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Historia Zeitschrift für Alte Geschichte Revue d’Histoire Ancienne Journal of Ancient History Rivista di Storia Antica Historia Band 62 • Heft 2 • 2013© Franz Steiner Verlag, Stuttgart DIE VERFASSUNGSDEBATTEN BEI HERODOT (3,80–82) UND IM SAMUELBUCH DES ALTEN TESTAMENTS (1SAM 8) ABSTRACT: The Constitutional Debate in Hdt. 3,80–82 is commonly considered to be the earliest theoretical treatment of the problem of the best form of government. Another example for this kind of reasoning can be found in the Hebrew Bible, in 1Samuel 8. This passage is part of the so-called Deuteronomistic History, which was composed in Persian period Judah in the middle of the fth century. In both texts the form of government becomes a matter of deliberate decision, and both texts favour some sort of democracy. Thus, 1Sam 8 and Hdt. 3,80–82 can equally be acclaimed as the rst constitutional debates. I. Einleitung und Anknüpfung Die Verfassungsdebatte bei Herodot (3,80–82) hat seit jeher Historiker und Politikwis- senschaftler zur Auseinandersetzung angeregt. Im Folgenden soll dieses Thema aus der Sicht der Exegese des Alten Testaments angegangen werden. Die Möglichkeit, Texte des Alten Testaments mit der herodoteischen Verfassungsdebatte in Verbindung zu brin- gen, hat Fritz Gschnitzer in seinem Heidelberger Akademievortrag im Jahr 1976 in die Diskussion eingebracht. Bei der Erörterung der Frage, „ob eine Diskussion allgemeiner Verfassungsfragen im Orient, und speziell bei den Persern, überhaupt denkbar ist,“ nennt er als Beispiele aus dem AT das Richterbuch (Ri 9,7–15), das erste Samuelbuch (1Sam 8,11–18) und das 5. Buch Mose (Dtn 17,14–20). 1 Jochen Bleicken hat wenig später in ei- nem hervorragenden Beitrag die athenische Abkunft der politiktheoretischen Grundlagen der herodoteischen Verfassungsdebatte aufgezeigt. 2 Gschnitzers komplizierte Theorie, die vorliegende, athenisch geprägte Verfassungsdebatte habe eine ursprüngliche persische ersetzt, weist er mit Gründen zurück, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. Im Blick auf Gschnitzers Hinweis auf Parallelen aus dem Alten Testament übt er gleichwohl Zurückhaltung, Bleicken spricht von „alttestamentlichen Belegen, die 1 Fritz Gschnitzer: Die sieben Perser und das Königtum des Dareios. Ein Beitrag zur Achaimenidenge- schichte und zur Herodotanalyse. Vorgetragen am 19. Juni 1976 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1977, 3. Abhandlung), Heidelberg 1977, 35–36. 2 Jochen Bleicken: Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), Historia 28 (1979), 148–172. Urheberrechtlich geschtztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

Historia - steiner- · PDF fileDie Verfassungsdebatten bei Herodot und im Samuelbuch des Alten Testaments 131 „an allen wichtigen Punkten des Geschichtsverlaufs die führend handelnden

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  • HistoriaZeitschrift fr Alte GeschichteRevue dHistoire AncienneJournal of Ancient HistoryRivista di Storia Antica

    Historia Band 62 Heft 2 2013 Franz Steiner Verlag, Stuttgart

    DIE VERFASSUNGSDEBATTEN BEI HERODOT (3,8082) UND IM SAMUELBUCH DES ALTEN TESTAMENTS (1SAM 8)

    ABSTRACT: The Constitutional Debate in Hdt. 3,8082 is commonly considered to be the earliest theoretical treatment of the problem of the best form of government. Another example for this kind of reasoning can be found in the Hebrew Bible, in 1Samuel 8. This passage is part of the so-called Deuteronomistic History, which was composed in Persian period Judah in the middle of the fi fth century. In both texts the form of government becomes a matter of deliberate decision, and both texts favour some sort of democracy. Thus, 1Sam 8 and Hdt. 3,8082 can equally be acclaimed as the fi rst constitutional debates.

    I. Einleitung und Anknpfung

    Die Verfassungsdebatte bei Herodot (3,8082) hat seit jeher Historiker und Politikwis-senschaftler zur Auseinandersetzung angeregt. Im Folgenden soll dieses Thema aus der Sicht der Exegese des Alten Testaments angegangen werden. Die Mglichkeit, Texte des Alten Testaments mit der herodoteischen Verfassungsdebatte in Verbindung zu brin-gen, hat Fritz Gschnitzer in seinem Heidelberger Akademievortrag im Jahr 1976 in die Diskussion eingebracht. Bei der Errterung der Frage, ob eine Diskussion allgemeiner Verfassungsfragen im Orient, und speziell bei den Persern, berhaupt denkbar ist, nennt er als Beispiele aus dem AT das Richterbuch (Ri 9,715), das erste Samuelbuch (1Sam 8,1118) und das 5. Buch Mose (Dtn 17,1420).1 Jochen Bleicken hat wenig spter in ei-nem hervorragenden Beitrag die athenische Abkunft der politiktheoretischen Grundlagen der herodoteischen Verfassungsdebatte aufgezeigt.2 Gschnitzers komplizierte Theorie, die vorliegende, athenisch geprgte Verfassungsdebatte habe eine ursprngliche persische ersetzt, weist er mit Grnden zurck, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. Im Blick auf Gschnitzers Hinweis auf Parallelen aus dem Alten Testament bt er gleichwohl Zurckhaltung, Bleicken spricht von alttestamentlichen Belegen, die

    1 Fritz Gschnitzer: Die sieben Perser und das Knigtum des Dareios. Ein Beitrag zur Achaimenidenge-schichte und zur Herodotanalyse. Vorgetragen am 19. Juni 1976 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1977, 3. Abhandlung), Heidelberg 1977, 3536.

    2 Jochen Bleicken: Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), Historia 28 (1979), 148172.

    Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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    ich auf sich beruhen lassen will3. Da dieses Thema m.W. seither niemand mehr aufge-griffen hat, soll zumindest einer der von Gschnitzer genannten Belege aus dem Alten Testament, 1Sam 8, seiner Ruhe entrissen, einer genaueren Untersuchung unterzogen und auf seine Beziehung zur herodoteischen Verfassungsdebatte hin berprft werden.

    Bevor wir in einen Durchgang durch den fraglichen Text eintreten, sind einige einleitungskundliche Vorbemerkungen erforderlich. Das Samuelbuch beschreibt die Einsetzung und die Wirksamkeit der beiden ersten Knige in Israel, des Benjaminiten Saul und des Juders David. Beide werden von einer der groen Gestalten des Alten Testaments, Samuel, in ihr Amt eingefhrt.4 Dieser Samuel gilt in einigen Passagen als Seher und Gottesmann, in anderen als Prophet und in wiederum anderen als Richter. Diese drei Rollen entsprechen der Literargeschichte des Samuelbuches, denn dieses ist wie die meisten Bcher des Alten Testaments nicht von einem Autor verfasst worden, sondern in mehreren Schben. Im Falle der uns interessierenden Passagen des ersten Samuelbuches handelt es sich um drei Schichten.5 In der ersten agiert Samuel als Seher und Gottesmann, der Saul zum ersten Knig designiert (1Sam 9,110,16; 1Sam 11; 1Sam 1314), in der zweiten agiert Samuel als Prophet, der Saul verwirft und David an dessen Stelle salbt (1Sam 15,116,13). In der dritten und jngsten Schicht agiert Samuel als Richter, der in seinem Handeln in ganz grundstzlicher Weise die Frage der Herrschaftsform in Israel aufwirft (1Sam 78; 1Sam 10,1727; 1Sam 12). Diese jngste Schicht des Samuelbuches ist die, die uns hier interessiert. Diese Texte und einige weitere stehen in einer ausgeprgten konzeptionellen Verbindung zum fnften Buch Mose, dem Buch Deuteronomium (Dtn). Die weiteren Texte erstrecken sich ber das Josuabuch (Jos 23), das Richterbuch (Ri 2), das Samuelbuch (neben 1Sam 78 noch 1Sam 10,1727 und 1Sam 12) und das Knigebuch (1Kn 8; 2Kn 17; 2Kn 22,323,3). Die genannten Texte greifen in markanter Weise Gedanken und Konzeptionen auf, die im Buch Deuteronomium vorgestellt werden, und daher spricht die alttestamentliche Wissenschaft vom Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG).6 Martin Noth hat dies so auf den Punkt gebracht, dass der Verfasser des DtrG

    3 Bleicken: Verfassungstypologie, 152, hnlich Franz Hampl: Geschichte als kritische Wissenschaft, Bd. 3: Probleme der rmischen Geschichte und antiken Historiographie sowie ein grundstzlicher Rckblick, hrsg. von Ingomar Weiler, Darmstadt 1979, 167220, darin 255, Anm. 61.

    4 Dazu jetzt ausfhrlich Rainer Kessler: Samuel: Priester und Richter, Knigsmacher und Prophet (Biblische Gestalten 18), Leipzig 2007.

    5 Wolfgang Oswald: Staatstheorie im Alten Israel. Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbchern des Alten Testaments, Stuttgart 2009, 5758.

    6 Diese Hypothese wurde erstmals in Martin Noth: berlieferungsgeschichtliche Studien. Die sam-melnden und bearbeiten den Geschichtswerke im Alten Testament, Tbingen 31967 (11943) vorge-stellt. Die meisten von Noths Grundannahmen knnen trotz mancherlei Modifi kationen nach wie vor als Konsens gelten, vgl. etwa Jan Christian Gertz (Hg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einfhrung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments (utb 2745), Gttingen 42010 (12006), 7.6.

    Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

  • Die Verfassungsdebatten bei Herodot und im Samuelbuch des Alten Testaments 131

    an allen wichtigen Punkten des Geschichtsverlaufs die fhrend handelnden Per-sonen mit einer krzeren oder lngeren Rede auftreten lt, die rckblickend und vorwrts schauend den Gang der Dinge zu deuten versucht 7

    Die genannten Texte einschlielich des sogleich auszulegenden sind zwar Erzhltexte, sie sind dennoch dem fortlaufenden Gang der Ereignisse gleichsam enthoben, weil sie durch die Art ihrer Gestaltung zu erkennen geben, dass hier eine theoretische Refl exi-onshaltung eingenommen wird. Dies gilt auch und insbesondere fr 1Sam 8, und deshalb bezeichne ich diesen Text in Anlehnung an die fr Herodot gebrauchte Begriffl ichkeit als deuteronomistische (dtr) Verfassungsdebatte.8 Die Angemessenheit dieses Sprach-gebrauchs soll im Folgenden im Gesprch mit Bleickens Auslegung der herodoteischen Verfassungsdebatte aufgezeigt werden.

    Die Verfassungsdebatte in Herodot 3,8082 scheint auf den ersten Blick auch nur eine weitere Episode in den Vorgngen um die Thronbesteigung Darius I. zu sein. Drei der persischen Adligen, die den Usurpator Gaumata gettet haben, diskutieren, welche Regierungsform nunmehr anzustreben sei: Otanes befrwortet die Demokratie, Mega-byzos die Aristokratie, Darius, der sich letztlich durchsetzen wird, die Monarchie. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass die Verfassungsdebatte mit ihren theoretischen, auf verhltnismig hohem Abstraktionsniveau stehenden Gedanken ein der Erzhlkunst bzw. Erzhltechnik des Herodot durchaus nicht kongeniales Stck9 darstellt. Bleicken ging es darum, den theoretischen Gehalt der herodoteischen Verfassungsdebatte her-auszuarbeiten. Dazu formulierte er im Wesentlichen drei Argumente: 1) Der Abschnitt wurde als ein Stck sui generis nachtrglich in den Textzusammenhang eingefgt, 2) der Abschnitt verwendet Allgemeinbegriffe, er handelt nicht von einer konkreten po-litischen Situation und abstrahiert von historischen Subjekten, 3) er ist im Persien um 520 anachronistisch und deplatziert. Die folgenden berlegungen sollen zeigen, dass diese und einige weitere Argumente Bleickens mutatis mutandis auch fr die dtr Ver-fassungsdebatte in 1Sam 8 gelten.10

    7 Noth: Studien, 5. 8 Versuche, innerhalb von 1Sam 78 verschiedene literarische Schichten oder traditionsgeschichtliche

    Strnge zu unterscheiden, halte ich fr unangemessen. Anders und zugleich methodisch refl ektierend Kessler: Samuel, 73101, insb. Anm. 87. Die Fundamentalkritik an der Staatsform der Monarchie stammt daher nicht aus vor- oder frhstaatlicher Zeit, sondern durchweg aus der Zeit nach dem Untergang der Monarchie.

    9 Bleicken: Verfassungstypologie, 153.10 Der genaue Blick auf die Stellung der herodoteischen Verfassungsdebatte innerhalb der Geschichte

    des politischen Denkens macht Bleickens Aufsatz zum geeigneten Anknpfungspunkt ber die Fachgrenzen hinweg. Auch politologische Analysen Herodots schlieen an Bleickens Aufsatz an, vgl. etwa Wilfried Nippel: Politische Theorien der griechisch-rmischen Antike, in: Hans-Joachim Lieber (Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, 1746, darin 27; Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1: Die Griechen. Von Homer