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Gödel, Wahn und Wahrheit
Arnulf Marzluf
25. Oktober 2019
Die anschauende Kenntnis der andern Welt kann allhier nurerlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstandeeinbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat. (I. Kant)
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Inhaltsverzeichnis
1 Wahn 5
2 Kant 15
3 Mikrogenese 19
4 Aussagen über Aussagen 26
5 Kollektivschema 34
6 Symbiose 38
7 Gödels Selbstnegation 46
8 Wiener Formalismus 58
9 Noch einmal Sokrates 84
10 Rekursion 97
11 Neuschöpfung 104
12 Gift des Unbewussten 111
13 Syntax als Symptom 116
14 Dyade und Paradoxie 124
15 Schicksale des Selbst 130
16 Selbstverzehr 138
17 Im Symbolreich gefangen 149
18 Gesetz und Nahrung 155
19 Archaik des Neuen 164
20 Das Opfer 184
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1 Wahn
Platon berichtet im Phaidros (247c) von einem Ausflug, der Götterund Seelen außerhalb des Himmels führt, um das unberührbare,wahrhaft Seiende, das Wesen zu schauen. Wissen und seine At-traktion hat den Ursprung außerhalb des Umschwungs, und imWahn kann es gelingen, Wissen aus dieser Region zu erfahren, diedurch eine Grenze von Denken und sinnlicher Wahrnehmung ge-trennt ist, denn diese beiden begrenzen jenes Wissen. Der Umlauf(periphora) bildet eine Grenze zweier ontologisch unterschiedli-cher Bereiche. Die Schau nach der Kehre von innen nach außen istvon logisch höherer Ordnung, weil die Beschränkungen der Wahr-nehmungen von Farbe, Gestalt und Stoff, also von Dingen entfal-len, die ein Ergebnis der Reduktion von Vielfalt sind. Das Ein-treten in den Umlauf und die Kehre führen zur Vielheit ”zurück“.Es handelt sich indessen um keinen Rückweg, sondern um einenSprung aus dem Zeitstrom des Umlaufs, der die Schar auf dieRückseite (nóton) führt. Anhand der vorhergehenden Charakter-sierung der Seele (245c) ist anzunehmen, dass auf der Rückseiteeine besondere Art der Bewegung anzunehmen ist, die von selbstagiert, keinen Anfang und kein Ende hat. Die Seele ist Metapherfür diese Selbstbewegung, ohne Anfang und Ende und somit un-sterblich (aùtokı́neton àthánaton). Selbstbewegung ist von höhererlogischer Ordnung als eine Bewegung, die enden kann. Sowohldas ”selbst“ als auch der ”Rücken“ deuten auf eine spezielle Be-ziehung der Sphäre zu sich selbst hin. Der Kosmos ist ein zoon, aufdessen Rücken die Schar verweilt, er bewegt sich selbst, er genügtsich selbst und bezieht sich nur auf sich selbst, wenn er sich (sie-
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he Timaios) gar als Nahrung dient. Die Funktion des Rückens alsTräger tritt in nóto-phóros in Erscheinung, als sich selbst bewe-gender Beweger, wie man den Träger und das Lasttier auch nennenkann. Das zoon ist ein Lebewesen, das durch die Selbstbewegungdefiniert ist, die sich auf die Seele stützt. Der die Seele tragen-de Körper ist zugleich Getragener der Seele, denn die Seele be-wegt den Körper, durch den sie selbst bewegt, d.h. getragen wird.Reiner, d.h. logisch ausgedrückt ist das Verhältnis von Träger undGetragenem in der Seele und ihr inneres Verhältnis von Bewegtemund Bewegendem, wenn gesagt wird, sie würde sich selbst bewe-gen. Die Verteilung von Bewegendem und Bewegtem auf Leib undSeele, Tier und Last oder Mutter und Kind ist in der Autokineseaufgehoben und begrifflich paradox. Die Verteilung ist umgekehrteine Lösung, den Widerspruch zu vermeiden, und bescherte unsdas Leib-Seele-Problem. Die Autokinese geht auf das Wort kinéo
”in Bewegung setzen“ zurück, womit Lebewesen gemeint sind, diesich von selbst bewegen, psyché gehört zum Atmen, ebenfalls eineSelbstbewegung, Zeichen des Lebens wie der Herzschlag. Die At-mung gehört wie die Ernährung zu einem offenen System, das sei-ne Energie von der Umgebung bezieht und gliedert, ein Vorgang,der Sprache ermöglicht. Der kontinuierliche Fluss erlebt Unter-brechungen, die syntaktisch gegliedert werden können. Innen undAußen gehen ein Verhältnis ein, das für Pythagoras arithmetischwar. Die Zahl hat das Kontinuum – die Bewegung – als Hinter-grund oder Umgebung, das Kontinuum wird von der Zahl begrenztoder umgeben.
Die zugrunde liegende Figur scheint nur als Metapher darstell-bar zu sein, syntaktisch ist sie selbstbezüglich und paradox. DieSeele vereint Bewegung und ihren Gegensatz, Ruhe, in einem,wenn die Bewegung ohne Anfang und Ende ist. Sie ist bewegt undbewegungslos zugleich. Die Figur, der die paradoxe Bewegung derSeele nahekommt, hat M.C. Esher mit seinen Treppen (”Treppauf,
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treppab“, 1960) dargestellt, auf denen man unentwegt unterwegssein kann, ohne von der Stelle zu kommen. Der Eintrittspunkt er-scheint als Beginn und Ende der Bewegung zugleich, weil er nurscheibar richtungsorientiert ist.
James Joyce beginnt Finnegans Weg mit ”riverrun“ und betrittirgend eine Stelle des Fließens, das überraschender Weise am En-de am Anfang ankommt, sodass Finnegans Weg vorwärts ebensoein Weg rückwärts ist, und zwar müsste an jeder Stelle des Tex-tes seine Janushaftigkeit nachweisbar sein. Die Kreisform, bei derdas Ende ebenfalls in den Anfang übergeht, sollte vermutlich einenkomplexeren Vorgang symbolisieren, für den die griechische Ma-thematik keine Mittel hatte. Douglas R. Hofstadter hat die Dar-stellung eines endlosen Vorgangs mit den Mitteln der Endlichkeit
”Seltsame Schleife“ genannt, bei der zwischen dem Endlichen undUnendlichen ein Konflikt besteht.1
Der Wahn (maniás), ”der von den Göttern kommt“, ist selbstparadox strukturiert, wofür die Mantik mit ihren ”dunklen“ Aus-sagen – Metaphern – ein Beispiel ist und die Lösung dem Geweis-sagten überlassen, der den Spruch zu interpretieren hat. Metaphernsind von einem höheren logischen Typ als die pragmatische Fragedessen, der für seine Entscheidungen eine Entscheidung sucht, fürdie das Orakel nun die Metapher parat hat. Das Kommunikations-niveau der Metapher entspricht nicht dem der praktischen Frageund reagiert auf die Kommunikation mit dem Gott mit dem Wahn,der wiederum die Kommunikation mit dem Fragesteller bestimmt.Die Metapher eröffnet in ihm selbst einen Interpretationsraum, indem sich dann die Antwort befindet. Anstatt sich ”bewegen“ (tra-gen) zu lassen, wird er von der Metapher angehalten, sich selbstzu bewegen und einen komplexeren Status einzunehmen. Damit ist
1Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher Bach – ein Endloses GeflochtenesBand, 1986, S. 17
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eine Metakommunikation erreicht, in der er sich selbst innen alsAußenwelt erkundet und auf Absichten stößt, deren Realisierungin der Zukunft und deren Entstehung in der Vergangenheit liegen.Die Prophezeihung scheint eine degenerierte Form der Mantik zusein. Die Metapher zwingt zur Selbstreferenz, eine spezielle Formvon Kommunikation. Geht man von der These aus, dass die schi-zophrene Beziehung auf pathologischer Kommunikation beruht,dann kommen alle Formen der Kommunikation in Betracht. ”It re-fers to the transmission of signals, signs, signifiers, and symbols...This may include interorganismic or intraorganismic communica-tion, communication in biological systems, communication bet-ween animals oder between human beings, psychosocial oder so-cioeconomic communication.“2 In all diesen Fällen ist pathologi-sche Kommunikation möglich, der Wahn abhängig von der Um-gebung, die ihn begrenzt oder den er begrenzt durch Negation vonKommunikation.
Wildens ”intraorganistic communication“ geht von der The-se aus, dass das Unbewusste syntaktisch organisiert ist und überSprache erreicht werden kann, wie es in der psychoanalytischenSituation geschieht. Der Kommunikationsbruch würde daran er-kennbar sein, dass das Ich nicht bereit ist, sich Aktionen selbstzuzuschreiben, die objektiv von ihm ausgegangen sind. Ein sol-ches Außersichsein (”Das war nicht ich, wie ich mich kenne“)kennzeichnet eine Art der Liebe, von der Sokrates spricht und sieunter den Begriff der manı́a subsumiert.3 Jason W. Brown ver-gleicht den Rückzug der Gefühlsbesetzung vom Objektbereich inder Schizophrenie mit dem Rückzug des geliebten Objektes in dieImagination und frühere Phasen der Objektbildung. Die Stärke desLiebesgefühls wächst und fließt auf das geliebte Objekt. Der an-
2Anthony Wilden: System and Structure, 1980, S. 1113Phaidros 231d
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dere ist nicht mehr ein Objekt in der Welt, sondern seine volleObjektivation geht in eine Idee oder ein Ideal über. ”True, pas-sionate, or romantic love depends on layers in mind that are un-conscious, pre-logical, and bound up with animistic and meta-phoric thought.“4 Damit ist der Anschluss an die Begeisterung imwörtlichen Sinne gegeben. Da die Objektvorstellung auf einer en-gen Verbindung neuropsychischer Prozesse und Sinneswahrneh-mung beruht, die innen verarbeitet und dann projiziert werden,verändert sich das Gefüge in dem Moment, wenn ein Faktor sichstark verändert, das Anwachsen eines Gefühls mit dem Rückzugnach innen einhergeht. Das heißt, dass Sokrates sich diesem Er-starken des Inneren widmet, dem das Gefühl die Energie zuführt.So wird das ursprüngliche Übergewicht der Außenwelt als gene-relles Handlungsziel überlagert von einem inneren ”Bild“, und dasObjekt steht nun unter doppeltem Vorzeichen und umfasst zweisich auf sich beziehender und ausschließender Systeme, die einerparadoxen Logik gehorchen und als wahnhaft beobachtet werden.Die Gegenwartsbezogenheit der Wahrnehmung wird aufgrund derÜberlagerung durch einen massiv hervordrängenden ”flächigen“Gefühlshintergrund zeitlich unbestimmt.
Auch für eine Gruppe ist es unmöglich, die Selbstbeziehung zutranszendieren, um in ihr auftretende Paradoxa ”von außen“ auf-zulösen, wie es Gödel nachgewiesen hat. ”The relation of ’text’and ’context’ is one of punctuation, for it involves the problemof boundaries... The reason for the term punctuation rather thansyntax, is that syntax is either a strictly linguistic term or else itrefers to the modes and rules of articulation within an given sy-stem (language for instance). Punctuation however, may refer tothe interference of another system with the given system“5 Die
4Brown, Love and Other Emotions, 2012, Pos. 1555Wilden, System, S. 112
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Bestimmung von Text und Kontext ist perspektivisch, beide bil-den eine höhere logische Einheit. Die Vermischung beider Ebenenist in einem pathologischen Kontext eingeübt. ”All double bindsemanating from the others involve a deliberate but usually deniedor repudiated confusion of logical types. When Bateson says thatthe ’schizophrenic’ confuses the metaphor with what is meant, orwhen Freud says that he ’treats word(-presentations) like thing(-presentations)’, or when Lacan says that for the psychotic ’theSymbolic is Real’, they are all talking about LEARNED confu-sions of logical typing in a pathological context.“6 Um der Meta-pher und ihrer Vielschichtigkeit oder Bodenlosigkeit zu entkom-men, nimmt sie der Schizophrene wörtlich.
Die positive Seite des Wahns, die Sokrates gemeint haben mag,liegt also in der Vermischung oder Überlagerung logischer Ebe-nen. Nach Russels Theorie der logischen Typen besteht eine Dis-kontinuität zwischen einer Klasse und seinen Gliedern, die Klassekann nicht ein Glied ihrer selbst sein, noch kann eines der Gliederdie Klasse sein, denn der Terminus für die Klasse ist von andererAbstraktionsebene oder anderem logischen Typ als der Terminus,der für die Glieder der Klasse gebraucht wird. Jedoch wird dieseDiskontinuität in Wirklichkeit, also der Psychologie realer Kom-munikation, ständig und unvermeidlich übergangen – ”it is in facta condition of human creativity“.7
Der ungarische Psychoanalytiker Imre Hermann hat zwischenformalen Denkprozessen von Psychotikern und dem Denkendes Mathematikers János Bolyai Ähnlichkeiten entdeckt. Bolyaigrübelte über das von Euklid überlieferte Parallelenaxiom undschuf eine neue ”absolute Geometrie“. Schizoides Denken könnenicht nur fehlerfrei arbeiten, sondern bringe auch Voraussetzun-
6Wilden, S. 1197Wilden, S. 117
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gen für ein spezifisches formales Denken mit, das in der Mathe-matik benötigt werde. ”Diese zwei Tendenzen, die Forderung derAnschauung und die Abkehr von der sinnlichen Welt, verschmel-zen in dem Hervordrängen der Zeichen. Das Zeichen soll zeitwei-lig bedeutungslos dastehen, womit beide Tendenzen gleichzeitigsiegreich das Feld behaupten: es ist etwas anschaulich gegeben,ohne auf ein individuelles Objekt bezogen zu werden.“8 Die An-schaulichkeit wird vom Objekt momentaner Wahrnehmung abge-zogen und dem Bereich der Zeichen zugeschlagen, womit offen-sichtlich eine Rekonstruktionsleistung einhergeht, in der Zeit undRaum der Anschauung aufgehoben und die neuen ”Objekte“ ope-rationalisierbar sind. Für Hermann verrät die formalistische Rich-tung der Mathematik ”eine schizoide Denkart, die aus den folgen-den Besonderheiten zusammengesetzt ist: Loslösung von der An-schauung, Einfügung idealer Gebilde, Rückkehr zur Anschauungauf dem Wege von ’Zeichen’, Bedeutungslosigkeit dieser Zeichenbzw. ihre Deutbarkeit mittels verschiedener Bedeutungen, starkeBetonung der Widerspruchsfreiheit, Kampf gegen das Weltunter-gangserlebnis“.9
Die musikalische Skala dient in besonderem Maße dazu, Maßund Fixierung im Kontinuum, also das Gute (àgathós), wahrzu-nehmen, zumal die hörbare Ordnung des Intervalls mit dem Maß-losen des Glissandos untergründig zusammenhängt. Diese Ord-nung ist für die Pythagoreer primordial, die ihnen zugeschriebe-ne Rede vom Einatmen des Apeiron und einem Vorgang der Be-grenzung des Unbegrenzten eine andere Lesart des ursprünglichenGestaltungsmodus’. Es bietet sich die Leere des Alls an, diesenAkt der Gliederung mit den auf Bahnen wandernden Punkten am
8Imre Hermann: Das schöpferische und das schizoid-fehlerfreie Denken,erläutert an Johann Bolyais mathematischen Abhandlungen; in: Psyche, Bd.XII, 1958/59, S. 714
9Hermann, Bolyai, S. 713
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Himmel in Verbindung zu bringen und den Planeten Töne zuzu-schreiben. Der Atem ist bereits die Gliederung des Unendlichen,Kontinuierlichen, nämlich Luft in rhythmischer, gegensätzlich be-wegter Art. Der Anthropomorphismus dieser Vorstellung legt ei-ne grundsätzliche Projektionsbereitschaft des Denkens nahe, dieder vorkritische Kant in die Nähe des Wahns rückt, auch wennkeine Schimären projiziert werden, sondern rationale Zahlen-verhältnisse. ”Was Kant der ’Pythagoreischen Mystik der Zah-len’... also vorhält, das ist – formal gesprochen – die Verwechs-lung der ’Dinge für uns’ mit den ’Dingen an sich’; jene Amphi-bolie also, die Pythagoras dazu verleitet, die unserer Vernunft ei-gene Kategorie der Zählbarkeit den gezählten Gegenständen zu-zuschreiben... So besteht der Skandal an Pythagoras’ mundus nu-merus darin, daß hier eine der bedeutendsten Entdeckungen derRatio Anlaß zu jener irrationalen Spekulation gab, dem Sein eineArt mathematische Magie unterzuschieben, um sich so die Welt –und in deren Folge auch: Moral, Ethos und Politik – als von ma-thematischen Geistern beherrscht vorzustellen.“10
Die geometrischen Formen begrenzen Kontinua, im Falle despythagoreischen Dreiecks kann man ihre Proportionen in Zahlenausdrücken – Zahl und begrenztes Kontinuum, Gedachtes und An-geschautes sind zwei Seinsweisen der Vielheit. ”Der Gegensatzzum Guten und Richtigen aber erscheint in allen späteren Dia-logen als ein unbestimmtes Schwanken nach zwei Richtungen,zum ’Großen und Kleinen’, ’Mehr und Weniger’, ’Stärkeren undSchwächeren’“, das Gute bedeutet Maß und Fixierung in diesemKontinuum. Der Gegensatz zu den Elementen ist das Kontinuum,eine gedachte Bewegung zwischen zwei Gegensätzen, die die erste
10Constantin Rauer: Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit demIrrationalen, Berlin 2007, S. 282
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Grenze bilden. Die Grenze stellt nur die Projektion des Gegensat-zes auf das Kontinuum dar, das sie damit unterbricht. 11
Sokrates lobt den Wahn im Phaidros als Quelle der Weisheit unddes Weissagens, aus der auch die Musen schöpfen und die Dich-tung beflügeln. Die Zuschreibung des Ausfluges der Götterscharzum Wahn lässt eine ontogenetische Deutung zu, nämlich alsRückweg des Denkens und Auflösung der Besonderung im Man-nifaltigen hin zu einer Einheit von Möglichkeiten der Besonde-rung, hin zu Ebenen, auf denen die Identitätsbindung des Bewusst-seins und die damit verbundenen Regeln noch nicht in vollem Um-fang gelten, dafür aber welche freigelegt werden, die auf einer on-togenetisch früheren Stufe vorherrschend waren. Die Entfernungvon der Besonderung erweitert den Möglichkeitsraum, damit aberauch die begriffliche Erweiterung auf einer Stufenleiter der Ein-
11Man kann die wechselseitige Bestimmung von Kontinuum undBegrenzendem-Begrenztem, also Diskretem bereits in Schöpfungsmythenangelegt finden, in denen das Gestaltlose symboliserende Figuren geteiltoder zerstückelt werden. Die Abfolge des Aktes täuscht eine Ursache-Wirkungskette vor, doch kann diese erst nach dem Akt vorliegen, weil zuvorkeine Momente in einer wie auch immer gearteten Ordnung vorhandensind. Die Crux liegt in der paradoxen Einheit von analogem Kontinuumund diskret Digitalem, die sich als Konstante des Denkens vom Mythos biszum physikalischen Welle-Teilchen-Dualismus zieht. Um dieses Paradoxzu verlassen, bildet Platon eine Proportion, einen desmos, der die vier Teiledurchdringt (Tim. 32 a-c), die den gegensätzlichen Elementen Feuer undWasser und Erde und Luft entsprechen. Die Proportion der vier Teile ergibtein zoon, den Kosmos, der sich auf sich bezieht und selbst genügt. Andieser Stelle, wo die Schaffung der Weltseele beschrieben wird, findet einseltsames Spiel mit der Zeit statt. Der Gott gestaltet die ältere Seele ausBestandteilen des Selben und des Verschiedenen und weiterer Teilungen,um dann das Ganze in die Mitte des kugelförmigen Kosmos zu setzen.Die nun beschriebenen Proportionen ergeben eine musikalische Skalaals Metapher von Kontinuum und Diskretem, Analogem und Digitalem,Semantik (Bedeutung) und Syntax.
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heitsbildung. Platon ”gebrauchte seine intellektuellen Anschauun-gen nur rückwärts, zum Erklären der Möglichkeit eines syntheti-schen Erkenntnisses a priori, nicht vorwärts, um es durch jene imgöttlichen Verstande lesbare Ideen zu erweitern...“12 Die Kritik ander Ontologie geht generell davon aus, dass die Erzeugung derMannigfaltigkeit aus einem Ersten ein Pseudos ist, weil zunächstvon allen Unterschieden abstrahiert worden ist, um sie dann wie-der vom Ersten aus zu entwickeln. Die Leistung der Abstrakti-on beruht auf Vergleichen und Gruppen- oder Kategorienbildung,für die die Gliederung des Objektbereiches im Wahrnehmungs-prozess Vorbild ist. Ein Einzelding ist unmöglich, es existiert nurin Relationen. Die Abstraktion eliminiert die Unterschiede, legtumfangreichere Komplexe offen, die den Einzelerscheinungen alsGrundlage dienen, ein Vorgang, für den eine divinatorische Kraftverantwortlich sein sollte.
Allerdings wird die auf diesem Weg gewonnene Einheit durchAntinomien erkauft, die in metaphernreichen, mit Mythen oft an-gereicherten Texten nicht leicht sichtbar werden, weil logischeInkonsistenzen in Mythen gut aufgehoben sind. Auch PlatonsParmenides-Text spielt unentwegt mit Antinomien. Das Lehrge-dicht von Parmenides selbst liest sich wiederum wie eine Reise insReich eines metaphysischen Wissens, dessen Wahrheiten ohne Be-gründung verkündet werden, weil es sich um Offenbarungen han-delt. Diels vergleicht die Fahrt in seinem Parmenides-Kommentarmit Schamanenreisen.
12Rauer, S. 284
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2 Kant
Kant hat die Paranoia als Anregung für die Antinomie ge-nommen. Demnach sind ”Gegenstände der Antinomie (1. Un-endlichkeit/Endlichkeit, 2. Ewigkeit/Befristung, 3. Gottesexi-stenz/keine Gottesexistenz, sowie 4. Freiheit/Notwendigkeit)größenwahnsinniger und verfolgungswahnsinniger, d.h. paranoi-der Natur“.1 Kant entdeckt im kranken Denken Formen, die im ge-sunden als Probleme auftauchen. ”Das Neue der Kantischen Sub-jektphilosophie beruht ja nicht in seiner Bewußtseinsphilosophieals solcher..., sondern darin, daß sich Kant erstmals die Frage nachder Einheit des Bewußtseins gestellt hat. Kant wäre aber auf dieFrage nach der Bewußtseinsidentität nie gekommen, wenn er nichtzuvor mit Swedenborg ein gespaltenes Bewußtsein vor sich gehabthätte!“2 In den Antinomien werden Paradoxa sichtbar, die aus derParanoia abgeleitet sind. Das Verfahren dient dazu, das Rationa-le dadurch zu bestimmen, dass geklärt wird, was Rationalität vonderen Antipoden, Irrationalität, unterscheidet und wie sie funktio-niert, wenn sie funktioniert. Damit wird der Wahn zu einem Hilfs-mittel der Erkenntnis, die Krankheit bietet eine Methode, Funk-tionen des Normalen zu beschreiben. So kommt dem Wahn ei-ne Sonderstellung zu, die darin besteht, dass mit ihm das Subjekteine erweiterte Beziehung zur normalen Welt unterhält und überdiese Erweiterung eine Selbstbeziehung und -beschreibung statt-finden kann. Diese Relation des Subjektes über den Wahn zu sichist bereits mit dem Ausflug der Götterschar im Phaidros angedeu-
1Rauer, S. 962Rauer, S. 72
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tet, allerdings bleibt das platonische Denken für Kant dem Wahnverhaftet und so sei Platon der ”Vater aller Schwärmerei mit derPhilosophie“.
1766 veröffentlichte Kant eine Schrift, die aus der Auseinander-setzung mit dem schwedischen Gelehrten und Mystiker EmanuelSwedenborg enstand: ”Träume eines Geistersehers, erläutert durchTräume der Metaphysik“. Der Titel ironisiert eine vermeintlicheÄhnlichkeit zwischen der Kommunikation mit einer Welt von Gei-stern und dem Reich der Philosophie, und Kant spielt mit einemBegriff, den er auf seine Tauglichkeit prüfen will. ”Ich weiß alsonicht, ob es Geister gebe, ja, was noch mehr ist, ich weiß nichteinmal, was das Wort Geist bedeute. Da ich es indessen oft selbstgebraucht oder andere haben brauchen hören, so muß doch etwasdarunter verstanden werden, es mag nun dieses ein Hirngespinstoder was Wirkliches sein. Um diese versteckte Bedeutung aus-zuwickeln, so halte ich meinen schlecht verstandenen Begriff anallerlei Fälle der Anwendung, und dadurch, daß ich bemerke, aufwelchen er trifft und welchem er zuwider ist, verhoffe ich, des-sen verborgenen Sinn zu entfalten.“3 Kant zufolge scheint es nötigzu sein, die Produktionen des Geistes von den Vorstellungen zuunterscheiden, um Wahres nicht von Phantastereien überwuchernzu lassen, zumal das Denken der Philosophen zuweilen in Gefildereicht, die von Phantastereien nicht zu unterscheiden sind. Sarka-stisch urteilt Kant über den blinden Seher Teiresias, die Kennt-nis der anderen Welt könne wohl nur erlangt werden, ”indemman etwas von dem Verstande einbüßt, welchen man vor die ge-genwärtige nötig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Phi-losophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten,welche so fleißig und vertieft in ihre metaphysischen Gläser nachjenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von da-
3Immanuel Kant: Werke in 12 Bänden, Vorkritische Schriften II, 1960, S. 926
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her zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich keine von ih-ren Entdeckungen...“4 Wenige Zeilen später dient Kant der Traumals Kriterium der Unterscheidung von ”Gedankenwelten“, denn je-der habe im Traum seine eigene Welt, im Wachen eine gemein-schaftliche, und gewisse Philosophen würden ebenfalls eine ge-meinschaftliche Welt bewohnen, wenn sie ausgeträumt hätten.
Für den Unterschied zwischen einer ”Empfindung“ (wie demSchall z.B.) und Phantasien nimmt Kant an, dass jene ”mit derVorstellung eines foci imaginarii begleitet sei, der dahin gesetztwird, wo die geraden Linien des in Bebung befindlichen Nerven-gebäudes im Gehirne äußerlich fortgezogen zusammenstoßen“,5
im Falle der Phantasien jedoch die Richtungslinien der Bewe-gung sich innerhalb der Gehirne schneiden. Schwerer wiegt hin-gegen der Fall der Geisterseher, die ”das Blendwerk ihrer Ein-bildung nach außen versetzen“.6 Der focus imaginarius ist ”au-ßerhalb dem denkenden Subjekt gesetzt, und das Bild, welchesein Werk der bloßem Einbildung ist, wird als Gegenstand vorge-stellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre.“7 Die Annahmelinearer Bewegungen im Nervengewebe, die sich einmal außer-halb und einmal innerhalb des Gehirns schneiden, sind der Op-tik des Brennpunktes entlehnt, in dem sich die Strahlen sammelnund die Einheit der mannigfaltig anzuschauenden Vorstellungengebildet wird. ”Die Verrückung des Nervengewebes kann die Ur-sache werden den focus imaginarius dahin zu versetzen, von woder sinnliche Eindruck eines wirklich vorhandenen körperlichenGegenstande kommen würde.“8 So glaubt der Phantast etwas deut-lich zu sehen, was sonst niemand außer ihm erblickt. Im Grunde
4Schriften II, S. 9515S. 9556S. 9547S. 9578S. 958
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wird die innere Selbstbezüglichkeit, die keine Korrektur von außenermöglicht, nach außen verlegt und so vorgetäuscht, als sei eineAbgleichung mit diesem Außen erfolgt. In der späteren Vernunft-kritik wird der Vernunft ein Hang attestiert, die Grenze möglicherErfahrung zu überschreiten, weil ihr transzentendale Ideen ebensonatürlich seien wie dem Verstande die Kategorien, ”obgleich mitdem Unterschiede, daß, so wie die letzteren zur Wahrheit, d.i. derÜbereinstimmung unsere Begriffe mit dem Objekte führen, die er-steren einen bloßen, aber unwiderstehlichen Schein bewirken...“9
Die transzendentalen Ideen sind jedoch in der Hinsicht unentbehr-lich, weil sie den Verstand zu einem gewissen Ziele richten, ”inAussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in ei-nem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focusimaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchen die Verstandesbegrif-fe nicht wirklich ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzenmöglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größteEinheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“
9Werke IV, Kritik der reinen Vernunft, S. 564
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3 Mikrogenese
Die Zentralperspektive wäre als Metapher zu verstehen, mit derdie Renaissance die Einheit des Vielen und der unterschiedlichenRelationen in einem geometrischen System unterbringen konnte.In der Sehpyramide wirkt das Auge jenseits der rationalen Geo-metrie wie ein Erzeugungspunkt, ein Entfaltungspunkt der Man-nigfaltigkeit, der im Fluchtpunkt gegenüber sein Gegenstück hat.1
Das Bild vertritt die Objektwahrnehmung, die sinnliche Erfahrungwird auf das Bild wie auf ein Übergangsobjekt übertragen undemotionale Momente werden mitprojiziert. Diese Projektion istnicht weit von dem entfernt, was Kant als nach außen verlager-ten focus imaginarius bezeichnet, der einen ”wirklich vorhandenenkörperlichen Gegenstand“ vortäuscht.
Die Projektionsthese hat sich in modifizierter Form erhalten.Die Objektwahrnehmung basiert auf einem durch die Sinnesor-gane gesteuerten inneren Verarbeitungsprozess, dessen Ergebnis-se dem Subjekt als der Außenwelt zugehörig markiert werden.Ein solcher Prozess ist Gegenstand der Theorie der Mikrogene-se,2 die die Möglichkeit bietet, die Akzentuierung früher Stadi-
1Piero della Francesca: ”Die Sehkraft ist nur ein Punkt.“ Der Zentral- undAugenpunkt ist nach Gottfried Boehm (1969) eine Art Kraftpunkt, der sicheine Welt mitsamt der ihr zugehörigen Gegenstände entwerfe. (Lars Blunck:Duchamps Präzisionsoptik, 2008, S. 133)
2Die Theorie der Mikrogenese geht auf den Entwicklungspsychologen HeinzWerner zurück. ”Er verband die Mikrogenese mit einer entwicklungspsy-chologischen Theorie, die auch als Orthogenetisches Prinzip bekannt wur-de. Diesem zufolge ist Entwicklung auf allen Zeitskalen durch eine diffe-renzierende Entfaltung gekennzeichnet, die ihren Ausgang von einem un-
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en der Ontogenese mit einer partiellen Hemmung in den Aufbau-phasen der Phylogenese zu vergleichen, die für die notwendigeWeiterentwicklung des Menschen nach der Geburt verantwortlichist und die äußeren Einflussmöglichkeiten auf das Resultat er-heblich erweitert. Mit den ontogenetischen werden im Rückgriffauch phylogenetisch ältere Stadien aktiv, möglicherweise als Tier-schicht. Die Neotenie markiert also vermutlich ein Trauma, dasder unaufhörlichen Zuwendung bedarf. Da die ontogenetische derphylogenetischen Schicht aufsitzt, wird es eine ”Kommunikati-on“ zwischen beiden geben, sodass die phylogenetische Bruch-stelle mit einer auf der ontogenetischen Ebene verschlungen ist,die in der mikrogenetischen Endgestalt – der Objektwahrnehmung– als dessen Erweiterung und als Wahn erscheint, der die Kon-sistenz der Realitätserfahrung unterbricht. Die Integration einerfrühen unbewussten Phase in jede Form von bewusst geworde-ner Endgestalt des mikrogenetischen Prozesses der Wahrnehmungstört das Bewusstsein als Funktionseinheit von Aktion und Sin-
differenzierten, wenig strukturierten Zustand nimmt hin zu einer Differen-zierung und Artikulierung komplexerer, integrierter und hierarchisch struk-turierter Zustände. Zentral ist die Annahme, dass der Entfaltungsprozessjedes mentalen Ereignisses, von der Wahrnehmung bis zum Denken, dieeinzelnen Stadien der Gehirnevolution und der Ontogenese (der Lernspu-ren) durchläuft. Die mikrogenetische Theorie versteht demnach jede Artmenschlicher Aktivität, sei es Wahrnehmung, Denken, Handeln etc., alsEntfaltungsprozess. Dieser basiert auf Abfolgen von Entwicklungsschrit-ten. Der Entfaltungsprozess kommt somit einer in eine kurze Werdensphasegedrängten evolutionären Entwicklung gleich, die innerhalb von Bruchtei-len einer Sekunde stattfindet. Werner kam zu seiner Theorie über Studienzur Aphasiologie mit dem Grundgedanken, dass Einbußen und Störungensowohl mit der evolutionär gebildeten Hierarchie von Hirnstrukturen und–prozessen wie mit der entsprechenden psychischen Funktionshierarchiezusammenhängen.“ (Heinz Mack: Grundformen des Psychischen; in: GerdJüttemann, Psychogenese. Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativenHumanwissenschaft, 1917, S. 48)
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neswahrnehmung. Die Ebene früher Prozessphasen der Ontoge-nese wird deshalb projiziert und erscheint als metaphorische Vor-stellung. Primitive Kulturen bilden transitorische Phänomene, dieden Bruch, das Trauma symbolisch heilen sollen, indem die Ju-gend in die Wildnis geschickt wird, sich Riten unterzieht und un-ter neuem Status in die Gesellschaft zurückkehrt, was wie einevorübergehende Regression wirkt, um das Ich neu zu bilden. Diestrukturelle Ähnlichkeit von Freuds Überich mit Göttern verweistauf die autoritäre Macht der Ambivalenz mit einem hohen Potenti-al an Willkür, ja Zufälligkeit von Entscheidungen, denn das Para-dox erlaubt nur Entscheidungen mit Zufallscharakter. So ist dennauch der Zufall divinatorisch, die Gegensätze einende Gottesme-tapher steht für den totalen Möglichkeitsraum.
Wenn eine aktuelle Wahrnehmung auf einer Reduktion vonMöglichkeiten beruht, aus denen die für ein Stadium jeweilszweckmäßigsten ausgewählt werden, um eine Objektanschauungzu konstruieren, dann kann für die geometrische Beschreibungdes wahrgenommenen Objektraumes etwas Ähnliches gelten. Siewäre ebenfalls das Ergebnis einer Reduktion wie es bei Euklidz.B. der Fall ist, mit dessen Geometrie Erfahrungsräume konstru-iert werden. Auch in diesem Fall wären Rückgriffe auf Stadien an-zunehmen, die komplexer sind als die euklidische Beschreibungdes Wahrnehmungsraumes. Nimmt man den Rückgriff auch fürandere Denkprozesse an, würde Wissenschaftsgeschichte auf derFähigkeit beruhen, die im Denk- und Wahrnehmungsprozess un-bewusst geleistete Reduktion nach und nach aufzuheben und auffrühere Stadien des Prozesses zuzugreifen. Ein solcher ”Zugriff“bedürfte einer neuen Systembildung, die Beschreibung eine neuar-tige Syntax. Die Reduktion wäre ein allgemeines Prinzip kogniti-ver Prozesse und würde nicht nur den mikrogenetischen Wahrneh-mungsprozess betreffen, sodass auch einfache geometrische For-men zu Endgestalten gezählt werden können, die sich aus komple-
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xeren Formen herausbilden. Der Weg, den die Bildende Kunst ge-nommen hat, ist ein sichtbares Beispiel und führt in der Endphaseder Objektdarstellung zu scheinbar einfachen Formen, die jedochebenso als Einheit unübersehbar vieler Formen ”gemeint“ oder er-lebt werden kann. Es würde sich bei einem Kunstobjekt um dasFrühstadium einer imaginierten Wahrnehmung handeln. Für dieRealisierung dieses Stadiums muss eine Form gefunden werden,die das Bewusstsein umsetzen und mit anderen ”Bewusstseinen“kommunizieren kann, wozu die Rückbildung der Subjektivität imGestaltprozess dienlich ist.
Wenn damit eine jeweils neue Mathematik offenbart wird, wäredies mit Gödels Vermutung zu vereinbaren, es gebe ein Reichunentdeckter Mathematik. In einem Brief an Gotthard Güntherschreibt er: ”Wenn ich sage, dass man eine Theorie der Klassen alsobjektiv existierender Gegenstände entwickeln kann (oder soll), someine ich damit durchaus Existenz im Sinne der ontol. Metaphy-sik, womit ich aber nicht sagen will, daß die abstrakten Wesenhei-ten in der Natur vorhanden sind. Sie scheinen vielmehr eine zweiteEbene der Realität zu bilden, die uns aber ebenso objektiv u. vonunserem Denken unabhängig gegenübersteht wie die Natur.“3
Anton Ehrenzweig weist auf die Verbindung von abstraktemSymbolismus und Unbewusstem hin, welches ihn ”belebt“. ”I ha-ve emphasized throughout that abstract concepts and images owetheir plastic life and feeling of being real to their link with uncon-scious phantasy. All we have to do is to prevent the dissociationof abstract symbols from their undifferentiated matrix in the un-conscious.“4 Der britische Physikphilosoph Ernest Hutton hat eineBeziehung zwischen pythagoreischer Mathematik und pythagore-
3https://www.vordenker.de, Arbeiten aus dem Nachlass N8. Briefwechsel:Gotthard Günther - Kurt Gödel (1954-1960)
4Anton Ehrenzweig: The Hidden Order of Art, S. 287
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ischer Mystik festgestellt. Pythagoras habe als erster die abstrakteVerbindung zwischen Zahlen erfasst, indem er sie gleichzeitig mitphilosophischem und irrationalem Symbolimus in Beziehung setz-te. Die Flexibilität im Umgang mit Zahlen wurde infolge der me-taphysischen Bedeutung der Operationen möglich. ”The instabili-ty and flux of unconscious phantasies was thus manifested open-ly in the conscious manipulation of numbers.“5 Ehrenzweig ver-weist damit auf die Bedeutung des undifferenziert Unbewusstenfür die Abstraktheit von Zeichen und Symbolen. ”Far from dry-ing up unconscious phantasy life, seems to stimulate the deepestnear-oceanic levels of phantasy from which the conscious powerof abstraction stems.“6
Der Begriff der Entdifferenzierung durch den Einfluss des Un-bewussten auf Objektgestalten bedeutet ebenso ein Rückgriff aufmikrogenetische Prozessstadien, die psychoanalytische und diemikrogenetische Perspektive ergänzen sich, sodass die Abstrak-tion ebenfalls unter doppeltem Vorzeichen steht. Die geometri-sche Figur kann als Phänomen beschrieben werden, das übrigbleibt, wenn das Einmalige und Besondere einer Erscheinung ver-allgemeinert wird. Sie steht dann für etwas und kann von ei-nem Zeichen ersetzt werden. Die Dynamik der Abstraktion lei-stet nach Ehrenzweig das Unbewusste, dessen Einfluss auf dasBewusstsein unter bestimmten Umständen wachsen und dessenAbstraktionsfähigkeiten oder -zwänge steigern kann. Die Ab-straktion, die als alternative Form der Realitätsbeschreibung Gel-tung erlangt, steuert der Auflösungstendenz der Entdifferenzie-rung entgegen. Unter mikrogenetischem Aspekt handelt es sichbei der dem Chaos sich annähernden Entdifferenzierung, das derAuflösung von Gestalten und Formen gleichkommt, um die Er-
5Ehrenzweig, Order, S. 2886Ehrenzweig, Order, S. 289
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weiterung des Möglichkeitsraumes, der bereits über eine Driftund somit ”Keime“ von Gestaltbildung verfügt, die im Denken– bewusst oder unbewusst – wirksam werden können. Ehren-zweig beschreibt den Punkt, an dem der kreative Akt in den er-weiterten Möglichkeitsraum eintritt: ”A creative search resemblesa maze with many nodal points. From each of these points ma-ny possible pathways radiate in all directions leading to furthercrossroads where a new network of high- and by-ways comes in-to view. Each choice is equally crucial for further progress.7 DieSuche wird unterstützt von der Fähigkeit des Unbewussten, denMöglichkeitsraum nach gangbaren und erfolgversprechenden We-gen abzuschätzen (”unconscious scanning“). Der Kreative musseine Entscheidung über sein Vorgehen fällen, ohne Informationenfür diese Entscheidung zu haben. ”This dilemma belongs to theessence of creativity. The structure of a mathematical problem isa neat example. The creative thinker has to scrutinize it withoutany hope of a really clear view. Let us say an algebraic euquati-on has to be transformed by a number of consecutive steps untilit assumes a form that can be accepted as the solution of someunsolved problem. Each possible transformation opens up an un-limited number of new transformations, some fruitful, some en-ding in blind alleys. Admittedly, strict rules exist that govern al-gebraic transformations; but they do not say which of the possibletransformations will prove fertile in the end.“ Es eröffnet sich einetypische serielle Verzweigungsstruktur, die die Aufmerksamkeitmit ihrem knappen Fokus überschreitet. Der kreative Mathemati-ker, so Ehrenzweig, sieht sich dem gleichen Problem gegenüber,das aus Kunst und Wissenschaft bekannt ist, Entscheidungen zutreffen, ohne über genügend Informationen zu verfügen. Die Ent-scheidung muss dem Unbewussten überlassen werden, denn ”un-
7Ehrenzweig, Order, S. 37
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conscious visualization is better equipped for scanning the com-plex serial structure of a new mathematical argument.“8
8Ehrenzweig, Order, S. 37
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4 Aussagen über Aussagen
In der Selbstbezüglichkeit des Denkens liegt die Gefahr, Begriffeohne Übereinstimmung mit Objekten zu bilden und sie für wahr zuhalten. Schlüsse, die über das Feld möglicher Erfahrung hinausge-hen, sind ”trüglich und grundlos“. Der Schluss kann jedoch auchein Denkvorgang sein, über den ausgesagt wird. Damit wird dieMöglichkeit, über die Welt auszusagen, auf das Denken als um-fassende Repräsentation erweitert mit unabsehbaren Folgen, dennDenken gehört zu den Tatsachen, gleichviel ob seine Gedanken dieRealität abbilden oder nicht, zumal die kognitiven Leistungen einGehirn erfordern, das dieser Realität angehört. Es umfasst inso-fern einen größeren Tatsachenraum als die subjektive Objektwahr-nehmung, über die Aussagen deshalb gemacht werden können,weil diese Aussagen über die Objektwahrnehmung ”hinausgehen“können. Die Aussagen betreffen nicht primär die Objektivität, son-dern deren Wahrnehmung, die in Aussagen eingehen können. DerUrsprung dieses Überfließens von Wahrnehmung in Aussagen istin Leerstellen der Wahrnehmung begründet, die durch Aussagengefüllt werden sollen. Abwesenheit ist das Motiv für Aussagenund Symbolbildung.
Die Bindung der Aussage an die Wahrnehmung von Objek-ten bedeutet, dass es sich um eine Relation von Sachverhalt undSymbol handelt. Da Wahrnehmung täuschen kann, weil sie sub-jektabhängig ist, gibt es nur Grade der Wahrscheinlichkeit, dasseine subjektive Aussage über die Wahrnehmung zutrifft. An die-ser Stelle übernimmt die langjährig erworbene Realitätsanpassungunter nachdrücklicher, wenn nicht gar wesentlicher, Beteiligung
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der Kommunikation eine Funktion, das Subjekt im Zweifelsfallvon Fehlannahmen (Träumen) zu befreien. Damit verlagert sichdie Gültigkeit einer Aussage in das, was die Griechen nomos nann-ten, eine gewordene und vom Kollektiv gelebte Ordnung, die implatonischen Dialog eine philosophische Form findet, um subjek-tive Annahmen in ein übergeordnetes System zu überführen undAussagen als wahr zu befestigen, wobei die Erfahrung der Wahr-heit ein ”Ereignis“ oder ”Erlebnis“ ist. Die Philosophie arbeitet mitAussagen über die Welt, um in einer zweiten Schicht Aussagenüber diese Aussagen zu formulieren, die eine kollektive Geltungbeanspruchen. Die Basis der Wahrnehmung ist jedoch an indivi-duelle Sinne und individuelles Erleben gebunden.
Die Ähnlichkeiten von Erfahrungen zwischen Individuen sindumso größer, je früher es sich um Stadien der Ontogenese han-delt, aber auch je homogener die ”Gruppe“ ist, in der Erfahrungengemacht werden. Die Parallele von Kollektiv und frühen Entwick-lungsstufen des Individuums führt zu ständigen Rückkopplungenin Denk- und Entscheidungsprozessen. Die Konvergenz von Er-fahrungen der Subjekte beruht somit auf dem sukzessivem Ab-bau von Subjektivität, d.h letztlich dem Auslöschen dessen, wasdas Ich ausmacht, sodass ein mehr oder weniger leeres Sub-jekt als Substrat von Relationen übrigbleibt. Dieses Allgemei-ne ist das Früheste. Geht man davon aus, dass die Individuationauf der Reduktion von Möglichkeiten beruht, die auf jeder Ebe-ne der Entwicklung getroffen werden muss, dann ist dieses All-gemeine ein unübersehbarer Möglichkeitsraum, mithin komplex,und nicht einfach eine Art Abstraktion als induktiver Denkvor-gang. Es verschränken sich im Begriff der Induktion entgegenge-setzte Richtungen der Reduktion von Komplexität. In der Indivi-duation sind ontogenetische und phylogenetische Entwicklungenüberlagert und befinden sich in Wechselwirkung. Es bietet sichdie Berücksichtigung einer Problemverschiebung an, die von ei-
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ner veränderten Grundlage des phylogenetisch Erreichten ausgeht.Eine solche Zäsur stellte die Neotenie und die Umstellung zumaufrechten Gang dar. Beide provozieren den Aufbau von symboli-schen Verhaltensmustern und -regeln, die den aufgetretenen Man-gel biologischer Automatismen ausgleichen. Einerseits sind die-se Muster gattungsspezifisch, andererseits realisieren sie sich überIndividuen, die sie als Basis in ihre eigenen Entwicklungen unbe-wusst wiederholt aufnehmen müssen. Die Rückbindung an die Ba-sis bleibt immer erhalten, sodass der Prozess in Schleifen abläuft.Damit ist diese Basis immer verdeckt präsent, und ihre strukturelleDynamik zu entdecken, Aufgabe der Innervation, die nicht nur dasDenken, sondern all jene Wege erfasst, die in kreativen Prozessenam Werk sind.
Aussagen über Aussagen bilden eine Relation, die nur wahr seinkann, wenn sie darauf angelegt ist, die Wahrheit einer Aussage zuprüfen, also ob eine ”Übereinstimmung unserer Begriffe mit demObjekte“ (Kant) vorliegt. Diese Prüfung kann zum unendlichenRegress führen, weil jede Prüfung einer neuerlichen Prüfung un-terzogen werden muss. Doch Begriffe treffen auf Wahrnehmun-gen, die auf die Identität des Begriffs oder der Kategorie angewie-sen sind, um ihre Mannigfaltigkeit von Fall zu Fall zu begrenzen.Diese Begrenzung nennt Platon Idee, annehmend, dass sie auf ei-ner Relation des Begriffs zu sich beruht, die die Identität einesObjektes oder einer Eigenschaft sichert, indem die Relation einezwischen dem Identischen und dem Nichtidentischen, dem Man-nifaltigen und Bewegten ist. Nach Gadamer etabliert Platon mitder Doktrin der Unbestimmten Zweiheit die Unmöglichkeit derDeduktion eines abgeschlossenen Systems, das sich auf das Ei-ne allein gründet. ”Wenn man in Platos Lehren kein festes Ab-leitungssystem suchen darf, sondern das System der unbestimm-ten Zweiheit gerade die Unabschließbarkeit eines solchen Systemsbegründen will, stellt sich das platonische Ideendenken als eine
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allgemeine Relationstheorie dar, die auf überzeugende Weise dieUnendlichkeit der Dialektik zur Folge hat. Ihr Fundament wäre,daß Logos immer verlangt, daß eine Idee zusammen mit einer an-deren da ist. Der Blick auf eine einzelne Idee als solche bedeu-tet noch keine Erkenntnis... Von der aristotelischen Analyse derPrädikationsstruktur her gesprochen heißt das, daß wir eine Aus-sage über einen Gegenstand in verschiedenen, auch kategorial ver-schiedenen Hinsichten machen können. Das jeweils Ausgesagtewird an dem, wovon es ausgesagt wird, durch den gewählten Ge-sichtspunkt herausgehoben und durch die Aussage gleichsam insBewußtsein gehoben.“1 So entspricht die Aussage der Bewegungder Wahrnehmung, die als Prozess der Fokussierung auf ein Zielverstanden werden kann. Jede Fokussierung eröffnet eine eigeneKomplexität (Baum, Stamm, Ast, Faser...)
Die Epimenides-Paradoxie beruht auf einer formalen Selbst-bezüglichkeit der Aussage, in der Subjekt und Objekt ihre Po-sitionen wechseln, d.h. nicht eindeutig stabil unterschieden sind.In dem Satz ”Ich bin ein Lügner“ ist das Ich einmal Urheber derAussage, also Subjekt, und einmal Objekt als Adressat. Die reinformale Selbstbezüglichkeit scheint in sprachlicher Aussageformohne die ontologische Subjekt-Objekt-Unterscheidung auszukom-men. In der Subjekt-Objekt-Relation nimmt das Subjekt die akti-ve Position ein, die dem Beobachter als Handelndem entspricht,der seine Motivation vom Objekt bekommen kann, von dem Reizeausgehen, die in Handlung übersetzt werden. Die formale Subjekt-Objekt-Relation in der Selbstbezüglichkeit ist eine Reduktion derrealen Relation, welche dadurch bestimmt ist, dass das Subjekt inRelation zu anderen Subjekten steht und ebenso als Objekt auftritt.Die ontologische Position des Subjektes ist die des Beobachters
1Hans-Georg Gadamer: Platos ungeschriebene Dialektik, Ges. Werke. Grie-chische Philosophie II, 1985, S. 151
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anderer Subjekte, die ihm Objekte sind. Diese Beobachterpositionist relativ zum System, was für jedes Subjekt gilt.2
Die Uneindeutigkeit entstammt jener Entwicklungsphase, in derinneres und äußeres Erleben, innere und äußere Anschauung erstin eine Relation versetzt werden müssen, die der Objektwahr-nehmung entspricht. Die Relation wird arrangiert nach den Re-geln der Wahrnehmung, in denen innere Formbildungsprozesseund äußere Sinnesreize abgeglichen werden. Die Uneindeutig-keit ist demnach ursprünglich systemimmanent, wird im Wahrneh-mungsprozess indessen von einer eindeutigen Relation überlagert,bleibt aber unbewusst erhalten; wenn nicht, tritt sie als Sym-ptom partieller Entwicklungshemmung in Erscheinung und irri-tiert das Bewusstsein mit Paradoxien als zwangsläufige Beschrei-bungsfehler, die durch Rückgriffe auf ursprüngliche bewusstseins-ferne Möglichkeitsräume entstehen.
Für das Selbstbewusstsein kommt denn auch keine reine for-mallogische Beziehung in Betracht. ”When one is being cons-cious of being conscious, the object of consciousness is not theself but an idea or description of the self in a state of conscious-ness... The self is conscious in the context of a perception.“3 Dasheißt, dass auf Wahrnehmung oder Erfahrung, auf Objekte alsAusgangspunkt in der Anwendung von Aussagen und Begriffennicht verzichtet werden kann. Dieser Ausgangspunkt sorgt dafür,dass die Selbstbezüglichkeit Hemmungen ausgesetzt ist, und derunendliche Regress des sich auf sich beziehenden Selbsts nurunter Vernachlässigung wahrgenommener Objekte oder Inhaltemöglich wäre. Die zur Paradoxie führende Selbstbezüglichkeit desEpimenides-Satzes basiert auf der Reinheit der Aussage über ei-ne Aussage, die sich selbst zum Objekt macht. Das Subjekt der
2Siehe auch Anthony Wilden, System and Structure, S. 123 f.3Jason W. Brown: The Self-Embodying Mind, 2002, S. 62
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Aussage wird in den Status der Selbstaussage versetzt und machtsich zugleich zum Objekt der Aussage. Ich gleich Nicht-Ich. Die-ser formale Widerspruch ist bereits die ”Lüge“ als existentielleGrundlage. Setzt man Identität als selbstbezügliche Relation an,so ist das Objekt-Werden des Subjekts nichts anderes als die Be-wegung, die der Identität zugrunde liegt. Darin liegt ein wahnhaf-tes Moment, das historisch offenbar zunehmend Wirkung zeitigteund Kant zu seiner Vernunftkritik veranlasst hat.
Ein Rückzug aus der Objektorientierung kann die Balance vonSelbst, Objekt und dem vermittelnden Bewusstsein stören. DasSystem wird ”propriozeptiv“ und besetzt Leerstellen der Selbst-bezüglichkeit mit Material, das im Falle einer Objektorientierungunwirksam gemacht worden wäre. ”’Pure’ disorders of the self, asin psychotic cases, are not confined to changes in the self conceptbut spill into perceptual functions. In schizophrenia, there is de-realization or loss of the reality of objects. There are illusory andhallucinatory phenomena. The dissolution of the self is insepara-ble from these perceptual symptoms. Regression in schizophreniais not a return to a primitive state but an accentuation of an earlystate in the microstructure of cognition. Behavior becomes domi-nated by this early stage, that of the self and neighboring dream orlimbic cognition. Initially, the withdrawal from objects may be ex-pressed in an introspective tendency. The fixation on bodily spaceand hypochondriasis are the other side of the withdrawal.“4
Angesichts der Bedeutung der Beziehung, die in jeder Wahr-nehmung – innerer wie äußerer Objekte – stattfindet, befindet sichdie Mathematik in einer besonderen Lage. Im einfachen Gegen-satz von Begriff und Objekt findet sie kaum Platz. ”Die philoso-phischen Probleme der Anwendung der Mathematik wurzeln inder strikten Trennung von apriorischen Vernunftwahrheiten und
4Brown, Mind, S. 69
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aposteriorischen Tatsachenwahrheiten. Die in den letzteren ver-wendeten Begriffe und Verknüpfungen haben nie die Schärfe undPräzision, die in den idealisierten Termen der Mathematik herge-stellt ist.“5 Mathematische Sätze sind für Kant zwar apriorischeErkenntnis, doch vollzieht sich die mathematische Vorstellungs-weise als Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung,und mathematische Sätze sind somit synthetisch. ”Denn sie ver-danken sich nicht logischen Ableitungen, sondern der apriorischen’Anwendung’ der Begriffe auf das reine Mannigfaltige in Raumund Zeit.“6 Damit ist die kantische ”Bodenhaftung“ gesichert, wo-bei seine apriorischen Konstruktionen die euklidische Geometrie,klassische Arithmetik und newtonsche Physik zur Grundlage ha-ben, Konstruktionen, die zu unserer bewussten Objektwahrneh-mung in einem ”einfachen“ Übersetzungsverhältnis stehen. Die-ses Verhältnis ändert sich in der folgenden Geschichte von Wis-senschaft und Kunst grundlegend, und es werden Strukturen sicht-bar, die in den Ursprüngen der Individuation liegen mögen, d.h.somit grundlegend ”objektiv“, weil hier nur ansatzweise von Er-fahrungen die Rede sein kann, die auf einem rezeptiv komplexorganisierten Ich beruhen müssen, um strukturbildende Wirkungzu haben. Diese grundlegende ”Objektivität“ kann dem Bewusst-sein zunächst nicht zugänglich sein, weil der Zugriff auf ontoge-netisch frühe Phasen versperrt ist. Folgt man Jason W. BrownsTheorie der Mikrogenese, dann durchläuft die Wahrnehmung Pha-sen der Objektbildung, von denen nur die letzte bewusst wird. DieEntwicklungsphasen des Organismus, der Aufbau eines Systemsder Wahrnehmung von Außen- und Innenreizen, bleibt als Diffe-renzierungsprozess erhalten. Jede Phase baut auf den Leistungender vorangehenden auf. In diesem genetischen Modell verläuft die
5Lothar Schäfer: Zahl; in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe 6, S. 17856Schäfer, S. 1786
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Differenzierung ”historisch“, abgebildet in millisekundenschnel-len Aufbauphasen. Der pauschal-schematische Beginn dieser Pha-sen bildet das in hohem Grade Gemeinsame aller Individuations-prozesse, und da er wie alle Phasen – auf ihren Kern reduziert –unbewusst erhalten bleibt, bietet dieser Beginn Material kollekti-ver Schemata.
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5 Kollektivschema
So steht das Individuum in Spannung zu kollektiven Setzungen,eine Spannung, die besonders dann auffällig wird, wenn kollekti-ve Strukturen Anregungen zur Neubildung erfahren, die von krea-tiven Individuen ausgehen und nicht ignoriert werden können.Das Neue stört die strukturelle Balance des Systems interagie-render Glieder. Dieser Umstand scheint so weit zu gehen, dassin mythisch organisierten Gesellschaften mit Pubertätsriten aufeine bedeutsame genetische Zäsur reagiert wird. Die Mannbar-keit wird zu einem das Kollektiv betreffenden Faktor, dem mitMaßnahmen wie Heiratsregeln z.B. begegnet werden muss, umdie ausbalancierte Ordnung nicht zu stören. Das Fest als tem-poräres Außerkraftsetzen der Ordnung dokumentiert die Tragwei-te des Störfaktors, der mit dem Eintreten der Pubertät und des neu-en Trieblebens auftritt, denn es revoziert den Ursprung der Ord-nung, die im Fest neu beglaubigt werden soll. So nimmt die ganzeGesellschaft Teil an der Neuausrichtung des Einzelnen. Die ju-gendlichen Opfer der Vegetations- und Fruchtbarkeitsriten schei-nen hingegen auf die Reaktion des Kollektivs hinzudeuten, dasdie Störung seiner Ordnung als Verletzung des ganzen Systemsempfindet und mit dem Tod ahndet. Der mit seiner Schöpfung engverbundene Gott, stirbt mit jeder Neuschöpfung – im Sohn, eineParadoxie, denn der Sohn verkörpert das Neue. Die reprodukti-ve Ebene, in die das Individuum eingebunden ist, findet ihre kul-turelle Entsprechung, und Veränderungen der Grundstruktur sindausgeschlossen.
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Die Dynamik, die in Kollektiven dennoch enthalten sein kann,beruht auf einem Effekt von Störungen, die außerhalb der Reich-weite des Systems liegen und von ihm mit internen Mitteln nichtbewältigt werden können. Aus dem Gödel-Theorem geht her-vor, dass ein System nicht aus sich selbst heraus komplexerwerden kann, um Problemlösungen gegen solche Störungen zuentwickeln. Die Bildung von Kollektiven gehört bereits zu denMöglichkeiten der Lösung von Problemen kleinerer gesellschaft-licher Einheiten (Kollektive) oder Individuen, die ihr Bewusstseinteilweise an umfangreichere Komplexe wie Netze delegieren, diezu einer kooperativen Selbstverbesserung in der Lage sind. DieBeschränkungen der Perspektive, der ein Einzelner unterworfenist, wird aufgehoben durch eine Vielzahl weiterer Perspektiven an-derer, die die Subjekt-Objekt-Perspektive überschreiten und miterheblich größeren Komplexen umgehen können.
Die euklidische Geometrie setzt die Einzelperspektive vorausund organisiert die Totale von diesem Punkt aus in der Annah-me, dass alle anderen Perspektiven realisiert werden können, wennman die Gesetze anwendet. Doch scheint erst die ”imaginäre Geo-metrie“ diese Absicht voll zu erfüllen. Diese Geometrie bedeu-tet gegenüber Euklid einen kreativen Sprung auf eine logischhöhere Ebene, indem sie über Euklid hinausführt, ihn aber den-noch enthält. So weitet sich der perspektivische Raum, mit dem dieRenaissance das Individuum in seinem speziellen Raum situierte,schließlich in die Dimensionen eines Raumes, der die Anschauungdes Individuums so übersteigen muss, als sei dieses Übersteigenein Phänomen des Kollektivs und seiner netzwerkartigen Koope-ration. Betrachtet man eine geschlossene Gruppe oder ein Indivi-duum als System, so wäre die Kommunikation zwischen vielensolcher Gruppen auf der Basis einer großen Anzahl unterschiedli-cher Individuen die Ausgangslage für einen vertikalen Sprung.
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Eshel Ben-Jacob zieht eine Parallele zwischen wissenschaftli-chen Revolutionen, wie sie Thomas S. Kuhn beschrieben hat, undÄnderungen des genetischen Materials. ”Wissenschaftliche Revo-lutionen entstehen, wenn Wissenschaftler auf Paradoxien treffen,also auf Probleme, die nicht in den begrifflichen Grenzen des herr-schenden Paradigmas gelöst werden können. Um ein Paradox auf-zulösen, muß ein neues Paradigma mit einem erweiterten Begriffs-raum und neuen ’Regeln’ geschaffen werden... In Analogie zu wis-senschaftlichen Revolutionen gehe ich davon aus, daß ein ’vertika-ler genomischer Sprung’ eine Lösung für ein Paradox und nicht fürein Problem darstellt. Ein Paradox wäre hier eine Schwierigkeit,für die das Genom mit seinen zur Verfügung stehenden Mittelnkeine Lösung finden kann, da die Lösung ein neues Genom ist,das im Vergleich mit dem alten einen Fortschritt darstellt.“1
Stress übt einen Veränderungsdruck aus, der die Kooperati-on innerhalb einer Population befördert, die das aktuelle Systemim Sinne einer strukturellen Neuschöpfung transzendiert. GödelsTheorem zufolge kann ein Genom horizontale Veränderungen ge-stalten und ausführen, jedoch keine vertikalen Sprünge, die Pa-radoxien auflösen. ”Zunächst mag es so scheinen, als würde dieAnnahme, daß das Genom eine adaptive kybernetische Einheitmit Selbstwahrnehmung ist, ausreichen, um die Evolution zu er-klären... Aber so ist es nicht. Ein aus Gödels Theorem abgeleitetesLemma setzt der Selbstverbesserung Schranken. Es besagt, ein-fach ausgedrückt, daß ein System nicht ein anderes System bildenkann, das komplexer als es selbst ist.“ Wenn man ein kooperati-ves Verhalten zugrundelegt, ist das Dilemma zu lösen. Nach derBildung eines genomischen Netzwerkes ist das Paradox insofern
1Eshel Ben-Jacob: Die Klugheit der Bakterien, Gödels Theorem und kreativegenomische Netze. Ein neues Bild der Evolution. Telepolis, Heise-Verlag, 1.Juli 1998 (Bacterial wisdom, Gödel’s theorem and creative genomic webs.Physica A 248, 1998, S. 57 bis 76)
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auflösbar, als sich das Netzwerk dem einzelnen Genom als eineArt ”Metageist“ verhält. Ben-Jacob nennt dies kooperative Selbst-verbesserung. Als Beispiel führt Ben-Jacob die Sporenbildung vonBakterien an. ”Die kollektiv getroffene ’Entscheidung’, Sporen zubilden, basiert auf der Voraussage, daß die Umweltbedingungentödlich werden. Die Notwendigkeit, aus tödlichen Umweltbedin-gungen zu lernen, könnte das Paradox gewesen sein, das die Bak-terien dazu gebracht hat, aus Gründen des Überlebens einen ver-tikalen Sprung auszuführen.“2 Für Ben-Jacob ist Paradoxie, d.h.sich widersprechende Umweltbedingungen die Basis für einenkreativen Sprung. ”Fortschritt geschieht dann, wenn ein Organis-mus paradoxalen Umweltbedingungen, einander widersprechen-den äußeren Bedingungen ausgesetzt ist, die ihn dazu zwingen, aufsich widersprechende Weise zu reagieren. Selbstverständlich kanndies ein Organismus nicht innerhalb seines bestehenden Rahmensleisten.“ Kreativität ist ein Phänomen der Emergenz, die koope-rative komplexe Systeme auf ein existierendes Paradox anwendenkönnen, um es zu lösen. 3
2Ben-Jacob: Die Klugheit der Bakterien3Jedes Bakterium muss eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten des
Überlebens treffen. Ein Teil der Bakterien verkapselt seine DNA in Spo-ren. Das sichert das Überleben der Kolonie. Ein anderer Teil beschließt, ineinen ”Kompetenz“-Status überzugehen. Der Vorteil des Kompetenz-Statusliegt darin, dass die Kolonie schnell wieder zum Normalstatus zurückkehrenkann. Die Wahl ist jedoch nicht ohne Risiko, denn die Zelle stirbt, wenn dieUmweltbedingungen sich verschlechtern. Die Entscheidung beruht auf che-mischen Botschaften, die die Bakterien durch Kommunikation mit der Ko-lonie erwerben und einen komplexen Entscheidungsprozess in Gang setzen,der ein spezialisisertes Netzwerk aus Informationsmolekülen nutzt. Nur 10Prozent der Bakterien wählen den Kompetenz-Status.
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6 Symbiose
Vor der Situation sich widersprechender Umweltbedingungensteht das Kind in der von Melanie Klein beschriebenen paranoid-schizophrenen Phase.1 Aus der Situation kann sich das Kind alleinnicht befreien, sondern bedarf der kybernetischen Disposition derDyade. Der Prozess, Widersprüche auflösen zu können, greift aufTechniken zurück, die einmal kreativ waren und nun kulturell ver-ankert sind. Eines der Mittel dürfte das Spiel sein, das in der Lageist, Paradoxa in komplexe Beziehungen zu verwandeln und überdas System, in dem das Paradox entsteht, hinauszugehen. ”Es gibteindeutige experimentelle und theoretische Hinweise, dass die-ser emotionale Austausch auch die Entwicklung des kindlichenBewusstseins beeinflusst. Tronick und Weinberg (1997) beschrie-ben, wie die sozio-emotionale Kommunikationsverarbeitung mi-
1Die paranoid-schizoide Position ist ”ein von M. Klein eingeführter Begrifffür eine Modalität des Erlebens von Objektbeziehungen (Objektbeziehungs-theorie), die nicht auf die ersten Lebensmonate eines Kindes beschränktist, sondern immer wieder, auch beim Erwachsenen, auftreten kann undin einer dialektischen Beziehung zur depressiven Position steht. Zu denÄngsten und Abwehrformen der paranoid-schizoiden Position frühgestörterPatienten zählen die Angst vor Zerstückelung, Vergiftung, Aufgefressen-werden. Aus psychoanalytischer Sicht gehen diese Ängste auf eigene Trieb-regungen zurück, die mütterliche Brust, die durch Frustrationserlebnisse alsenttäuschend und abweisend erlebt wird, aufzusaugen oder zu verschlin-gen. Die ubiquitäre Existenz frustrierender Eltern-Kind-Interaktionen führtbeim Kind zusammen mit den noch wenig ausgebildeten Ich-Funktionenfast zwangsläufig zum Erleben von Überwältigtwerden durch heftige ag-gressive Affekte.“ Mertens, W. (1998) Psychoanalytische Grundbegriffe (2.Aufl.): Paranoid-schizoide Position
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kroregulatorisch intersubjektive Bewusstseinszustände in der Dya-de von Mutter und Kind erzeugt. Dadurch ’kartographieren sichgegenseitig diese (einige) Elemente des Bewusstseinszustandesder Beteiligten in das jeweilig andere Gehirn’ (ebd. S. 75). Tronikund sein Team (1998) stellten fest, dass das selbstorganisierendeSystem des Säuglings, wenn es an das der Mutter angekoppelt ist,eine Gehirnorganisation erlaubt, die in kohärentere und komple-xere Bewusstseinszustände erweitert werden kann.“2 Es handeltsich zudem um einen symbiotischen Zustand, der dadurch gekenn-zeichnet ist, dass im Verbund zweier Organismen eine ”reziprokeErweiterung der Fähigkeit zum Überleben“3 entsteht.
Die kategoriale Verschränkung von Anschauen und Ernährensteht im Zeichen der Für- oder Vorsorge, von den Stoikern pro-noia genannt. Diese Art der nährenden Aufmerksamkeit, die manals Opfer bezeichnen kann, vereint Nahrung und reine Form –Nahrung ist Form und Form Nahrung, wobei die Möglichkeitder Formung gemeint ist, die der Nahrung bedarf. Dies scheintmit der Identifizierung von Nahrung und Form gemeint zu sein,die Agamben bei Mauss gefunden hat, der über die prosodischeStruktur der Veden schreibt, Hymnen und die durch Zahlen ausge-drückten Dinge und rhythmische Gebärden bedeuteten Nahrung.4
Die Zahl steht im Formbildungsprozess für die Folge von Posi-tionen und Ereignissen, aus denen eine gegliederte Form hervor-geht. Die Rückbezüglichkeit ist dabei von entscheidender Bedeu-tung. Die Zwei entsteht aus der Relation der eins zu sich. DieDrei bildet eine Relation zur Zwei, in der die Relation der einszu sich enthalten ist. Mit Fortschreiten der Reihe werden die Rela-
2Allan Schore: Affektregulation und die Reorganisation des Selbst, 2009, S.67
3D.H. Lee et al.: Emergence of symbiosis in peptide self-replication througha hypercyclic network, Nature, 390, S. 591
4Giorgio Agamben: Herrschaft und Herrlichkeit, 2010, S. 281
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tionen zunehmend komplexer und mächtiger, damit aber wachsenauch die Notwendigkeiten der Auswahl von Relationen, wenn ei-ne Form gebildet werden soll. Ein Beispiel ist die musikalischeSkala, die das Prinzip der Generierung veranschaulicht. Dem An-wachsen der Mächtigkeit steht eine Differenzierung durch Aus-wahl gegenüber, die man Individuation nennen kann. Das Indivi-duierte realisiert wenige von unübersehbar vielen Möglichkeiten.Nach diesem Prinzip verläuft die mikrogenetische Objektbildung,deren Anfang so ”einfach“ ist, dass er auf jedes Individuum imFrühstadium der Ontogenese zutrifft und die Matrix für Kollektiv-schemata bildet. Der Zugriff auf diese Matrix scheint notwendigzu sein, um mit einem Kollektivschema zu kommunizieren.
Besteht zwischen dem Kollektiv und der von Ben-Esher be-schriebenen Kolonie von Bakterien eine Analogie, dann wäre überden Zugriff auf frühe ontogenetische Stadien ein rekursiver Pro-zess zwischen Individuum und Kollektiv denkbar. Aktiviert würdeeine kybernetische Einheit, deren Funktion durch variable Para-meter des Kollektivs (Holoparameter) gesteuert wird. Im Falle derBakterien handelt es sich um Wachstumskinetik, zelluläre Dich-te, Größe des Hungers, Dichte der metabolischen Nebenprodukteusw. ”Entscheidend ist, daß ein Kybernator, weil seine Aktivitätvon Holoparametern gesteuert wird, Veränderungen in der Akti-vität und und der Struktur des Genoms bewirken kann, die die ein-zelnen Zellen so beeinflußt, daß es der ganzen Kolonie nützt. Folg-lich verfügen die Bakterien über eine kybernetische Möglichkeit,drei Ebenen der Interaktion zu steuern: die Ebene des Kyberna-tors, der Zelle und der Kolonie. Das ’Interesse’ des Kybernatorsuntersteht dem ’Zweck’ der Kolonie, indem es das Genom der ein-zelnen Zelle neu ausrichtet. Der Kybernator stellt einen einzigenRückkopplungsmechanismus zur Verfügung, während die Koloniediesen benutzt, um Veränderungen in der einzelnen Zelle zu bewir-
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ken, was daher zu einer konsistenten adaptiven Selbstorganisationder Kolonie führt.“5
Stellt man sich eine Analogie von Kolonie und Dyade vor, wäreauch für sie ein Drittes anzunehmen, das die Funktion eines Ky-bernators zum Nutzen der Symbiose übernimmt. Die ”kooperati-ve Selbstverbesserung“ von Bakterien setzt voraus, dass die ein-zelnen Glieder angesichts der Umweltbedingungen ”ihr Bewußt-sein als Individuen weitgehend aufgeben“.6 Für das Individuumeines kulturellen Kollektivs bedeutet es, dass der erreichte Statusseiner Ichbildung von älteren Stufen überlagert wird – entwederdurch rituelle Maßnahmen, intuitiv kreative oder psychisch ab-norme Zustände. Zu bedenken ist, dass ein geschlossenes System– Kolonie oder Dyade – zwar seine Homöostase aufrecht erhal-ten, aber nicht komplexer werden kann. Um eine höhere Stufe derKomplexion zu erreichen, also einen kreativen Schritt zu vollzie-hen, muss das System überschritten werden. Im Fall der Bakteri-en ist eine ”genetische Kommunikation zwischen vielen Kolonienderselben Bakterien oder einer Anzahl unterschiedlicher Bakterienfür die Bildung eines vertikalen Sprungs auf der Ebene der Kolo-nie erforderlich“.7 Je größer das Problem, so Ben-Jacob, desto lei-stungsstärker werde das genomische Netz gebildet. Man kann da-von ausgehen, dass der Druck, der von Umweltbedingungen aus-geht, Kreativität motiviert, die im Zusammenwirken von Kollek-tiven und Individuum entsteht, Kollektive als logische Einheiten,die überwiegend symbolisch interagieren, und Individuen als sub-stantielle Entitäten, die handeln und Umwelten verändern können.
Paradoxe ”Umweltbedingungen“ sind lebensbedrohlich, weilsie die Bewegungen, die zwischen System und Umwelt für eine
5Ben-Jacob, Kap. Drei Ebenen der Informationsübertragung6Ben-Jacob, Klugheit der Bakterien, Bacterial Wisdom, S.717Ben-Jacob, Wisdom, S. 71
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Homöostase sorgen, zum Stillstand bringen. Die Auflösung einerParadoxie stellt die Aktionsfähigkeit des Selbstes in wechseln-den Umgebungsbedingungen wieder her. Ein Individuum, das denAustausch mit der Umwelt, der das Selbst in Bewegung und amLeben erhält, verweigert, ist Paradoxien unterworfen. Die Selbst-bezüglichkeit wird auf das Selbst eingeschränkt, die Relation überdas Nicht-Selbst kassiert und damit eine Paradoxie errichtet, inder das Selbst zugleich seine eigene Negation ist. Kurt Gödels Ver-giftungsängste definieren Umweltbedingungen als tödliche Bedro-hung, und Nahrung bedeutet gleichzeitig ihr Gegenteil, Gift. Para-doxie ist die Schleife, aus der ein Individuum nicht herausfindenkann, weil ihm die hinreichende Interaktion mit der ”anderen Sei-te“ weitgehend versperrt ist.
Früh setzt in der Entwicklungsphase der dyadische Prozess ein,um die Stufen fortschreitender Komplexion über eine differenzier-te Selbstbezüglichkeit zu erreichen, die mit Lernvorgängen ver-bunden ist, weshalb man sie auch als kybernetische Einheit be-zeichnen könnte. Die Dyade setzt den Prozess auf einer höherenEbene fort, der mit dem Teilen und Spezialisieren von Zellen ur-sprünglich begann, um ihre abstrakte Identität über ”Generatio-nen“ hinweg zu sichern. ”Aber da Zellen wuchsen, sich fortpflanz-ten und ihresgleichen hervorbrachten, kam die Chemie des Le-bens nie mehr zum Stillstand, nachdem das Leben sich einmal ent-wickelt hatte. Steht dem Kreislauf des Lebens ein stetiger Stromvon Energie und Nährstoffen zur Verfügung, stellen Zellen im-mer wieder Exemplare von sich selbst her. Chemischen Systemenfehlt das Selbst: Sie können nicht mehr von sich selbst erzeugen.Das Leben dagegen – Zellen und Organismen – besitzt immerein Selbst. Diese Gebilde müssen ständig Energie aufwenden, umweiter zu existieren, aber das tun sie in untrennbarer Verbindungzu früherem Leben. Das Leben war seit seinem Beginn und oh-
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ne jede Unterbrechung immer chemisch mit seiner Vergangenheitverbunden.“8
Der Begriff des Selbst ist in verschiedenen Zusammenhängenanwendbar, zunächst ist er funktional und bezeichnet einerückbezügliche Beziehung, die im Raum oder in der Zeit stattfin-det, und damit einer Wiederholung ”desselben“ gleicht. Logischhandelt es sich um Identität reinen Seins, das sich auf Nichts be-zieht. Lynn Margulis verwendet den Begriff des Selbst für das derBeziehung zwischen Kopie und Original Zugrundeliegende, dasIdentische – für die Beziehung, in der beide Substanzen gleichsind, auch wenn sie sich unterscheiden. ”Das Genom ist eine dy-namische Entität und seine Struktur paßt sich den ausgeführtenBerechnungen an, was voraussetzt, daß das Genom über Selbst-bezüglichkeit, Information über sich selbst und, ganz entschei-dend, Selbstwahrnehmung verfügt.“ 9 Die ontogenetische Bildungeines Selbstbewusstseins wird die Funktion der Selbstwahrneh-mung als Prinzip übernehmen und in die je höhere Entwicklungs-stufe integrieren. Die Rückbezüglichkeit setzt eine Einheit vor-aus, die Unterschiede bindet. ”The unity of the self, therefore, isnot accomplished secondarily through an interaction or integrationacross the modalities, but is a unity that underlies the modalitiesand distributes itself into them.“10 Sich dieses Selbst bewusst zusein, ist mehr als Selbstbezüglichkeit, also ein Phänomen, das die-se Selbstbezüglichkeit auf die Einheit, das Selbst, ausdehnt, dasaber nicht leer ist, sondern objektbezogen. Selbstbewusstsein ”is aretreat from external objects to preparatory (internal) phases in theobject formation.“11
8Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder wie die Evolution wirklich ver-lief, 1998, Kap. ”Aus Schaum geboren”9Ben-Jacob, Klugheit der Bakterien
10Jason W. Brown: The Life of the Mind, 1988, S. 27311Brown, S. 62
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Man kann davon ausgehen, dass die Stadien der Objektbildungauf kreativen Schüben der Evolution beruhen, die als Vorbild vonKreativität gelten kann, bei der sich die Ebenen durch wachsendeKomplexität und effizientere Problemlösungen auszeichnen. DieSelbstbezüglichkeit der Zelle hält sie ”am Leben“, die Informationwird kopiert, die Einheit (Zelle) geteilt. Das heißt, dieses Selbst,das sich im Kopiervorgang erhält, ist nicht leer, sondern geht ei-ne Beziehung ein, die später in der Innen-Außen- oder Subjekt-Objektbeziehung als erweiterte Selbstbezüglichkeit mit Verlage-rung von Anteilen nach außen weiterwirkt. Die Allgemeinheitdes Selbst im mikrogenetischen Prozess wäre auf die Allgemein-heit des Kopierprinzips zurückzuführen, die Reichhaltigkeit derKategorien auf die ursprüngliche Symbiontik von unterschiedli-chen Zelltypen. Vorausgesetzt wird eine Analogie zwischen denFunktionen auf genetischer Zellebene und psychomentalen Pro-zessen. Entscheidend ist, dass Informationen nicht nur in Abbil-dern kopiert, sondern auch gelesen werden können, wenn sie fürAnpassungsvorgänge als ”Erinnerungen“ benötigt werden. DieseFunktion auf der Stufe genetischer Muster zeugt sich bis zur psy-chomentalen Funktion des Selbst und seinem ablaufenden Ent-schlüsselungsprozess fort – phylo- wie ontogenetisch, kollektivwie individuell. Ein programmatisch arbeitendes Selbstbewusst-sein würde einen historischen Prozess initiieren, der zu Basisinfor-mationen und -strukturen führt, um sie auf seiner aktuellen Ebenefür kreative Zwecke zu nutzen.
Zwischen dem Leben von Zellen und dem Prozess, der zurWahrnehmung führt, sieht Jason W. Brown einen Zusammenhang.
”Brain and skin are derived from primitive ectoderm. The neo-cortex is laminted like the skin, and in mental process, as in epi-dermis, there is a continual replacement of objects that are born,grow and die. The epidermis consists of layers. The deepest layer,the stratum basale, contains cells that undergoe mitosis, migra-
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te to the surface and are shed. There is continual replacement ofcells on the external surface of the skin by those generated outof deeper layers. The migration of skin cells to the surface wherethey die and are replaced is analogous to the generation of objectsover phases. Like skin cells, final objects externalize and perishas they are being replaced.“12 Wenn der mikrogenetische Prozessrein formal abläuft, kann man von einer Spiegelung von unten undoben ausgehen, von materiellen Prozessen, die in psychomentalenPhänomenen eine Art Echo haben. So spiegelt sich das kooperati-ve Verhalten von Bakterien in Zuständen der Gefahr für die Kolo-nie ”oben“ im entsprechenden Sozialverhalten, die Attraktion vonZellen, die verschmelzen, um komplexere Formen zu bilden, spie-geln sich in Sehnsucht und Begierde nach Partnern. Die Symbioseals Voraussetzung für neue und komplexere, d.h leistungsfähigereindividuelle Lebensformen beruht auf einer Form der Kooperati-on von Zelltypen, die Lösungen einer bedrohten Bakterienkolo-nie hingegen beruhen auf einer Leistung des höherstufig komplexorganigisierten Kollektivs. Der kreative Schub ist ohne Kollektiv,das auf ihn vorbereitet sein muss, nicht möglich. Wie ist es im kon-kreten Fall an einer Lösung beteiligt? Bei Anpassungsprozessenhandelt es sich immer ums Überleben. Kreativität ist eine Tugendaus Notwendigkeit und system-umwelt-immanent.
12Jason W. Brown: Microgenetic Theory and Process Thought, 2015, S. 7
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7 Gödels Selbstnegation
Gödel spürt, dass er sich allein aus seiner paranoischen Situationnicht befreien kann, indem er den Beweis dafür findet, dass Selbst-verbesserung innerhalb ein und desselben Systems, also innerhalbdes Individuums nicht möglich ist. So verweist der Beweis aufdie Notwendigkeit hin, das individuelle Selbst zu verlassen, um eszu erhalten. Man kann dies eine paradoxe Situation nennen, sichaufzugeben, um sich zu erhalten. Die Stabilität des Selbstbewusst-seins wird abgelöst von der Stabilität, die ontogenetisch frühenZuständen ebenfalls eigen ist. Dies zeigt sich in der Beharrlichkeitreligiöser Bindungen, Wahnvorstellungen oder kreativer Phasen,die das Individuum binden. Das in der Psychoanalyse Regressiongenannte Phänomen interpretiert Silvano Arieti als Versuch einermentalen Reorganisation. ”When the highest centers cannot func-tion, either because of organic or psychogenic conditions, a rein-tegration occurs of the whole nervous system, so that some lowercenters take over some of the functions of the higher centers.“1 Ei-ne solche Reorganisation wird man auch bei kreativen Prozessenannehmen können, die die bestehenden Strukturen so umbilden,dass neuartige Leistungen hinzukommen. Sichtbar werden sie aufder individuellen Ebene, die jedoch über die Matrix der Dyadeunbewusst ans Kollektiv und dessen struktureller Mächtigkeit an-geschlossen ist.
Die Selbstbezüglichkeit des Individuums verläuft über eine Re-lation zweier mikrogenetischer Stadien – dem Objekt und demfrüh dem Prozess unterlegten Selbst, das keine isolierte Einheit
1Silvano Arieti: Loss of Reality, Psychoanalysis 48:3, 1961, S. 16
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sein kann, sondern über ein Nicht-Selbst vermittelt ist. ”The self isan image that is remembered, an image of a memory, not a thingor item that is retrieved but the unrecollected background that em-braces everything that is recalled, the context within which a spe-cific memory appears.“2 Das Selbst ist eine Art Hintergrundfigur,die Inhalte jeder Art umfasst, d.h. in Relation zu Inhalten steht.
”The process that generates the self-concept, along with other re-presentational content, traverses and revives formative levels in thepersonality that are not part of the surface content of seperate mo-dalities. That is, the self-concept is laid down in early, formativestages in perceptual microgenesis as a unitary preobject.“3 Brownvergleicht das Selbst mit einem Baum, dessen aufwärtsstrebendesWachstum eine Struktur mit zunehmend feineren Verzweigungenausbildet. ”The fact that the modalities show surface differentia-tion but are unitary at their base accounts for the unity of self-representation in which all the modalities have a share.“4 Zwi-schen dem Selbst und den jeweiligen Zuständen des Prozessesherrscht eine Ganzes-Teil-Relation, der Teil (das Individuum) istüber das Ganze vermittelt, sodass der Teil wenn er als Teil aus-gebildet ist, d.h. individuiert, auch mit anderen Teilen in Relationsteht, andernfalls ist es kein Teil. Das Selbst wäre eine alternativeBezeichnung für die formale Relation aller Teile.
Da das Objekt Ergebnis von Hemmungs- und Reduktionspro-zessen ist, wäre das Selbst als mächtigere, d.h. überindividuelleForm anzusehen, die sich im ontogenetischen Prozess von derDyade zum Kollektiv entfaltet, das über eine Vielheit von Anderen(Gotthard Günthers ”Du“) verfügt. Darin wird ein Paradox sicht-bar, indem die Einfachheit scheinbar ist, weil sie die Vielfalt von
2Brown, The Self-Embodying Mind, S. 633Brown, The Life of the Mind, S. 1034Brown, Life, S. 273
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Möglichkeiten umfasst, die zu einem Einfachen anderer Art, demObjekt, reduziert werden. Die Objektbildung verläuft zur Ontoge-nese der Netzwerkbildung des Gehirns insofern formal analog, alsdie Netzwerke sich unter dem Einfluss der Umwelt spezialisieren,die konnektiven Möglichkeiten auf die Zwänge der Umgebung ab-gestimmt und laufend aktualisiert werden. Die individuell subjek-tive Ebene wird nun überlagert von der des Kollektivs interagie-render Subjekte. Da das Subjekt sich über das Selbst organisiert,das seine formale Einfachheit des Rahmens der Differenzierungennicht aufgibt, schließt es an die formale Einfachheit an, die ausden Relationen des Kollektivs als dessen Rahmen hervorgeht. DieSelbst-Form wäre individuell und kollektiv dieselbe.
In Analogie zur Ontogenese befindet sich das Selbst in derfrühen Phase der mikrogenetischen Objektbildung in passivemZustand. Dem Traum vergleichbar, der ebenfalls mit dieser Pha-se verbunden ist, sieht sich der Beobachter als Objekt seiner ei-genen mental produzierten Bilder gegenüber, die er quasi erlei-det. ”The fact that objects are attenuated and the prominence inthe object of limbic cognition revive feelings of vulnerability toimages as in dream. The helplessness we feel toward our own hal-lucinatory objects invades the waking object experience. This isthe passivity of the subject at this phase in the object formation.As in dream, the perceiver feels he is an object for his own men-tal images. The passive quality of the self, the loss of the world,and with it the active nature of the self invite the delusion thatthe self of the schizophrenic is an object for his own images topersecute.“ 5 Das Selbst als Objekt seiner eigenen Bilder, die esverfolgen, ist in vielen Metaphern einer Gott- oder Geist-Mensch-Beziehung ausgestaltet worden. Die mildere Form der Verfolgungist die Drohung oder nur spürbare Präsenz. Aus der Gottesmeta-
5Brown, Mind, S. 69 f.
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phorik sind die komplexen und widersprüchlichen Aspekte zu ent-nehmen, die dieser passiven Form des Selbst entspringen, nebenoffen paranoischen Formen sind es Gefühle schöpferischer Be-drängnis, in der schwachen Form intuitive Aufmerksamkeit oderAnrufung von Göttern, Musen, Geistern, wie es aus der Antikebekannt ist. Mit der Verstärkung früher mikrogenetischer Stadi-en, die auch durch spezifische Techniken oder Einrichtung vonbesonderen Umständen hervorgeufen werden können, scheint dasSelbst empfänglich für Endgestalten zu sein, die zu den bis da-to prozessierten alternativ sind, ihre Gültigkeit sich jedoch er-weisen muss. Das Individuum, im Kollektiv wirksam, fungiertals Agent des Nachweises. Die Nachbarschaft von bewährt Al-tem und überraschend Neuem ist eine notwendige Bindung, diesichtbare Alternative der Prozesse, die die Überlegenheit des Neu-en, die Neuheit des Neuen erst deutlich macht. Der Abstand zwi-schen Altem und Neuem ist essentiell. Er kennzeichnet eine ”Fort-schreibung in die Zukunft“, d.h ein grundlegendes Ungleichge-wicht der Homöostase, die den Ausgleich lebender Systeme mitder Umgebung regelt. Diese Fortschreibung ist mit einem grund-legenden Gefühl des Wohlbefindens verbunden; es wäre möglich,dass in kreativen Situationen, in denen das Gefälle gravierend ist,Glücksgefühle beteiligt sind.6
Gödels Interesse an Husserl gründet sich auf die Bedeutung je-ner intuitiven Aufmerksamkeit. Die passive Form des Selbst hin-dert das Bewusstsein nicht daran, in einem zweiten Schritt die
”Bilder“ zu verarbeiten, wie es von kreativen Akten bekannt ist.6John Today ”sieht in der Homöostase eine Triebkraft der Evolution, einen
Weg zur Schaffung eines geschützen Raumes in den Zellen, in dem kata-lytische Kreisläufe ihre Aufgaben erfüllen und ganz buchstäblich zum Le-ben erwachen können.“ Antonio Damasio: Im Anfang war das Gefühl: Derbiologische Anfang menschlicher Kultur, 2017, (Kindle) 3 Varianten derHomöostase, Homöostase heute, Abs. 2
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Gödel beschrieb die Phänomenologie als Methode, durch die man
”die betreffenden Begriffe schärfer ins Auge fasst, indem mandie Aufmerksamkeit in einer bestimmten Weise dirigiert, nämlichauf unsere eigenen Akte bei der Verwendung dieser Begriffe...“Wenn man dabei erfolgreich ist, erreiche man einen neuen Be-wusstseinszustand, ”indem wir die von uns verwendeten Grundbe-griffe unseres Denkens detaillieren oder bisher unbekannte Grund-begriffe erfassen...“7 Die Phänomenologie sei für Gödel ein Ver-such gewesen, so Yourgrau, unsere ursprüngliche Verwendungder Grundideen zu rekonstruieren, ”nicht um sich auf die Metho-den zu konzentrieren, mit denen Begriffe angewandt oder kom-biniert werden..., sondern vielmehr, um das wiederzufinden, waswir mit unseren fundamentalsten Denkakten zunächst einmal ge-meint haben. Dies ist ein schwieriger und unangenehmer Prozess,bei dem wir unser Denken auf eine Selbstreflexion hin ausrich-ten.“8 Damit kennzeichnet Gödel seine eigene Leistung, die Be-deutung der Unvollständigkeitssätze. Sie sind ein schöpferischerAkt, der ein geltendes mathematisches System so transferiert, dasses einen Begriff von sich selbst bekommt, der die Bedeutung desSystems verändert, indem es über eine Rekombination möglicherGlieder hinausgeht. Im Unterschied zwischen der alten und derneuen Bedeutung liegt der schöpferische Akt. Gödel vollzieht die-sen schöpferischen Akt, der gleichzeitig seine eigene Beschrei-bung, sein Begriff ist. Die Unvollständigkeitssätze sichern syste-mische Offenheit mit der Möglichkeit von Neuschöpfungen, dieBen-Jacob ”vertikale Sprünge“ nennt.
Der Gödel unterstellte Platonismus ist von anderer Art als er inder Regel verstanden wird. In Platons Kosmos dringt nichts Neuesein, denn er ist vollkommen und somit in sich geschlossen. Seine
7Yourgrau, S. 1998Yougrau, S. 200
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Philosophie selbst ist ein schöpferischer Akt, in dem das Denkensich selbst zu Objekt macht, um es zu analysieren und Schlüssedaraus zu ziehen. Das ist neu im Gegensatz zum Mythos, der nuraus Aussagen besteht. So beginnt eine Geschichte des Geistes, diefür Hegel als Reflexionsprozess beschrieben werden kann, in demNeues hervorgebracht wird. Die Reflexion mit der Relation vonSein, Nichts und deren Vermittlung, womit die Logik Hegels be-ginnt, ist asymmetrisch, damit aber bekommt die Relation einenRichtungssinn. Gotthard Günther übersetzt dies in eine Kontextu-ralitätstheorie. ”Systeme mit graduell wachsender Anzahl von Ele-mentarkontexturen formen einen eigenartigen Aufbau, auf den derHegelsche Terminus ’Stufengang’ vorzüglich paßt. Es ist eben-falls demonstrierbar, daß in transkontexturellen Zusammenhängenhöherer Ordnung – infolge der größeren Komplexität des Gesamt-systems – logische Eigenschaften auftreten, die in den isoliertenElementarkontexturen schlechterdings nicht aufweisbar sind. In-sofern existieren in den stufenartig sich erweiternden transkontex-turellen Synthesen die ontologischen Bedingungen für das Auftre-ten von Neuem.”9 Reflexion bedarf indessen einer reflektierendenEinheit, eines Ich, das zugunsten eines strengen Objektivismus derWissenschaft unterdrückt worden ist. Zu stark scheint die subjek-tive Neigung zu Phantasmagorien gewesen zu sein, wie an KantsSchrift über Geisterseher erkennen ist.
Die Aktivierung eines frühen Stadiums der Subjektbildung,die das Bewusstsein affiziert, verändert die Ichstruktur manchmalzerstörerisch. In Psychosen zerfällt die Einheit des Ich in Teilkom-ponenten, die von einem einzigen Selbst nicht mehr zusammenge-halten werden. Die Unterbewertung des Subjekts in den Wissen-schaften scheint mit der Aktivierung früher Stadien der Subjekti-
9Gotthard Günther: Die historische Kategorie des Neuen; in: Beiträge zurGrundlegung einer operationsfähigen Dialektik III, 1980, S. 195
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vität zusammenzuhängen, die subjektferne Strukturen zugänglichmacht, weil das Ich mit seinen bewussten Steuerungsleistungennoch nicht ausgebildet ist. Das frühe Ich arbeitet auf einer Stu-fe, auf der nur wenige individuelle Erfahrungen gesammelt wer-den konnten, die in eine persönliche Geschichte haben einfließenkönnen. So können Strukturen zugänglich werden, die von allge-meiner, d.h. gesetzmäßiger Art sind.
In einer Konstellation, in der das Ich durch die Aktivierung ei-nes frühen Stadiums, das einmal zur Bildung eines Kollektivsche-mas geführt hat, bedroht ist, dürfte es zu psychotischen Zügenkommen. Das Kollektivschema, im erwachsenen Subjekt-Objekt-Status mit dem Ich vermittelt, würde vom Ich in einem solchenFall als zerstörerische Kraft wahrgenommen. Die griechische Kul-tur hat die Bedrohungslage ausgiebig dokumentiert. Das Desa-ster ist immer nahe. ”Das erlebende Ich sah sich einem Seinvon so überwältigender objektiver Macht und so unbeirrbarer ge-genständlicher Konsequenz gegenüber, daß es der isolierten Psy-che praktisch unmöglich war, sich dagegen zu behaupten. Der Re-flexion blieb da nur die Flucht ins Kollektivbewußtsein. Diese Si-tuation ist fast ohne Restbestand in die Kernformeln der klassi-schen Metaphysik eingegangen... Das kollektivistische Motiv aberkehrt wieder in dem Postulat der metaphysischen Einheit von Den-ken und Sein, eine Verschmelzung, die ja nur zustande kommenkann