverkehrsdienste nichtohne Ausschreibung abgeschlossenwerden darf, wenn ein öffentlicherDienstleistungsauftrag vorliegt.

    Überwiegender Teil deswirtschaftlichen Risikos wichtig

    Es gibt zwar ein Sondervergabe-recht laut dieser Verordnung. Es giltaber nur, wenn der ÖPNV-Unter-nehmer eine Dienstleistungskon-zession besitzt. Und dies ist ledig-lich dann der Fall, wenn er den

    überwiegenden Teil des wirtschaft-lichen Risikos übernimmt. Er mussden „Unwägbarkeiten des Mark-tes“ ausgesetzt sein, wie das OLGDüsseldorf formuliert.

    Die beiden im entschiedenenFall betroffenen Unternehmer hat-

    ten eine „Notvergabe“ geltend ge-macht. Somit sei laut Verordnungfür die Vergabe von Personenver-kehrsdienstleistungen eine direkteBeauftragung ohne Ausschreibungmöglich. Die Voraussetzungen füreine „Notvergabe“ waren nach

    OLG-Ansicht aber nicht gegeben.Denn weder wurde ein interner Be-treiber beauftragt, noch handelte essich um einen kleinen Auftrag oderum eine Notmaßnahme, etwawenn die Gefahr der Unterbre-chung des Verkehrs besteht.

    Urteilsbewertungfür die Vergabepraxis

    „ÖPNV-Aufgabenträger sollten beivertraglichen ‚Notvergaben‘ genauprüfen, ob die Voraussetzungen ei-ner Dienstleistungskonzession tat-sächlich gegeben sind“, urteilt Hol-ger Schröder, Rechtsanwalt beiRödl & Partner aus Regensburg, inseiner Bewertung für die Praxis. Siemüssten vor allem darauf achten,dass zumindest das überwiegendewirtschaftliche Nutzungs- und Ver-wertungsrisiko beim Verkehrs-dienstleister verbleibe. (raab)

    Busverkehrsbetreiber müssen einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag und denVertrag über ihre Dienste nach einer Ausschreibung erhalten haben. FOTO: DPA

    36 Ausschreibung & Vergabe Staatsanzeiger · Freitag, 15. April 2016 · Nr. 14

    Verwirklicht nicht die EinheitlicheEuropäische Eigenerklärung eineErleichterung?

    Hübner: Das ist die Monstranz, diedie Kommission als große Bieter-erleichterung vor sich hergetra-gen hat. Sie soll Bietern in denverkürzten Angebotsfristen dieMöglichkeit geben, sich auf dieAngebotskalkulation zu konzen-trieren. Wir reden über im Regel-fall zehn Tage weniger, in Zeiten,in denen es schon bisher nichtleicht war, ein Angebot in 45 Ta-gen zu erstellen. Man sagt, dieNachweise für Eure Bietereig-nung, die müsst Ihr im erstenSchritt nur formularmäßig be-haupten, also nur ankreuzen.Erst mal muss man sich aber andieses 13-seitige fürchterlicheFormular mit vier Seiten Anlei-tung, wie man das auszufüllenhat, gewöhnen. Es ist gut ge-meint und wird nach einer Ge-wöhnungsphase zu einer Stan-dardisierung führen.

    Das Gespräch führteUlrike Raab-Nicolai

    sie nicht diesen ganzen Aufwandhaben, sofort ein komplettes An-gebot zu erstellen.Hübner: Das halte ich auch eher fürein zweischneidiges Schwert.Denn wir haben neuerdings Rege-lungen, die für den Regelfall denNachweis der finanziellen Leis-tungsfähigkeit auf das Doppeltedes geschätzten Auftragswerts be-schränken. Aber auch da gibt esden berühmten Satz zwei. Ausnah-men sind natürlich zulässig, wennein Auftraggeber es im konkretenAusschreibungsfall für angemes-sen hält, mehr zu fordern. Auf alleFälle sind die Regelungen wortrei-cher geworden und besser ver-ständlich geworden, von dahermuss man eine Lanze brechen fürdas neue Vergaberecht. Aber manhätte auch denjenigen, die nicht sogerne lesen, entgegenkommenmüssen.

    Deutschland durch die losweiseVergabe schon immer der Vorrei-ter. Wir haben in Baden-Württem-berg schon länger in unserer Ver-waltungsvorschrift Beschaffung18 Möglichkeiten für die mittel-standsfreundliche Vergabe aufge-zeigt. Wir hoffen, dass das in derPraxis umgesetzt wird. Und ichglaube auch, dass das viele tun.Das neue EU-Vergaberecht bringtda nicht viel Neues.

    Also keine Erleichterung?Rosenauer: Erleichtert wird derNachweis der wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit. Künftig wird esdafür eine Höchstgrenze geben.Die EU erhofft sich auch von derWahlmöglichkeit zwischen offe-nem und nicht-offenem Verfah-ren, die gleichgestellt werden, dasssich kleine und mittlere Unterneh-men mehr beteiligen werden. Weil

    wem die Vereinfachung, Flexibili-sierung und Modernisierung zu-gute kommt. Sie stellt auf ihrerHomepage zehn Punkte dar, dieneu, gut und fortschrittlich seinsollen. Für Bieter ist da genau einPunkt von Interesse. Alles andereist aus Sicht der Auftraggeberseite.

    Sind die Vergabestellen vorbereitet?Rosenauer: Wir warten noch auf dieVergabeverordnung, die ja derHauptanwendungsbereich seinwird. Wir müssen noch die neuenFormulare erstellen, das wird einpaar Wochen dauern, bis alles wie-der rund laufen wird. Auf der ande-ren Seite dürfte das aber keine sogroßen Auswirkungen haben, weildas neue Vergaberecht ja nur fürdie Oberschwelle gilt. Die deutli-che Mehrheit der Aufträge, etwa 87Prozent, sind in der Unterschwel-le. Und da wird sich vorerst nichtsändern.

    Für das Massengeschäft im Unter-schwellenbereich gelten weiter an-dere Regeln. Wie beurteilen Sie dieseDiskrepanz?

    Rosenauer: Es war einfach nicht an-ders zu machen. Wir haben das inunseren Bund-Länder-Arbeits-gruppen immer wieder angespro-chen. Der Bund hätte es einfachnicht geschafft, gleichzeitig auchdas Unterschwellenrecht zu refor-mieren. Wir hoffen, dass wir nochin diesem Jahr einen entsprechen-den Vorschlag haben.Hübner: Die Bieter schauen tradi-tionell mit großer Sorge darauf.Wir zählen auf den Tag, an dem derEuGH feststellt, dass das europäi-sche Primärrecht auch in Bieter-rechtsschutz umgesetzt werdenmuss. Das hat sich die EU-Kom-mission auf die Agenda gesetzt.

    Ein weiteres Ziel ist es, die Beteiligungvon kleinen und mittleren Unterneh-men zu erleichtern. Wird es gelingen?

    Rosenauer: Aus unserer Sicht war

    Die Umsetzung der EU-Vergabe-richtlinien in deutsches Recht wirdam 18. April rechtskräftig. Dies istAnlass für eine kritische Einordnungzweier Experten.

    Staatsanzeiger: Eines der Ziele derVergaberechtsreform ist die Vereinfa-chung. Wird es angesichts etwa vonkomplett neuen Formularen und Pa-ragrafen sowie der gestiegenen Kom-plexität verfehlt?

    Andrea Rosenauer: In der Tat könntesich dieser Eindruck aufdrängen,weil das Gesetzesmaterial sehrumfangreich ist. Auf der anderenSeite hatten wir drei sehr umfang-reiche und detaillierte EU-Richtli-nien. Das Ergebnis ist ein guterKompromiss zwischen allen Inte-ressen und dem, was wir umsetzenmussten. Wir haben auch die be-rühmte Kaskade teilweise aufge-hoben, das heißt, es gibt außer fürden Baubereich nur noch eineZweistufigkeit. Der Anwendermuss nicht mehr so viel suchen,welche Vorschrift einschlägig ist.Aber es wird eine Zeit brauchen,bis man sich daran gewöhnt hat.Alexander Hübner: Also, ein bisschenbrauchen, bis man sich dran ge-wöhnt, davon würde ich bei 900Seiten deutschem und EU-Geset-zestext nicht sprechen (lacht). Icherlebe es bei der Schulung von Be-teiligten am Vergabeverfahren inden letzten Monaten, dass mansich doch mit dieser Menge anNormen sehr schwertut. Sie sindteilweise völlig neu gestaltet oderin eine neue Systematik gebrachtworden. Der Effekt ist erschla-gend. Gerade für Bieter, die nichttäglich mit öffentlichen Aufträgenzu tun haben, weil sie auch in pri-vaten Märkten unterwegs sind.

    Wird die Bieterseite vernachlässigt?Hübner: Ich habe mir mal ange-schaut, was sich die Kommission2014, als die EU-Richtlinien verab-schiedet wurden, gedacht hat,

    Streitgespräch:Vergaberechtsreform

    Andrea Rosenauer,Leiterin des Referats Justitiariat,Kartell- und Vergaberecht imMinisterium für Finanzen undWirtschaft Baden-Württemberg

    „Es wird eine Zeit brauchen, bisman sich daran gewöhnt hat“

    Alexander Hübner,Rechtsanwalt und Partner beiHaver & Mailänder Rechtsanwälte,Stuttgart

    Von der EU kam der Anstoß: Die neuen Vergaberichtlinien sind in deutsches Recht umgesetzt und gelten ab 18. April. FOTO: DPA

    MEHR ZUM THEMAEine Langfassung des Interviews lesenSie ab 16. April unter:www.staatsanzeiger.de

    Lexikon

    „G“ wie Gemeinschaftsrecht:Von der EU geprägt

    Das Gemeinschaftsrecht, womitdie Rechtsordnung der EU be-zeichnet wird, bestimmt das deut-sche Vergaberecht. Der Vertragüber die Arbeitsweise der Europäi-schen Union garantiert die Dienst-leistungsfreiheit, die Niederlas-sungsfreiheit, die Arbeitnehmer-freizügigkeit und das allgemeineDiskriminierungsverbot. Zu dengemeinschaftsrechtlichen Grund-sätzen zählen überdies der Grund-satz der Gleichbehandlung, derTransparenz und des Wettbe-werbs. Diese spielen eine zentraleRolle im Vergaberecht, denn aufihnen beruhen die unmittelbaranwendbaren EU-Verordnungensowie die Vergaberichtlinien,diein deutsches Recht umgesetztworden sind. (raab)

    Kurz notiert

    Drei Projektpartnerfür Offshore-Ausschreibung

    KARLSRUHE. Die EnBW EnergieBaden-Württemberg, Siemens Fi-nancial Services und DEME Con-cessions Wind kooperieren imAusschreibungsverfahren für dendänischen OffshorewindparkKriegers Flak. Ein entsprechenderVertrag wurde in der vergangenenWoche unterzeichnet. Mit Krie-gers Flak schreibt Dänemark dieGenehmigung für einen Windparkin einer Größenordnung von über590 Megawatt aus. (sta)

    SBB plant Offensivein Deutschland

    KONSTANZ. Die SchweizerischenBundesbahnen (SBB) Deutsch-land mit Sitz in Konstanz möchtenihr Netz im Grenzland ausbauen.Bis zu 125 elektrisch angetriebeneSchienenfahrzeuge sollen laut ei-ner EU-weiten Ausschreibung fürdas deutsche Streckennetz gekauftwerden. Die strategische Zielset-zung sei es laut SBB, Bahnlinien imGrenzgürtel von Deutschland undder Schweiz zu betreiben. Die SBBDeutschland wirtschafte mit einerdeutschen Kostenstruktur. (sta)

    Busverkehrsgesellschaftverliert Auftrag

    SEELOW. Die Busverkehrsgesell-schaft Märkisch-Oderland (BMO)hat einen 60-Millionen-Euro-Auf-trag für Busdienstleistungen ver-loren. Sie wurde wegen Nichtein-haltung mehrerer absoluter undbedingter Ausschlusskriterienvom Vergabeverfahren ausge-schlossen. Ein wichtiges Kriteriumwar, dass der Zuschussbetrag ge-genüber der Basiskalkulationüberschritten war. Bei einem Bie-terwechsel muss der neue Leis-tungserbringer alle Mitarbeiter zuden bestehenden Konditionenübernehmen. (sta)

    Kritik an Vergabepraxisder Schweiz

    BERN. Die Finanzdelegation desSchweizer Parlaments kritisiert inihrem Jahresbericht das Projekt-management beim Bund. Es gehtum die Erneuerung eines Funksys-tems, mit dem Polizei, Feuerwehrund Teile der Armee verschlüsseltkommunizieren. Das Verteidi-gungsdepartement hatte den325-Millionen-Auftrag ohne Aus-schreibung vergeben. (sta)

    Korruptionsregisterist elektronisch abrufbar

    HAMBURG. Die Hamburger Fi-nanzbehörde hat am 5. April dasRegister zum Schutz fairen Wett-bewerbs zum elektronischen Ab-ruf zur Verfügung gestellt. Vor derEntscheidung über die Vergabesind alle öffentlichen Auftraggeberverpflichtet, zu prüfen, ob es überdie künftigen Auftragnehmer be-lastende Eintragungen gibt. (sta)

    AusschlussgebrauchterSoftware hinfälligMÜNSTER. Öffentliche Auftrag-geber dürfen bei AusschreibungenAnbieter gebrauchter Lizenzennicht diskriminieren. Dies ent-schied die Vergabekammer (VK)Westfalen in einem Verfahren ge-gen den Kreis Steinfurt, gegen densich ein Händler gebrauchter Soft-ware gewehrt hatte. Der Kreis hat-te den Kauf von 1500 Microsoft-Office-Lizenzen ausgeschrieben.Obwohl gebrauchte Lizenzengünstiger sind als neue, waren sieausdrücklich ausgeschlossen.

    „Gebrauchte Software mit einergebrauchten Lizenz ist von derNeufassung nicht zu unterschei-den“, heißt es in der Begründungder VK. Der Europäische Gerichts-hof und der Bundesgerichtshofhätten klargestellt, dass der Han-del mit gebrauchter Softwarerechtlich nicht zu beanstandensei. Klauseln in Verträgen, die denWeiterverkauf der Software ver-bieten, seien unwirksam. (raab)

    Schritte der Modernisierung des Vergaberechts

    Die größte Reform des EU-Vergaberechtsseit 2004 in Deutschland Gestalt:� 18.11.2014: Eckpunktepapier des

    Bundesministeriums für Wirtschaftund Energie (BMWI)

    � 30.4.2015: Referentenentwurf

    � 6.7.2015: erster Gesetzentwurf derBundesregierung

    � 20.1.2016: Verabschiedung durchBundeskabinett

    � 18.3. 2016: Zustimmung Bundesrat� 18. 4. 2016: Inkrafttreten


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