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Matthias Däumer Truchsess Keie 1 – Vom Mythos eines Lästermauls Abstract: The time of the chronicles works in a linear manner but mythical time is circular. What happens to a literary figure like the seneschal Keie that, being intro- duced into the Arthurian romances, had already been a formidable hero in both of these time schemes? What roles do mythical prototypes such as the Celtic Conán Maol play in this adaption? The resumptions of Keie’s past lives do differ in French and German literature; these differences will be described by the mecha- nisms of ›remythicalization‹, an act of creating new time-circles that answers to a certain social need. However, what need did the courts of the late 12 th and early 13 th century have for a scandalmonger like Keie? I. Keie, gespalten zwischen Mythos und Geschichte [D]iu werlt nie gewan deheinen seltsænern man. sîn herze was gevieret: eteswenne gezieret mit vil grôzen triuwen […], dar nâch kam im der tac daz er deheiner triuwen enphlac. […] dar zuo sô was er _____________ 1 Der folgende Beitrag behandelt die Figur von Artus’ Truchsessen nicht als Einheit, sondern als heterogenes Produkt verschiedener Kulturkreise. Aus diesem Grund sind die Schreibungen des Namens unabhängig von den einzelnen Texten wie folgt vereinheitlicht: ›Keu‹ bezeichnet die Figur der altfranzösischen, ›Keie‹ die der mit- telhochdeutschen und ›Keye‹ die der mittelniederländischen Artusromane. ›Kay‹ ist die Schreibweise für den Truchsess in den Chroniken, ›Cei‹ in den mittelkymri- schen Sagentexten. Als Überbegriff für alle Ausprägungen dient ebenfalls die Be- zeichnung ›Keie‹. Analog zu der Differenzierung der Keie-Gestalten bezeichnet ›Artus‹ wie üblich die kontinentale Ausprägung der Königsgestalt in den deutsch- und französischsprachigen Romanen; ›Arthur‹ meint die keltische und chronikale Ausprägung der Figur. Andere Figuren werden unsystematisch nach der Schreib- weise in den jeweiligen Textzeugnissen bezeichnet.

Matthias Däumer, Truchsess Keie. Vom Mythos eines Lästermauls, in: Däumer/Dietl/Wolfzettel (Hg.): Artusroman und Mythos, Berlin 2011, 69-108

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Matthias Däumer

Truchsess Keie1 – Vom Mythos eines Lästermauls

Abstract: The time of the chronicles works in a linear manner but mythical time is circular. What happens to a literary figure like the seneschal Keie that, being intro-duced into the Arthurian romances, had already been a formidable hero in both of these time schemes? What roles do mythical prototypes such as the Celtic Conán Maol play in this adaption? The resumptions of Keie’s past lives do differ in French and German literature; these differences will be described by the mecha-nisms of ›remythicalization‹, an act of creating new time-circles that answers to a certain social need. However, what need did the courts of the late 12th and early 13th century have for a scandalmonger like Keie?

I. Keie, gespalten zwischen Mythos und Geschichte

[D]iu werlt nie gewan deheinen seltsænern man. sîn herze was gevieret: eteswenne gezieret mit vil grôzen triuwen […], dar nâch kam im der tac daz er deheiner triuwen enphlac. […] dar zuo sô was er

_____________ 1 Der folgende Beitrag behandelt die Figur von Artus’ Truchsessen nicht als Einheit,

sondern als heterogenes Produkt verschiedener Kulturkreise. Aus diesem Grund sind die Schreibungen des Namens unabhängig von den einzelnen Texten wie folgt vereinheitlicht: ›Keu‹ bezeichnet die Figur der altfranzösischen, ›Keie‹ die der mit-telhochdeutschen und ›Keye‹ die der mittelniederländischen Artusromane. ›Kay‹ ist die Schreibweise für den Truchsess in den Chroniken, ›Cei‹ in den mittelkymri-schen Sagentexten. Als Überbegriff für alle Ausprägungen dient ebenfalls die Be-zeichnung ›Keie‹. Analog zu der Differenzierung der Keie-Gestalten bezeichnet ›Artus‹ wie üblich die kontinentale Ausprägung der Königsgestalt in den deutsch- und französischsprachigen Romanen; ›Arthur‹ meint die keltische und chronikale Ausprägung der Figur. Andere Figuren werden unsystematisch nach der Schreib-weise in den jeweiligen Textzeugnissen bezeichnet.

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küene an etelîchem tage, dar nâch ein werltzage. […] [er was] niemen […] ze guote erkant. von sînem valsche er was genant Keiîn der quâtspreche. (Erec, V. 4634–64)2

Auf diese Weise psychologisiert Hartmann von Aue Keie, den Truchsessen des König Artus. Er stellt ihn als viergeteilt, als zerrissen zwischen triuwe und untriuwe, küenecheit und zageheit dar – als Opfer einer moralischen Bewusstseinsspaltung. Diese Passage ist wohl das bekannteste Zeugnis der Versuche von Artusdichtern, die Anwesenheit des Antihelden Keie am – zumindest im klassischen mittelhochdeutschen Roman – unangefochten ideal gedachten Artushof zu legitimieren.3

Hartmanns Strategie der Sektionierung von Keies Wesen soll dem fol-genden Beitrag als Richtlinie dienen, um zu beschreiben, wie eine Figur im Spannungsfeld von ›chronikalen‹ und ›mythischen‹ Denkweisen – in dem der Artusroman generell entstand – zu solch einer gespaltenen, heteroge-nen und (im Vergleich zu anderen Artusrittern) einmaligen Ausprägung kommen konnte.4 Dabei soll ›Mythos‹ über seine existenzphilosophische und seine soziale Wirkweise definiert werden, ohne dabei zu leugnen, dass

_____________ 2 Hier und im Folgenden wird der Erec zitiert nach: Hartmann von Aue, Erec, mhd.

Text hrsg. und übertr. von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 1972. 3 Die heterodiegetischen Legitimierungsstrategien sind für das Folgende weitaus

interessanter als die innerfiktionalen. Doch selbst in der poetischen Welt ist die Legitimierung Keies in fast allen Artusromanen ein großes Thema. Werner Röckes grundlegende Behauptung, dass Keies »Person und sein Auftreten völlig selbstver-ständlich akzeptiert« seien und »meist nur eher resigniert als engagiert zur Kennt-nis genommen« würden, was von einer anderen Gewichtung von Fehltritten am mittelalterlichen Hof gegenüber dem frühneuzeitlichen zeuge, kann hier nicht ge-teilt werden; vgl. Werner Röcke, »Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Ge-walt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman«, in: Pe-ter von Moos (Hrsg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, Köln u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), 343–361.

4 Ein ähnliches Vorhaben verfolgte 2002 Alfred Ebenbauer, der sich bei seiner Suche nach den mythischen Substraten der Figur v. a. auf die germanische Gottheit Loki bezog; vgl. Alfred Ebenbauer, »Der Truchseß Keie und der Gott Loki. Zur mythischen Struktur des arthurischen Erzählens«, in: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, 105–131. Ebenbauer stützte sich dabei auf den von ihm und Ulrich Wyss in den 1980ern für den Artusroman entwickelten Mythosbegriff; vgl. ders., Ulrich Wyss, »Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman«, in: Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfi-sche Lebensformen um 1200. Kolloquium für interdisziplinäre Forschung der Uni-versität Bielefeld (3.–5. November 1983), Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), 513–539.

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der Zentralbegriff dieses Bandes eine noch weitaus größere Reichweite hat.5

Der Mythos ist ein Erklärungsversuch des Unerklärlichen, »eine der frühesten menschlichen Erfindungen wider die ungeheure Wirklichkeit und ihre angstauslösende Bedrängnis.«6 Diese nach Hans Blumenberg definier-te Seite des Mythos macht seine existenzphilosophische Funktion aus, die Funktion, Elemente der Welt in ein benennbares symbolisches System zu überführen und so dem Menschen als »animal symbolicum«7 intellektuell handhabbar zu machen.

Das zweite Definiens dieses Beitrags speist sich aus der Dichotomie ›Mythos/Geschichte‹. Entscheidend ist dabei die Opposition einer ›mythi-schen‹ und einer ›historischen‹ Denkweise, im Speziellen einer ›mythi-schen‹ und ›historischen‹ Zeitvorstellung, die – so Jurij M. Lotman8 bezüg-lich des sujethaften Erzählens, jedoch ohne Nennung des Mythos – auch in Texten zu entsprechenden ›Zeittypen‹ führen. Diese Polarität wird u. a. mythentheoretisch von Kurt Hübner und bezüglich der mittelalterlichen Literatur v. a. von Peter Czerwinski9 – in teilweiser Deckungsgleichheit mit den strukturalistischen Untersuchungen Lévi-Strauss’10 – als Unterschei-dung von zirkulär-unendlichen und linear-endlichen Zeitverläufen be-schrieben, wobei...

_____________ 5 Weitaus umfang- und facettenreicher wird die Mythentheorie für die germanisti-

sche Mediävistik erschlossen in: Udo Friedrich, Bruno Quast, »Mediävistische Mythenforschung«, in: dies. (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), IX–XXXVII.

6 Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 1993, 88. 7 »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer

Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. All diese Formen [u. a. der Mythos] sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationa-le, sondern als animal symbolicum definieren«; Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1990, 51.

8 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Innenwelt des Denkens, übers. von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja, hrsg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank u. a., Frankfurt a. M. 2010, v. a. 203f.

9 Vgl. Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten. Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München 1993 (Exem-pel einer Geschichte der Wahrnehmung, Bd. II).

10 Vgl. Claude Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen«, in: ders., Strukturale An-thropologie I, Frankfurt a. M. 1977, 226–254; ders., Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1971; ders., Mythologica II. Vom Honig zur Asche, Frankfurt a. M. 1972; ders., Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten, Frank-furt a. M. 1973; ders., Mythologica IV. Der Nackte Mensch, Frankfurt a. M. 1975.

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der mythische Mensch in zwei Zeitdimensionen, nämlich einmal in der heiligen Zeit […] und in der profanen […] [lebte]. […] Als Sterblicher erfährt er zwangs-läufig die mythischen Zyklen im Rahmen der profanen Zeit, die mythische Zeit wird in die profane und irreversible eingebettet.11

Mittels dieses Bildes einer ins Geschichtlich-Lineare eingebetteten Zirkula-rität der Zeit ist es möglich, den aktionalen Begriff ›Mythisierung‹ bzw. ›Remythisierung‹ zu definieren als ein Hinausheben vergänglicher Dinge oder abgesunkener Mythen aus dem Strom der Zeit, als die kulturelle Pro-duktion von Zirkulär-Unendlichem – beispielsweise durch einen literari-schen Text. Die Dynamik des Begriffs ›Remythisierung‹ scheint dazu ge-eignet, ein Spannungsfeld in der Untersuchung des Verhältnisses von älteren Mythen und Artusroman zu umgehen, das sich um die Frage rankt, ob nur die alten (keltischen) Sagen oder auch der Artusroman Mythen seien.12 Angesichts der ›Remythisierung‹ sind sie es beide, die Sagen ›na-türliche Basismythen‹ und der athurische Versroman Zielort des Transfers dieser Mythen in ein neues System temporärer Zirkularität – mit den ›Übergangsstationen‹ der linearen Chroniken und der alternativen, nicht-zirkulären Entwicklung der Prosaromane.

Der Vorgang der ›Remythisierung‹, so eine weitere These Blumen-bergs, verfolgt ein Ziel bzw. befriedigt ein bestimmtes gesellschaftlich-kulturelles Bedürfnis,13 macht also die soziale Funktion des Mythos aus:

Die Geschichte sagt, dass schon einige Ungeheuer aus der Welt verschwunden sind, die noch schlimmer waren als die, die hinter dem Gegenwärtigen stehen; und sie sagt, dass es schon immer so oder fast so gewesen ist wie gegenwärtig. Das macht Zeiten mit hohen Veränderungsgeschwindigkeiten ihrer Systemzustände begierig auf neue Mythen, auf Remythisierungen aber auch ungeeignet, ihnen zu geben, was sie begehren.14

Das Ungeheuer, das, obwohl aus der Welt verschwunden, noch immer gegenwärtig ist und im 12. und 13. Jahrhundert aus seiner (partiellen) Zei-tigung befreit wird, soll in diesem Beitrag der Truchsess des König Artus sein. Die Untersuchung der Mechanismen der ›Remythisierung‹ dieses

_____________ 11 Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 143f.; Hervorhebungen

im Original. 12 Die Positionen in der Debatte darum, ob mit ›Mythen‹ nur die keltischen Wurzeln

der Artussage zu bezeichnen seien oder aber das arthurische Erzählen der Romane selbst wesentlich mythischen Charakter habe, wurden übersichtlich von Alfred Ebenbauer dargelegt; vgl. Ebenbauer (wie Anm. 4), 105–109.

13 Zum ›Bedürfnis‹ und dessen Befriedigung als soziale und politische Funktion des Mythos vgl. die Sektion ›Myth and nationalism‹ in: Robert A. Segal (Hrsg.), Myth. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies, Bd. 1, London, New York 2007, 203–259, v. a. George Schöpflin, »The functions of myth and taxonomy of myth«, ebd., 205–220.

14 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, 41.

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ehemals keltischen Helden im französisch- und deutschsprachigen Artusro-man verfolgt das Ziel, am Ende eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem höfischen Bedürfnis zu liefern, das die soziale Funktion des ›Mythos Keie‹ ausmachte.

1. Der chronikale Kay

Die von Hartmann beschriebene Spaltung von Keies Wesen lag zur Zeit der Entstehung des Artusromans schon in der Tradition dieses »literari-schen Wiedergängers«15 begründet. Denn einerseits kommt auf Chrétien und seine Nachfolger das Bild eines ›chronikalen‹ Kay und andererseits eines ›mythischen‹ Cei.16 In Geoffreys von Monmouth 1139 vollendeter Historia Regum Britanniae17 ebenso wie in Waces Roman de Brut,18 der Vermittlungsstufe, in der Chrétien die Chronik kannte, ist Kay ein treuer Begleiter seines Königs. Seine Treue wird nach der Eroberung Galliens mit der Provinz Anjou belohnt,19 wo er als gerechter Herrscher und Stadter-bauer großen Ruhm erlangt.20 Als Truchsess am Artushof ist Kays Verhal-ten vorbildlich21 und er stirbt in Artus’ Schlacht gegen die Römer nach

_____________ 15 Andreas Daiber, Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen

im ›Biterolf und Dietlieb‹ sowie am Beispiel Keies und Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ und der ›Crône‹, Frankfurt a. M. u. a. 1999, 9.

16 Es besteht Uneinigkeit darüber, ob Chrétiens Keu-Figur Vorstufen hat, ob es sich also um eine originäre Erfindung oder eine Entlehnung aus nicht tradierten Quellen handelt; vgl. dazu Ebenbauer (wie Anm. 4), 109, Anm. 17. Angesichts der Tatsa-che, dass sich keine Zwischenstufen nachweisen lassen, in Kombination mit der Vielzahl von Prototypen, die zwar nicht Keu o. ä. heißen, aber mehr oder weniger dessen Charakterzüge tragen (siehe Kap. I.3 des vorliegenden Beitrags) erscheint die Annahme, dass Chrétien – trotz allen möglichen Entlehnungen aus Mythen – nicht der literarische Schöpfer des ›bösen‹ Keu sei, doch recht hypothetisch; so auch: Linda M. Gowans, Cei and the Arthurian Legend, Cambridge 1988 (Arthur-ian Studies 18), 163.

17 »Galfredi Monumetensis Historia Regum Britanniae«, in: Gottfried’s von Mon-mouth Historia Regum Britanniae, mit literarhistorscher Einleitung und ausführli-chen Anmerkungen und Brut Tysilio, altwälsche Chronik in deutscher Ueberset-zung, hrsg. und übers. von San Marte (= Albert Schulz), Halle 1854, 1–176. Eine Übersetzung der Artus betreffenden Passagen findet sich in: Karl Langosch (Hrsg.), König Artus und seine Tafelrunde. Europäische Dichtung des Mittelalters, Stuttgart 1980, 5–71.

18 Vgl. Wace, Le Roman de Brut, hrsg. von Ivor Arnold, Paris 1938–1940. Übers. der entspr. Passagen in: Langosch (wie Anm. 17), 72–161.

19 Vgl. Historia, IX, 11, 90–92; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 34. 20 Vgl. Historia, X, 13, 8–12; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 64. 21 Vgl. Historia, IX, 13, 27–32; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 37.

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schwerer Verwundung den Heldentod.22 Die einzige Szene, die aus dieser Beschreibung eines absolut tadellos ›geschichtlichen‹ Helden herausfällt, ist das dritte Kapitel des zehnten Buchs, in dem der Kampf von Artus, Kay und Mundschenk Bedevere gegen einen Riesen geschildert wird,23 eine Episode, die von der Handlungsmotivation wie von der narrativen Struktur her weniger dem Chronikalen als der fabulierenden Erzähllust verpflichtet ist: Nicht umsonst e r z ä h l t Arthur, nachdem der Riese auf Handlungs-ebene besiegt ist, noch von einem weiteren Kampf gegen den Riesen Retho; über die Spiegelung der Erzählsituation im Text weist dieser sich selbst als fabula aus. Die Episode erinnert einerseits – wendet man seinen Blick teleologisch nach ›vorne‹ – schon an das aventiurenhafte Erzählen des höfischen Romans. Andererseits kann sie auch als Aufnahme einer der im Folgenden behandelten keltischen Mythen gelten, existiert doch in der aus dem 14. Jahrhundert tradierten, jedoch wahrscheinlich mehrere Jahr-zehnte vor der Historia Regum Britanniae entstandenen Sage Culhwch ac Olwen24 eine sehr ähnliche Episode. Hier besiegt Cei den Riesen Dillus den Bärtigen, ein Kampf, der das ›mythische Substrat‹ des durch Spott ausgelösten Bruchs mit Arthur zur Folge haben wird.25 Der keltische Dillus wird durch Raub seines Bartes besiegt, ebenso wie der Riese Rheto mit Arthur um die gegenseitige ›Entbärtigung‹ (respektive Kastration) kämpft.

_____________ 22 Vgl. Historia, X, 9, 14–31 u. X, 13, 1–12; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 59 u. 63f. 23 Vgl. Historia, X, 3; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 44–49. 24 Originaltext im Folgenden zitiert nach: Culhwch and Olwen. An Edition and Study

of the Oldest Arthurian Tale, hrsg. von Rachel Bromwich, Cardiff 1992. Überset-zung der Sage in: Helmut Birkhan, Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur, Bd. II, Kettwig 1989, 33–92; die Episode um Dillus den Bärtigen: 77f. Eine wort-getreue Übersetzung in: Stefan Zimmer, Die keltischen Wurzeln der Artussage. Mit einer vollständigen Übersetzung der ältesten Artuserzählung ›Culhwch und Ol-wen‹, Heidelberg 2006, Übersetzung: 116–165. Zur Datierung des Texts und seiner frühen Niederschrift vgl. ebd., 113: »[Culhwch ac Olwen] dürfte um 1100 entstan-den sein und ist in zwei Handschriften überliefert (etwa 2/3 des Texts im Weißen Buch von Rhydderch, ca. 1350; vollständig im Roten Buch von Hergest, ca. 1400).« Zum mythischen Substrat der Entzweiung mit Artus siehe im vorliegenden Beitrag 77f. und 92f. (zur Wiederaufnahme der Szene im Daniel des Stricker).

25 Auf den Zusammenhang von Geoffreys Riesenaventiure und Culhwch ac Olwen hat erstmals Albert Schulz, alias San Marte, hingewiesen: »Einige besondere Züge dieses Abenteuers mit dem Riesen Dillus stimmen so sehr mit der Erzählung von Gottfried von Monmouth Hist. Reg. Brit. L. X. c. 3 überein, daß man geneigt sein möchte, anzunehmen, er habe diese Sage des Mabinogi mit der Erzählung von den Riesen [...] verwoben«; San Marte (= Albert Schulz), Beiträge zur bretonischen und celtisch-germanischen Heldensage, Quedlinburg, Leipzig 1847 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur II,3), 65f.; dort auch eine Aufzählung der Übereinstimmungen.

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Neben der Fabulierlust, die Kay in der Riesen-Passage bei Geoffrey umrankt, ist es vor allem der Doppelgängerstatus26 des Truchsesses mit Mundschenk Bedevere, der im Artusroman Chrétien’scher Prägung Auf-nahme findet. Bei Geoffrey wie bei Wace werden an keiner Stelle Mund-schenk und Truchsess ohne Bezug aufeinander genannt. Die Funktionsstel-le des Doppelgängers wird von den frühen höfischen Romanen nachge-ahmt,27 wobei es in Chrétiens Erec et Enide der Idealritter Gauwain ist, der mit Keu ›Hand in Hand‹ geht,28 was – zumindest hinsichtlich Hartmanns Übertragung des Chrétien’schen Romans – wortwörtlich zu verstehen ist:

dô hete Walwân und der vriunt sîn, der truhsæze Keiîn, sich ze handen gevangen und wâren gegangen […] vür das kastel schouwen. (Erec, V. 1152–57)

Bei seinem ersten Auftritt auf der literarischen Bühne ist Keu/Keie bei Chrétien wie Hartmann noch eine ungetrübt positive Gestalt, die ihre Auf-gaben als höfischer Beamter fehlerlos erfüllt. Erst beim zweiten Erscheinen des Truchsesses in Erec et Enite (V. 3920–4062) und im Laufe der Ent-wicklung der deutsch- und erst recht der französischsprachigen Artuslitera-tur entwickelt sich die Figur zum Negativen und die Doppelgänger Keu/ _____________ 26 ›Doppelgänger‹ wird in diesem Beitrag nicht im Sinne zweier identischer oder sich

ähnelnder Figuren, sondern, im Sinne des selbst mythisch präfigurierten ›Doktor Jekyll und Mr Hyde‹-Prinzips, als Alter-Ego-Konstellation, als zwei komplementä-re Antagonisten bzw. zwei Seiten einer Medaille verstanden.

27 Martin Baisch, Matthias Meyer und Johannes Keller begründeten den Doppelgän-gerstatus Keies aus einer Entwicklung heraus, die der Truchsess in der Krone des Heinrich von dem Türlin durchmacht. Im vorliegenden Beitrag wird der Doppel-gängerstatus als ein weitaus älteres Grundelement seiner mythischen und chronika-len Herkunft gesehen, das am Ende der Krone nur besonders deutlich anklingt, wenn Gawein von sich und seinem frunt, her Kay (V. 25866) redet; vgl. Martin Baisch, »›Welt ir: er vervellet; / Wellent ir: er ist genesen!‹. Zur Figur Keies in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône«, in: ders., Aventiuren des Geschlechts, Göt-tingen 2003, 149–173, hier: 173; Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretation und poetologische Untersuchung zum Artusroman und zur aventiu-renhaften Dietrichsepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, 163; Johannes Keller, ›Diu Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Wunderketten, Gral und Tod, Bern u. a. 1997 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 25), 135; vgl. dazu auch: Christiane Schonert, Figurenspiele. Identität und Rollen Keies in Heinrichs von dem Türlin »Crône«, Berlin 2009, 162–164. Die Krone wird hier und im Fol-genden zitiert nach: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hrsg. von Fritz Peter Knapp, Manuela Nieser, Tübingen 2000 (ATB 112) und Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042), hrsg. von Alfred Ebenbauer, Florian Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118).

28 Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, afrz./deutsch, übers. und hrsg. von Albert Gier, Stuttgart 1987, V. 1085–1136.

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Kei und Gauvain/Gawein werden zu Komplementären: der Idealritter und sein (falscher) Freund.29

2. Der mythische Cei

Die zweite Gestalt, die auf den Keu/Keie der Artusromane Einfluss ge-nommen hat, ist der Cei der mittelkymrischen Sagen. In der keltischen Mythologie ist Cei nicht nur ein Held – er ist ein Superheld: In der um-fangreichsten, vom Artusroman höfischer Prägung weitestgehend unbe-rührten Sage Culhwch ac Olwen (wahrscheinlich um 1100 entstanden)30 kann Cei u. a. neun Tage und Nächte ohne zu Atmen unter Wasser leben, ebenso lange kann er ohne Schlaf auskommen, eine Wunde von seinem Schwert kann niemals heilen, in einem Wald passt sich seine Körpergröße an die der Bäume an und die Hitze seiner Hände schützt vor Regen und Kälte.31 Vor allem in den ältesten (nur fragmentarisch überlieferten) Sagen wird Cei stets als Arthurs und damit als bester Kämpfer der ganzen Welt genannt. So heißt es im wahrscheinlich ältesten32 altkymrischen Fragment Pa gur yv y porthaur: »Ny bei duv ae digonhei. / Oet diheit aghev kei.« (»Wenn es nicht Gott wäre, der es vermöchte, / unerreichbar wäre Ceies Tod.«)33 An manchen Stellen scheint er Arthur gar zu überflügeln. Dies ist beispielsweise in Melwas ac Gwenhwyvar34 der Fall, einem Zwiegespräch zwischen Arthurs Gattin Gwenhwyfar (Ginover) und ihrem Verehrer Mel-was, das wahrscheinlich eine Vorstufe der berühmten Entführungsge-

_____________ 29 Vgl. zu Gawein und Keie als konträre Doppelgänger u. a. Ulrich Wyss, »Zur ›In-

nenpolitik‹ des Artusreiches«, in: Ebenbauer/Wyss (wie Anm. 4), 530–539, hier: 530. Schon im Mittelalter wurde diese Opposition zu didaktischen Zwecken ent-sprechend ausgebaut, bspw. im Welschen Gast (1215/16) oder im Spruchgedicht über den Disput zwischen Gawan und Keie (wahrsch. erste Hälfte 13. Jh.); vgl. Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast. Text (Auswahl). Übersetzung. Stel-lenkommentar, hrsg. und übers. von Eva Willms, Berlin, New York 2004, V. 76–80, und: »Disput zwischen Gawan und Keie«, in: Helmut de Boor (Hrsg.), Mittel-alter. Texte und Zeugnisse, München 21988 (Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 1), 829–831.

30 Vgl. Zimmer (wie Anm. 24), 113. 31 Vgl. Culhwch, Z. 384–392; Birkhan (wie Anm. 24), 48. 32 Vgl. Zimmer (wie Anm. 24), 69. 33 Text und Übersetzung bei Zimmer (wie Anm. 24), 75. 34 Edition des mittelkymrischen Texts: Mary Williams, »An Early Ritual Poem in

Welsh«, Speculum 13/1 (1938), 38–51; Übersetzung der Sage in: Birkhan (wie Anm. 24), 110–118.

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schichte darstellt.35 Melwas spricht hier von einem ausstehenden Zwei-kampf mit Cei, der als Maß der heroischen Stärke gilt – während der im Falle von Ceis Versagen gehörnte Arthur noch nicht einmal erwähnt wird. Es erscheint anhand dieses Fragments wahrscheinlich, dass Cei ursprüng-lich der Befreier der Königin war, er somit im französischen Chevalier de la Charrette von Chrétien mittels einer k o n z e p t u e l l e n Verkehrung des Mythos zum (Mit-)Schuldigen an Guenièvres Entführung umgeschrie-ben wurde.36

Auch Cei tritt oft im Verbund mit Bedwyr auf – er hat wie in den Chroniken ein Alter Ego. Mit den höfischen Romanen wiederum haben die älteren Sagentexte eine andere interessante Übereinstimmung: Der Zwist zwischen Artus (bzw. seinem Hof) und Keu/Keie, der im französischen Artusroman und später im mittelniederländischen seine eklatantesten Aus-prägungen findet, ist schon anhand dieses Superhelden festgelegt. In Culhwch ac Olwen erweist sich Cei bei der Ankunft des Protagonisten als Vertreter einer konservativen Etikette, was zu Unstimmigkeiten mit Arthur führt.37 Schließlich kommt es gar zum endgültigen Zerwürfnis zwischen Arthur und Cei. An dieser mythischen ›Sollbruchstelle‹ des Verhältnisses König/Truchsess taucht zum ersten Mal ein weiteres, für die Figur Keu/Keie prägendes Motiv auf: der Spott. In einer Sagenlandschaft, die der Schmährede eine so große Macht zuspricht, dass Helden, um sie zu ver-meiden, willentlich in den Tod gehen,38 stimmt Arthur nach Ceis Sieg über Dillus den Bärtigen – der Sieg den auch Geoffrey in Form der Riesen-aventiure aufnimmt, dort jedoch sinnfällig mit Arthur als Kampfgenossen Kays – einen Spottgesang auf seinen Truchsessen an. Dies tut er ohne ei-nen nachvollziehbaren Grund.

Doch wofür auch mit Grund? Als der konkret-historischen sozialen Ordnung enthobene, überhistorisch Realität ›entängstigende‹ Mythe hat Culhwch ac Olwen im Gegensatz zu den Artusromanen eine moralische Legitimation des Geschehens gar nicht nötig. Cei kündigt aufgrund von _____________ 35 Vgl. Patrick Sims-Williams, »The Early Welsh Arthurian Poems«, in: Rachel

Bromwich u. a. (Hrsg.), The Arthur of the Welsh. The Arthurian Legend in Medie-val Welsh Literature, Cardiff 1991, 33–72.

36 Vgl. Chrétien de Troyes, Lancelot [Le Chevalier de la Charrette], hrsg. und übers. von Helga Jauss-Meyer, München 1974 (Klassische Texte des romanischen Mit-telalters in zweisprachigen Ausgaben 13), V. 31–269; siehe Kapitel II des vorlie-genden Beitrags.

37 Vgl. Culhwch, Z. 128–138; Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 39. 38 Dies zeigt sich bspw. beim berühmten irischen Helden CúChulainn der Ulstersage,

der wegen der Androhung einer Schmährede seinen Speer an seine Feinde über-gibt, was zu seiner Tötung führt; vgl. Birkhan (wie Anm. 24), 211, Anm. 12. Zum Zusammenhang der Ulstersage und des Artusmythos’, v. a. über den Keie ähnli-chen Bricriu siehe Anm. 52.

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Arthurs Spottgesang seinem König den Dienst und bis zum Ende des Sa-gentexts taucht der Verspottete nicht mehr auf.39 Auch Ceis Verhalten wird nicht psychologisiert, wenngleich es im Gegensatz zu Arthurs nachvoll-ziehbar ist – im Endeffekt jedoch handeln Arthur wie Cei aufgrund einer indifferenten Notwendigkeit, dem ›Es-ist-wie-es-ist‹ des Mythos. Die stän-dige Möglichkeit dieses mythischen Zerwürfnisses findet sich im franzö-sisch- und deutschsprachigen Artusroman ebenso wie das Element des Spotts wieder; jedoch wird hier der mythisch-unbegründet Verspottete zum begründeten Spötter40 bzw. der ehemalige Superheld zum Prügelknaben des Romangeschehens. Die Rolle des ersten Ritters übernimmt der in der keltischen Mythologie eher marginale Gauwain/Gawein, was das Hart-mann’sche Bild des Hand-in-Hand-Auftretens mit Keie als programmati-sches Symbol für diesen Rollentausch und den Übergang von den myt-hisch-anarchistischen zu den neuen ›legitimierten‹ (oder ›zu legitimieren-den‹) Helden erscheinen lässt.

Die Differenz zwischen ›chronikaler‹ und ›mythischer‹ Denkweise lässt sich (im Sinne der angeführten definitorischen Parameter des Mythos) am eindeutigsten über die Zeitverläufe der lateinischen und der mittelkym-rischen Erzählungen begründen. Geoffrey erzählt Kays Leben linear, ange-fangen von seinem ersten Auftritt am Hof des Arthur bis hin zu seiner Beisetzung; der keltische Sagentext behandelt die erzählte Zeit hingegen zyklisch. Am deutlichsten wird dies, wenn Culhwch mit einem Hand-lungskatalog der arthurischen Taten den König und seine Mannen (und natürlich auch Cei, der zusammen mit seinem Alter Ego Bedwyr als erster Held genannt wird)41 zur Unterstützung bei seiner Brautwerbung be-schwört. Zu den vielen Namen in dieser Beschwörung gehört...

_____________ 39 Vgl. Culhwch, 975–984; Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 78. 40 Stefan Seeber konnte erst kürzlich zeigen, wie omnipräsent der Spott im höfischen

Roman ist; vgl. Stefan Seeber, »Keie der arcspreche – Spott und Verlachen im hö-fischen Roman um 1200«, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57/1 (2010) (Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt, hrsg. von dems. und Sebastian Coxon), 8–22; hier: 9–11. Der Spott existiert in den Romanen auf homo- wie auf heterodiegetischer Ebene und besitzt wie in den My-then die Funktion der gesellschaftlichen ›Waffe‹. Am eindeutigsten zeigt sich dies an Wolframs Anrufung von Hartmann, er möge ›seinen‹ Artushof vom Spotten über Parzival abhalten, weil Wolfram sonst im Gegenzug seinen Spott auf ihn an-wenden würde: ein ›High Noon‹ der Spötter; vgl. Parzival, 143,21–26. (Hier und im Folgenden: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mhd. Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, Berlin, New York 1998).

41 Die ersten Worte des von Culhwchs Beschwörung sind: »Asswynaw y gyuarws ohonaw ar Kei a Bedwyr« (»Er verlangte [...] das Zugeständnis im Namen von Kei und Bedwyr«); Culhwch, Z. 175, Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 42.

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Gwydawc mab Menester, a ladawd Kei, ac Arthur a’y lladawd ynteu a’e urodyr yn dial Kei. (Culhwch, Z. 283f.)

Gwyddawg, de[r] Sohn von Menestyr ›Becherträger‹, der Kei erschlug und den Arthur zusammen mit seinen Brüdern aus Rache für Kei tötete.42

Es mutet seltsam an, dass Culhwch mit dieser Namensnennung an die Ge-schichte von Ceis Tod erinnert, denn schließlich sitzt Cei lebendig vor ihm. Auf der Ebene der Fiktion scheint keiner daran Anstoß zu nehmen, dass in Anwesenheit Ceies dessen Tod als bereits geschehen erzählt wird. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass diese Nennung ein Versehen oder ein anderer Cei gemeint ist, denn (1.) wird in den folgenden Versen nach der Logik genealogischer Abfolge der Sohn des ›Verstorbenen‹ namens Garanwyn genannt und (2.) betreffen die Auswirkungen der zirkulären Zeit auch Arthur. So beschwört Culhwchs die Hilfe des Königs ebenfalls bei

Moruran eil Tegit – ny dodes dyn y araf yndaw yGhamlan rac y haccred, pawb a tybygynt y uod yn gythreul canhorthwy [...]. A Sande Pryt Angel – ny dodes neb y wayw yndaw yGhamlan rac y decket, pawb a debygynt y uod yn engyl can-horthwy. A Chynwyl Sant – y trydygwr a dienghis o Gamlan; ef a yscarwys di-wethaf ac Arthur y ar Hengroen y uarch. (Culhwch, Z. 225–232)

Morvran ›Großer Rabe‹, dem Sohn des Tegid – niemand erhob gegen ihn seine Waffen in (der Schlacht vom) Camlann, weil wegen seiner Häßlichkeit jeder glaubte, er sei ein hilfreicher Teufel. [...] (Kulhwch berief sich auf) Sanddev Pyrd Angel ›Engelsgesicht‹, gegen den niemand bei Camlann die Lanze erhob, weil ihn wegen seiner Schönheit alle für einen hilfreichen Engel hielten, und den heiligen Kynwyl, der einer von den drei Männern war, die bei Camlann davonkamen – als letzter verließ er Arthur auf seinem Pferd Hengroen.43

Was erst wie die schmeichelhafte Aufführung einer ehemaligen Heldentat erscheint, weist bei einem genaueren Hinhören in eine ganz andere Rich-tung: Die Schlacht von Ghamlan (Camlaan) ist – in der Chronik Geoff-reys,44 aber auch schon in den Annales Cambiae aus dem 6. Jahrhundert45

_____________ 42 Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 44; für eine alternative Übersetzung vgl.

Zimmer (wie Anm. 24), 131. Die ältere Übersetzung San Martes (wie Anm. 25), 11, nach der Gwyddawg Cei lediglich ›schlug‹ und nicht ›erschlug‹ stellt eine un-zulässige Glättung des Texts nach dem (modernen, nicht-mythischen) Anspruch auf lineare Kohärenz dar.

43 Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 42f.; vgl. Zimmer (wie Anm. 24), 127f. 44 Vgl. Historia, XI,2, 11–59; vgl. Langosch (wie Anm. 17), 66–68. Bei Geoffrey ist

Cambula (= Camlann; Nennung in XI,2, 13) der Fluss, an dem sich das Schlacht-feld befindet.

45 Edition: Egerton Phillimore, »The Annales Cambriae and Old-Welsh genealogies from Harleian MS. 3859'«, Y Cymmrodor 9 (1888), 141–83. Hier wird für das Jahr 537 verzeichnet: »Gueith camlann in qua arthur et medraut corruerunt« (›Schlacht von Camlann in der Artus und Mordred umkamen‹).

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und im keltischen Sagenkreis in Breudwyt Ronabwy (Rhonabwys Traum)46 – als Artus’ letzte Schlacht bekannt, in der er sein Leben verlieren oder (in der überhöhenden Variante) verwundet und nach Avalon entrückt wird. Der hässliche, der schöne und der heilige Ritter in Culhwchs Aufzählung sind im Gegensatz zu ihrem König die Überlebenden der finalen Schlacht, die allegorische Trias dessen, was nach seinem Untergang übrig bleibt: die Behauptung im grausamen Kampf, das Hochhalten höfischer Schönheit und die Entrückung ins Mythisch-Heilige. Eine vor den Artushof geladene Figur weiß also vor Arthur von den drei Rittern, die ihn überleben, bzw. dem Substrat, das ihn überdauern wird, zu berichten. Der lebende, regie-rende König, die Erzählung seines Todes und das Bewusstsein von seinem Nachleben sind gleichzeitig existent. Die daraus resultierende paradoxe Situation des ›Lebendig-Gestorben-Seins‹ hat System und zeugt vom my-thisch-zirkulären Zeitverständnis der Zuhörer: Sie akzeptieren diesen hete-rochronen Zustand ebenso wie die Figuren der Handlung, spiegelt er doch ihr eigenes Wissen von anderen Sagentexten wider, also u. a. auch ihre Kenntnis vom Tod der an dieser Stelle noch lebendigen Figuren.47 Dies macht die Artusgesellschaft innerhalb der Fiktion wie innerhalb ihrer Re-zeption zu ›Untoten‹, gefangen im Kreislauf des ewig (Wieder-)Erzählten.

Selbst in der wahrscheinlich jüngsten autochthonen arthurischen Er-zählung des keltischen Sagenkreises,48 die schon unter dem Einfluss der französischen Romane stand, in Breudwyt Ronabwy, ist dieser ›Untoten‹-Status beibehalten. Breudwyt Ronabwy behandelt das Gesicht eines Träu-mers; der Text verwendet dabei die Figurenkonstellation der Visionslitera-tur von Charismatiker und angelus interpres49 und verbindet, nicht ganz _____________ 46 Im Folgenden zitiert nach: Melville Richards, Breudwyt Ronabwy, Allan o’r Llyfr

Coch o Hergest, Caerdydd 1948. Übersetzung in: Birkhan (wie Anm. 24), 119–142.

47 Zum präfigurierenden Sagenwissen von Zuhörern, in diesem Fall auf die mythi-sche Topographie bzw. das ›Wegewissen‹ in der Heldenepik bezogen, vgl. Uta Störmer-Caysa, »Wege und Irrwege, Wissen und heroische Geographie in der Kudrun. Kleine Studie über das Entstehen von Plausibilität in der Heldendich-tung«, in: Matthias Däumer u. a. (Hrsg.), Irrwege. Zu Ästhetik und Hermeneutik des Fehlgehens, 93–111.

48 Vgl. Birkhan (wie Anm. 24), 202. 49 Zu dieser Figurenkonstellation vgl. allgemein Peter Dinzelbacher, Vision und

Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23). Zur Adaption der Techniken der Visionsliteratur in der Artuslite-ratur und dem Spiel mit der Figurenkonstellation Charismatiker/angelus interpres in der Krone, vgl. Matthias Däumer, »›Hje kam von sinen augen / Das wunderlich taugen‹. Überlegungen zur Sinnesregie in den Wunderketten- und Gralspassagen der Krone Heinrichs von dem Türlin«, in: ders., Cora Dietl, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin, New York 2010 (Schriften der Inter-nationalen Artusgesellschaft 7), 215–235, hier: 228–232.

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unähnlich dem Verfahren von Dante in seiner Göttlichen Komödie, die geträumten arthurischen Bilder mit politischen Themen und Personen des 13. Jahrhunderts. Interessant ist, dass der Text dabei die temporäre Zirkula-rität der älteren Sagen beibehält: Der Träumer Rhonabwys trifft als erstes auf Iddwag, den Aufwiegler von Britannien, der in der Schlacht bei Cam-lann als Bote zwischen Arthur und Medrawt (Modred) fungierte und über Fehlinformationen die tödliche Schlacht vorantrieb. Iddwag ist es, der Rho-nabwy im Folgenden durch das Traumgeschehen führt. Das erste, was er dem Träumer nach der Erinnerung an die finale Schlacht und somit nach dem erinnernden Abruf von Arthurs Tod zeigt – ist ein lebendiger Arthur. Auch hier ist der König ein ›Untoter‹, bei lebendigem Leibe zu Tode er-zählt, mit dem Unterschied, dass die Paradoxie in das Reich des Traums zurückgedrängt wird. Mythos und Traum – beide Bereiche ermöglichen es auf ähnliche Weise, mit der Linearität der Zeit zu brechen. Oder anders formuliert: Der (literarisch, d. h. schriftlich konstruierte)50 Traum ist das Areal, in dem die mythischen Strukturen erhalten bleiben können, obwohl sie in der keltischen Gesellschaft des 13. Jahrhunderts als ›lebendiges‹, d. h. orales Erzählgut im Abklingen begriffen sind.

Hand in Hand mit der temporären Zirkularität behält Breudwyt Ronab-wy, den Neukonzeptionen des französischen Romans trotzend, noch ein weiteres Element des älteren keltischen Sagenguts bei und erweist über das Zusammenschnüren in einem Bild deren enge Verbindung: Rhonabwy erkundigt sich bei seinem angelus interpres Iddwag, was es mit einem Heer auf sich habe, das, obwohl im Gesamten geordnet, sich in ständiger Bewegung um ein Zentrum befinde. Dieses Zentrum wird wie folgt be-schrieben:

Namyn y marchawc a wely di racko, Kei yw hwnnw, teckaf dyn a varchocka yn llys Arthur yw Kei. A’r gwr ar ymyl y llu yssyd yn bryssyaw yn ol y edrych ar Kei yn marchogaeth, a’r gwr yn y kanol yssyd yn ffo y’r ymyl rac y vriwaw o’r march. A hynny yw ystyr kynnwryf y llu. (Breudwyt, 10,18–24)

_____________ 50 Die im 13. Jahrhundert noch neue Skripturalität wird am Ende von Breudwyt Ro-

nabwy in vehementer Ablehnung der oralen Erzähltradition als primäre Medialität behauptet: »A llyma yr achaws na wyr neb y breidwyt, na bard na chyfarwyd, heb lyuyr, o achaws y geniuer lliw a oed ar y me[i]rch, a hynny o amrauael liw odi-dawc ac ar yr aruev ac eu kyweirdebeu, ac ar y llenneu gwerthuawr a’r mein rin-wedwal«; Breudwyt, 21,10–14; »Und das ist der Grund, warum ohne Buch keiner – weder Barde noch Spielmann – den Traum erzählen kann: die große Zahl der Farben der Pferde und die Verschiedenartigkeit seltsamer Farben an den Waffen und ihrem Zubehör und der wertvollen Mäntel und wunderkräftigen Steine«; Birk-han (wie Anm. 24), 142. Die vielen Details des schriftlich konstruierten Traums, die allesamt zu seiner allegorischen Bedeutung beitragen, lassen den durch Barde und Spielmann verkörperten alten medialen Zustand der Oralität als ungeeignet er-scheinen, der Bedeutung des Traumgeschehens gerecht zu werden.

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Der Ritter, den du dort siehst, ist Kei. Kei ist der schönste Krieger, der in Arthurs Hofgesellschaft reitet. Wer an der Flanke des Heeres ist, drängt zurück, um Kei zu sehen, und wer in der Mitte ist, flüchtet zur Flanke, um nicht vom Roß verletzt zu werden. Das ist die Unruhe des Heeres.51

Cei ist der ›Magnet‹ der ›Feldlinien‹; er stößt die Kämpfer aufgrund seiner Brutalität ab und zieht sie durch sein heroisches Charisma wieder an. So hält er die Artusritter (und in Ausdeutung: die Erzählungen von ihnen) in Bewegung und gleichzeitig (als Corpus) zusammen. Die Zirkularität der Zeit fällt zusammen mit der Kreisbewegung der von und zu ihm Streben-den, die Ceis Bedeutung als Zentrum der keltischen Sagenwelt verbildlicht, eine Bedeutung, die im kontinentalen Roman eher Artus als Nukleus der erzählten Welt und ihrer mæren innehat.

3. Conán, ein zweiter Cei der keltischen Mythologie

Es gab schon viele Versuche, jenseits des chronikalen und mythischen Kay/Cei Prototypen für die Chrétien’sche Figurenprägung zu finden.52 Die häufigsten Nennungen sind dabei die Götter Loki und Momos,53 Thersites (in der Ilias der einzige Grieche niederer Abkunft, der mit losem Mund-werk auch seinen Anführern trotzt), manchmal gar Hagen54 oder Mephisto-pheles55. Eine Gestalt wurde dabei zwar auch genannt,56 jedoch im Ge-gensatz zum Helden Bricriu der irischen Ulstersage,57 nie genauer in den

_____________ 51 Übersetzung: Birkhan (wie Anm. 24), 129. 52 Für eine Aufzählung der Möglichkeiten vgl. Harold Jerome Herman, Sir Kay. A

Study of the Character of the Seneschal of King Arthur’s Court, Pennsylvania 1960. Speziell für die keltischen Vorfahren Keies: Roger Sherman Loomis, Celtic myth and Arthurian romance, New York 1927; Geoffrey Ashe, Mythology of the British Isles, London 1990.

53 Vgl. Ebenbauer (wie Anm. 4). 54 Vgl. Käte Müller-Lisowski (Hrsg. und Übers.), Irische Volksmärchen, München

151996 (Die Märchen der Weltliteratur), 345. 55 Vgl. Wolfgang Mohr, »Mephistopheles und Loki«, DVjs 18 (1940), 173–200. 56 Vgl. Ebenbauer (wie Anm. 4), 113 und v. a. Ylande De Pontfarcy, »Le Sénéchal

Keu ou la fonction cosmique du rire«, Etudes celtiques 30 (1994), 263–283, hier: 268–270.

57 Der erste Zusammenhang von Bricriu und Keie wurde hergestellt in: George Hen-derson (Hrsg.), Fled Bricrent. The Feast of Bricriu. An Early Gaelic Saga tran-scribed from Older Mss. into the Book of the Dun Cow by Moelmuiri Mac Mic Cu-inn na M-Bocht, London 1899, Reprint 1993 (Irish Text Society 2), XI. Ansonsten wurde Bricriu v. a. im Verbund mit Loki interessant für das Konzept der Figur Keie; vgl. Georges Dumézil, Loki [franz.: 1948], Darmstadt 1959, 210f.; Philippe Ménard, Le rire et la sourire dans le roman courtois en France au Moyen Age (1150–1250), Genf 1969, 457f.; Joël H. Grisward, Archéologie de l’épopée

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Fokus genommen; und dies, obwohl er ebenfalls aus der keltischen Mytho-logie stammt. Es handelt sich um Conán Maol, den ›Kahlen‹, aus der Ge-folgschaft des Fionn Mac Cumhaill, um den es einen großen und bekann-ten Sagenkreis gibt, der, obzwar »in Irland und Schottland ins Uferlose gehen[d]«,58 erst »um die Wende des neunzehnten und zwanzigsten Jahr-hunderts aufgezeichnet worden«59 ist. Ein Bestehen der Erzählungen um Fionns Kämpfer im 12. Jahrhundert kann nicht als bewiesen gelten, auch wenn der archaische, beinahe anarchistisch anmutende Charakter der Er-zählungen auf ein noch weit früheres Entstehen hinweist. Deshalb ist die Vermutung gerechtfertigt, in den Feniern mythische Vorläufer von Artus’ Tafelrundenrittern (auch denen des mittelkymrischen Arthur) und noch stärker des Tristanstoffs60 zu sehen.61 Helaine Newstead geht davon aus, dass die Erzählungen in Irland schon im 9. Jahrhundert existierten.62 Stär-ker als die materiellen Artefakte fallen bei dieser These die Ähnlichkeiten in den Figuren k o n s t e l l a t i o n e n bei unterschiedlichen Graden der Figuren m o t i v a t i o n e n ins Gewicht.

Fionn hat die Eigenschaft, dadurch, dass er seinen Daumen »in den Mund steckt[ ] und von den Sehnen bis aufs Mark kaut[ ]«,63 hellseherische Fähigkeiten zu erhalten. Fionn kaut oft mehr als zweimal in einer Erzäh-lung, ohne dass ein Nachwachsen thematisiert wird.64 Der moderne Rezi-

_____________ médiévale, Paris 1981, 263–278. Gowans (wie Anm. 16), 162; De Pontfarcy (wie Anm. 56) und Ebenbauer (wie Anm. 4), 112–114.

58 Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 345; zum Umfang des Sagenkreises in Schottland vgl. John Francis Campbell, Popular Tales of the West Highlands, Bd. III und IV, London 1892/1893; in Bd. IV findet sich ein unpaginiertes Faltblatt mit einer Übersicht über alle schottischen Fionn-Erzählungen.

59 Friedrich von der Leyen, Die Welt der Märchen, Bd. II, Düsseldorf 1954, 148. 60 Ursprünglich wurde der Vergleich von Gertrude Schoepperle, Tristan and Isold,

Frankfurt a. M., London 1913 (Reprint: New York 1959), aufgestellt; für eine Übersicht der Forschung vgl. Jaques Cocheyras, Tristan et Iseut. Genèse d’un my-the littéraire, Paris 1996 (Nouvelle Bibiliothèque du Moyen Âge 36).

61 »Die Gemeinschaft und die Taten dieser Helden, die sich um den Fionn, um ihren Führer, scharen, gehören gewiß zu den Keimen, aus denen sich die Erzählungen von Artus und der Tafelrunde entwickelten«; Leyen (wie Anm. 59), 151; vgl. Hannah Aitken, Ruth Michaelis-Jena (Hrsg.), Schottische Volksmärchen, übers. von Ursula Clemen, Düsseldorf, Köln 1965 (Die Märchen der Weltliteratur), 369f.

62 Heilaine Newstead, »The Origin and Growth of the Tristan Legend«, in: Roger Sherman Loomis (Hrsg.), Arthurian Literature in the Middle Ages, Oxford 1959, 122–133, hier: 127. Leyen datiert einige der Sagen sogar noch ein Jahrhundert frü-her; vgl. Leyen (wie Anm. 59), 151.

63 Der mythische Ursprung dieser Fähigkeit wird beschrieben in »Fionn MacCum-haill und seine Mutter«, in: Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 42f., hier: 43.

64 Vgl. »Die Geschichte von Diarmuid und Gráinne«, in: Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 43–56.

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pient mag sich die Frage stellen, wie viele Daumen Fionn denn eigentlich besitzt und kollidiert über dieser Frage mit der zyklischen Zeitstruktur des Mythos: Fionns Daumen sind ›unabgekaut-abgekaut‹, so wie die mythi-schen Gestalten des Arthurkreises ›lebendig zu Tode erzählt‹ sind.

Fionn hat Gráinne an seiner Seite, die sich wie Artus’ Gemahlin Gino-ver oder Markes Ehefrau Isold, durch einen starken Hang zur Untreue aus-zeichnet.65 Die Rolle des Lanzelot/Tristan übernimmt dabei Diarmuid, der genauso wie seine Nachfolger neben der Funktion des unschuldig-schul-digen Ehebrechers auch die des stärksten Helden im Kreis der Fenier ein-nimmt.66 Als ›erster Mann am Hof‹ gleicht er v. a. Gawein, zumal Diarmu-id Fionns Schwestersohn ist, so wie Gawein der des Artus’.67 Wie im Tristanstoff wird der (versuchte) Ehebruch magisch motiviert, denn Diar-muid hat ein Muttermahl auf seinem Körper, das, wenn eine Frau es sieht, diese in unsterblicher Liebe zu ihm entbrennen lässt.68 Im Gegensatz zu _____________ 65 Die wichtigsten Erzählungen sind hier »Die Geschichte von Diarmuid und Gráin-

ne« und »Fionn und Gráinne«, in: Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 77f., wobei im letztgenannten Text in einer misogyn motivierten Übersteigerung die Untreue der Gattin bis zu einem Hass Gráinnes gegen Fionn gesteigert wird.

66 Seinen Stellenwert als wichtigster Kämpfer des Fionn beweist Diarmuid v. a. in Diarmuid Donn und die Zauberflöte und Fionn im Lande der Riesen; vgl. Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 71–73 und 73–77. In beiden Sagen tauchen vereinzelt Motive auf, die stark an den Tristanstoff erinnern, so z. B. das Zeichen für eine zu-rückgelassene Frau, ob ihr Geliebter noch lebe oder gefallen sei, durch das Hissen eines hellen oder dunklen Segels; vgl. Thomas, Tristan, hrsg. und übers. von Gesa Bonath, München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zwei-sprachigen Ausgaben 21), V. 2972–3049. Diarmuid überwindet (ebenfalls in bei-den Texten) den einschläfernden Klang einer Zauberflöte, indem er sich sein Schwert erst in die Wade, dann die Handfläche und schließlich in den Fuß stößt: Dies erinnert an die Selbstverletzungen Gawans in der Krone, der (1.) auf der Blu-menwiese des Giremelanz durch einen Speerstich in seinen Fuß einer Verzaube-rung durch Blumenduft entgehen kann (V. 21304–405), ebenso wie er sich (2.) aus der Minnemagie Amurfinas mittels eines Dolchstoßes durch seine Hand befreit (V. 8945–9063).

67 Vgl. Campbell III (wie Anm. 58), 84. 68 Auch in der Geschichte von Diarmuid und Gráinne weisen neben der Figurenkons-

tellation mehrere Motive auf den Tristanstoff hin. Hier sollen nur die auffälligsten genannt sein: (1) Als Gráinne mit Diarmuid, der sich weigert, mit ihr zu schlafen, durch einen Fluss reitet, spritzt ihr wie Isolde Weißhand Wasser zwischen die Bei-ne, was sie, ebenfalls in Übereinstimmung mit der Reaktion der von Tristan ver-schmähten Dame, mit den Worten »Der Tropfen Wasser hat mehr Mut als Dria-muid!« quittiert; vgl. Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 46; Campbell III (wie Anm. 58), 66 und Thomas, Tristan (wie Anm. 66), V. 1124–96. (2) Die vor Fionn Flüchtenden ziehen sich für ihr ›Waldleben‹ in ein Tal zurück, das aufgrund seiner Idyllik an die Minnegrotte erinnert. (3) Das ›Waldleben‹ wird beendet durch die nahenden Fenier, die sich wie Markes Leute auf der Jagd befinden; für eine weitere Aufzählung von insgesamt zehn Übereinstimmungen vgl. Roger Sherman Loomis,

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Tristan ist Diarmuid von diesem vom eigenen Körper ausgehenden Zauber natürlich nicht betroffen und wehrt sich auch erfolgreich gegen die sexuel-len Annäherungsversuche der verzauberten Gráinnes, letzteres ganz im Gegensatz zu Lanzelots brechendem Widerstand gegen Ginover.69

In dieser Konstellation existiert Conán, den laut Campbell noch im späten 19. Jahrhundert irische Arbeiter in London mit dem Epitheton »who had never a good word for anyone« bedachten.70 Conán ist der schlechteste Kämpfer in Fionns Gefolgschaft, weswegen er in Der ›große Rote‹ von seinen Kameraden erst gar nicht mitgenommen wird, als es gegen den titelgebenden Gegner geht; aus Wut wendet er eine List an, um vor den anderen Feniern den ›großen Roten‹ zu töten, jedoch nicht im ehrlichen Kampf, sondern mittels eines Kartenspiels.71 In seiner Charaktereigen-schaft als Lästerer und listenreicher Intrigant, mit der er seine mangelnde Kampfesfähigkeit zu kompensieren gedenkt, weist Conán enorme Ähn-lichkeiten mit dem Keu/Keie der kontinentalen Romane auf. In der nach dem Erzälmuster der aithed (Entführungssage) aufgebauten Geschichte von Diarmuid und Gráinne ist es (zumindest in der irischen Ausprägung der

_____________ »Problems of the Tristan Legend«, Romania 53 (1927), 82–102, hier: 92; für Verweise auf den zeitgenössischen Forschungsdiskurs um Schoepperles (siehe Anm. 57) und Loomis’ Thesen vgl. Jan van Dam, »Tristanprobleme I«, Neophilo-logus 15 (1930) [Reprint 1965], 18–34, hier: 21.

69 Neben den inhaltlichen Übereinstimmungen ist des Weiteren interessant, dass schon in schottischen Familienstammbäumen aus dem 18. Jahrhundert ein genea-logischer Zusammenhang zwischen Fionn und Arthur behauptet wurde; vgl. Campbell III (wie Anm. 58), 95f.

70 John Francis Campbell, Popular Tales of the West Highlands, Bd. I, London 1890, 62. Generell war Conán im 19. Jahrhundert v. a. in Sprichworten noch sehr leben-dig. Obwohl der Held im schottischen Teil der Sagen keine so große Rolle wie im irischen spielt (siehe Anm. 72), ist er in vier der 19 die Fenier betreffenden schotti-schen Sentenzen präsent, die Campbell verzeichnete; vgl. Campbell IV (wie Anm. 58), 231–234: »Is olc do beatha Chonain« (›Bad’s thy being Conan‹; ›In dei-ner Boshaftigkeit bist du ein Conán‹, im Sinne von einer entweder besonders heim-tückischen oder aber durchschaubaren, lächerlichen Boshaftigkeit); »Cha d’ fhuair Conan riamh dorn gun dorn [...]« (›Conan never got cuff without giving cuff‹, ›Conán erhielt niemals einen Schlag, ohne dafür einen zu geben‹; bezeichnet evtl. die Vergeblichkeit direkter Rache); »Cairdeas Chonain ris na deonabh« (›Conan’s kindness to the demons‹; ›Conáns Freundlichkeit zu den Dämonen‹; Campbell vermutet hier eine Geschichte, in der Conán gegen die Geisterwesen der Isle of Cold kämpfte, die aber nicht überliefert ist; evtl. handelt es sich um ein Tadeln fal-scher Freundlichkeit); »Beatha ’Chonain a measg nan deamhan, ma ’s olc dhomh cha ’n fhearr dhaibh« (›Conan’s life amongst the demons. If bad for me no better for them‹; ›Conán unter den Dämonen: Geht’s mir schlecht, dann ihnen erst recht‹, im Sinne von Conán als übler Zeitgenosse – sogar für Geisterwesen); Text und englische Übertragung: Campbell; deutsche Übertragungen: M. D.

71 Vgl. »Der ›große Rote‹«, in: Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 56–59.

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Erzählung)72 Conán, der nach dem Entdecken des vermeintlichen Ehebre-chers Fionn Eifersucht einflüstert. Dieser war zuvor zu Recht von Diar-muids Unschuld überzeugt und weiß nun nicht, ob er auf die Treue seines tapfersten oder die Intelligenz seines listigsten Helden vertrauen soll. Als Conán erkennt, dass Fionn an Diarmuid trotz aller intriganten Bezichtigun-gen festhält, vergiftet er den größten Helden dieses Sagenkreises, abermals durch eine List. Fionn versucht sogar noch, Diarmuid mit einem magischen Trank, den er ihm aus seinen Händen einflößen muss, zu retten, doch Co-náns Jago-artige Einflüsterungen lassen Fionn den Trank immer wieder verschütten – eine weitere Gemeinsamkeit mit Artus’ Truchsessen: Conán und Keie sind beide bösartige Rhetoriker.

Noch deutlicher werden die Übereinstimmungen am Ende des Texts: Um Gráinnes Untreue zu beweisen, setzt sich Conán dafür ein, eine Probe mit einem magischen Mantel zu machen. In der Mantelprobe erweist sich jedoch nicht deren, sondern die Untreue seiner eigenen Gefährtin. Ange-sichts dieser Schmach fordert Conán, dass alle anderen Damen den Mantel umlegen sollen, in der Hoffnung, auch diese entehren zu können. Die Pa-rallelen zum französischen Fabliau Le Mantel mautaille, der darauf basie-renden Mantelprobe, die im Ambraser Heldenbuch überliefert ist,73 und vor allem zu den Tugendproben74 in der Krone des Heinrich von dem Türlin und dem dort vermittelten Bild eines misogynen Keies sind eindeutig.

Conáns Antagonismus zu den jeweiligen Protagonisten äußert sich in dem schottischen Sagentext Fionn Mac Cuail und der krumme graue Kerl75 in zwei Situationen, welche die Parallelszenen in den kontinentalen Artusromanen beinahe wie Übernahmen erscheinen lassen. Der titelgeben-de krumme Kerl verhält sich an Fionns Tafel äußerst ungeschickt, was Conán verärgert: Hier scheinen Züge des Truchsesses Keie als Vertreter einer konservativen Hofhaltung auf. Um den krummen Kerl loszuwerden,

_____________ 72 Der Fionn-Sagenkreis existiert in Irland und Schottland, wobei die Forschung

mittlerweile die irische Ausprägung für die ursprünglichere hält; vgl. Ashe (wie Anm. 52), 274. In Schottland wird die Entführungsgeschichte so erzählt, dass Fi-onn aus eigenem Antrieb Diarmuid tötet, weil er ihm nicht vertraut; vgl. Camp-bell III (wie Anm. 58), 49–102. Conán fungiert in dieser Variante nur als sarkasti-scher Kommentator des tragischen Geschehens; vgl. ebd., 69.

73 Zum Zusammenhang der französischen und deutschen Mantelprobe vgl. Christina Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen die besser waren: Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995 (GAG 547), 107–112.

74 Alfred Ebenbauer zeigt auf, dass die Tugendproben Erzählsequenzen sind, die bei-nahe alle Prototypen des arthurischen Truchsesses umranken, v. a. Loki; vgl. Eben-bauer (wie Anm. 4), 114–122.

75 »Fionn Mac Cuai und der krumme graue Kerl«, in: Aitken/Michelis-Jena (wie Anm. 61), 142–152.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 87

schlägt er Fionn vor, ihn mit dem Auftrag auszuschicken, den gestohlenen vierkantigen Becher der Fenier wiederzuholen, eine Aufgabe, von der Co-nán zu wissen glaubt, dass der krumme Kerl sie nicht überleben wird. Co-náns Intrige erinnert an die Keus bei Percevals erstem Auftritt am Artus-hof, wenn der Truchsess Artus rät, den unwissenden, närrischen Jüngling zum vermeintlich aussichtslosen Kampf gegen den Roten Ritter auszuschi-cken; genauso erinnert das Utensil des Bechers an die Trinkschale (afrz. colpe), die der Rote Ritter kurz zuvor in den Schoß der Königin entleerte.76

Als der krumme Kerl wider Conáns Erwarten die Aufgabe erfüllt und sich Fionns Lager auf dem Ben Eirin nähert, begegnet ihm sein listiger Feind und nimmt damit eine Situation voraus, die (1.) an den Betrugsver-such des Tristan’schen Drachentruchsesses, aber stärker noch (2.) an den ersten Auftritt des bösen Keus in Chrétiens Erec et Enide und die Parallel-situation in Hartmanns Erec erinnert: Nachdem Conán den krummen Kerl nicht überreden konnte, ihm den Becher zu geben, damit er sich mit diesen fremden Federn vor Fionn schmückt, messen sie sich in einem Weitsprin-gen und in einem Ringkampf, die Conán beide verliert – wobei Conàn (auch in diesem Punkt ganz ein Keie) jedes Mal die Schuld für sein Versa-gen von sich weist. Nachdem der krumme Kerl schließlich den Becher selbst überreicht hat, weigert der Held sich, in Fionns Gefolge zu bleiben, weil er es mit Conán nicht aushalte. Abgesehen davon, dass Erecs Beweg-gründe, nicht in Artus Gefolge zu bleiben, andere sind, ist der Verlauf der Episode sehr ähnlich.

Letztlich stellen sogar die Anekdoten um Conáns Beinamen Maol, ›der Kahle‹, Parallelen zu Keie dar. Die schottische Variante berichtet:

It is Conan who was the weakest man that was in the Fheinn, because they used to keep him maol (cropped). He had but the strength of a man, but if the hair should get leave to grow there was the strength of a man in him for every hair that was on his head; but he was so cross that if the hair should grow he would kill them all. He was so short-tempered (ath-ghoirid) that he used to be always fighting with them.77

Conán ist also kahl, weil Fionn ein Zerwürfnis mit ihm fürchtet und des-halb seine Kraft im Zaum hält. Conán hat hinsichtlich seiner übermenschli-chen Kraft Ähnlichkeit mit dem magischen Superhelden Cei, ebenso mit dessen Potenzial, sich mit Arthur zu überwerfen, das mythische Substrat, das die keltischen Sagengestalten wiederum mit dem kontinentalen Keie verbindet. Man könnte sogar vermuten, dass der ›haarige‹ Sieg des mittel-kymrischen Cei über Dillus, den er durch das Kahlscheren seines Gegners

_____________ 76 Vgl. Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Perce-

valroman oder Die Erzählung vom Gral, afrz./deutsch, hrsg. und übers. von Felici-tas Olef-Krafft, Stuttgart 1991, V. 834–1116.

77 Campbell III (wie Anm. 58), 414.

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erreicht, eine Anspielung auf Conán ›den Kahlen‹ darstellt; in diesem Fall entstünde die mythische ›Sollbruchstelle‹ des Verhältnisses Keie/Artus im Zusammenhang mit der Ablösung des älteren Mythenhelden Conán.

Anders wird die Episode um Conáns Beinamen im irischen Teil des Sagenkreises erzählt: Die Fenier sind zu einem Gastmahl eingeladen und ziehen aus, jedoch ohne das genaue Ziel ihrer Reise zu kennen. Als man an einem Haus mit gedecktem Tisch vorbeikommt, ist es Conán, der diesen Ort schon für das Ziel der Reise hält und so einen Fehler begeht, der schon an das Amt des Truchsesses erinnert und den Keu ganz ähnlich in der ers-ten französischen Chrétien-Fortsetzung begehen wird.78 Die Fenier setzten sich an die Tafel und stellen fest, dass sie durch einen Zauber an den Sitzen festkleben. Ein heldenhafter Riese besorgt ihnen eine magische Flüssigkeit, die sie befreit; nur für Conán reicht das Mittel nicht. Er muss vom Sitz losgezerrt werden...

und dabei blieb das Fleisch von seinen Knochen haften. Sie [die Fenier] schlachte-ten nun einen schwarzen Widder und hefteten das Fell davon auf Conáns des Kah-len Hintern. Darauf wuchs dann alljährlich so viel Wolle, daß es von nun an für die ganze Fenierschar zusammen genug Socken gab.79

Das Verlachen seiner Fehler muss Conán ebenso wie der verspottete Cei in Culhwch ac Olwen und der kontinentale Truchsess über sich ergehen las-sen. Beide Seiten von Keies Wesen, seine Tendenz, die bestehende Ord-nung zu stören, jedoch auch die, dieselbe Ordnung durch das Verlachen des Störenfrieds wieder herzustellen, sind in Conán vorgeprägt. Dieses präfigurative Verhältnis führt – wie das Unterkapitel III.3 noch zeigen wird – zu der Überschneidung von Keie und Conán in einem zentralen, das Bedürfnis hinter der Remythisierung betreffenden Punkt.

II. Der kontinentale Niedergang des Truchsesses und die Versuche seiner Legitimierung

In chronikaler wie in mythischer Tradition ist Arthurs Truchsess also das Idealbild eines Helden. Die einzige Trübung in diesem Bild ist, dass zum mythischen Substrat der Figur, wie man es Culhwch ac Olwen ablesen kann, auch ihre mit Spott einhergehende Konfliktstellung zum König, sei-nem Hof und/oder dem jeweiligen Titelhelden gehört; dieser Aspekt wird

_____________ 78 Vgl. Charles Potvin (Hrsg.), ›Perceval le Gallois‹ ou le ›Conte du Graal‹. Le

poème de Chrétien de Troies et de ses continuateurs, Mons 1866–71, Nachdr. Genf 1977, V. 16295–624; Konrad Sandkühler (Übers.), Gauwain sucht den Gral. Erste Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ «Perceval», Stuttgart 1959, 109–112.

79 Vgl. »Fionn und Lorcán«, in: Müller-Lisowski (wie Anm. 54), 59–71, hier: 71.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 89

von Chrétien und später Hartmann übernommen und ausgebaut. Dabei be-steht die Möglichkeit, dass die wahrscheinlich parallel im oralen Erzählgut der Kelten existierende Gestalt des Conán Maol Einfluss auf die kontinen-tale Konzeption Keies genommen hat. Die negative Färbung durch die Verflechtung Keie/Conán und der aus dem keltischen Arthur-Sagenkreis ererbte Konflikt zwischen König und Gefolgsmann führen dazu, dass die ständig neu zu erörternde Frage, warum ein Anti-Held am Artushof ver-weilen darf (oder gar verweilen muss), im Zentrum der Bemühungen der Artusdichter Chrétien’scher Tradition steht. Die Legitimationen fallen in den Bereich der einleitend theoretisch dargelegten Remythisierung, da es nur mittels ihnen möglich ist, die abgesunkene Mythe des keltischen Cei auch im höfischen Roman zu etwas Zirkulär-Unendlichem zu machen, also zu einer in jedem weiteren Roman nach dem Gesetz der Serie wiederkeh-renden Größe. In diesem Unterkapitel sollen in aller Kürze einige Varian-ten der Legitimierung des Truchsesses präsentiert werden, bevor im Fol-genden zwei konkretere Ausprägungen der Figur die Mechanismen der Remythisierung genauer erläutern.

Im französischen Artusroman ist die Entwicklung Keus als ein kon-stanter Verfall inszeniert. Bei seinem ersten Auftritt in Chrétiens Erec et Enide ist er, wie bereits dargelegt, noch ein tadelloser Hofbeamter; doch schon im selben Roman verhält er sich bei der Begegnung mit dem Titel-helden wie ein ungeschickter Tölpel.80 Einen Grund für Keus Anwesenheit am Hof liefert Chrétien nicht. Im weiteren Verlauf der Chrétien’schen Romane ist Keu im Yvain ein ungehobelter Lästerer, der schon gleich zu Anfang die anderen Ritter und den Protagonisten durch Spottreden reizt;81 im Chevalier de la Charrette ist seine Überheblichkeit der Grund für Gue-nièvres Entführung82 und im Conte du Graal schließlich zeichnet ihn Chrétien als cholerischen Verfechter einer konservativen Hofführung.83 Diesen Abstieg führen die Chrétien-Fortsetzer bis zum Äußersten fort: Sie machen aus Keu einen Wahnsinnigen84 oder gar einen feigen Mörder, der

_____________ 80 Vgl. Chrétien, Erec et Enide (wie Anm. 28), V. 3920–4062. Erst Hartmann macht

Keie in der mittelhochdeutschen Variante dieser Szene zum hinterlistigen Schur-ken (Erec, V. 462918–4845); vgl. Jürgen Haupt, Der Truchsess Keie im Artusro-man, Berlin 1971, 13–16 und 33–37.

81 Vgl. Chrétien de Troyes, Yvain, hrsg. und übers. von Ilse Nolting-Hauff, München 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausga-ben 2), V. 42–174.

82 Vgl. Chrétien (wie Anm. 36), V. 31–269. 83 Vgl. Chrétien (wie Anm. 76), V. 1001–66. 84 Keu versucht sich an der Aventiure vom Berg Dolerous, die nur der beste aller

Artusritter bestehen kann. Nach dem Scheitern dieses Versuchs wird er wahnsinnig und greift wahllos andere Ritter an; vgl. Potvin (wie Anm. 78), V. 30724–31529;

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Gauwain durch seine Gewalttat zur Gralssuche zwingt;85 in späteren Ro-manen verübt Keu einen Mordanschlag gegen den Protagonisten (Roman d’Yder) oder tötet Artus’ Sohn und damit auch indirekt die Königin, die daraufhin vor Kummer stirbt (Haut Livre du Graal bzw. Perlesvaus).86 Am Ende dieses Niedergangs stellt sich – sofern der Hof nicht wie im Haut Livre du Graal zusammen mit Keu in die Ehrlosigkeit sinkt – die Frage, warum Artus diesen Schandfleck seiner Gesellschaft noch duldet; die Be-gründungen sind (bspw. in Manessiers Chrétien-Fortsetzung)87 kaum noch

_____________ Übersetzung: Konrad Sandkühler (Übers.), Irrfahrt und Prüfung des Ritters Perce-val, Zweite Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ ›Perceval‹, Stuttgart 1960, 140–153).

85 Der Mord selbst wird in der ersten Fortsetzung (ca. 1181–91) geschildert; Original: Potvin (wie Anm. 78), V. 19655–914; Übersetzung: Sandkühler (wie Anm. 78), 155–161. In der ersten und zweiten Fortsetzung erfährt die Tat jedoch noch keine endgültige Aufklärung. Die Lösung dieser ersten Who-Dunnit-Situation der euro-päischen Literatur liefert erst die generell um rationale Schließung der zuvor im Dunklen gelassenen Lücken bemühte Fortsetzung von Manessier (ca. 1214–27); Original: Potvin (wie Anm. 78), V. 38114–547 und V. 39182–463; Übersetzung: Konrad Sandkühler (Übers.), Perceval der Gralskönig. Ende der zweiten und dritte (Manessier-) Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ ›Perceval‹, Stuttgart 1964, 116–123 und 130–134. Zu den Datierungen vgl. Matilda Tomaryn Bruckner, Chrétien Continued. A Study of the Conte du Graal and its Verse Continuations, Oxford 2009, 5.

86 Vgl. Kasper (wie Anm. 73), 609; Gowans (wie Anm. 16), 104–107 und 112–114 und Ebenbauer (wie Anm. 4), 114. Im vorliegenden Band behandelt Brigitte Bur-richter das Haut Livre du Graal (siehe 421–424). Burrichter zeigt, dass mit einem Ansteigen der Tendenz zur ›Christianisierung‹ bzw. zur Einbettung in die Heilsge-schichte das Mythische in den französischen Gralsromanen schwindet und der Gral selbst zum Symbol dieser ›Ver(heils)geschichtlichung‹ wird. Das Haut Livre du Graal stellt den Höhepunkt dieser Tendenz dar, was erklärt, warum der in diesem Werk noch immer im Sinne des Mythos begriffene Keu im Gegensatz zu anderen französischen Artus- und Gralsromanen nicht nur an den Rand der Gesellschaft, sondern über diesen hinaus gedrängt und so neben Lancelot zur Symbolfigur des allgemeinen arthurischen Untergangs wird. Bei einem strikt christlich-heilsge-schichtlichen Konzept ist das mythische Substrat der Figur nicht mehr tragbar.

87 Manessier schildert, wie die Schwester des Ermordeten mittels Astronomie den ›Beweis‹ erbringt, der Keu als Mörder überführt. Gauvain ist nach Artus’ Richt-spruch dazu entschlossen, den Truchsessen im Namen der Schwester zu töten. Was dies verhindert, ist ein nicht weiter motivierter Gemütswandel in Gauvain, als er über dem besiegten Keu steht: »Hierauf hob er hoch das Schwert [...] und schlug dem Gegner [Keu] das Visier zurück, wie wenn er ihn erschlagen wolle, und doch hatte er keine Lust dazu. [...] Vor Kummer fing er an zu zittern, und weinte so hef-tig, daß ihm die Tränen unaufhörlich bis zum Kinn rollten«; Übersetzung: Sand-kühler (wie Anm. 85), 132; vgl. ebd. 106–134.; Original: Potvin (wie Anm. 78), V. 37423–39463. Gauvains Verzagtheit ist analog zum Zögern Manessiers, in letz-ter Konsequenz bzw. im Zeichen des linearen Niedergangs Keus Ende zu erzählen. Im letzten Moment greifen Artus und seine Gattin ein und lösen den Konflikt: Mit-

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mit der Handlungslogik zu vereinbaren. So ist es nicht erstaunlich, dass der auf der französischen Tradition aufbauende mittelniederländische Artus-roman Walewein ende Keye88 des Truchsesses Karriere damit enden lässt, dass er unehrenhaft des Hofes verwiesen wird. Mit Ausnahme des Haut Livre du Graal behandelt keiner der französischen oder deutschen Romane die Figur mit solch einer Konsequenz.89

Vor dem Hintergrund der Mythentheorie bedeutet dies: Im französi-schen und im mittelniederländischen Artusroman scheitert die Remythisie-rung Keies. Die von Chrétien vorgegebenen negativen Aspekte der Figur werden gesteigert und führen zu einem heilsgeschichtlich-linearen Nieder-gang, der eine Einbettung in das Zirkulär-Unendliche unmöglich macht.

Neben diesem auf der Basis der Chrétien’schen Prägung aufbauenden Abstieg des Helden ist in Frankreich noch die Keu-Gestalt Roberts de Bo-ron zu finden, der schon sehr früh im Merlin en prose eine sehr einleuch-tende Begründung für dessen Anwesenheit am Artushof bietet: Keu hat deswegen ein Recht darauf, als Truchsess am Hof zu bleiben, weil Artus als Ziehkind die Muttermilch genoss, die eigentlich Keu zugestanden hätte. Keus übler Charakter wird in den auf Robert aufbauenden französischen Texten über die Entfremdung von der ihm zustehenden Muttermilch er-klärt, zumal er in einer Variante des Motivs einer Frau von zweifelhaftem Ruf an die Brust gelegt wurde.90 Keus Verfehlungen sind also bis zu einem gewissen Grad Artus ›ererbte‹ Schuld. Roberts Legitimation wird jedoch jenseits des französischen Sprachraums über Jahrhunderte hinweg nur spärlich verarbeitet und findet erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun-derts über Malory Eingang in das ›internationale‹ kulturelle Gedächtnis.91

_____________ tels eines rex ex machina wird die angedeutete Linearität zum mythischen Kreis zurückgebogen; jedoch ist dies an diesem späten Punkt der Fortsetzungen nur noch unter Aufgabe jeglicher figurenpsychologischer Kohärenz möglich.

88 Mndl. Text und engl. Übersetzung: David F. Johnson und Geert H. M. Claassens, Dutch Romances. Volume III: Five Interpolated Romances from the ›Lancelot Compilation‹, Cambridge 2003 (Arthurian Archives), 368–523.

89 Zur Keie-Figur in Walewein unde Keye vgl. Marjolein Hogenbirk, Avontuur en Anti-avontuur. Een onderzoek naar Walewein ende Keye, een Arturroman uit de Lancelotcompilatie, Culemborg 2004.

90 Vgl. Robert de Boron, Merlin der Künder des Grals, übers. von Konrad Sandküh-ler, Stuttgart 1975, 127–129 und 136–142; Original: Merlin en prose, hrsg. von Alexandre Micha, Genf 1979 (Textes Littéraires Français 281). Die Entwicklung des Robert’schen Motivs der Milchbruderschaft in den französischen Merlin-Romanen legt Elisabeth Schmid in ihrem in diesem Band befindlichen Beitrag dar (siehe 294f.).

91 Vgl. Sir Thomas Malory, Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde, übers. von Helmut Findeisen, Frankfurt a. M. 2006, 20–27.

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Letztendlich schuf Robert jedoch schon im 12. Jahrhundert die heute gän-gigste popkulturelle Begründung für Keies Duldung am Artushof.92

Da die ›halb-genealogische‹ Legitimation in der deutschsprachigen Li-teratur des Mittelalters nicht rezipiert wurde, versuchten dort die Autoren, andere Gründe für Keies Stellung am Hof zu finden und den linearen Ab-stieg der Figur zu ›remythisieren‹. Hartmann reagiert auf diese Aufgabe im Erec mittels der eingangs zitierten Psychologisierung des Truchsesses. Dabei kann die Betonung von Keies innerlicher Zerrissenheit schon als bewusster Rückgriff auf die Konzeption der mythischen Gestalt gelten:93 In Culhwch ac Olwen wird Ceis Wesen als einerseits ›heiß‹ und andererseits ›kalt‹ beschrieben.94 Die über die (in Lévi-Strauss’ Worten) ›empirische Kategorie‹ der Temperatur ausgedrückte Zerrissenheit wurde von Hart-mann in seinen eigenen Kulturkreis transferiert, als ›abstrakte Begriffe herausgearbeitet und zu einem Satz zusammengefügt‹;95 mit anderen Wor-ten: Hartmann psychologisiert die mythische Antithetik und remythisiert im Sinne seiner Zeit.

Wolfram von Eschenbach legitimiert im Parzival die stete Anwesen-heit Keies, indem er seine Amtsfunktion als Truchsess (trotz einer Zuspit-zung der bei Chrétien vorgefundenen cholerischen Charakterzüge) umwer-tet: Keie hätte die Aufgabe, als Geißel der Gesellschaft die ›falschen Fünfziger‹ aus Artus’ Runde zu entfernen. Mit dieser Betonung der gesell-schaftlichen Funktion nähert Wolfram die Figur dem mythischen Substrat an, wie man es in Culhwch ac Olwen oder dem Krummen grauen Kerl finden kann, wo Cei/Conán ebenfalls Vertreter einer konservativen Hof-ordnung sind, gegen die der Protagonist der Sage verstößt. Wolfram geht in der Aufwertung des Amts so weit, diese Keie’sche Aussonderung ›fal-scher Fünfziger‹ auf den realen Hof seines Mäzens Hermann von Thürin-gen zu übertragen: Auch dieser könne einen Keie gebrauchen, um sich vor schmeichelnden Höflingen zu schützen – implizit klingt hier an, dass Wolf-_____________ 92 Vgl. Rolf Reitherman (Regie), Walt Disney (Produktion), The Sword in the Stone,

Buena Vista Distribution 1963. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Terence Hanbury White, der wiederum, wie viele englischsprachige Jugend-romane, den Artusstoff nach Malory erzählt.

93 Diese Aussage widerspricht der These Linda Gowans (vgl. Linda M. Gowans, Cei and the Arthurian Legend, Cambridge 1988), die, in Kontrastierung zur keltischen und angelsächsischen Cei/Kay-Gestalt, pauschal von einem »Continental Image« (ebd., 1) schreibt. Angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen der Gestalt in der französisch- und der deutschsprachigen Literatur scheint diese Pauschalisie-rung unangemessen.

94 Vgl. Culhwch, Z. 264 und Z. 388; dazu: Schonert (wie Anm. 27), 21. 95 Die hervorgehobenen Formulierungen schließen an Lévi-Strauss’ methodischer

Ouvertüre zu Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte an; vgl. Lévi-Strauss (wie Anm. 10), 11.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 93

ram sich selbst wohl in der Rolle solch einer gesellschaftlichen Geißel gefiele (vgl. Parzival, 296,13–297,29).96 Der Rückgriff auf das mythische Substrat der Keie-Figur dient in diesem Fall einer Remythisierung, die selbst den Sprung in die Realität des Dichters nicht scheut: Der Mythos überwindet als Immerwährendes gleichermaßen temporale wie ontolo-gische Grenzen.

Der Stricker begründet im Daniel97 Keies Status zwar nicht – dieser sei lediglich »durch ein wunder« (Daniel, V. 144) am Artushof anzutreffen – jedoch verschiebt er die Signifikanz der Figur auf eine intertextuelle Dis-kursebene: Er zitiert Geoffreys Riesenaventiure, also den ersten in der Chronik entstandenen erzählerischen Freiraum um die Figur, der eventuell selbst ein Rückgriff auf die Episode aus Culhwch ac Olwen sein könnte, an der sich das mythische Substrat des Zerwürfnisses von Arthur und Cei entzündete.98 Das Zitat taucht in den Schlachten um Mantur als besonders groteske Szene auf, in welcher der Truchsess von einem geblendeten Rie-sen als Waffe gegen die anderen Artusritter verwendet wird (Daniel, V. 3224–3322). Mit dieser Situation stellt der Stricker humoristisch eine ähnliche Legitimierung wie Wolfram vor: Keie dient auch hier – jedoch nicht metaphorisch, sondern wortwörtlich – als eine Geißel der nicht feh-lerfreien Ritter der Artusrunde. Methodisch bedeutet diese Anspielung auf Geoffrey, dass die ›Zirkularisierung‹ Keies zu einem immerwährenden, untilgbaren Element des Artushofs durch die Einbettung eines Bestandteils seiner ›linearen‹ chronikalen Karriere legitimiert wird – umso passender, dass dieses Element eventuell einstmals selbst Teil des keltischen Cei-My-thos war. Machte Geoffrey also ein Segment der zirkulären keltischen Er-_____________ 96 Anders sieht dies Stefan Seeber, der schreibt, Wolfram sei Keie »in seinem eige-

nen Spott überlegen; er versteht es, die Figur zu instrumentalisieren und gerade im hyperbolischen Lob (Pz 297) bloßzustellen«; Seeber (wie Anm. 40), 20; vgl. auch Stefan Seeber, Poetik des Lachens. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Ro-man um 1200, Berlin, New York 2010, 164. Mir scheint, dass die Lesart des Keie- Lobs als ironisch und bloßstellend nicht passen mag, da Wolfram die Inszenierung des Truchsesses als strengen, doch unbedingt wertvollen Teil der Hofgesellschaft an dieser Stelle braucht, um den heterodiegetischen Sprung an den Thüringer Hof leisten zu können. Mag einem die Gesamtdramaturgie um den Truchsess v. a. auf-grund des Widerspruchs zwischen der ungerechten Strafe für Cunneware und dem plötzlichen Lob auch hyperbolisch erscheinen – bei einer Beschränkung auf die Mechanismen dieser Passage kann das Keie-Lob in seiner Funktion als ›metalepti-sches Sprungbrett‹ nicht ironisch gemeint sein.

97 Hier und im Folgenden zitiert nach: Der Stricker, Daniel von dem blühenden Tal, hrsg. von Michael Resler, Tübingen 1983 (ATB 92).

98 Dieser intertextuelle Zusammenhang entgeht Schonert (wie Anm. 27), 18–34, was einer der Gründe dafür ist, warum sie die Ausprägung der Figur im Daniel zu stark auf das Prototypische beschränkt. Zum Zusammenhang von Geoffrey und Culhwch ac Olwen siehe im diesem Beitrag 74, v. a. Anm. 25.

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zählung zur einer Episode seiner linearen Historisierung und unterdrückte dabei das mythische Substrat des Zerwürfnisses, indem er Arthur und Kay zu Kampfgenossen erklärte, so macht der Stricker diesen Vorgang rück-gängig. Es handelt sich so gesehen bei der Stricker’schen Szene um eine Remythisierung durch Zitation des Historischen, das wiederum einst das Mythische zitierte; oder anders: um eine Rundung des zur Linie aufgebo-genen Kreises zu einem neuen Kreis mit größerem Radius, der nun auch intertextuell das Chronikale zu fassen vermag.99

1. Die Remythisierung der Keie-Gestalt in der Krone des Heinrich von dem Türlin

Der Gegenüberstellung des über die Textgrenzen hinweg erzählten Ab-stiegs des französischen (bzw. mittelniederländischen) Keu/Keye und der Legitimierungsversuche Keies in der mittelhochdeutschen Literatur ent-spricht die Dichotomie von chronikalen und mythischen Substraten. Die linear erzählte Geschichte des heldenhaften Kay der Chronik lässt sich unter einer einfachen Vertauschung der Vorzeichen als die linear erzählte Geschichte von Keus Niedergang erzählen. Der deutschsprachige Figuren-typus der Versromane passt hingegen reibungslos in die mythische Zeitfü-gung, erfordert jedoch eine Legitimierung, die erklärt, warum ein mythi-scher, d. h. allzeit bestehender Artushof auch zu allen Zeiten einen Keie umfasst. Während der lineare Auf- oder Abstieg dabei dem heilsgeschicht-lichen Verlauf der Geschichte und somit einer Christianisierung der My-then entspricht, kann man anhand des deutschsprachigen Keie feststellen – wie Ebenbauer und Wyss dies für alle Artusritter taten –, dass »[d]ie Ar-tushelden, die ausziehen, um die Welt in Ordnung zu bringen, [...] eher dem germanischen Gott Thor [gleichen], der immer wieder gegen die feindlichen Riesen ausfährt, als dem Erlöser Christus«.100

Am deutlichsten wird der programmatische Charakter der Remythisie-rung, der Zusammenkrümmung des heilsgeschichtlichen Verlaufs zu einem

_____________ 99 Eine weitere interessante Legitimierungsstrategie stellt Björn Reich im vorliegen-

den Band anhand des Pleier’schen Garel vor (118–120). Reich macht deutlich, dass es für die Bedeutung der Romanaussage, die eine mögliche Überflügelung Ar-tus durch den Helden in Betracht zieht, wichtig ist, dass es am Artushof einen Rit-ter wie Keie gibt, der besiegt werden darf, ohne Artus einen totalen Gesichtsverlust zu bescheren. Der keltische Mythos des ›unbesiegbaren‹ wird im Garel verkehrt zum neuen Mythos eines Helden mit ›unverwüstlicher‹ Ehre, der im Gegensatz zu anderen Artusrittern die Lizenz zum Fehltritt besitzt.

100 Alfred Ebenbauer, »Auf der Suche nach dem im Mittelalter verlorenen Mythos«, in: Ebenbauer/Wyss (wie Anm. 4), 513–529; hier: 523.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 95

neuen mythischen ›Zeitkreis‹, anhand der Krone des Heinrich von dem Türlin. »Es wird schwer fallen, einen zweiten volkssprachlichen Roman des Mittelalters zu finden, in dem die Zeit so wenig linear geführt wird, in dem sie sich so sehr zum Kreis rundet«,101 schreibt Uta Störmer-Caysa in ihrer Untersuchung der Krone. Heinrichs Roman kann generell als der groß angelegte Versuch verstanden werden, die Artuswelt zu remythisieren und ihrer Zeitigung zu entreißen. So findet sich im Prolog die irreführende Ankündigung, dass vom Tod des Artus erzählt werden solle (ein Hinweis auf eine lineare Zeitfügung nach der Morte Darthur-Struktur), doch der Roman endet stattdessen damit, dass die Gralsgesellschaft, die von Chré-tien und stärker noch von Wolfram als eine den Artushof übersteigende und somit zeitigende Instanz eingeführt wurde, vom Protagonisten in den Tod erlöst wird: Die Gefährdung wird ausgelöscht und damit die Endlosig-keit des Artushofs gesichert. Heinrichs Remythisierung greift dabei ganz gezielt auf die an den keltischen Sagen aufgezeigte zyklische Zeitstruktur zurück: So wie in Culhwch ac Olwen Ceis Tod noch vor seinen ersten Heldentaten in einem Handlungskatalog aufgeführt wird, wird beispiels-weise – neben anderen »Vorgriffen in Vergangenheitsform«102 –auch Ga-weins Erringen des Grals in einer selbstvergewissernden Rekapitulation seiner Taten als schon geschehen genannt, bevor er überhaupt in die Grals-handlung des Romans eintritt (vgl. Krone, V. 9023–30); ebenso wird die Episode eines Pferdediebstahls schon von einer Figur erzählt, bevor sie Gawein überhaupt zustößt (vgl. Krone, V. 5992–97). Gerade bei der zuletzt genannten Passage sind die Szene, in der es zur Erzählung des Handlungs-katalogs kommt, und die Art der temporären Zirkularisierung dem mittel-kymrischen Epos so ähnlich, dass eine direkte Verwandtschaft mit dem Tatenkatalog in Culhwch ac Olwen nicht unmöglich erscheinen mag.

Die ›Zeitschleifen‹ der Krone werden dem Definiens mythischen Er-zählens als zeitlich-zirkuläres aufs Beste gerecht. Deshalb findet sich auch das mythische Spiel mit ›Lebendig-Toten‹ gleich an zwei Stellen der Kro-

_____________ 101 Uta Störmer-Caysa, »Zeitkreise in der Crône Heinrichs von dem Türlin«, in: Ar-

thur Groos, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Kulturen des Manuskriptzeitalters. Er-gebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Uni-versität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002, Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), 321–340, hier: 321.

102 Vgl. Christoph Cormeau, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungs-geschichte des nachklassischen Aventiureromans, Zürich 1977 (MTU 57), 131. Cormeau behandelt diese Effekte das erste Mal im Gegensatz zur älteren For-schung nicht unter dem ›Deckmantel‹ des Hysteron Proteron als Fehler Heinrichs oder nachträgliche Einfügungen. Für eine Zusammenstellung der Ansätze vgl. Störmer-Caysa (wie Anm. 101), 321f., Anm. 3.

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ne:103 Erstens wird von einem Doppelgänger Gaweins namens Aamanz erzählt, »den andern Gâwein« (Krone, V. 16523), der enthauptet vor den Artushof gebracht wird, sodass Gawein dort für tot gehalten wird;104 dies geschieht just nach einem Kampf, in dem Gawein mit dem Ritter Laamorz (›DerTod‹) symbolisch den Tod besiegt:105 Für den gesamten nun einset-zenden zweiten Teil des Romans ist Gawein ein ›tot erzählter Lebender‹. Zweitens äußert sich dieses Spiel im Status der Gralsgesellschaft. Deren Mitglieder sind Untote, die Gawein am Ende in den Tod erlöst.106 Dabei ist die Gralsgesellschaft der Krone als ein Zerrbild des Artushofs zu sehen: Der Gralsherr spricht Gawein an als »Süszer neue vnd lieber gast« (vgl. Krone, V. 29468), bezeichnet ihn also als Verwandten, eventuell sogar mit dem Verwandtschaftsgrad, den auch Artus zu Gawein hat. In Kombination mit der impliziten Weigerung Heinrichs, den im Prolog angekündigten Tod Artus’ zu beschreiben, kann man die Gralsgesellschaft – wie Ulrich

_____________ 103 Hier sei nur in aller Kürze angemerkt, dass die auf eine mythische Zeitstruktur

anspielenden ›Lebendigen-Toten‹ nicht nur in der Krone auftauchen: In Chrétiens Chevalier de la Charrette sieht Lancelot auf einem Friedhof Gräber mit den Na-men von u. a Gauvain und Yvain; er ›erlöst‹ den Artushof von dieser symbolischen Zeitigung, indem er das größte der Gräber (auf dem sein eigener Name steht) auf-bricht: Lanzelot geht also auch durch den eigenen Tod hindurch hinein in die My-thenhaftigkeit – und nimmt die anderen Artusritter gleich mit; vgl. Chrétien (wie Anm. 36), V. 1876–1946. Dieser remythisierende Akt wird im Verlauf der Artusli-teratur mehrmals erneuert: So findet sich eine Anspielung auf diese Szene in der ersten französischen Fortsetzung (vgl. Sandkühler [wie Anm. 78], 113) und eine breite Ausgestaltung des Motivs in der Sequenz um die Dolorose Garde im Prosa-lanzelot; vgl. Lanzelot und Ginover. Prosalanzelot, 1. Bd., hrsg. von Reinold Klu-ge, übers. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 1995, 386–582.

104 Vgl. Alfred Ebenbauer, »Fortuna und Artushof«, in: ders. u. a. (Hrsg.), Österreichi-sche Literatur zu Zeit der Babenberger, Wien 1977, 25–49, hier: 27f.; Ulrich Wyss, »Wunderketten in der Crône«, in: Peter Krämer (Hrsg.), Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980, Wien 1981 (Wiener Arbeiten zu germanistischen Altertumskunde und Philologie 16), 269–291; hier: 288f. Keie tut sich in den Klagen um diesen ver-meintlich Toten besonders hervor; vgl. Schonert (wie Anm. 27), 123–136.

105 Zur Bedeutung des Laamorz-Kampfes vgl. Störmer-Caysa (wie Anm. 101), 326–330; »Dertod« ebd., 329.

106 So auch bei Ulrich Wyss, »Heinrich von dem Türlin: Diu Crône«, in: Horst Brun-ner (Hrsg.), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1993 (Univer-sal-Bibliothek, Interpretationen), 271–291, hier: 283f.: »Die Bewohner des [Grals][s]chlosses sind lebende Tote, die jetzt richtig sterben dürfen. [...] [I]n der Bestimmung dessen, was Gaweins Erlösungstat bedeutet, läßt die Crône keinen Zweifel aufkommen. Es ist ein Erlösen zum Tod, dem richtigen, welcher der zom-biehaften Existenz ein Ende macht«.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 97

Wyss107 es schreibt – als die gezeitigte Seite der Artusgesellschaft sehen. Gewissermaßen wird die Ankündigung des Morte Darthur also doch er-füllt – wenn auch auf einer anderen Ebene als zu erwarten gewesen wäre. Durch Gawein wird im Gralsherren, der als Stellvertreter des gezeitigten Arthurs fungiert, symbolisch Artushof wie -roman erlöst; sie werden aus der Linearität der Zeit via einem passageren Tod in eine neue Mythenhaf-tigkeit überführt.108 Aus diesen Gründen kann sogar der Titel ›Krone‹ – die erste autorisierte Titelprägung eines deutschsprachigen Romans –109 als ein Dingsymbol für die programmatische ›Zirkularisierung der Zeit‹ gelesen werden.110

Mit der Remythisierung des Stoffs erlangt auch die Keie-Gestalt an Bedeutung. Es ist festzustellen, dass Heinrich Keie im Rahmen seiner höfi-

_____________ 107 »Der Gralskönig [...] i s t Artus, aber ein Artus, auf den der Schatten des Todes

gefallen ist«; Wyss (wie Anm. 104), 287; Sperrung im Original. 108 Laut Störmer-Caysa gibt es in der Krone »zwei[ ] Auffassungen von Handeln: [die]

jenseitig-mythische[ ], nach der sich Vorher und Nachher nicht sicher ordnen läßt, und [die] diesseitig-ritterliche[ ], für die der Ausgangszustand definitiv verschieden ist vom Endzustand«; Störmer-Caysa (wie Anm. 101), 338. Dies entspricht – wei-tergedacht in Bezug auf Heinrichs Quellen – dem linearen Zeitmuster, das Hein-rich in seinen französischen Vorlagen (Conte du Graal und dessen Fortsetzungen) fand, und der zirkulären Zeitstruktur der (keltischen) Mythen; beide wurden von Heinrich zum Zweck der Remythisierung kombiniert. Störmer-Caysa sieht die Konkurrenz der linearen und zirkulären Logik als Auslöser einer Entscheidungs-pflicht des Rezipienten. Wenn der Rezipient sich jedoch für die mythische Zirkula-rität entscheide, werde »die mythische Dimension der Erzählung im Sinne der Ra-tionalisierung« untergraben; ebd., 340. Dies entspricht einem theoretischen Ansatz, der mythisches (und historisches) Denken im Sinne einer rezeptionsästhetischen Wahrnehmungsleistung begreift (in diesem Band vertreten von Florian Kragl und v. a. Stephanie Wodianka; siehe 3–39 und 337–354; vgl. auch Stephanie Wodian-ka, Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin, New York 2009). Hinsichtlich Heinrichs Remythi-sierungsstrategie mag ich die Sicht Störmer-Caysas jedoch nicht teilen; denn schließlich endet der Roman mit der Erlösung des Gralsherren in der Rolle eines vom Tode gezeichneten Artus. Damit wird die Aussage, dass nun im Sinne der Remythisierung alles Sterbliche Artus verlassen habe, vom Autor final und somit verbindlich gesetzt. Wenn es zuvor also eine ›Entscheidung‹ des Rezipienten ge-gen die mythische Lesart und für die rational-lineare Zeit gab, so wird diese nun als endgültig überwunden und die Rationalisierung somit als Irrweg ausgewiesen.

109 Vgl. Edward Schröder, Aus den Anfängen des deutschen Buchtitels, Göttingen 1937, 15; Franz Joseph Worstbrock, »Über den Titel der Krone Heinrichs von dem Türlin«, ZfdA 95 (1966), 182–186.

110 »Zu diesen im Voraus bekannten Taten gehört auch das Auffinden des Grals, mit dem der Text endet; insofern ist die Crône wie ihr titelgebender Gegenstand tat-sächlich [...] rund«; Störmer-Caysa (wie Anm. 101), 322. Die zirkuläre Zeitstruktur bildet den Reif der titelgebenden Krone, auf dem die Edelsteine der Aventiuren geheftet sind.

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schen Pflichten zum eigentlichen Protagonisten (1.) der Tugendproben111 und (2.) der Trauerszene nach Gaweins vermeintlichem Tod stilisiert. Die Tugendproben sind dabei als direkte Entlehnung aus dem Geschehen um die mythischen Prototypen Keies zu sehen: Loki handelt – wie Alfred Ebenbauer es zeigte –112 in einer Episode dieses Musters, ebenso wie Co-nán der ›Spielleiter‹ einer Tugendprobe ist.113 Auch Keis auffällige Profi-lierung in der Trauerszene ist mythisch zu lesen: Der Truchsess fungiert auf einer Metaebene als mythischer Fährmann, der es mit seiner Trauerrede Gawein ermöglicht, »frei für den Weg ins Jenseits«114 zu sein.

Des Weiteren – und dies ist noch viel erstaunlicher – macht Heinrich Keie zum Akteur eines eigenen Handlungsstrangs – und das auch noch ausgerechnet bezüglich der finalen, den remythisierenden Kreis schließen-den Gralsaventiure. Gawein wird auf der Gralssuche begleitet von Calo-creant, Lantzelet und Keie. Als der Truchsess den Hof verlässt, wendet er _____________ 111 Zu Keies Rolle in den Tugendproben vgl. v. a. Justin Vollmann, »Performing

Virtue. Zur Performativität der Krone Heinrichs von dem Türlin«, PBB 130/1 (2008), 82–105. Vollmann liefert in seinem Aufsatz eine Interpretation der Tu-gendproben, die ihr performatives Potential besonders hervorhebt, ein Potenzial, das im Folgenden für die Keie-Gestalt im Allgemeinen betont wird. Ebenso ist hier die erst kürzlich in Gießen eingereichte Examensarbeit von Sebastian Wirth zu nennen, die (aufbauend auf den Inhalten eines Seminars zum arthurischen Truch-sess vom Wintersemester 08/09), zeigt, dass Keie in den Tugendproben der Krone – wie bei Wolfram – eine äußerst interessante Verbindung zur jeweiligen Erzähler-figur eingeht: »Im Mantel-Fragment tritt der Erzähler eher in den Hintergrund, während er in der Crône durch ständige Exkurse und Erklärungen schon fast in Konkurrenz zum Geschehen steht. Bei Heinrich scheinen Keie und der Erzähler streckenweise eine Art symbiotische Beziehung einzugehen, um das Misslingen der Probe zu hinterfragen und aufgrund inter- bzw. intratextuellen Anspielungen zu deuten« (Sebastian Wirth, Die Rolle Keies in ausgewählten Tugendproben der mhd. Literatur, Staatsexamensarbeit masch., Gießen 2010, 71). Im Sinne des vor-liegenden Beitrags schließt sich an diese Betrachtung die Frage an, inwiefern die Remythisierung der arthurischen Welt und des Truchsessen auch als Profilie-rungsmittel der Erzählerfigur gesehen werden kann, die sich hinsichtlich eines in der Textverlesung anwesenden Publikums als abwesender, doch kontrollierender ›mythischer Texterschaffer‹ medial verortet; vgl. dazu auch Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Untersuchung zum performativen Potential der höfischen Epen, Diss. masch., Mainz 2011, hier: Kapitel 4.2.1.2 ›Die perfor-mative Doppelgesichtigkeit eines Lästermauls‹.

112 Vgl. Ebenbauer (wie Anm. 4), 114–122. 113 Siehe Kapitel I.3 des vorliegenden Beitrags. Angesichts dieser Zitation des mythi-

schen Erzählmusters scheint es auch nicht angebracht, in Keies Spott während der Tugendproben eine parodistische Abrechnung mit dem Artusmythos zu sehen wie dies Lewis Jillings tut; vgl. Lewis Jillings, ›Diu Crone‹ of Heinrich von dem Tür-lein. The attempted emancipation of secular narration, Göppingen 1980 (GAG 258).

114 Wyss (wie Anm. 104), 288.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 99

sich mit einer langen pathetischen Rede an die Damen des Hofs und bittet sie, für seine Rückkehr zu Gott zu beten. Nun ist Keie aber, wie er auch selbst weiß, wegen seiner misogynen Ausfälle in den Tugendproben alles andere als ein Liebling der Frauen, was die Bitte um betenden Beistand und Mäßigung der Trauer zur Ironie werden lässt:

Hie mit er die rede lie. Fùr Gynouern er hin gie, Da die frauwen saszen, Vnt batt sie weynen laszen Vnt truren, das sie waren fro. Gynouer můst lachen da Vnd mit ir die frauwen. Er batt die ritter schauwen Dis vngefúge weinen […]. (Krone, V. 26074–82)

Nach dieser Verabschiedung brechen die Gralssucher auf, erleben einige Abenteuer und gelangen bei Eintritt ins Gralsland an eine Wegscheide, an der die vier Gefährten sich trennen. Heinrich erzählt nun Gaweins Weg bis zum Gral, bei dem er auch Calocreant und Lantzelet wieder begegnet – nur Keie hat das Gralsschloss nicht erreicht. Er wird in einer Kapelle, in der er den wahren Gral zu erringen gedachte, aufgrund eines Frevels gefangen gehalten.

Heinrich spielt mit dieser Szenerie auf die Kapellenabenteuer der fran-zösischen Chrétien-Fortsetzungen an, in denen Gauvain und später Perce-val als Ouvertüre zum eigentlichen Gralsbesuch eine schaurige Nacht in einer verlassenen Kapelle aushalten müssen, in der eine riesige körperlose Hand nach ihnen langt. Bei diesen Gral’schen Initiations-Episoden der ersten und zweiten Fortsetzung handelt es sich abermals um ein Aufschei-nen der mythischen Fenier im kontinentalen Roman: Im Fionn-Sagenkreis taucht mehrmals die Situation auf, dass eine übergroße körperlose Hand nach Helden greift, die sich in einer Behausung zur Ruhe gelegt haben. In den französischen Fortsetzungen mündet das Motiv bei Manessier in einer (äußerst banalen) Lösung des Geheimnisses: Es sei die Hand des Teufels, die durch das Kapellenfenster greife, und dieser wird von Perceval dann auch relativ ›unmythisch‹ mittels Kreuzzeichen und Schwert besiegt. Die Auflösung der im Vagen verbleibenden Kapellenabenteuer durch Manes-sier löst das Motiv (1.) von den das ›Dunkle‹ als Eigenwert begreifenden Erzählkonzepten der ersten beiden Chrétien-Fortsetzungen und (2.) von seinem keltischen Ursprung ab und transferiert das Schaudern unter Ver-lust seines dunklen Reizes in die christliche Gedankenwelt.115 _____________ 115 Gauwains Kapellenabenteuer wird in der ersten französischen Chrétien-Fortset-

zung erzählt; Original: Potvin (wie Anm. 78), V. 19915–94, Übersetzung: Sand-kühler (wie Anm. 78), 161f.; Percevals erstes Kapellenabenteuer in der zweiten;

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Zu dem Zeitpunkt, als Keie ›seine‹ Kapelle erreicht, hat der Gawein der Krone schon eine Variante des Kapellenabenteuers innerhalb der ersten Wunderkette überstanden und konnte so zum ersten Mal Zutritt zur Grals-sphäre erhalten – wenn auch auf der realitätsenthobenen Ebene der Wun-derkette (Krone, V. 14642–711). Keie befindet sich nun stellvertretend für Gawein in der Initiationssituation, kommt aber im Gegensatz zu seinem Alter Ego nicht über diese Ouvertüre hinaus. Er liefert mit seinem Schei-tern ein Gegenbild zu Gaweins finaler Erlösung des Grals.116 Keies Frevel in der Kapelle ist der folgende: Er findet »ein bild vnd ein geschicht, / Das nach einem menschen was gestalt« (Krone, V. 29025f.). Diesem Standbild ist ein Speer durch beide Knie gestochen.

Als er [Kay] das vant, das brach er Vnt sůchte dar jnne das blůt. Das riet yme sin freueler mut (Krone, V. 29031–33).

Keies Vergehen ist von merkwürdiger Art und in Anbetracht seiner bei anderen Artusdichtern recht einseitig und eindeutig gestalteten Niederlagen ein Sonderfall. Er sucht in der Statue nach dem Blut. Das tut er, weil er die Inschrift, die geschicht, nicht gelesen hat und deshalb den Speer für die blutende Gralslanze hält.117 Gawein wusste mit der Irrealität seines Kapel-lenabenteuers in der Wunderkette umzugehen und verwechselte die traum-hafte Erscheinung nicht mit dem wahren Gral. Keies kontrastiv gestalteter Frevel ist also, dass er nicht zwischen Original (dem echten Gralsherren und der echten Gralslanze) und Abbild (der Statue mit dem Speer) zu un-terscheiden weiß: Keie erwartet im Innern des Abbilds die bluthafte Reali-tät. Oder auf den Gral zugedacht: Er erkennt nicht den wahren Status der Gralsgesellschaft, die im Leben eigentlich tot ist, sondern sucht im Toten

_____________ Original: Potvin (wie Anm. 78), V. 34434–89; Übersetzung: Sandkühler (wie Anm. 84), 55f.; das keltische Motiv der durch das Fenster greifenden Hand findet sich u. a. in »MachPhies schwarzer Hund«, in: Aitken/Michaelis-Jena (wie Anm. 61), 164–169, hier: 168f. und Fionn und Lorcán (wie Anm. 79), 67; die Ma-nessier-Fortsetzung zersetzt gleichsam das Mystische wie das Mythische in Potvin (wie Anm. 78), V. 39701–40038, Übersetzung: Sandkühler (wie Anm. 85), 138–143. Manessiers generelle Tendenz, das ›Ungelöste‹ der vorigen Fortsetzungen zu rationalisieren, zeigt sich auch bezüglich der Auflösung der Whodunnit-Erzählung um den Mörder Keu; siehe Anm. 87. Zu den das ›Dunkle‹ als Eigenwert betrach-tenden Erzählkonzepten der ersten beiden französischen Fortsetzungen und der Aufnahme dieses Konzepts durch Heinrich von dem Türlin vgl. Däumer (wie Anm. 111), hier: Kapitel 3.5 ›Der unsichtbare Gral und die Regel des Bleheris‹.

116 Zum Spiegelbildcharakter der Szene vgl. Hartmut Bleumer, Die ›Crone‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tü-bingen 1997, 228–231; Keller (wie Anm. 27), 382; Schonert (wie Anm. 27), 162.

117 Vgl. Schonert (wie Anm. 27), 153.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 101

(Abbild) nach dem Leben (Blut) – so gesehen versündigt Keie sich durch ein ontologisches Missverständnis am Wesen des Mythos.

Das Interessante an dieser Verwechslung von Abbild und Original ist, dass der Erzähler der Krone diese Unterscheidung anscheinend auch nicht treffen kann. Heinrich beendet den Bericht von Keies Gefangennahme mit einem Anschluss an die Abschiedsszene bei den Damen des Artushofs:

Ob er [Kay] ie geprüfet spott, Des múst er nú zü bůsze stan. Nü lant yme nit miszegan, Süsze selige reyne wijb! […] Nu wendent vwer gemúte Zü welchem teil ir wellent: Wellent ir, er vervellet; Wellent ir, er ist genesen. Die wale můsz an ùch wesen. (Krone, V. 29065–77)

Mit dieser Apostrophe macht der Erzähler die ehemals um ihre Fürbitte gebetenen Damen des Artushofs zu den Damen in seinem Publikum, die er direkt anspricht und ihnen (zum Schein) die Entscheidung über das weitere Schicksal des Truchsesses überlässt.118 Er überschreitet mittels dieser per-formativen Geste die Grenze zwischen der poetischen Welt und der Vor-tragssituation, achtet also die Grenze zwischen Fiktion (bzw. Abbild) und Realität ebenso wenig, wie Keie es tut. Diese ontologische Verwischung ist mit großem Bedacht gesetzt: Die letzten Verse der Krone, die nicht dem Epilog zuzurechnen sind, greifen die Figur des Keie und den metafiktiona-len Transgress als finale erzählerische Pointe nochmals auf und betonen so seinen programmatischen Charakter (vgl. Krone, V. 29895–908).119 Einge-denk der narrativen Legitimationsstrategien seiner Vorgänger lautet die

_____________ 118 Schonert übersieht diesen entscheidenden Wechsel der Apostrophe von den fikti-

ven Damen des Artushofs hin zum weiblichen Publikum des Rezitators und kommt dementsprechend auch zu anderen Ergebnissen bezüglich dieser Stelle; vgl. Scho-nert (wie Anm. 27), 159–162. Erst bezüglich der Schlusspassage der Krone wird Schonert auf den Wechsel aufmerksam und bemerkt: »So, wie der Erzähler die Damen zur Fürbitte aufrief, als Keie in Not war, werden die Rezipienten verpflich-tet, künftig für dessen Überleben Sorge zu tragen« (ebd., 166). Die Möglichkeit, dass es sich bei den zuvor schon apostrophierten Damen um eben diese Rezipien-tinnen handelt, was die Thesen zu einer vornehmlich weiblichen Zuhörerschaft der Krone wie generell der höfischen Romane bestätigen würde (vgl. bspw. Manfred Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption im 12. und 13. Jahrhun-dert, Wiesbaden 1980, 199–211), lässt Schonert außen vor.

119 Einen ähnlichen Transgress zeigt Vollmann (wie Anm. 111) anhand der titelge-benden ›Krone‹ des Romans auf: »[N]icht der repräsentative, sondern der perfor-mative Aspekt des Werks wird hier hervorgehoben, und dieser Aspekt tritt noch einmal ganz deutlich zutage, wenn Heinrich am Ende vorgibt, mit seiner ›Krone‹ die tugendhaften Damen krönen zu können (V. 29991–30000)«; vgl. ebd. 103.

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von Heinrich an sein Publikum gerichtete implizite Aufforderung: ›Wenn es jemanden gibt, der euch Keie legitimieren und somit den Artusroman remythisieren kann – so seid ihr es selbst!‹

Heinrich ist schon der zweite Autor, bei dem sich die Tendenz feststel-len lässt, mittels Keie die ontologische Grenze zwischen Fiktion und Reali-tät zu verwischen. Das gleiche tut Wolfram mit seiner Anspielung auf die Notwendigkeit eines Keies am Thüringer Hof. Diese Auffälligkeit führt mich zu einer Frage, die es in einem letzten Schritt zu beantworten gilt, die Frage nach einem möglichen kulturellen Bedürfnis hinter der Remythisie-rung des Truchsesses in 12./13. Jahrhundert.

3. Das hofgesellschaftliche Bedürfnis hinter der Remythisierung: Macht lächerlich, was euch nicht lachen lässt

Den linearen Niedergang macht nicht nur der arthurische Truchsess durch, sondern mit ihm, wie Jürgen Haupt festgestellt hat, fast alle Truchsesse der mittelhochdeutschen Literatur.120 Die letztendliche Begründung, warum Keie zu einem zeitlosen Bestandteil der arthurischen Welt geformt wurde, muss also ebenso hinsichtlich seines ›amtlichen‹ Status121 wie hinsichtlich _____________ 120 Lûnete beklagt sich im Iwein über den Truchsess an Laudines Hof; Clamides’

Truchsess Kingrun ist im Parzival seinem Herren treu ergeben, dem Artushof je-doch ein feindlich gesinnter Neider; Konrad von Würzburg präsentiert in Otte mit dem barte einen cholerisch-konservativen Truchsessen; bei Gottfried hintergeht Markes Truchsess in Treue zu seinem Herren seinen Freund Tristan; des Weiteren versucht der lügnerische Truchsess des irischen Königs (bei Gottfried und bei Eil-hart) Tristan um seinen Ruhm als Drachentöter zu bringen. Die einzigen Ausnah-men in diesem generellen Abstieg der Truchsesse machen aus: (1.) Rumolt, der Truchsess zu Worms im Nibelungenlied; aber abgesehen davon, dass es sich hier ohnehin um eine andere Textgattung handelt, ist Rumolt zusätzlich in seiner höfi-schen Funktion auf die eines »biederen Küchenmeister[s]« (Haupt [wie Anm. 80], 66) beschränkt worden; (2.) die Keie-Gestalt in Eilharts Tristrant, wobei diese nur deswegen positiv zu bewerten ist, weil der List in der Wolfeisen-Szene ein positi-verer Stellenwert zugesprochen wird, als dies im Wertesystem der klassischen hö-fischen Romane möglich wäre. Zusätzlich dazu gemahnt das Lachen über Keie, der sich im Gegensatz zu den anderen Artusrittern aufgrund seines Übereifers be-sonders stark verletzt, wieder an das herkömmliche Muster des verlachten Verlie-rers; vgl. Haupt (wie Anm. 80), 64–68.

121 Haupt stellt die These einer Machtverschiebung des Amtes auf, welche die Truch-sessen begünstigt habe, ihre Position am Hofe auszunutzen und damit dafür sorg-ten, dass das gesamte Amt in ein negatives Licht gerückt wurde. Haupt liefert mit seiner (historisch nicht beweisbaren) These eine mögliche Antwort auf die Frage, nach dem Interesse an der Keie-Figur: Weil der Truchsess zu einem politischen Problem wurde, erschuf man Erzählungen, um das Amt ›virtuell‹ verhandeln zu können. Dieser sozialkritische Diskurs mag möglich sein, liefert jedoch keine Er-

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 103

seiner Funktionalisierung als Schnittstelle von Fiktion und Realität geklärt werden. Dafür soll abschließend auf die Keu- bzw. Keie-Figur in Chrétiens Yvain122 und Hartmanns Iwein123 eingegangen werden.

Beide Romane beginnen mit einem Hoffest, auf dem der Ritter Calo-grenant/Kalogrenant sein Scheitern an der Brunnenaventiure schildert. Zur Zuhörerschaft seiner Erzählung zählt auch Keu/Keie. Keie wird bei Hart-mann in die Szene, in der Kalogrenant zu erzählen beginnt, mit einer Poin-te eingeführt, die seinen aus dem Erec ererbten Status genauso reflektiert wie seine neue Rolle im nun beginnenden Roman:

dô man des pfingestages enbeiz, männeclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam. dise sprâchen wider diu wîp, dise banecten den lîp, dise tanzten, dise sungen, dise liefen, dise sprungen, dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, dise redten von seneder arbeit, dise von grôzer manheit. Gâwein ahte umb wâfen: Keiî leite sich slâfen [...]. (Iwein, V. 62–74)

Keie steht im Kontrast zum Idealhelden Gawein, jedoch dieses Mal nicht als (falscher) Freund, sondern als sein humoristischer Schatten. Diese Doppelgängerfunktion wird um eine weitere bereichert:

do gesâzen ritter viere, Dodines und Gâwein, Segremors und Îwein, (ouch was gelegen dâ bî der zuhtlôse Keiî) ûzerhalp bî der want: daz sehste was Kâlogrenant. der begunde in sagen ein mære,

_____________ klärung für Keies Remythisierung, denn der ›Mythos‹ zeichnet sich ja gerade da-durch aus, dass er seine Elemente nicht zur Diskussion stellt, sondern fatalistisch darstellt, »dass es schon immer so oder fast so gewesen ist wie gegenwärtig«; Blumenberg (wie Anm. 14), 41. Die Tendenz, Keie und sein Amt als immerwäh-rend zu legitimieren, passt nicht zu der Annahme einer literarischen Kritik der Re-alpolitik.

122 Vgl. Chrétien de Troyes (wie Anm. 81). 123 Im Folgenden zitiert nach: Hartmann von Aue, Iwein. Mittelhochdeutscher Text

und Übertragung, hrsg. und übers. von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin, New York 2001.

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von grôzer sîner swære und von deheiner sîner vrümekheit. (Iwein, V. 86–95)

Der Ritter Kalogrenant wird in diesem Bild zu einer Spiegelfigur des Rezi-tators, also derjenigen Person, die in der historischen Realität die Hart-mann’schen Verse vortrug.124 So wie der reale performer erhebt nun die Figur ihre Stimme, um von ritterlichen Taten zu erzählen. Weil Kalogre-nant als Erzähler im Gegensatz zu den anderen Figuren das Eintreten der Königin sehen kann, erhebt er sich. In diesem Moment wird Kalogrenants Vortrag durch die bösartige Kritik Keies gestört, der dem Ritter vorder-gründig aufgrund des Vorteils spottet, den sein Erspähen Ginovers ihm einbrachte – im Endeffekt aber aufgrund der exponierten Position, in die er sich als Erzähler/Rezitator begeben hat. Erst durch das Eingreifen der Kö-nigin, die in den Kreis der Zuhörer tritt, wird der Lästerer zum Schweigen gebracht und Kalogrenant setzt seine Erzählung als ›Auftragsarbeit‹ für die Königin fort. Durch diese Situation werden »[d]ie drei zentralen Instanzen einer höfischen Performanzsituation, der Erzähler [Kalogrenant], der ideale Zuhörer [Ginover] und der ›boshafte‹ Kritiker [Keie] [...] etabliert.«125

Louis-Fernand Flutre126 weist in seinem Namenskatalog der französi-schen mittelalterlichen Figuren darauf hin, dass ›Calogrenant‹ als eine Zu-sammenziehung von ›Keu le grognard‹ (›Keu der Haudegen‹) verstanden werden kann, was eine französische Übertragung und Verschriftlichung eines alt-kymrischen memorialtechnischen Epithetons sei.127 Dieser Zu-sammenhang könnte – genauso wie der zwischen Keie und Conán – als zufällig gelten, wenn er nicht an anderer Stelle bestätigt würde. In der mit-

_____________ 124 Zum Status des Rezitators als Interpretament des höfischen Romans vgl. Däumer

(wie Anm. 49); ders., »Burg Wildenberg. Von der Reaktualisierung eines Unorts«, in: ders. u. a., Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaft-liche Perspektiven, Bielefeld 2010 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 3), 229–559, hier v. a.: 230f., ders. (wie Anm. 111), hier v. a.: Kapitel 2.1 ›Inszenie-rung: Der Dichter, der Text und sein Rezitator‹.

125 Franziska Wenzel, »Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein«, in: Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Stroh-schneider (Hrsg), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), 89–107, hier: 109.

126 Louis-Fernand Flutre, Table des noms propres avec toutes leur variantes figurant dans les romans du Moyen Âge écrits en français ou en provençal et actuellement publiés ou analysés, Poitiers 1962, 40.

127 »Was he [Calogerenant] an alter-ego of Keu? His name was, after all, a variant of the seneschal’s: ›Keu le grognard‹ from the Celtic ›Cai-lo-guernant‹«; Norris J. Lacy, Keith Buby, The Legacy of Chrétien de Troyes, Bd. 2, Amsterdam 1988 (Faux Titre 37), 46.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 105

telkymrischen Adaption von Chrétiens Yvain,128 der Erzählung »Lady of the Fountain«, auch als Owein bekannt,129 findet sich eine Variante der Vortagssituation am Artushof. Von den Unterschieden zu Chrétiens Text sind für die vorliegende Betrachtung vor allem zwei Punkte von Bedeu-tung: (1.) Da Arthur den Befehl gegeben hat, dass der Erzähler nach einem gelungenen Vortrag mit Essen belohnt werden solle, wird Cei in seiner Funktion als Truchsess zum konstanten Ansprechpartner des erzählenden Ritters. Die Rollenzuschreibung an Keu/Keie/Cei als prototypischer ›Zuhö-rer‹ wird im Owein also noch deutlicher gestaltet.130 (2.) Sinntragend ist auch die Änderung des Namens ›Calogrenant‹, die bei der ›Rücküberfüh-rung‹ der arthurischen Szenerie in die mittelkymrische Literatur vorge-nommen wurde: Im Owein heißt Calogrenant ›Cynon‹, ein Name, der stark an Conán, den mythischen Vorgänger Keus/Keies erinnert.131 Der von Flutre über ein hypothetisches Epitheton hergestellte Konnex zwischen Keu/Keie und Calogrenant/Kalogranant findet im Owein über eine Anspie-lung auf den älteren Intriganten des Fionn-Sagenkreises seine Bestätigung. Die von Franziska Wenzel auf die arthurische Vortragsszenerie übertrage-ne Situation von Erzählendem und Rezipienten, also die Grundkonstella-tion der Performativität, wird dadurch generell als ›mythisch‹ ausgewie-sen.132 Keu/Keie ist dabei als immerwährender Kritiker und schlechter Rezipient gezeichnet, ganz im Stile der üblen Zuhörer, die viele mittelalter-

_____________ 128 »[W]ir [können] mit Sicherheit ausscheiden, daß die drei hier übertragenen Erzäh-

lungen [u. a. der Owein] genuin aus der autochthonen Tradition erwachsen seien [...]. Damit bleibt nur die Möglichkeit: Die drei Erzählungen sind im Vergleich zum Werk Chrestiens sekundär, sie setzen es voraus« (Helmut Birkhan, Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur, Bd. I, Kettwig 1989, 37).

129 Original: Owein or Chewedyl iarlles y ffynnawn, hrsg. von R. L. Thomson, Dublin 1968 (Medieval and modern Welsh series 4); Übersetzung: »Die Geschichte der Gräfin vom Brunnen«, in: Birkhan (wie Anm. 128), 65–107, hier: 65–76.

130 Für eine genaue Ausarbeitung dieses Zusammenhangs im Owein vgl. Däumer 2011 (wie Anm. 111), hier: Kapitel 4.1.2.1 ›Die performative Doppelgesichtigkeit eines Lästermauls‹.

131 Robert M. Jones und Linda M. Gowans weisen auf diesen Zusammenhang hin, wobei Gowans in Widerspruch zu Jones und zur obigen These schreibt: »It is sure-ly no more than a coincidence that the figure of Conan, the arrogant troublemaker of the Irish Fenian poems, should correspond to the new role found for Cei in France«; Gowans (wie Anm. 16), 178; vgl. Robert M. Jones, »Nodiadau Cymysg Cai fab Cynyr«, The Bulletin of the Board of Celtic Studies 14/2 (1951), 119–123, hier: 122f. Gowans Ablehnung resultiert aus einer eher fraglichen Absolutierung der keltischen Cei-Gestalt als alleinstehender ›Ur-Mythos‹; vgl. Gowans (wie Anm. 16), 162f.

132 Peter Czerwinski zählt den Namenskonnex zu den den mythischen Gehalt prägen-den Hypostasen, welche die Keie-Figur umranken, erweitert diesen jedoch nicht auf die Performativität; vgl. Czewinski (wie Anm. 9), 410.

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liche Dichter in ihren Prologen als Negativbeispiele anführen. Durch sein störendes Eingreifen in die Erzählung bedroht Keu/Keie einerseits deren Ordnung (und in Übertragung bedroht der Kritiker den Romanvortrag); andererseits aber festigt Keie die Ordnung wieder dadurch, dass er als Spötter zum Schweigen gebracht und als humoristische Figur verlacht werden kann. Dabei ist das Verlachen (nicht nur im Yvain/Iwein/Owein, sondern auch bei all seinen Niederlagen) ein Lachen, in dem Artushof und Publikum ›verschaltet‹ werden.133 Im Fall des Iwein finden ›Verschaltung‹ und Verlachen statt, um die Regeln der Veranstaltung zu festigen, an der der Zuhörer gerade teilnimmt.

In den Untersuchungen zu mythischen Prototypen Keies stellen Harold J. Herman134 wie Alfred Ebenbauer135 fest, dass fast alle möglichen Vor-gänger Keies, v. a. aber die Götter Loki und Momos und der irische Held Bricriu, die Eigenschaft besäßen, als Spötter Unordnung, aber im Lachen über diesen Spott wiederum Ordnung zu schaffen: »Der Mythos braucht das Gelächter, der Olymp seinen Momos, Asgard seinen Loki, Karidol seinen Keie.«136 Auch Conán gefährdet stets die Ordnung der Fenier, sogar in ihren Grundfesten, denn schließlich tötet er Diarmuid, ihren größten Kämpfer; doch gleichzeitig erinnert sein Beiname Moal, ›der Kahle‹, im-mer wieder an die lachhafte Situation der Enthäutung seines Hinterteils. Conán und allen anderen möglichen mythischen Vorbildern Keies liegt in ihrer Ambivalenz zwischen Bos- und Lachhaftigkeit der karnevalistische Grundgedanke der befreienden und in letzter Konsequenz elementar festi-genden Wirkung des Verlachens bestehender Ordnungen zugrunde.137

Was also ist die Ordnung, die man durch den Keie des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts verlacht und die es bedingt, dass Keie von Hart-mann, Wolfram und Heinrich als Grenzgänger zwischen Fiktion und Reali-tät inszeniert wird?

_____________ 133 So auch Seeber (wie Anm. 40), 13–15, der das Ineinander-Fallen von Artushof und

Publikum über die Rhetorica ad Herennium als Memorialtechnik beschreibt. Zur performativen Technik der ›Verschaltung‹ vgl. Däumer (wie Anm. 124), 231–235; ders. (wie Anm. 111), hier: 4. Kapitel ›Von der Sprechhandlung zum Raum‹.

134 Vgl. Harold Jerome Herman, Sir Kay. A Study of the Character of the Seneschal of King Arthur’s Court, Pennsylvania 1960.

135 Vgl. Alfred Ebenbauer (wie Anm. 4), 125–131. Ebenbauer bezieht sich auf den Aufsatz von De Pontfarcy (wie Anm. 56), in dem die fonction cosmique du rire anhand der Gestalten Loki und Keu/Keie erläutert wird.

136 Ebenbauer (wie Anm. 4), 128. 137 Werner Röcke stellt ebenfalls diese Ordnung stabilisierende Funktion Keies fest,

auch wenn er statt ›Ordnung‹ den Begriff der ›Gewalt‹ zum Fokus seiner Betrach-tung macht; vgl. Röcke (wie Anm. 3), 346f.

Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls 107

Eine mögliche Antwort liefert der ›Sitz im Leben‹ des höfischen Ro-mans: Man weiß, dass der Vortrag der höfischen Epen seinen festen Platz im Ablauf höfischer Feste hatte und dort meist nach dem Essen stattfand. Bei solch einem Festmahl war ein realer Truchsess vor Ort, dessen Aufga-be darin bestand, die Einhaltung des höfischen Protokolls zu sichern. Von diesem Protokoll wiederum weiß man, dass es in der Epoche des höfischen Romans eine enorme Verschärfung erfuhr.138 Während des Essens war der Truchsess Exekutivgewalt und Symbolgestalt dieser zunehmend strengeren Ordnung höfischen Lebens. Keies Funktion in der Textverlesung könnte es somit gewesen sein, als Stellvertreter139 ein Verlachen dieser Ordnung zu ermöglichen und den Druck der neuen Etikette zu kompensieren. Beson-ders gut funktioniert das bei den Keie-Gestalten, die als rigide Vertreter der Ordnung gezeichnet werden, allen voran der Keie Wolframs (vgl. Parzival, 151,1–153,20), der Cunneware für eben das bestraft, was bei seiner späte-ren Niederlage innerhalb der Fiktion und auf der Ebene der Romanverle-sung seine eigene Strafe sein wird:140 das Lachen.141

_____________ 138 Den besten Indikator für diesen Wandel stellt das Aufkommen der lateinischen

Tischzuchten in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und die überaus schnelle Aufnahme dieser Benimmbücher in die deutsche Nationalsprache im frühen 13. Jahrhundert dar; vgl. Christiane Voigt, Forschungen zu den selbstständigen deutschsprachigen Tischzuchten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995, 297–301. Am prägendsten sind (1.) die älteste lateinische Tischzucht Thes-mophagia, die teilweise sogar schon in das dritte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts datiert wurde, und (2.) die stark verbreitete Tischzucht im Welschen Gast (1215/16).

139 Wie Schonert feststellt, ist Keies »Äußeres weder in der Crône noch in den Roma-nen Chrétiens, Hartmanns, Wolframs, des Strickers usw. beschrieben.« Selbst die spärlichen Beschreibungen von Äußerlichkeiten anderer Ritter wie bspw. ihre Rüs-tungen »werden im Fall Keies unterboten«; Schonert (wie Anm. 27), 49. Dieser Befund passt zu der Platzhalterfunktion der Figur für einen realen Truchsessen, dessen spezifisches Aussehen so auf Keie projiziert werden konnte.

140 Auch die Bestrafung Antanors passt zur ›karnevalistischen‹ Deutung, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Figur bei Chrétien bezeichnenderweise ein (na-menloser) Hofnarr ist und auch im Parzival die Züge des ›Närrischen‹ nicht abge-legt hat, auch wenn Wolfram mit dem Begriff ›tôr‹ (Parzival 152,24) eine andere Gewichtung vornimmt, die weniger über Antanor, als über seine Wahrnehmung durch den Hof aussagt: »Das selbstvergesse Schweigen in der Gesellschaft wird von dieser in seiner Unverständlichkeit als Zeichen einer Verstandesschwäche ge-deutet und so, als Sprachdefiziens verstanden, zum Attribut des Toren. So wird auch Antanor am Artushof zum Toren g e m a c h t « ; Mireille Schnyder, Topogra-phie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3), 115 (meine Hervorhebung); vgl. Chré-tien (wie Anm. 76), V. 1053–63.

141 Letztere These im Widerspruch zu Katharina Philipowski, die gerade anhand des Lachens der Cunnewâre zeigt, »warum zwischen Gesten in der Dichtung und Ges-

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Michail Bachtin schrieb über die ›Karnevalisierung‹ von Literatur: Einen [großen] Einfluss auf das literarisch-künstlerische Denken hatte [...] der Brauch der Erhöhung und Erniedrigung. Er prägte eine bestimmte Art des Aufbaus literarischer Gestalten und ganzer Werke, in denen irgendwas oder irgendwer sei-nes Nimbus entkleidet wurde, wobei jedoch dieser Vorgang wesentlich ambivalen-ter war und sich auf zwei Ebenen abspielte. Immer wenn die Ambivalenz erlosch, verflachte die ambivalente Erniedrigung zu einer rein negativen, abwertenden An-prangerung moralischer oder sozialpolitischer Art.142

Für das Publikum des höfischen Romans stellt der Affektaufbau im Lachen eine Regelabweichung dar, die aber dadurch, dass sie vorübergehend er-laubt und entsprechend inszeniert ist, gleichzeitig wieder eine Akzeptanz des Protokolls bedeutet. So wird durch das Lachen letztendlich die beste-hende Ordnung wieder gestärkt. Keies fiktive Funktion für den Artushof und seine reale Funktion am historischen Hof sind somit deckungsgleich. Doch nur ein Keie, dessen ambivalenter Status zwischen Bos- und Lach-haftigkeit durch Remythisierung als immerwährend (re-)etabliert wurde, läuft nicht Gefahr – in den Worten Bachtins – zu einer ›rein negativen, abwertenden Anprangerung zu verflachen‹. Nur in der Verweigerung ihres linearen Niedergangs wird die Figur sowohl der Moral wie der Ernsthaf-tigkeit entkleidet und kann als Variable eines performativen Sündenbockri-tuals dienen.143 Kurz und ›büttig‹: Ohne Keie-Mythos kein Karneval.

_____________ ten außerhalb der Dichtung unterschieden werden muss«; Katharina Philipowski, »Das Gelächter der Cunnewâre«, Zeitschrift für Germanistik 13 (2003), 9–25, hier: 9. Im Sinne der performativen Interpretation liegt genau das Gegenteil vor: das gezielte ›Verschalten‹ einer für ihr Lachen bestraften Figur mit einem durch Lachen bestrafenden Publikum. Dies stellt auch Christoph Huber fest, der Cunne-wâres Lachen in einen Zusammenhang stellt mit der Szene im Iwein, in der ein Edelfräulein ihren Eltern aus einem Buch vorliest und diese zum Lachen bringt: »Gezeigt wird [...] das Lachen der Eintracht eines Literaturpublikums«; Christoph Huber, »Lachen im höfischen Roman. Zu einigen komplexen Episoden im literari-schen Transfer«, in: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec (Hrsg.), Kul-tureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transfer Culturels et Histoire Littéraire au Moyen Age, Sigmaringen 1998, 345–358, hier: 357. Allge-mein zum Regelverstoß hinter Cunnewâres Lachen vgl. u. a.: Gerd Althoff, »Wolf-ram von Eschenbach und die Spielregeln der höfischen Gesellschaft«, Wolfram-Studien 16 (2000), 102–120; dort auch Verweise auf ältere Forschungsbeiträge.

142 Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. von Alexander Kämpfe, Frankfurt a. M. u. a. 1985, 52f.

143 So auch Werner Röcke, wenngleich er hauptsächlich auf fiktionaler Ebene argu-mentiert und den Mehrwert des Truchsesses für den Artus- und nicht den realen Hof bestimmt: »Keie [...] übernimmt die [...] Funktion eines Sündenbocks, der Ri-valität und Gewaltbereitschaft auf sich zieht, dann aber ins Komische verschiebt und auf diese Weise abschwächt«; Röcke (wie Anm. 3), 346.