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Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Heft 2/2015 Militärgeschichte im Bild: Propagandapostkarte »Zeppelin kommt!«, 1915. Mythos Stuka Österreicher in der Wehrmacht »Moltke als Schimpfwort!« Chemische Kriegführung 1914–1918 C 21234 ISSN 0940 - 4163

"Stuka!" Mythos und Wirklichkeit

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MilitärgeschichteZeitschrift für historische Bildung

Militärgeschichtliches Forschungsamt

MGFA

Hef

t 2/

2015

Militärgeschichte im Bild: Propagandapostkarte »Zeppelin kommt!«, 1915.

Mythos Stuka

Österreicher in der Wehrmacht

»Moltke als Schimpfwort!«

Chemische Kriegführung 1914–1918

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ImpressumZMG 2014-H3 Impressum EditorialZeichen: 2.900V1 mt 2014-08-21, V2 lekt 2014-08-

21, V3 mt 2014-08-22

S. 2

aus Ihren Rückmeldungen wissen wir, dass bei manchen besonderes Inte-resse an der Technikgeschichte der Weltkriege besteht. Diesem Wunsch kommt Jens Wehner mit einem Blick auf den Mythos »Stuka« nach. Das Sturz-kampflugzeug Ju 87 galt auch nach 1945 als eines der erfolgreichsten Flug-zeuge der Luftwaffe. Dies lag, so Wehner, an seinem »innovativen Einsatz« im Gefecht der verbundenen Waffen, der gar als Vorbild des späteren Close Air Support gelten könne. Beim Blick auf Technik und Taktik dürfen jedoch niemals die Opfer dieser Angriffe in Vergessenheit geraten.

Martin Meier trägt diesem Wunsch Rechnung: Er blickt auf die chemische Kriegführung im Ersten Weltkrieg, den Einsatz von Chlorgas und Phosgen sowie auf andere grauenhafte Erfindungen im »Gaskrieg«.

Auf Ihr besonderes Interesse wird sicher der Beitrag von Norman Domeier über eine ab 1907 öffentlich vor Gerichten ausgetragene Schlammschlacht um Ehre, Verleumdung und die damals noch unter der Strafe des Paragrafen 175 stehende Homosexualität stoßen. Im Fokus standen »allerhöchste Kreise« des Reiches und des preußischen Militärs mit engen freundschaftlichen Be-ziehungen zum Kaiser. Vordergründig drehte sich der Skandal um Sexuali-tät und die Ehre des preußischen Militärs, hinter den Kulissen ging es um knallharte politische Fragen: um Einfluss beim Kaiser und die Richtung der deutschen Außenpolitik. Der Skandal von 1907 wirkt sogar bis in die Gegen-wart nach. Der damalige preußische Kriegsminister General Karl von Einem trat als Verfechter einer besonders harten Linie gegen homosexuelle Offiziere in der preußischen Armee hervor. Im Reichstag meldete er sich in der De-batte am 29. November 1907 zu Wort: »Mir sind diese Leute ekelhaft und ich verachte sie! […] Wo ein solcher Mann mit solchen Gefühlen in der Armee weilen sollte, da möchte ich ihm zurufen: Nimm Deinen Abschied, entferne Dich, denn Du gehörst nicht in unsere Reihen! Wird er aber gefasst, meine Herren […] so muss er vernichtet werden.« Von Einems Reichstagsrede ist neben anderen kontroversen Punkten im Leben des 1934 verstorbenen Gene-rals heute Hauptargument für die Umbenennung der mancherorts noch be-stehenden Von-Einem-Straßen. In Essen scheiterte 2013 eine solche von der Stadt vorgesehene Umbenennung an einem Bürgerentscheid der Anwohner. Auch in Berlin sollte die Einemstraße unbenannt werden, und auch hier for-mierte sich Widerspruch der Anwohner, sodass der Nordteil der Straße bis heute Einems Namen trägt. Ihr Südteil wurde 2013 nach Karl Heinrich Ul-richs, einem 1895 verstorbenen Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung, benannt.

In eigener Sache: Die Redaktion verabschiedet sich von Herausgeber Oberst Dr. Sven Lange und dankt ihm für seine vertrauensvolle und inhaltlich stets bereichernde Zusammenarbeit. Für seine weitere Dienstzeit wünschen wir viel Erfolg und Soldatenglück.

Hauptmann Ariane Aust M.A. begibt sich auf Entdeckungsreise: Sie ist vor wenigen Tagen in den Ehestand getreten. Unserer Redaktion bleibt sie weiter erhalten, wenn auch unter verändertem Namen: Ariane Huth.

Für Ihr Interesse an der Militärgeschichte danken

Klaus Storkmann und Michael Thomae

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

MilitärgeschichteZeitschrift für historische Bildung

Herausgegebenvom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehrdurch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack undOberst Dr. Sven Lange (V.i.S.d.P.)

Produktionsredakteure der aktuellen Ausgabe:Major Dr. Klaus Storkmann und Mag. phil. Michael ThomaeRedaktion:Friederike Höhn B.A. (fh)Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau)Major Dr. Jochen Maurer (jm)Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)Major Dr. Klaus Storkmann (ks), korresp. MitgliedMag. phil. Michael Thomae (mt)

Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina SandigLektorat: Dr. Aleksandar-S. VuletićKarte: Dipl.-Ing. Bernd Nogli Layout/Grafik:Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang

Anschrift der Redaktion:Redaktion »Militärgeschichte«Zentrum für Militärgeschichte undSozialwissenschaften der BundeswehrPostfach 60 11 22, 14411 PotsdamE-Mail: [email protected]: www.zmsbw.de

Manuskripte für die Militärgeschichte werden an obige Anschrift erbeten. Für unverlangt ein-gesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der He-rausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Die Honorarabrechnung er-folgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redak-tion behält sich Änderungen von Beiträgen vor. Die Wiedergabe in Druckwerken oder Neuen Medien, auch auszugsweise, anderweitige Ver-vielfältigung sowie Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt. Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von in dieser Zeitschrift genannten Webseiten und deren Unterseiten.

Für das Jahresabonnement gilt aktuell ein Preis von 14,00 Euro inklusive Versandkosten (inner-halb Deutschlands). Die Hefte erscheinen in der Regel jeweils zum Ende eines Quartals. Die Kün-digungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Ihre Bestellung richten Sie bitte an: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Stellmacherstraße 14, 26506 Norden, E-Mail: [email protected]

© 2015 für alle Beiträge beimZentrum für Militärgeschichte undSozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw)

Druck:SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden

ISSN 0940-4163

ServiceDas historische Stichwort:Die Schlacht von Gorlice-Tarnów 23

Neue Medien 24

Lesetipps 26

Die historische Quelle 28

Geschichte kompakt 29

Ausstellungen 30

Militärgeschichteim Bild»Zeppelin kommt!« 31

Die Propagandapostkarte »Zeppelin kommt!« aus dem Jahr 1915 zeigt den Angriff eines Zeppelins auf den »Kriegs-hafen von England« als Kinderspiel. So vielschichtig das »Kinderspiel« mit Blick auf das Kriegsgeschehen und die beab-sichtigte Wirkung der Propaganda hier auch zu lesen sind, gibt die Karte ebenso Auskunft über die gesamtgesellschaft-liche Dimension der Militarisierung. Foto: Archiv Markus Pöhlmann, ZMSBw

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:

Tobias Gräf, SHK Uni Regensburg;Major Holger Hase M.A., Dresden;Oberst Prof. Dr. Winfried Heinemann, ZMSBw;Stefan Kahlau M.A., Geltow;Kapitänleutnant d.R. Christian Senne M.A., Cuxhaven; Carsten Siegel B.A., Potsdam;Dr. Thomas Vogel, ZMSBw;Dr. Susanne Willems, Berlin.

Inhalt

»Stuka!« Mythos und Wirklichkeit

Jens Wehner M.A., geb.1978 in Schlema/Sachsen, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr,

Dresden

4

»Österreicher« in der Wehrmacht

Mag. Dr. Richard Germann, geb. 1974 in Wels/Oberösterreich, Ludwig Boltzmann-Institut

für Historische Sozialwissenschaft, Wien

10

Gaskampf 1914–1918Kampfstoffe und Einsatzgrundsätze der Entente- und der Mittelmächte

Dr. Martin Meier, geb. 1975 in Bergen/Rügen, Studienrat, Fachlehrer für Chemie und

Geschichte

18

»Moltke als Schimpfwort!«Der Eulenburg-Skandal und die moralische Rechtfertigung eines »großen Krieges«

14

Dr. Norman Domeier, geb. 1979 in Duderstadt/Südniedersachsen, Akademischer Rat am

Historischen Institut der Universität Stuttgart

5�Eine Ju 87 kurz vor dem Start am Mittelabschnitt der Ostfront, um 1943.

D ie Junkers Ju 87 – genannt »Stuka« (für Sturzkampfflug-zeug) – ist wahrscheinlich das

bekannteste deutsche Flugzeug des Zweiten Weltkrieges. Geradezu sym-bolhaft steht sie bis heute für die fliege-rische Komponente des »Blitzkriegs«. Doch was steckt dahinter, wie beson-ders war die Ju 87 wirklich?

Die Idee für die Sturzbomber oder Sturzkampfbomber – so die gängige Bezeichnung – entstand in der US Navy in den 1920er Jahren. Dahinter stand die Überlegung, dass horizontal flie-gende Flugzeuge keine militäri schen Punktziele und insbesondere keine Schiffe treffen könnten. Beim Sturzflug könne der Pilot jedoch mit dem ganzen Flugzeug das Ziel anvisieren und dann die Bomben in niedriger Flughöhe ein-fach entlang der Flugbahn abwerfen. Dieses Prinzip funktionierte tatsäch-lich recht gut und steigerte die Präzi-sion enorm. Im Zweiten Weltkrieg ent-

schieden die Sturzbomber sogar See-schlachten, wie zum Beispiel 1942 bei den Midway-Inseln im Pazifik. Dort war es etwa drei Dutzend US-amerika-ni schen Sturzbombern gelungen, drei japanische Flugzeugträger in nur sechs Minuten schwer zu beschädigen.

Bereits die Reichswehr hatte in den 1920er Jahren die Idee entwickelt, ein Sturzkampfflugzeug in eine künftige deutsche Luftwaffe einzuführen. Ernst Udet (1896–1941) trieb diese Idee ab Mitte der 1930er Jahre wesentlich vo-ran. Udet, nach Manfred von Richt-hofen der erfolgreichste deutsche Jagd-flieger im Ersten Weltkrieg, trat 1935 als Oberst in die von seinem persönli-chen Bekannten Hermann Göring ge-führte Luftwaffe ein. Er wurde zunächst Inspekteur der Jagd- und Sturzkampf-flieger und ab 1936 Chef der Luftwaf-fenrüstung.

1935 führte die neuaufgestellte Luft-waffe zwei Ausschreibungen durch, in

denen sowohl die Entwicklung eines leichten einsitzigen Sturzbombers als auch die eines größeren Sturzbombers mit einem Piloten und einem nach hin-ten ausgerichteten Bordschützen mit beweglichen Maschinengewehr (MG) als Ziele genannt wurden. Für die leichte einsitzige Variante gewann die Firma Henschel die Ausschreibung mit einem konservativen Doppeldecker ihres Modells Hs 123. Im Zuge der zweiten Ausschreibung traten die Arado 81, die Heinkel 118 und die Jun-kers 87 gegeneinander an. Die Arado 81 war ebenfalls im konservativen Dop-peldeckerdesign gehalten, während die Heinkel ähnlich wie der Eindecker Ju 87 geformt war, aber nicht deren Knickflügel aufwies. Die Ju 87 gewann und wurde in die Serienproduktion ge-nommen. Der Erstflug der Ju 87V-1 er-folgte bereits im September 1935.

Der Knickflügel war ein aerodyna-misches Mittel, um der Stuka mehr Sta-

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»Stuka!« Mythos und Wirklichkeit

Stuka

4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

bilität im Kurvenflug zu geben, da sich dabei die Luftströmung veränderte. Eine andere Stellung der Tragfläche konnte hier von Vorteil sein. Zudem war durch den Knick ein Punkt ge-schaffen, der unterhalb der Gesamtflä-che des Flügels lag, also der Erde näher war. Genau dort befand sich das Fahr-werk, dessen »Beine« daher recht kurz geformt werden konnten. Entgegen dem damaligen Trend in der Flugzeug-entwicklung war es nicht einziehbar, wahrscheinlich um Gewicht zu sparen und die Stabilität beim Landen und Starten zu erhöhen. Im Unterschied zu der US-amerikanischen Sturzbomber-konstruktion war die deutsche Stuka eher für den Landkrieg gedacht, eine Ausführung, die Ju 87C, sollte jedoch auch auf Flugzeugträgern eingesetzt werden. Der einzige in Bau befindliche deutsche Träger »Graf Zeppelin« wurde allerdings nie in Dienst gestellt.

Luftwaffenpiloten bezeichneten das Flugverhalten der Stuka übereinstim-mend als sehr einfach und stabil. Einer von ihnen, Gerd Stehle, schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg, der Knickflü-gel »versprach zwar eine außerordent-liche Stabilität im Flug, aber schnell sah diese Tragfläche auch nicht aus«. Zum Fahrwerk meinte er: »Wenn es mal zu matschig wurde, dann montierten die Bordwarte die ›Maukepantoffeln‹ (so nannten sie die Radverkleidungen) einfach ab, weil sich beim Rollen zu viel Dreck sammelte.«

Der britische Testpilot Eric Brown hatte nach dem Krieg Gelegenheit, eine

D-Variante der Ju 87 zu fliegen, und stellte ein stabiles Flugverhalten sowie ausgezeichnete Sichtmöglichkeiten fest. Im Sturzflug sei die Stuka das be-ste Flugzeug des Krieges: »Tatsächlich hatte ich noch kein Sturzkampfflug-zeug geflogen, mit welchem Stürze steiler als 70 Grad möglich gewesen wären. Nur die Ju 87 war ein echter 90-Grad-Stürzer! [...] Mit diesem Flugzeug schien es die natürlichste Sache der Welt zu sein, wenn man ›auf dem Kopf‹ stand.«

Taktik und erster Einsatz

Der erste Kampfeinsatz der Ju 87 er-folgte im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) im Rahmen der »Legion Condor« zur Unterstützung der gegen die Republik putschenden Truppen des späteren Diktators Francisco Franco. Von viel Skepsis durch die Luftwaffen-führung begleitet, erwiesen sich die Stukas als äußerst wirksam in der punktgenauen Bekämpfung gegne-rischer Stellungen und Einheiten. Die Verluste durch Flugabwehrkanonen (Flak) und feindliche Jagdflugzeuge blieben nicht zuletzt dank der deut-schen Luftüberlegenheit gering. Das Ziel wurde von den Ju-87-Piloten in V-förmigen Formationen angeflogen, denn in der V-Formation konnten die Heckschützen der Stukas ihre toten Feuerwinkel am besten gegenseitig ausgleichen. Jede Kette, bestehend aus drei Flugzeugen, bildete ein V, eine Staffel bildete wiederum aus ihren drei

Ketten ein V. Kurz vor dem Erreichen des Zieles formierten sich die Ju 87 zu einer Linie, und danach rollte eine nach der anderen über die Tragfläche ab und stürzte mit einem Winkel von bis zu 90° – also fast senkrecht – auf das Ziel. In der Regel wurde in Höhen um 4000 bis 5000 m angeflogen und bis zu 1000 m Höhe herunter gestürzt. Viele Piloten gingen tiefer, um besser treffen zu können, steigerten jedoch dabei auch das Risiko abzustürzen oder ab-geschossen zu werden. Vor dem Sturz wurden Luftwiderstand erzeugende Sturzflugbremsen ausgefahren, wo-durch gleichzeitig die am Fahrwerk-bein befindlichen Sirenen ausgelöst wurden. Diese sogenannten Jericho-trompeten erzeugten ein laut-heu-lendes Geräusch, um Angst und Panik beim Gegner zu erzeugen. Bereits der britische Luftkriegstheoretiker Hugh Trenchard hatte nach dem Ersten Welt-krieg erkannt, dass die psychologische Wirkung eines Bombenangriffs zwan-zig Mal stärker sei als die Trefferwir-kung selbst. Tatsächlich rannten viele Soldaten vor den heranstürzenden Stu-kas davon.

Beim Sturz traten jedoch trotz der Sturzflugbremsen sehr hohe Geschwin-digkeiten auf, die beim Abfangen in den Normalflug enorme G-Kräfte bis zum Neunfachen des eigenen Körper-gewichtes verursachten. Nicht wenige Piloten erlitten dabei kurzzeitigen Blut-verlust im Auge (»black-out«) oder ver-loren gar das Bewusstsein. Bei Verlust des Bewusstseins griff eine sogenannte Abfangautomatik ein, die ab einer be-stimmten Höhe das Flugzeug sicher abfing. Noch höhere Belastungen traten für den Heckschützen der Ju 87 auf. Doch auch die Automatik schützte nicht vor allen Eventualitäten. Am 15. August 1939 stürzte eine Stuka-Gruppe durch eine Wolkendecke über dem schlesischen Truppenübungsplatz Neuhammer. Da die Wolken niedriger als vom Wetterdienst vorhergesagt hin-gen, rammten sich 13 Stukas binnen Sekunden in die Erde, weil ihre Piloten sie zu spät abgefangen hatten. Die Be-dienung der Stukas war für die Piloten nicht nur in physischer, sondern auch in psychischer Hinsicht eine große He-rausforderung, denn oft stürzten die Ju 87 in das dichteste Flakfeuer hinein. In den Anfängerfliegerschulen der Luft-waffe wurden daher besonders mutige 5�Sturzkampfflugzeuge 1939 in Polen.

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5Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Piloten für die Sturzkampfgeschwader ausgewählt. Die Ausbildungszeit dau-erte zwischen 13 und 24 Monate und umfasste mindestens 200 Flugstunden. Viele Stuka-Piloten fühlten sich auf-grund der in sie gesetzten Erwartungen und ihrer Auswahl als Elite. Wenig be-kannt ist, dass der berühmte Aktions-künstler Joseph Beuys (1921–1986) als Bordschütze und -funker auf der Stuka flog.

Erfolge und Propaganda

Zum Überfall auf Polen im September 1939 konnte die Luftwaffe auf rund 340 Ju 87 zurückgreifen. Die meisten wa-ren beim Fliegerführer z.b.V. (zur be-sonderen Verwendung) konzentriert, der unter dem Kommando des Gene-rals Wolfram von Richthofen auf die Unterstützung der Heeresverbände spezialisiert war.

Die Ju-87-Verbände begannen die ers-ten offenen Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg; eine Kette zerstörte am 1. September um 4.35 Uhr – also zehn Minuten vor dem offiziellen An-griffsbeginn – polnische Sprengkabel an einer Eisenbahnbrücke bei Tczew (Dirschau). Etwa fünf Minuten vor An-griffsbeginn bombardierte eine Stuka-Gruppe die polnische Kleinstadt Wieluń, wobei dieser Angriff viele Opfer unter der Zivilbevölkerung for-derte.

Der erste Luft-Luft-Abschuss im Zweiten Weltkrieg gelang ebenfalls

einem Stuka-Piloten. Die polnischen Luftstreitkräfte verfügten über meist veraltete und deutlich weniger Flug-zeuge als die deutsche Luftwaffe. In den ersten Eroberungsfeldzügen der Wehrmacht in Polen 1939 und Norwe-gen 1940 zeigten die Stukas beträcht-liche militärische Wirkung. Mit ihren Sirenen und Bomben stürzten sie sich auch im Westfeldzug 1940 gegen Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande auf die gegnerischen Truppenstellungen und ebneten so den motorisierten Verbänden der Wehr-macht den Weg. Oft geschah dies an den entscheidenden Brennpunkten der Front. Einer der intensivsten Angriffe dieser Art fand am 13. Mai 1940 bei Se-dan statt. Hier erzielte die Wehrmacht einen entscheidenden Durchbruch, der zur Niederlage Frankreichs führen sollte. An diesem 13. Mai bombar-dierten von 8.00 Uhr früh bis abends Hunderte deutscher Flugzeuge die französischen Stellungen bei Sedan, darunter viele Stukas. Ein Oberleut-nant der bombardierten französischen Division schrieb dazu nach dem Krieg: »Zu den Bombern gesellen sich die ›Stukas‹. Das Sirenengeräusch des he-runterstoßenden Flugzeugs bohrt sich ins Ohr und legt den Nerv bloss. Man bekommt Lust, zu brüllen.« Beein-druckt waren auch die deutschen Hee-ressoldaten. Einer beschrieb nach dem Krieg: »Staffel um Staffel ziehen in gro-ßer Höhe heran, entfalten sich zur Reihen formation und da, da saust die

ers te Maschine senkrecht herab, ge-folgt von der zweiten, dritten; zehn, zwölf Flugzeuge sind es, die gleichzei-tig wie die Raubvögel auf ihre Beute stürzen und dann ihre Bombenlast über dem Ziel auslösen.« Die Stukas erfüllten also die in sie gesetzten Er-wartungen einer wirksamen Waffe für die Zerschlagung feindlicher Erdtrup-pen.

Der NS-Propagandaapparat instru-mentalisierte sehr bald die Ju 87 für seine Zwecke. In den filmischen Insze-nierungen im Nationalsozialismus wurden für die Stukas Raubtiervögel- und Insektenschwärme genutzt und die Ju 87 als moderne Waffe darge-stellt. So zeichneten die Propagandis-ten Bilder eines in Panik, Chaos und Unordnung geratenen Feindes, wäh-rend die Piloten als kraftvolle Wesen gezeigt wurden. Schließlich wurde 1941 sogar ein Film mit dem Titel »Stu-kas« aufgeführt, bei dem die technische Darstellung der Ju 87 im Vordergrund stand. Die deutschen Kriegswochen-schauen griffen das Kriegsbild »Stuka« mit Vorliebe auf. Immer wieder wur-den nachvertonte Stuka-Angriffe ge-zeigt, in denen die »Jerichotrompeten« heulten und die Feinde schwer getrof-fen wurden. Diese Bilder und Klänge sind so wirkmächtig, dass sie bis heute immer wieder auftauchen, und selbst in einigen Fliegerfilmen sind abstür-zende Flugzeuge mit dem Geheul von Sirenen der Ju 87 unterlegt, weil ab-stürzende Flugzeuge vermeintlich so klingen.

Erste Probleme und Zenit der Stuka-Verbände

Doch schon bald nach Kriegsbeginn bekam der Stuka-Mythos zumindest im inneren militärischen Bewertungs-system Kratzer. In der Luftschlacht um England im Sommer und Herbst 1940 gelang es den Jagdflugzeugen der Royal Air Force, den britischen Luft-raum gegen die Luftwaffe zu verteidi-gen. Messerschmitt-Jagdflugzeuge konnten nicht immer einen effektiven Begleitschutz für die Ju 87 sicherstel-len. Waren die Ju-87-Verbände den Angrif fen britischer Jäger ausgesetzt, wurden sie dezimiert. Nach fünf Tagen intensiver Luftschlachten mussten sie aus dem Einsatz genommen werden. Es zeigte sich, dass die Ju 87 zu schwach

Ausführung Gefertigt abStückzahl(gerundet)

Maximal-leistung (PS)

Waffen (starr/vornund beweglich/hinten) Bombenlast

Ju 87A

Ju 87B

Ju 87R(R für Reichweite) Ju 87D

Ju 87G

Gesamt (inklusivePrototypen)

7/1937

9/1938

1/1940

8/1941

12/1943

1936 – 1944

260

920

720

3 640

210

5 800

720

1 200

1 200

1 420

1 420

1 x 7,92-mm-MG 1 x 7,92-mm-MG 2 x 7,92-mm-MG 1 x 7,92-mm-MG 2 x 7,92-mm-MG 1 x 7,92-mm-MG

2 x 20-mm-Bordkanone (ab D-5)1 x 7,9- mm-Doppel-rohr-MG 2 x 3,7-cm-Bordkanone1 x 7,92-mm-Doppel-rohr-MG

500 kg

500 kg

250 kg

(dafür mehr Betankung)

1 800 kg

in der Regel

ohne Bomben;für Panzer-

bekämpfungvorgesehen

*Angegeben sind nur die häufigsten Ausführungen der Ju 87.

Quellen: W. Wagner, Hugo Junkers. Pionier der Luftfahrt – seine Flugzeuge, Bonn 1996;P.C. Smith, Stuka: Luftwaffe Ju 87 Dive-Bomber Units 1942 – 1945, Hersham 2006.

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Ausführungen der Ju 87*

Stuka

6 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

gepanzert und bewaffnet waren und aufgrund ihrer niedrigen Geschwin-digkeit aus beliebigen Positionen ange-griffen werden konnten. Die britischen Jagdflieger sprachen daher bald von ei-ner »Stuka-Party«, wenn sie auf Ju-87-Einheiten trafen.

Oft genug ist diese mangelnde Luft-kampffähigkeit der Stukas als Schwach-punkt bezeichnet worden. Dabei wird jedoch nicht beachtet, dass die Stukas gar nicht für Luftkämpfe konzipiert worden waren. Dies galt für nahezu alle leichten Bomber und Sturzkampf-bomber jener Zeit. Auch die leichten britischen Sturzbomber vom Typ »Blackburn Skua« erlitten 1941 schwere Verluste gegen die deutschen Jagdflug-zeuge.

Ihren eigentlichen Zweck, nämlich feindliche Truppen punktgenau zu bombardieren, erfüllten die Stukas nach wie vor, wie sich bei Angriffsope-rationen der Wehrmacht auf dem Bal-kan, in Afrika und in Osteuropa 1941 zeigen sollte. Besonders beim Überfall auf die Sowjetunion hatten die Stuka-Verbände großen Anteil am Erfolg beim zunächst siegreichen Vormarsch des Heeres. Stets versuchten Stukas, die stärksten Verteidigungspunkte der sowjetischen Bodentruppen zu zerstö-ren. Dazu gehörten Widerstandsnester, Bunker- und Grabensysteme sowie Geschütz stellungen. Dass dies so prä-zise und schnell geschah, lag auch am System der Fliegerverbindungsoffi-ziere. Diese »Flivos« waren Luftwaf-fenoffiziere, die per Funk am Boden die Stukas in Frontnähe zu den Zielen führten und ihre Bombenwürfe lenkten. Im taktischen Zusammenspiel zwischen Luftwaffe und Heer war die Wehrmacht damals die erfahrenste

und fortschrittlichste Streitmacht der Welt. Darin ist letztlich eines ihrer »Er-folgsgeheimnisse« der ersten Kriegs-jahre zu sehen.

Motor dieser Entwicklung war das VIII. Fliegerkorps. Es war 1939 aus dem »Fliegerführer z.b.V.« unter dem Kom-mando Richthofens hervorgegangen. Seine Stukas waren unter anderem beim deutschen Vormarsch auf Lenin-grad beteiligt und warfen etliche Bom-ben auf die zweitgrößte sowjetische Stadt. Da die Wehrmacht Leningrad nicht einnehmen wollte bzw. konnte, belagerte sie fast drei Jahre die Stadt. Die Folge waren rund eine Million Hungertote und weitere Zehntausende Opfer durch Artilleriebeschuss und Fliegerbomben. Ende 1941 wurde der deutsche Vormarsch vor Moskau ge-stoppt. Der kontinentale Winter Russ-lands traf auf eine schlecht vorbereitete Luftwaffe, deren Einsatzbereitschaft drastisch gesunken war. Aber bereits im folgenden Frühjahr 1942 änderte sich die Lage, als die Stukas einen ent-scheidenden Anteil an den Schlachten an der Ostfront hatten. In Kertsch und Charkow zerschlugen sie starke sowje-tische Verbände. Im Juni 1942 eroberte die 11. Armee unter General Erich von Manstein Sewastopol. Neben äußerst schwerer Artillerie hatten die Ju 87 des VIII. Fliegerkorps daran entschei-denden Anteil. Die letzte deutsche Großoffensive (»Fall Blau«) in Rich-tung Stalingrad und Kaukasus wurde ebenfalls massiv vom VIII. Flieger-korps unterstützt. Besonders Stalin-grad wurde heftig bombardiert, da der Befehl Hitlers ausdrücklich lautete, die Stadt »auszuschalten«. Beteiligt waren waren neben dem VIII. auch das I. und IV. Fliegerkorps. Die Wohngebiete

brannten größtenteils nieder und die Flugbesatzungen meldeten: »Stadt ver-nichtet.« Die Ju 87 stürzten sich haupt-sächlich auf den sowjetischen Schiffs-verkehr der Wolga.

Doch trotz der schweren Bombarde-ments konnten sie nicht das militä-rische Desaster verhindern. Ende 1942 wurde die deutsche 6. Armee in Stalin-grad eingekesselt und Anfang 1943 vernichtet. Es folgte ein langer Rück-zug der südlichen Armeen der Wehr-macht.

Im Mittelmeerraum gelang es den Ju-87-Gruppen 1941/42, die Panzer-truppen des Afrikakorps von General Erwin Rommel zu unterstützen und einige alliierte Schiffe zu versenken. Doch als die Alliierten der Luftwaffe und den verbündeten italienischen Luftstreitkräften 1942/43 die Luftüber-legenheit entrissen, nahm auch hier die Effektivität der Stukas ab.

Niedergang der Stukas

Besonders im Krieg gegen die Sowjet-union zeigte sich sehr bald, dass es sich beim Sturzkampfflugeinsatz um ein viel zu aufwendiges Konzept handelte. Es hatte sich herausgestellt, dass die Stukas gar nicht steil stürzen mussten, um ihre Ziele präzise zu treffen. Oft reichte es stattdessen aus, sich dem Gegner in geringeren Höhen mit einem relativ geringen Winkel von 20 Grad im Bahnneigungsflug zu nähern. Auf diese Art und Weise wurde auch die Physis des Piloten geschont. Zudem waren mehrfache Anflüge auf das Ziel möglich, wobei jede Bombe einzeln und gezielt geworfen werden konnte und außerdem die Maschinengewehre einsetzbar waren. Die Stukas flogen oft in rollenden Einsätzen. Das bedeutete nach der Landung eine sofortige Bela-dung mit neuer Munition und Betan-kung, um den nächsten Kampfeinsatz fliegen zu können. So schafften es man-che Stuka-Besatzungen, neun Einsätze am Tag zu fliegen, was bei einer Stärke von 100 Ju 87 bis zu 900 Bombenein-sätze bedeuten konnte. Die Luftwaf-fenführung musste außerdem verblüfft feststellen, dass die sowjetischen Sol-daten im Gegensatz zu den westeuro-päischen Soldaten meist unbeeindruckt das Geheul der »Jerichotrompeten« bei den Stuka-Angriffen über sich ergehen ließen. Der Kommandeur der Erpro-5�Die Ruinen von Wielun im September 1939.

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7Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

bungsstellen, Oberst Edgar Petersen, stellte zu den Sirenen 1942 lakonisch fest: »Sie sind in Frankreich eingesetzt worden und haben gute Wirkung ge-habt, aber im Osten nicht.« Gemäß der sowjetischen Taktik schossen die Solda-ten mit allem, was sie hatten, zurück. In Großbritannien lies man britische Sturzbomber während der Ausbildung auf die Soldaten der Flak stürzen, um sie an Sturzangriffe zu gewöhnen. All dies sorgte bei den Stukas in Ost wie West für eine steigende Verlustrate, nicht zuletzt weil der Sturzflugweg für die gegnerische Flugabwehr gut vor-hersehbar war.

Junkers und die Luftwaffe reagierten mit technischen Modifikationen. Ab 1942 wurden die Sturzflugbremsen und Sirenen in der Variante Ju 87D-5 nicht mehr eingebaut, dafür aber die Panzerung verstärkt. Statt zwei Ma-schinengewehre vom Kaliber 7,9 mm wurden nun zwei 20-mm-Kanonen verwendet, um die Beschusswirkung zu erhöhen. Die Ju 87 hatte sich damit dem sowjetischen Konzept des Schlacht-flugzeuges Iljuschin Il-2 angepasst. Diese schwer gepanzerten und lang-sam fliegenden Maschinen waren mit 36 000 Stück die meistgebauten Kriegs-flugzeuge der Geschichte. In Deutsch-land war mit der Henschel HS 129 seit 1937 ein ähnliches Konzept verfolgt wor-den. Diese Flugzeuge wurden ab 1942 eingesetzt, konnten aber aufgrund der Untermotorisierung und konstruktiver Mängel nie die Zufriedenheit der Luft-waffenführung erreichen. Lediglich 800 Stück wurden gefertigt.

Zum letzten Großeinsatz von Stukas kam es im Juli 1943 in der Schlacht von Kursk. An diesem Abschnitt versuchte die Wehrmacht mit einem Zangenan-griff den sowjetischen Frontbogen ab-zuschneiden und zu vernichten. Insge-samt standen rund 350 Stukas bereit. Das war eine große Zahl, denn wäh-rend des Krieges waren in der gesam-ten Luftwaffe oft nicht mehr als 360 Maschinen einsatzbereit. Obwohl die Stukas am ersten Tag zu 1718 Einsät-zen starteten, blieb ihre Wirkung zu-sammen mit den Horizontalbombern der Luftwaffe geringer als zuvor. Im Süden hatten sich zwei Stuka-Ge-schwader immer wieder gleichzeitig auf die sowjetischen Verteidiger ge-stürzt und so einem von drei angrei-

fenden Panzerkorps den Weg gebahnt. Doch nach etwa einer Woche blieb der deutsche Vormarsch stecken. Waren die Stukas anfangs noch recht verlust-arm eingesetzt worden, stiegen die Verluste bis Mitte Juli ungewohnt ra-pide an. Acht sehr erfahrene und hoch dekorierte Offiziere gingen den drei Stuka-Geschwadern bei Kursk verlo-ren, davon sieben durch die sowje-tische Flak. Es hatte sich erwiesen, dass die Ju 87 Mitte 1943 zu langsam und zu schwach gepanzert für den modernen Luftkrieg geworden war. Im Oktober 1943 wurden sämtliche Sturzkampfge-schwader (StG) in Schlachtgeschwader (SG) umbenannt und mit den Schlacht-fliegern zu einer Waffengattung zu-sammengefasst. Im selben Zeitraum wurden die Stukas aus der Front he-rausgezogen und durch moderne Jagd-bomber vom Typ Focke Wulf Fw 190F ersetzt. 1944 lief die Produktion der Ju 87 aus.

Verwendung bis Kriegsende

Bis zum Kriegsende wurde die Ju 87 als leichter Nachtstörbomber sowie als Panzerjäger mit schweren Kanonen eingesetzt. Die Rote Armee führte an der Ostfront beträchtliche Mengen an Panzern auf das Gefechtsfeld, das Heer zeigte sich mit der Bekämpfung über-fordert. Die Luftwaffe unternahm daher sehr viele technische Anstren-gun gen, um dem Ostheer bei der Pan-zervernichtung zu helfen. Im Jahr 1942 wurden experimentell immer schwe re re

5�Ein Stuka-Pilot beim Sturzflug auf ein Ziel in Polen, 1939.

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5�Eine Stuka-Besatzung vor ihrem Flugzeug, Polen 1939.

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Stuka

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panzerbrechende Kanonen unter die Flugzeuge montiert. Die Ju 87 wurden mit zwei veralteten 3,7-cm-Flak-18-Ka-nonen ausgestattet, die panzerbre-chende Hartkerngeschosse abfeuerten. Um einen Panzer abschießen zu kön-nen, mussten sich diese »Kanonenvö-gel« genannten Flugzeuge von hinten dem Feindpanzer annähern. Dies stei-gerte nicht nur das Risiko, der Flugab-wehr zum Opfer zu fallen, sondern erfor derte auch großes fliegerisches Geschick. Daher wurde diese Variante der Panzerbekämpfung mittels Ju 87 wieder aufgegeben. Die Ausrüstung hierfür wurde jedoch nicht zurückgezo-gen. Bei Kursk 1943 soll es dem Stuka-Offizier Hans-Ulrich Rudel dann in Eigen initiative gelungen sein, mehrere sowjetische Panzer mit diesen Kano-nen abzuschießen. Allerdings lassen sich diese Panzerabschüsse nicht in sowje tischen Dokumenten nachweisen, zumal das Datum dieses ersten Ein-satzes nicht gesichert ist. Der Wahrheits-gehalt der Panzerabschusszahlen kann daher nicht überprüft werden. Der Er-folg der deutschen Panzerjäger war wahrscheinlich eher taktischer Natur, indem sie den Gegner zum Abdrehen zwangen, und ging weniger auf direk te Abschusszahlen zurück. Immerhin 200 Ju 87D wurden mit diesen Kanonen versehen und als Ju 87G eingeführt.

Rudel und einige wenige andere ge-schickte Piloten häuften nun Panzerab-schuss um Panzerabschuss auf ihren »Erfolgskonten« an. Die Luftwaffen-

führung blieb gegenüber diesen Anga-ben skeptisch und teilte die mitgeteil-ten Panzervernichtungszahlen ihrer Einheiten sicherheitshalber durch zwei. Für die NS-Propaganda erlangte Rudel jedoch eine überragende Bedeutung. Bis Kriegsende soll er über 500 Panzer abgeschossen haben. Am 1. Januar 1945 verlieh ihm Adolf Hitler als ein-zigem Soldaten der Wehrmacht das Goldene Eichenlaub mit Brillanten und Schwertern zum Ritterkreuz. Es war die zweithöchste militärische Aus-zeichnung des »Dritten Reiches«. Hit-ler war von dem überzeugten Natio-nalsozialisten Rudel begeistert.

Vorbild für Close Air Support?

Nicht einmal 6000, also nur rund 5 Pro-zent, der 110 000 gefertigten Kriegs-flugzeuge des Deutschen Reiches wa-ren Stukas. Insgesamt wurden in der Luftwaffe von Zehntausenden Piloten nur 977 für die Stukas ausgebildet. Die meisten waren 1945 tot, verwundet oder in Gefangenschaft. Der Oberbe-fehlshaber der Luftwaffe Herrmann Göring meinte 1944, dass die Luftwaffe am Anfang des Krieges nichts Beson-deres an Flugzeugtechnik besessen habe, außer der Ju 87. Selbst diese Be-wertung ist zweifelhaft, lassen sich doch Sturzkampfbomber in den Luft-streitkräften aller großen kriegführen-den Nationen des Zweiten Weltkrieges finden. Auch in den mit Deutschland verbündeten Luftstreitkräften Italiens,

Bulgariens und Rumäniens wurden Flugzeuge dieser Art eingesetzt.

Das Sturzkampflugzeug Ju 87 blieb als »Stuka« jedoch nach 1945 als eines der erfolgreichsten Flugzeuge der Luft waffe in den Köpfen haften. Dies lag weniger am überragenden tech-nischen Konzept der Stuka, sondern an ihrem taktischen Einsatz im Gefecht der verbundenen Waffen. Das tak-tische Zusammenspiel zwischen Heer und Luftwaffe der Wehrmacht funktio-nierte im Vergleich mit anderen Streit-kräften gut. In den heutigen Kriegen fliegen die Luftstreitkräfte viele tak-tische Einsätze zur Unterstützung der Bodentruppen. Die US Air Force führt derartige CAS-Missionen (Close Air Support, Luftnahunterstützung) in der Regel mit dem Schlachtflugzeug A-10 aus. An dessen Entwicklung soll Hans-Ulrich Rudel, der sich nach dem Krieg als NS-Fluchthelfer betätigte und sich in einer rechtsextremen Partei (Deut-sche Reichspartei, DRP) politisch enga-gierte, in den 1970er Jahren mitgewirkt haben. Insofern hätten die Erfahrungen der Stuka-Piloten an der Ostfront bis heute Auswirkungen auf den Luft-krieg.

Jens Wehner

Literaturtipps

Peter C. Smith, Stuka. Die Geschichte der Junkers Ju 87. Technik, Taktik, Einsatz, Stuttgart 1990.Christian Kehrt, Moderne Krieger. Die Technikerfahrung deutscher Luftwaffenpiloten 1910–1945, Paderborn 2010.

5�Drei Ju 87 und eine Ju 52 auf einem Feldflugplatz in der Sowjetunion, 1941.

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10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Am 12. März 1938 marschierten deutsche Wehrmacht-, Polizei- und SS-Einheiten in das souve-

räne Österreich ein. Die deutschen In-vasoren wurden von großen Teilen der Bevölkerung jubelnd empfangen und erreichten schnell die oberösterreichi-sche Landeshauptstadt Linz sowie die Bundeshauptstadt Wien. In der Nacht vor dem deutschen Einmarsch war der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg zurückgetreten und öster-reichische Nationalsozialisten übernah-men handstreichartig die wichtigs ten Verwaltungspositionen und Staats-ämter. Am 10. April 1938 befürwor-teten 99,73 Prozent der Österreicher in einer Volksabstimmung den »An-schluss« Österreichs an das Deutsche Reich. Aus Österreichern wurden deut-sche Reichsbürger. Die Wahlen können nicht als geheim, allgemein und frei bezeichnet werden; im Vorfeld wurde sozialer Druck auf Unschlüssige aus-geübt und Juden und »Mischlinge« waren von der Wahl ausgeschlossen. Dennoch muss man davon ausgehen, dass auch bei weniger Zwang mehr als 90 Prozent der österreichischen Bevöl-kerung für den »Anschluss« gestimmt hätten. Ein durchschlagender Erfolg bei der Volksabstimmung war aber auch deshalb gegeben, weil Karl Ren-ner, angesehener Sozialdemokrat und erster Kanzler der (deutsch-)österrei-chischen Republik 1918/19, und der Wiener Erzbischof Kardinal Theodor Innitzer an ihre Mitbürger appelliert hatten, mit Ja zu stimmen.

Eingliederung in die Wehrmacht

Selbst Hitler war von dem umfas-senden und eindeutigen Erfolg seines Coups überrascht. Der militärische Zu-wachs durch die Eingliederung der Al-penrepublik war beträchtlich. Noch im Frühjahr 1938 wurden der Wehrmacht 60 000 gut ausgebildete österreichische Soldaten – darunter 1600 Offiziere – zugeführt. Am Einmarschtag hatte der Oberbefehlshaber des Heeres, General-oberst Walther von Brauchitsch, zwar noch für eine allmähliche Angleichung der österreichischen Soldaten an die Wehrmacht votiert, aber die politische Führung in Berlin entschied sich – nicht zuletzt beeindruckt von den freudigen Begrüßungsszenen – für eine umge-hende Assimilation des österreichi-

schen Militärpotenzials in die deutsche Streitkräftestruktur.

Damit war das Ende des Österrei-chischen Bundesheers besiegelt. Be-reits am 14. März 1938 wurden öster-reichische Soldaten auf Hitler vereidigt und am 1. April wurde in Wien das Heeresgruppenkommando 5 als ober-ste Kommandobehörde des deutschen Heeres auf ehemals österreichischem Boden gebildet, um den Wehrmacht-aufbau in der »Ostmark« – so die natio-nalsozialistische Bezeichnung für das Gebiet der ehemaligen Republik – durchzuführen. Gleichfalls wurden die Wehrkreise XVII (Wien) und XVIII (Salzburg) eingerichtet und die Ange-hörigen der vormaligen österreichi-schen Landstreitkräfte wurden mehr-heitlich in fünf Divisionen deutscher Struktur überführt. Es waren dies die 44. und 45. Infanteriedivision (ID), die 2. und 3. Gebirgsdivision (GD) und die 4. leichte Division (Anfang 1940 in 9. Panzerdivision umgegliedert). Die »reichsdeutsche« 2. Panzerdivision aus dem Wehrkreis XIII, die am deutschen Einmarsch in Österreich teilgenommen hatte, verblieb zudem im Raum Wien und ergänzte sich künftig aus Soldaten des Wehrkreises XVII, womit ihre Prä-

gung zusehends »österreichischer« wurde. Wenn in Folge von »ostmär-kischen« Divisionen die Rede sein wird, sind dies in der Regel militä-rische Verbände, die in der »Ostmark« aufgestellt wurden, deren Friedens-standorte ebendort lagen und die sich personell überwiegend aus ehemals »österreichischen« Staatsangehörigen zusammensetzten.

Die Wehrmachtführung suspendierte in der »Anschlusszeit« wesentliche Teile der alten österreichischen Militär-elite. Zwei Drittel der österreichischen Divisions- und gut die Hälfte der öster-reichischen Regimentskommandanten schieden aus dem Militärdienst aus. Der Staatssekretär im Verteidigungs-ministerium, General Wilhelm Zehner, starb unter mysteriösen Umständen; Generaltruppeninspektor Sigismund Schilhawsky wurde nach mehreren Fest-nahmen zwangspensioniert, eben so der Kommandant der Theresianischen Militärakademie, Generalmajor Rudolf Towarek, der den Eid auf Hitler ver-weigert hatte. Generalstabschef Feld-marschallleutnant Alfred Jansa wurde bereits im Vorfeld, im Februar 1938, in-folge massiven deutschen Drucks ab-gelöst und nach dem »Anschluss« zum

5�Sowjetunion im Sommer 1941: Angehörige der »ostmärkischen« 44. Infanteriedivi-sion während einer Gefechtspause.

»Österreicher« in der Wehrmacht

»Österreicher« in der Wehrmacht

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Zwangsaufenthalt im »Altreich« ge-zwungen. Zeitgleich mit dem Aus-scheiden der alten Elite wurden rund 50 ehemalige österreichische Offiziere, die zuvor wegen national so zialisti scher Betätigung aus dem Bundesheer ent-fernt worden waren, reaktiviert. Bei der Säuberung des Offizierkorps von »po-litisch Unzuverlässigen«, durchgeführt vom früheren deutschen Militäratta-ché in Wien, Generalleutnant Wolf-gang Muff, halfen auch einige natio-nalsozialistisch und opportunistisch gesinnte Offiziere österreichischer Pro-venienz; sei es um alte Rechnungen zu begleichen oder Startvorteile für die ei-gene Karriere zu sichern.

Das Ausscheiden von Teilen der öster reichischen Militärelite bei gleichzeitiger Reaktivierung national-sozialistisch gesinnter österreichischer Offiziere begünstigte die erfolgreiche Einglie derung der österreichischen Soldaten in die deutsche Wehrmacht. Sie waren nun Soldaten einer schlag-kräftigen Armee einer europäischen Großmacht, konnten auf soziale und monetäre Besser stellung, gesellschaft-liche Akzeptanz und rasche Beförde-rung hoffen. Wesentlicher Faktor für den Erfolg war auch die gemeinsame Sprache.

Erste Feldzüge

Bereits ein halbes Jahr nach dem »An-schluss« marschierten die noch in Auf-stellung begriffenen »ostmärkischen« Divisionen in die südböhmischen und südmährischen Gebiete und im Früh-jahr 1939 in die durch das Münchner Abkommen verkleinerte Tschechoslo-wakei ein. Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 kamen alle bis dahin aufgestellten »ostmär-kischen« Divisionen räumlich konzen-triert – vornehmlich in den westkarpa-tischen Gebieten (Beskiden) – in einem etwa 250 Kilometer langen Angriffsab-schnitt zum Einsatz. In den nächsten Wochen eroberten sie jene Gebiete, die keine 25 Jahre vorher noch als Kron-land Galizien und Lodomerien Teile der k.u.k. Monarchie gewesen waren. Für seine Leistungen beim Angriff auf Warschau erhielt Josef Stolz, Leutnant österreichischer Herkunft, als einer der beiden ersten Soldaten das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz. Im Laufe der fol-genden Jahre sollten noch 325 seiner Landsleute diese Auszeichnung verlie-hen bekommen.

Im Krieg gegen Norwegen 1940 ka-men beide der bis dahin in der »Ost-mark« aufgestellten Gebirgsdivisionen

zum Einsatz. In und um die Stadt Nar-vik kämpfte besonders exponiert das Gebirgsjägerregiment 139 (3. GD), das unter dem Kommando des in Nieder-österreich geborenen Oberst Alois Win disch stand. Kommandeur der Di-vision war Generalmajor Eduard Dietl, der noch 1940 zum General der Infan-terie befördert und – hoch dekoriert – zum Kommandierenden General des Gebirgskorps Norwegen, bestehend aus beiden »ostmärkischen« Gebirgs-divisionen, ernannt wurde. Dietls ko-metenhafter Aufstieg war untrennbar mit der militärischen Leistung »öster-reichischer« Soldaten verbunden.

Auch am Krieg gegen Frankreich 1940 nahmen die meisten »ostmär-kischen« Verbände teil, wenngleich sich aufmarschbedingt keine räum-liche Konzentration ergab. Die »ost-märkische« 2. und 9. Panzerdivision waren an den kriegsentscheidenden Operationen Richtung Kanalküste und an den Kämpfen um Dünkirchen betei-ligt. Im Krieg gegen Griechenland und Jugoslawien 1941 kämpfte sich das XVIII. Gebirgsarmeekorps mit zwei während des Krieges in der »Ostmark« geschaf-fenen Gebirgsdivisionen (5. und 6.) sowie der 2. Panzerdivision von Süd-westbulgarien kommend zum Ägäi-

München-Oberbayern

BayrischeOstmark

Franken

Württemberg-Hohenzollern

Baden

Schwaben

2. Geb.

3. Geb.

45.

2. Pz.4. le.44.Wehrkreis VII

Wehrkreis V WehrkreisXIII

Wehr-kreisXVII

Luftgau-Kdo XVII

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Luftwaffen-KdoÖsterreich(später Luft-flotte 4)

Wehrkreis XVIIISteiermarkSalzburg

Oberkrain (1941 okkupiert)

Tirol-Vorarlberg(zu Luftgau VII/München ab Mai 1939)

Südböhmen(ab Ende 1938)

Südmähren(ab Ende 1938)

Niederdonau

Oberdonau Wien

Untersteiermark(1941 okkupiert)

Kärnten

Innsbruck

München

Stuttgart

Nürnberg

Linz

Graz

Salzburg

Wien

0 20 40 60 80 100 km

rotblau

HeerLuftwaffeGrenze des Deutsche ReichesNordgrenze der Ostmark bis Ende 1938Gaugrenzen August 1939WehrkreisgrenzenLuftgaugrenze (ab Mai 1939)

Heeres-gruppe

Korps

Division

Quelle: Mueller-Hildebrand, Das Heer, Bd. 1; Richard Germann. ZMSBw07548-06©

Die Organisation der Wehrmacht in der »Ostmark« 1938

12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

»Österreicher« in der Wehrmacht

schen Meer (Saloniki) durch und stieß danach tief in den Süden vor, um in Teilen (5. GD) die auf Kreta in Bedräng-nis geratenen Fallschirmjäger zu ver-stärken. Mit der Vorbereitung und Durchführung der Operation gegen Kreta wurde der ehemalige Komman-dant der österreichischen Luftstreit-kräfte und nunmehrige Oberbefehls-haber der Luftflotte 4, Generaloberst Alexander Löhr, betraut. Löhr, ein in Rumänien geborener »Österreicher«, trug zuvor bereits die Verantwortung für die Luftkriegführung gegen Jugo-slawien. Seine Luftflotte bombardierte auf Befehl Hitlers Belgrad, das von der jugoslawischen Regierung zwei Tage vor dem deutschen Überfall zur of-fenen Stadt erklärt worden war. Der Angriff kostete mehr als 3000 Zivilisten das Leben und zerstörte bzw. beschä-digte 40 Prozent der Gebäude. Aus operativer Sicht führte die Bombardie-rung Belgrads im April 1941 zur ra-santen Paralyse der jugoslawischen Führung – die jugoslawische Regie-rung flüchtete aus der Stadt – und zur raschen militärischen Niederlage der Streitkräfte. 1947 wurde Löhr in Bel-grad in einem Schauprozess wegen eben dieser Bombardierung zum Tode durch Erschießen verurteilt.

Entgrenzung des Krieges

Die deutschen Streitkräfte in Serbien mussten rasch feststellen, dass die mi-litärische Besetzung des Landes deut-lich einfacher zu bewerkstelligen war

als die verwaltungsmäßige Besatzung des eroberten Gebietes. In Serbien sah man sich ab Sommer einer Aufstands-bewegung gegenüber, die immer grö-ßere Teile des Landes zurückeroberte. Der in der Steiermark geborene Offi-zier Franz Böhme wurde als Bevoll-mächtigter Kommandierender General (später auch Befehlshaber in Serbien) mit der Niederschlagung der Auf-standsbewegung beauftragt, die 1941 aus untereinander konkurrierenden und verfeindeten nationalistischen und kommunistischen Gruppierungen (Tschetniks und Partisanen) bestand. Böhme, dem SS-Gruppenführer Harald Turner als Chef des Verwaltungsstabes zur Seite gestellt wurde, schlug die Auf-standsbewegung mit brutalsten Mit-teln – sogenannten Sühnemaßnahmen – nieder: Auf Anschläge der Aufstän-dischen folgten Tötungsmaßnahmen gegen die serbische Zivilbevölkerung, darunter sämtliche männliche Juden, da die Aufständischen nur schwer zu fassen waren. Die ausführenden Or-gane dieser Erschießungen waren in der Regel Angehörige von Besatzungs-divisionen (z.B. die 717. ID) oder von Landesschützenbataillonen, die – dem infrastrukturellen Vorteil der kurzen Wege Rechnung tragend – überpropor-tional oft aus der »Ostmark« stamm-ten. Am Ende der zweieinhalb Monate dauernden Herrschaft Franz Böhmes in und über Serbien waren 20 000 bis 30 000 Menschen seiner von Berlin le-gitimierten und von ihm radikalisier-ten Vergeltungspolitik zum Opfer ge-fallen.

»Ostmärkische« Truppenverbände waren im Krieg gegen die Sowjetunion an allen Abschnitten über vier Jahre lang eingesetzt. Im Juni 1941 eroberte die 45. ID aus »Oberdonau« die Fe-stung Brest-Litowsk und hatte dabei in eineinhalb Wochen in etwa so viele Verluste zu beklagen wie im Krieg ge-gen Polen und Frankreich zusammen. Im hohen Norden kämpften sich »ost-märkische« Gebirgsdivisionen Rich-tung Murmansk vor, ohne das Ziel zu erreichen. Im Dezember 1941 war es die »ostmärkische« 2. Panzerdivision, die Moskau am nächsten kam. Im Kes-sel von Stalingrad 1942/43 wurden auch drei »ostmärkische« Divisionen (44. und 297. ID sowie 100. Jägerdivi-sion) eingeschlossen und vernichtet. Auch waren »ostmärkische« Divisio-

nen an der Umsetzung des Kommiss-arbefehls – also die Erschießung poli-tischer Kommissare der Roten Armee – beteiligt. Hier wie an anderen Orten tat sich insbesondere die 44. ID hervor, die sich vornehmlich aus Angehörigen aus den Gauen Wien und »Niederdonau« zusammensetzte. Sie führte 125 nach-weisbare Exekutionen durch.

Immerhin ist ein couragierter Licht-blick bei der verbrecherischen Behand-lung der sowjetischen Kriegsgefangenen überliefert: Der aus Wien stammende Militärarzt Erwin Leder (1914–1997) war im Herbst 1941 Standortarzt in Sluzk (Weißrussland). In dieser Funk-tion unterstand ihm auch das Lazarett des Kriegsgefangenenlagers mit 25 000 bis 30 000 Häftlingen. Bis zu seiner An-kunft starben dort täglich 70 bis 80 Kriegsgefangene an Fleckfieber, Hun-ger und Kälte, nicht zuletzt wegen der Gleichgültigkeit seines Vorgängers. Nach einem radikalen medizinischen, hygienischen und ernährungstech-nischen Soforthilfeprogramm, unter-stützt vom kriegsgefangenen jüdischen Arzt Raphael Gabovich, konnte Leder die tägliche Todesrate auf drei Kriegs-gefangene reduzieren. Als er erfuhr, dass das Sluzker Ghetto liquidiert wer-den sollte, ließ er Pakete mit Medika-menten und Lebensmitteln hinein-schmuggeln und gab Informationen an die dort lebenden Juden weiter. Viele, hauptsächlich junge Menschen, konn-ten rechtzeitig fliehen. Für seine Ver-dienste als »Retter in Uniform« wurde Erwin Leder 1999 postum mit der höchsten Auszeichnung geehrt, die der Staat Israel an Nichtjuden vergibt: »Ge-rechter unter den Völkern.«

Gemeinsame Kampf- und Frontein-sätze hatten bereits früh die vorhan-denen Animositäten zwischen »reichs-deutschen« und »österreichischen« Soldaten – die gerade für die Friedens-zeit 1938/39 überliefert sind – auf ein niedriges Niveau zurückgeführt. Im Krieg gegen die Sowjetunion spielte die Frage nach der Herkunft der Ver-bände keine Rolle mehr. Die »Österrei-cher« akzeptierten die Wehrmacht als Institution, sahen sie als ihre Armee und nahmen sich größtenteils als gleichwertige Soldaten wahr und wur-den auch so von ihren »reichsdeut-schen« Kameraden gesehen. An dieser Einstellung änderte sich auch nichts, als sie sich in westalliierter Kriegsge-

5�Militärarzt Erwin Leder (1914–1997), 1999 als »Gerechter unter den Völ-kern« geehrt.

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13Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

fangenschaft wiederfanden und ihre Stubengespräche vom britischen und US-amerikanischen Nachrichtendienst systematisch abgehört und ausgewer-tet wurden. Die protokollierten Ge-spräche von »Österreichern« und »Reichsdeutschen« ähneln sich frappant und geben Einblick in einen gemein-samen militärischen Referenzrahmen, dessen unterschiedlichen Akzente durch Zugehörigkeit zu verschiedenen Waffengattungen, jedoch wenig durch die regionale Provenienz der Soldaten geprägt sind. Insofern entfaltete die Moskauer Deklaration vom Herbst 1943, in der die alliierten Außenminis-ter die Wiederherstellung eines souve-ränen Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen hatten und die heute als ein Gründungsdokument der Zweiten Österreichischen Republik ge-sehen wird, wenig Wirkung auf die »österreichischen« Kriegsgefangenen.

Nachkriegspolitik

Am 27. April 1945 proklamierte die Provisorische Regierung in Wien die Wiedererrichtung der Republik Öster-reich und erklärte den »Anschluss« für null und nichtig. Im Gegensatz zum November 1918, als die damalige öster-reichische provisorische Nationalver-sammlung – paralysiert durch den Zusammen bruch der k.u.k. Monarchie – die Republik Deutschösterreich grün-dete und diese einstimmig zum »Be-standteil der Deutschen Republik« erklärte, stellte eine gemeinsame Zu-kunft mit dem Deutschen Reich 1945 keine Option mehr dar.

Der Umgang mit dem schweren Erbe des Zweiten Weltkrieges verlief in Ös-terreich zweigleisig. Nach außen gab man das überfallene Opfer und nach innen dankte man – nicht zuletzt um Wählerstimmen buhlend – den ehema-ligen Wehrmachtangehörigen österrei-chischer Provenienz mitunter für Pflicht erfüllung und Kampf ums Vater-land, was auch immer darunter ver-standen wurde. Im österreichischen Außenministerium wurde die Opfer-these weniger ideologisch gesehen, sondern pragmatisch als Instrument der Außen- und Innenpolitik ausgear-beitet und verwendet. Nicht zuletzt darauf gründet die Erfolgsstory der ös-terreichischen Nachkriegspolitik. Der Leitsatz der österreichischen Opfer-these lautete salopp verkürzt: Deutsch-land war der alleinige Täter und Öster-reich das (erste) Opfer. Wie aber ließ sich diese (Hypo-)These aufrechterhal-ten angesichts der Tatsache, dass 1,3 Mil-lionen »Österreicher« Teil der Wehr-macht waren? Viele »Öster rei cher« nahmen besonders aktiv am Erobe-rungs- und Vernichtungskrieg teil und nicht weniger als 200 »Österreicher« erlangten gar den Generalsrang in der Wehrmacht. Darüber schwieg man sich offiziell aus und bot für das Wirken der »Österreicher« in Wehrmachtuniform eine gleichermaßen bemer kens werte wie falsche Argumenta tions kette: Demnach seien die »Österreicher« in den deutschen Streitkräften von den Deutschen besonders hart und demüti-gend behandelt worden und man habe sie regelrecht zum Kampf im »ver-hassten Hitlerkriege« zwingen müs-sen. Sichergestellt worden sei dies, so die Argumentation weiter, durch die starke Durchsetzung der Militärforma-tionen in der »Ostmark« mit »Reichs-deutschen«. Die »Österreicher« seien dadurch zu einer Minderheit in diesen Verbänden geworden und hätten da-her leichter überwacht werden kön-nen. Deshalb sei die Behauptung, »ost-märkische« Truppen hätten im Kampfe gestanden, völlig unberechtigt.

Tatsächlich wissen wir heute, nach-dem die wissenschaftliche Forschung in Österreich 40 Jahre einen großen Bo-gen um die »österreichische« Kriegsbe-teiligung und Verantwortung gemacht hatte, dass Kompanieangehörige in »ostmärkischen« Divisionen 1939 zu mehr als 80 Prozent aus Österreich

stammten. Auch die Unteroffiziere in den Kompanien kamen mehrheitlich aus Österreich. Zudem wurde viele dieser Kompanien von »Österrei-chern« befehligt. Die Personalallokati-onspolitik der Wehrmacht, d.h. die Aus-stattung ihrer (Heeres-)Einheiten mit Soldaten, die einen ähnlichen soziokul-turellen und insbesondere den glei-chen regionalen Hintergrund aufwie-sen, weil man sich dadurch eine ge-wichtige Grundlage für Zusammen-halt und Leis tungsfähigkeit erhoffte, wurde auch in der »Ostmark« ange-wandt. In »ostmärkischen« Truppen-körpern waren somit auch größtenteils »österreichische« Soldaten eingereiht und sie fanden sich nicht nur bei den Mannschaften, sondern auch im Unter-offizier- und Offizierkorps.

Die große gesellschaftliche Zäsur in Österreich begann mit dem Bundes-präsidentenwahlkampf 1986. Damals kandidierte auch der ehemalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim für dieses Amt. Waldheim, der die Wahl gewann, sah sich jedoch ungewollt mit seiner Vergangenheit als Soldat und Offizier im Zweiten Weltkrieg kon-frontiert. Er erklärte öffentlich, dass er im Krieg nichts anderes getan habe als Hunderttausende andere Österreicher auch, nämlich seine Pflicht als Soldat erfüllt. Diese Sichtweise dürfte viele ehemalige »österreichische« Wehr-macht angehörige nicht überrascht ha-ben, da sie selbst so oder ähnlich emp-fanden; dem internationalen Publikum aber wurde schlagartig ein Wider-spruch der österreichischen (Ge-schichts-)Politik bewusst.

Richard Germann

Literaturtipps

Gerhard Botz und Gerald Sprengnagel (Hrsg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frank-furt a.M., New York 2008.Richard Germann, »Österreicher« im deutschen Gleich-schritt? In: Harald Welzer, Sönke Neitzel und Christian Gudehus (Hrsg.), »Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll«. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt a.M. 2011, S. 217–233.Thomas R. Grischany, Der Ostmark treue Alpensöhne. Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehr-macht 1938–45, Wien 2015.

5�Generaloberst österreichischer Herkunft: Alexander Löhr (links), hier im Gespräch mit Generaloberst Wolf-ram Freiherr von Richthofen, 1942.

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14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

»Moltke als Schimpfwort!«

Der Eulenburg-Skandal ist bis heute als erster großer Homose-xualitätsskandal des 20. Jahr-

hunderts in Erinnerung. In seiner europa weit beachteten Politik- und Kulturzeitschrift »Die Zukunft« unter-stellte Maximilian Harden im Herbst 1906 dem Fürsten Philipp zu Eulen-burg und Hertefeld, bester Freund und zeitweise wichtigster Berater Kaiser Wilhelms II., das Haupt einer homose-xuellen »Kamarilla« (so der zeitgenös-sische Schmähruf) innerhalb der Reichsregierung zu sein. Eulenburg (1847–1921, vom Kaiser im Jahre 1900

in den erblichen preußischen Fürsten-stand erhoben) war seit der ersten Be-gegnung 1886 der engste Freund des späteren Kaisers und zudem bis 1903 in diplomatischen Diensten tätig, unter anderem als deutscher Botschafter in Wien. Er galt als frankophil und als Be-fürworter der Verständigung mit Frankreich. Ihm wurde auch eine maß-gebliche Rolle beim Sturz des Reichs-kanzlers Otto Fürst von Bismarck 1890 nachgesagt. Der von 1900 bis 1909 re-gierende Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow galt dagegen als Eulen-burgs Protegée.

Harden, einem der bedeutendsten, aber auch umstrittensten Publizisten und Intellektuellen der damaligen Zeit, gelang es durch den sich über drei lange Jahre von 1906 bis 1909 hinzie-henden Skandal, mit Eulenburg den letzten royalen Günstling der deut-schen Geschichte zu stürzen, aber auch ein großes Narrativ wilhelminischer Dekadenz zu popularisieren: Danach hatte die »Eulenburg-Kamarilla« be-reits 1890 den Sturz Bismarcks bewerk-stelligt, seither den Monarchen vom Volk abgeschirmt und durch eine von übersteigerter Friedensliebe bestimmte Politik das Deutsche Reich in die inter-nationale Isolation manövriert. Mit dem nach Eulenburgs Schloss in der Uckermark nördlich von Berlin auch »Liebenberger Tafelrunde« genannten intimen kaiserlichen Freundeskreis war ein Sündenbock für die zahl-reichen politischen Fehlleistungen während der Herrschaft Wilhelms II. gefunden worden. Mehr noch: Die ge-samte Politik des Kaiserreiches geriet in den Ruch der Homosexualität, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auch als politische Deutungskategorie etablierte, um individuelle Gegner, verfeindete Nationen und ganze Ge-sellschaftssysteme zu diskreditieren.

Ansehensverlust der wilhelmi-nischen Herrschaftselite

Vor allem das preußische Militär geriet durch den Eulenburg-Skandal ins Zwielicht. Dazu trugen die Sensations-prozesse zwischen Maximilian Harden und Generalleutnant Kuno Graf von Moltke bei, die 1907/08 im Justizpalast von Berlin-Moabit stattfanden. Sie bil-deten zusammen mit anderen Ge-richtsprozessen das juristische Gerüst des Eulenburg-Skandals. Generalleut-nant von Moltke, der engste Freund Philipp zu Eulenburgs, sollte auf Druck Kaiser Wilhelms II. und seiner militä-rischen Berater durch einen Beleidi-gungsprozess gegen Harden die Ehre der »allerhöchsten Kreise« des Reiches wahren. Von allen Mitgliedern des kai-serlichen Freundeskreises um Fürst zu

5�»Heldenverehrung.« Doppeldeutige zeitgenössische Karrikatur über die Vorliebe älterer Herren für Soldaten, hier im militärischen Gewand der Potsdamer Gardes-du-Corps. Die Muskete (Wien), 14. November 1907, Abb. aus: J. Grand-Carteret, Derrière »Lui«, Paris 1908, Neudr. 1992, S. 11.

»Moltke als Schimpfwort!«Der Eulenburg-Skandal und die moralische Rechtfertigung

eines »großen Krieges«

15Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Eulenburg hielt man am Hofe den Stadtkommandanten von Berlin und Flü geladjutanten des Kaisers für (ho mo-)sexuell »am geringsten belas-tet« und daher prozessfähig – ein fol-genschwerer Irrtum. Denn es kam ganz anders, als von der Reichsleitung er-hofft: Die Beweisaufnahmen in den Moltke-Harden-Prozessen lieferten Enthüllungen, die europaweit Sensa-tion machten, denn Homosexualität wurde in einem bis dahin kaum ge-kannten Ausmaß politisiert. Formalju-ristischer Hintergrund der Prozesse war der im Reichstrafgesetzbuch von 1872 enthaltene Paragraph 175, der ne-ben Sodomie auch sexuelle Hand-lungen (»widernatürliche Unzucht«) zwischen Männern unter Strafe stellte und mit Gefängnis und Aberkennung der »bürgerlichen Ehrenrechte« be-legte.

Das Licht der Öffentlichkeit fiel be-sonders auf die nach kurzer Zeit ge-scheiterte Ehe Kuno von Moltkes mit Lilly von Elbe. Sie wurde Kernstück des juristischen Wahrheitsbeweises, ob Moltke »sexuell abnorm« sei. Unter Eid bekräftigte Lilly, die seit Langem Harden mit Informationen gegen ihren Ex-Mann und dessen Freunde versorgt hatte, dieser habe mit Blick auf schwan-gere Frauen geäußert: »Die Ehe ist eine Schweinerei.« Damit habe der Kaiser-freund keineswegs die Ehe ohne Liebe,

sondern »die Ehe als Institut über-haupt« gemeint. Moltke habe das ehe-liche Schlafzimmer, erklärte sie weiter, als »die reine Notzuchtanstalt« emp-funden und, pikanterweise nach der Rückkehr von einer Nordlandreise mit Kaiser Wilhelm II., ausgerufen: »Wo-chenlang habe ich, Gott sei Dank, keine Weiber gesehen!« Am meisten entrüs-tete sich die Öffentlichkeit aber über die folgende vulgäre Äußerung Moltkes: »Eine Frau ist für ihren Mann nicht mehr als ein Klosett, was bist du denn anderes.« Dies wurde als Beleidi-gung aller deutschen Ehefrauen ge-wertet. Allerdings erschien Moltke nicht allein als Täter, sondern auch als Opfer häuslicher Gewalt: Die Enthül-lungen, dass der Generalleutnant sich von seiner Frau, einer symbolischen Degradierung gleichkommend, die Epauletten von der Uniform reißen ließ, mehrfach von seiner weitaus jün-geren Ehefrau verprügelt worden war und sich wegen solcher Verletzungen wiederholt vom Dienst als Stadtkommandant von Berlin krankmelden musste, stellte alle preußischen Männlich-keitsideale und, mehr noch, die Ehre der Uniform infrage. Bekannt wurde zudem, dass sich Eulenburg und Moltke in intimen Briefen als »Liebster« und »Alter Dachs« titulierten und von Kaiser Wilhelm II. als ihrem »Liebchen« spra-chen. Mit solch intimen De-tails war in Deutschland noch kein Schlafgemach der aristo-kratischen Herrschaftselite für die neugierigen Augen und Ohren der Öffentlichkeit geöffnet worden.

Die sensationsgierige Presse hatte ihr Futter, ganz besonders als sich das Ge-richt dem Gutachten des Ber-liner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld an-schloss, der bei Moltke eine »ihm selbst unbewusste Ho-mosexualität« diagnostiziert hatte. Maximilian Harden wurde vom Vorwurf der Be-leidigung und üblen Nach-rede freigesprochen, denn Moltke habe »seine homose-xuelle Anlage anderen gegen-über nicht verheimlicht«.

Für die herrschenden Kreise des Kai-serreiches war das Urteil ein Schlag ins Gesicht. »Der Kerl muss suspendiert werden«, entrüstete sich der Monarch über den Vorsitzenden Richter Dr. Kern, »er hat geradezu das Vaterland und uns alle verraten«. Die Wut über die Stoßrichtung des Sensationsprozes-ses gegen die Herrschaftselite findet sich besonders in den Randbemer-kungen Wilhelms II. an Zeitungsarti-keln: »[Der Prozess] zeigt, dass wir Oberen und Monarchen heute vogel-frei sind und in der Justiz auch nicht den leisesten Schutz haben! Die Preu-ßische Justiz ist stolz, unabhängig zu sein! Das ist sie! Aber nur gegen die Krone und ihre Regierung und ihre Be-amten; vor dem Plebs und dem Mob macht sie Cotau! […] Ich werde sie nicht wieder um Hilfe angehen!«

Bereits nach der Beweisaufnahme hatte Reichskanzler Fürst von Bülow ein panikartiges Telegramm an den Kaiser gerichtet: »Der Verlauf des Pro-

5�»Nachtleben in Potsdam: ›Na, Dicker, willst du mit-kommen?‹«. Der Wahre Jacob (Stuttgart), 26. No-vember 1907, Abb. aus: J. Grand-Carteret, Derrière »Lui«, Paris 1908, Neudr. 1992, S. 11.

5�Kaiser Wilhelm II. und sein Vertrauter Fürst Eulenburg an Bord der Yacht »Hohenzollern«, 1905.

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16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

»Moltke als Schimpfwort!«

zesses Moltke-Harden ist unerhört. Ich bin umso empörter, als ich in jeder (ge-setzlich zulässigen) Weise auf eine feste Zügelführung vonseiten des Vorsitzen-den Richters hingewirkt hatte.« Es dürften sich wenige Affären in der neueren Geschichte Deutschlands fin-den, denen nicht nur von der Öffent-lichkeit, sondern auch von der Staats-spitze eine derartige politische Bedeu-tung und Wirkung zugewiesen wor-den ist wie dem Eulenburg-Skandal.

Im Zwielicht »homosexueller Verfehlungen«

Durch den Eulenburg-Skandal geriet die gesamte preußische Armee – bis dahin unbändig stolz, an Schlagkraft, Zucht und Ordnung die erste Militär-macht der Welt zu sein – unter den Ver-dacht der Homosexualität. Schatten fielen auf militärische Institutionen und Statussymbole wie den preußi-schen Generalsrang, die Potsdamer Gardes-du-Corps und den Moltke- Mythos. Auch »des Königs Rock« – die preußische Uniform – und »Deutsch-lands erster Offizier« Kaiser Wilhelm II. erlitten durch den Skandal einen für Friedenszeiten beachtlichen Ansehens-verlust.

Bereits die Tatsache, dass General-leutnant Kuno Graf von Moltke, eben noch stolzer Stadtkommandant von Berlin, bei den Gerichtsprozessen ge-gen Maximilian Harden in schwarzem Frack und Zylinder erschien, besaß einen hohen Symbolwert, denn ein Ge-neral in Zivil war ein wilhelminisches Unding. Die Gesellschaft war gewohnt, selbst dem kleinsten Leutnant den größten Respekt zu erweisen, sobald er seine Uniform trug. Der Fall des »Hauptmanns von Köpenick« vom Ok-tober 1906 lag gerade ein Jahr zurück und hatte der ganzen Welt, allen sati-rischen Deutungen zum Trotz, die All-macht der Uniform im Kaiserreich vor Augen geführt.

Als ambivalent erwies sich Moltkes Charakterisierung als »Hofgeneral«, die als entlastende Erklärung der mo-narchistisch gesinnten Presse gedacht war. Tatsächlich offenbarte sich an die-sem Punkt die zentrale Problematik des Kaiserreiches, das gesamte soziale Leben militärischen Kategorien unter-werfen zu wollen. Repräsentanten höchster Staatsämter, wie Reichskanz-

ler Fürst von Bülow oder Reichstags-präsident Graf Franz von Ballestrem, erschienen bei gesellschaftlichen Ereig-nissen vorzugsweise in militärischen Uniformen, die jedoch ihrer politi-schen Bedeutung in keiner Weise ent-sprachen. Sozialdemokratische Zeitun-gen nutzten konsequent die seltene Gelegenheit, am Beispiel Kuno von Moltkes, des »hilflosen, weltfremden [...] Typus eines Generals in Zivil« und »pietistischen Operettengenerals«, den Uniformfimmel zu verspotten, aber auch die militärische Schlagkraft eines von dekadenten Aris tokraten geführ-ten Landes in Zweifel zu ziehen.

Wie ein böses Omen wurde empfun-den, dass sich am zweiten Prozesstag des Ersten Moltke-Harden-Prozesses der Geburtstag des 1891 verstorbenen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke jährte. »Der Schatten des Na-mens schwebt über allem. Das wusste ich von der ersten Stunde dieser Ak-tion an«, erklärte Maximilian Harden. Nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 und dem Deutsch-Franzö-sischen Krieg 1870 war der Name Moltke zum Synonym der militä-rischen Schlagkraft des neuen Reiches geronnen. Moltke-Hagiografien ge-hörten zur literarischen Grundausstat-tung jedes patriotischen Haushalts in Deutschland. Nach Meinung Kaiser Wilhelms II. und seiner militärischen Berater sowie großer Teile der deut-schen Öffentlichkeit hatte Kuno von Moltke schon allein deshalb die Pflicht, vor Gericht zu gehen, um dort »seinen ehrlichen Namen durchzufechten«.

Diese hochgespannte Erwartungshal-tung trug entscheidend dazu bei, dass der Eulenburg-Skandal überhaupt zu einer symbolischen Verhandlung der militärischen Ehre Deutschlands vor aller Welt ausufern konnte.

Mit einem der Homosexualität über-führten Generalleutnant von Moltke war nicht nur das Andenken an den militärischen Reichsgründer beschä-digt, sondern das Überlegenheitsge-fühl vieler Deutscher in Frage gestellt, jederzeit bereit zum Krieg zu sein und notfalls gegen »eine Welt voll Feinden« bestehen zu können. Durch den Skan-dal wurde der Name Moltke zum Spielball für Satirezeitungen und »or-dinäre Ansichtskarten«, sodass selbst Liberale beklagten, dass sich nun mit dem »großen Namen dauernd der ekle Geruch des scheußlichsten aller Las-ter« verbinden würde. Vor allem Ange-hörige der Unterschichten nahmen in den folgenden Jahren eigensinnig die Chance wahr, an der Abwertung von Sinnbildern des Kaiserreichs mitzuwir-ken. Im Mai 1908 etwa wurde ein rei-sender Handlungsgehilfe zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er einem Gendarmeriewachtmeister aus dem Fenster eines Zuges »Moltke« zugeru-fen hatte. Das Schöffengericht in Rix-dorf wertete dies als schwere Beleidi-gung. »Moltke als Schimpfwort!«, stöhnte die monarchistische »Tägliche Rundschau«. »Wer hätte gedacht, dass es dahin kommen würde?«

»Homosexuelle Orgien« bei den Potsdamer Gardes-du-Corps

Die Vernehmung des Zeugen Boll-hardt, eines ehemaligen Soldaten der Gardes-du-Corps, vollendete das De-saster, das die moralische Vernichtung Generalleutnant von Moltkes vor Ge-richt für das Ansehen der preußischen Armee bedeutete. Die Gardes-du-Corps waren seit den Zeiten Friedrichs des Großen Leibwache der Könige von Preußen, Kaderschmiede und Aushän-geschild der Armee. Vor der internatio-nalen Presse berichtete Bollhardt nun detailliert über den homosexuellen Missbrauch von Garde-Rekruten durch hochadlige Offiziere wie Major Johan-nes Graf von Lynar und Generalleut-nant Wilhelm Graf von Hohenau, Cousin des Kaisers, zugleich dessen Flügeladjutant und Kommandeur der

5�Kuno Graf von Moltke, gezeichnet an einem der zahlreichen Prozesstage in der Harden-Eulenburg-Affäre, 1908.

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1. Garde-Kavallerie-Brigade. In der Adlervilla am Potsdamer Heiligen See habe Graf Lynar hübsche Rekruten so-gar an die Prinzen Friedrich Leopold und Friedrich Heinrich von Preußen verkuppelt. In dieser dem kaiserlichen Marmorpalais gegenüberliegenden Villa wollte Bollhardt auch Generalleut-nant von Moltke und einen »Herrn in Zivil« erkannt haben, den er, nachdem ihm ein Bild gezeigt worden war, als den Fürsten zu Eulenburg identifizierte.

Die blendend weiße Ausgehuniform der Gardes-du-Corps mit dem roten Saum und den markanten schwarzen Stulpenstiefeln, die bis über das Knie reichen, war ein Symbol des preu-ßischen Militärstaates. Durch den Eu-len burg-Skandal aber, bilanzierten große Teile der deutschen und interna-tionalen Presse, sei sie nun »eine Art Prostituiertentracht« geworden. Mit den angeblichen homosexuellen Or-gien in Potsdam wurde auch das Aus-maß männlicher Prostitution in Berlin enthüllt, speziell derjenigen von Solda-ten in Uniform. Beides verkehrte die hergebrachten Zuschreibungen von maskulinem Militär und femininem Zivil in ihr Gegenteil. Während der preußische Kriegsminister General der Kavallerie Karl von Einem im Reichs-tag versuchte, das Militär als durch homo sexuelle Zivilisten bedroht dar-zustellen, erhielt die umgekehrte Deu-tung eine glaubwürdigere amtliche Bestä tigung durch Innen- und Polizei-minister Theobald von Bethmann Holl-weg, den späteren Reichskanzler, der publik machte, dass sogar er schon im Berliner Tiergarten von Strichern in Uniform belästigt worden sei. Die All-deutschen, politisches Sammelbecken der monarchiekritischen Imperialisten in Deutschland, warfen die Frage auf, wie nach diesen Enthüllungen die Dis-ziplin der gesamten Armee noch auf-recht erhalten werden könne, da nun jeder Soldat seine Offiziere der Homo-sexualität für fähig halten müsse; für die zum Krieg drängenden, monar-chiekritischen Radikalen hatte in erster Linie Kaiser Wilhelm II. als »erster Of-fizier der Nation« versagt.

Schadenfreude im Ausland

Die Enthüllung der Soldatenprostitu-tion in Berlin und der homosexuellen Übergriffe bei den Gardes-du-Corps

erschütterte das Ansehen der preußi-schen Armee auch im Ausland. Die chauvinistische französische Zeitschrift »Gaulois« triumphierte: »Die verehr-testen Namen, von denen sich einige innig mit dem Kolossalwerk der Reichsgründung verbinden, dem all-gemeinen Spott, der Volkswut gewis-sermaßen als Fraß hingeworfen, der Name des Herrschers mitten in diesem Schlamm verkündet: Welche Schmach und welche Erniedrigung an einem Tage!« Andere Blätter wie »Libre Pa-role« und »Intransigeant« stellten ehr-verletzend die »Männlichkeit« des preußischen Militärs infrage, wenn sie dessen »ersten Offizier« Wilhelm II. mit Napoleon III. verglichen, der auch »le bien-aimé« genannt worden sei – allerdings von Frauen, die ihn als Hel-den siegreicher Kämpfe bewunderten, während der Deutsche Kaiser, ohne je in Schlachten gezogen zu sein, von Männern – gemeint war Fürst zu Eu-lenburg – bekanntermaßen den Kose-namen »Liebchen« erhalten hatte.

Angesichts dieser »moralischen Wunde am deutschen Volkskörper«, wie die weite Teile des politischen Spektrums in Deutschland den Eulen-burg-Skandal empfanden, plädierte bald nicht mehr nur die radikale Presse der Alldeutschen für eine vermeint-liche Gesundung der Nation durch einen »frischen, fröhlichen Krieg«. Selbst der von Kriegstreibern als frie-denssüchtiger »Schönwetterkanzler« geschmähte Reichskanzler Fürst von Bülow leitete aus der öffentlichen Erre-gung des Eulenburg-Skandals kriege-rische Optio nen ab: »Die skandalösen Enthüllungen, welche jetzt das sensa-tionslüsterne Publikum beschäftigen«, schrieb er Wilhelm II., »werden wir am besten dadurch überwinden, dass wir nach innen und außen eine feste und würdige Politik machen, welche die Nation aus diesem Schlamme zu großen Zielen emporhebt.« Mit Feuer und Schwert möge er »solche ekel-haften Geschwüre« ausbrennen, wie sie jetzt durch den Skandal aufgedeckt worden seien, forderte von Bülow den Kaiser auf.

Ohne einen Determinismus auf »1914« hin zu behaupten, stärkte der Eulenburg-Skandal durch seine homo-sexuell konnotierte Kompromittierung prestigeträchtiger Symbole des Kaiser-reiches den Wunsch vieler Deutscher

nach einem »großen Krieg«. Krieg war damit noch lange nicht unausweichlich geworden. Aber der Eulenburg-Skan-dal erweiterte den Erwartungshorizont des Kriegerischen und stärkte ein Welt-bild, in dem er von vielen Zeitgenossen als geeignetes Mittel, ja Notwendigkeit für die moralische Reinigung eines de-kadent gewordenen Reiches angese-hen wurde.

Norman Domeier

Literaturtipps

Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009.Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt a.M., New York 2010.Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelmi-nischen Monarchie, Berlin 2009.

5�»Wie wir vernehmen, soll der preußi-sche Orden Pour le Mérite in Hinkunft so getragen werden.« Mit den Gardes-du-Corps traf der Spott eines der elitärs ten und ehrwürdigsten Regi-menter der preußischen Armee, mit dem »Pour le Mérite« die höchste Aus-zeichnung. Quelle: Der Floh (Wien), November 1907, Abb. aus: J. Grand-Carteret, Derrière »Lui«, Paris 1908, Neudr. 1992, S. 11.

Gaskampf im Ersten Weltkrieg

18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Ozierki, 28. Juli 1917, 0.20 Uhr. Ein leichter Wind wird mit 1,5 bis

2 m/sec auf offenen Flächen, mit 0,5 m/sec im Wald registriert. Die Luftfeuch-tigkeit ist hoch. »Ideale Bedingungen«, denkt der junge Offizier. Er faltet die Karte zum handlichen Quadrat, er-greift eine Taschenlampe. Das vor ihm liegende waldreiche Gelände ist für Phase I in 14 Abschnitte, für Phase II in 36 Abschnitte eingeteilt, jeder Ab-schnitt ist etwa einen Hektar groß. Acht mittlere und acht leichte Werfer stehen dem Offizier zur Verfügung. Al-les ist präzise geplant. 540 C-Minen (Chlorameisensäurechlormethylester), 850 phosgengefüllte D-Minen sowie 140 weitere leichte und mittlere Minen werden die beiden Russenkompanien erledigen. Ein Blick zur Uhr: 0.25 Uhr. Ruhig begibt sich der Oberleutnant zur ersten Werfergruppe. Um 0.30 Uhr er-teilt er den Feuerbefehl. 72 Gasüber-fälle erfolgen insgesamt. Einschla-gende Geschosse reißen die Russen aus dem Schlaf. Ein angenehmer Geruch nach feuchtem Heu steigt in ihre Na-sen. Nur ein älterer Korporal weiß die-ses Zeichen zu deuten. Er blickt empor, beginnt weinend zu fluchen. Das Am-moniakfläschchen wird ihm nichts nüt-zen. Phosgen dringt ihm und seinen ungeschützten Kameraden in die Lun-gen.

Gegen 1.30 Uhr beendet der deutsche Offizier den Angriff. Jetzt heißt es warten. Die feuchte Luft verstärkt die grausame Wirkung der D-Minen. Das Phosgen wird sich in den Lungen in Kohlenstoffmonoxid und Salzsäure umsetzen. Diese zerfrisst die Lungen-schleimhäute langsam – viel zu lang-sam. Bluterbrechend und hustend krümmen sich die jungen Soldaten in den Stellungen. Die Deutschen werden nicht nachsetzen, wissen sie doch, dass die Menschen ihnen gegenüber nur sehr langsam sterben werden und durchaus noch eine Zeitlang von ihren Waffen Gebrauch machen können. Zwei bis drei Stunden wird ihr Todes-kampf dauern.

Mit dem Ausbruch des Ersten Welt-krieges drei Jahre zuvor ging der sofor-tige Einsatz chemischer Kampfstoffe einher. Gemäß Haager Landkriegsord-nung war im Artikel 23 der Einsatz von Giften oder vergifteten Waffen unter-sagt. Es wurde jedoch nicht genau ge-klärt, was unter Giften zu verstehen

sei. Ein Zusatzprotokoll verbot Ge-schosse, deren vergiftende Wirkung die Brisanzwirkung (die Wirkung durch Splitter) übertraf, und den Ein-satz von Munition mit dem alleinigen Zwecke des Vergiftens. Ein vollstän-diges Verbot giftiger Gase im Kampf war hingegen nicht möglich, da beim Auftreffen größerer Artilleriegeschosse grundsätzlich giftige Substanzen frei werden, vor allem Kohlenstoffmono-xid und nitrose Gase (Stickstoffoxide). Auch der direkte Angriff mit giftigen Gasen blieb völkerrechtlich ungeregelt. Dementsprechend wurden bereits ab 1914 toxische Stoffe im Kampf verwen-det. Hierzu zählten französische Brom-essigsäureethylester-Geschosse, deren Tränengaswirkung weit hinter den Er-wartungen zurückblieb. Auch der Ein-satz von Chlorazeton führte nicht zum erhofften Erfolg. Chemische Kampf-stoffe, vor allem Tränengase, dienten den Ententetruppen zunächst vor allem dazu, die Deutschen aus den Gräben zu zwingen und sie somit der Wirkung konventioneller Waffen auszusetzen.

Der Einsatz von Chlor

Nicht einmal ein Jahr nach Beginn des Völkerringens trat die Geschichte der chemischen Kriegführung in ein neues Zeitalter ein. Im Dezember 1914 schlug der Leiter des Kaiser-Wilhelm-Insti-tutes für physikalische Chemie und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber erstmals den Einsatz von Chlor vor. Hierfür sprachen die Eigenschaften des Stoffes ebenso wie die geringen Herstellungskosten. Haber war 1909 durch die gemeinsam mit seinen Kolle-gen Walther Nernst und Carl Bosch entwickelte Synthese von Ammoniak aus dem in der Luft enthaltenden Stick-stoff bekannt geworden. Ihm wurde die fachliche Aufsicht über den ersten großen »Blasangriff« übertragen.

Am 22. April 1915 versuchte die deut-sche 4. Armee, mit einem Angriff auf die französische Nordfront im Ab-schnitt Drie Grachten (Belgien) bis Be-celaere einen Durchbruch zu erzielen. Im Befehlsbereich des XXIII. und XXVI. Reservekorps sollte das zu einem

Gaskampf 1914–1918.Kampfstoffe und Einsatzgrundsätze der Entente- und der Mittelmächte

5�Deutsche Gaswerfer an der Westfront, 1916. Abb. aus: Hanslian (Hrsg.), Der chemische Krieg, S. 179.

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19Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

erheblichen Teil aus Chemikern und Chemiestudenten bestehende »Gasre-giment Petersen« (Pionierregiment 35) eine neue Art des Einsatzes chemischer Kampfstoffe erproben. Die Infanterie der beiden genannten Korps sollte einem Chlorgasangriff folgend nach-setzen. Ebenso waren zwei Regimenter des XV. Korps hierfür vorgesehen. Diese im Süden des Ypernbogens ste-henden Verbände wurden jedoch ab-gezogen, da die Windverhältnisse sich änderten.

An eben jenem 22. April wurden ge-gen 18.00 Uhr 5730 Chlorgasflaschen mit 180 000 kg verflüssigtem Chlor nahe Ypern in Richtung der franzö-sischen Front abgeblasen. Die gelb-weiße, dichte Gaswolke bewegte sich auf einer Breite von 6 km, in einer Tiefe von 600 bis 900 m und mit einer Ge-schwindigkeit von 2 bis 3 m/sec auf die gegnerische Linie zu. Sie traf auf un-vorbereitete französische Kolonialtrup-pen und kanadische Soldaten, die fluchtartig das Gefechtsfeld verließen. 3000 Menschen entkamen der töd-lichen Gefahr nicht. Sie starben an je-nem Frühlingstag. Rudolf Binding, ein gebürtiger Deutschschweizer, der als Kavallerieoffizier an der Westfront diente, berichtet in seinem Tagebuch: »Die Wirkungen des geglückten Gas-angriffes sind grauenhaft. Menschen zu vergiften – ich weiß nicht. Freilich man wird erst darüber wüten in der ganzen Welt und es uns dann nachma-chen. Die Toten liegen alle mit ge-ballten Fäusten auf dem Rücken.« Bin-dings Weissagung erfüllte sich rasch. Im Mai 1915 begann auch die Entente mit einer deutlichen Ausdehnung des eigenen Gaskampfes. So kamen ab Mitte 1915 täglich bis zu 20  000 Gas-handgranaten zum Einsatz, die mit einem Gemisch aus Schwefelkohlen-stoff, Schwefelwasserstoff und Capsai-cin, einem Hitze- und Schärfereiz her-vorrufenenden Stoff, gefüllt waren. Zudem wurden zehnpfündige Chlor-gasgeschosse entwickelt. Der Erfolg des Einsatzes war gering. Französische Chemiker setzten eher als Briten und Deutsche auf den Einsatz von kampf-stoffgefüllten Geschossen, vor allem auf mit Phosgen gefüllte Granaten. Ein französischer Gasdienst entstand noch im Laufe des Jahres 1915 mit einer großtechnischen Versuchsanstalt in einem Pariser Vorort. Ebenso wurden

französischerseits drei Schießplätze nur für das Üben mit chemischen Kampfstoffen freigegeben.

Die britischen Verbündeten hingegen konzentrierten sich zunächst auf das Blasverfahren. Der britische Gasson-derdienst bestand ab 1915 aus drei Ab-teilungen: Entwicklung, Gasangriff und Gasabwehr. Bereits am 25. Sep-tember führten die Briten ihren ersten Chlorgasangriff durch. Die Verantwor-tung oblag dem Pioniermajor Charles Howard Faulkes. Dieser wählte einen 30 km breiten Frontabschnitt bei Loos und ließ dort 5500 Gasflaschen mit ins-gesamt 150 t Chlor im Wechsel mit Rauchkerzen einbauen. Bereits wäh-rend dieses ersten britischen Blasan-griffes kamen indische Einheiten zum Einsatz, die später auch im Gasminen-schießen häufig verwendet wurden. Faulkes Angriff konnte nicht zufrie-denstellen. Durch wechselnde Wind-verhältnisse konnten nahezu 3000 Fla-schen nicht abgeblasen werden. Somit verzeichnete das gegenüberstehende VII. deutsche Armeekorps gerade ein-mal 120 Gasgeschädigte. Der operativ-taktische Erfolg blieb dementspre-chend ebenso bescheiden wie der der Deutschen vom April. Faulkes Vorstoß

beantwortete das Gasregiment Peter-sen mit dem noch giftigeren Stoff Phos-gen. Dennoch blieben nun durch die gesteigerten Möglichkeiten des Gas-schutzes weitere nachhaltige Erfolge aus. Hiervon zeugt auch ein weiterer Tagebucheintrag Bindings:

»19. Dezember 1915. Eine kleine Hoffnung war in der Luft. Die Division machte mit einem neuen Gas einen Versuch und Angriff. Die Engländer empfingen aber die Gaswolken mit hipp hipp hurra! Und die nachsto-ßenden Patrouillen fanden einen Kranz von Bajonetten in den feindlichen Stel-lungen, so daß die Ausschau nach den Wirkungen des Kampfmittels sich er-übrigte. Unsere Verluste sind ein Toter und vier Verwundete. Außerdem das schöne Gas; worüber aber jeder froh ist. Die Kerls wollen von den Gasstän-kereien nichts mehr wissen.«

Auch französische Truppen mischten das grüngelbe Chlorgas mit Phosgen, um die Wirksamkeit noch zu erhöhen. Im Gegensatz zu ihren französischen Verbündeten setzten die Briten trotz erster Misserfolge auf die Weiterent-wicklung des Blasverfahrens. Zwi-schen 1916 und 1918 führten sie mehr als 300 Angriffe an der Westfront

5�Gasflascheneinbau an der Westfront. Abb. aus: Hanslian (Hrsg.), Der chemische Krieg, S. 78.

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durch. Angesichts ihrer führenden Stellung innerhalb der Ententemächte nimmt es kaum Wunder, dass britische Gassondertruppen die Ausbildung französischer und US-amerikanischer Verbände übernahmen. Gerade die bri-tischen Industriekapazitäten ermög-lichten eine rasche Antwort auf den deutschen Chlorgasangriff bei Ypern und die Entwicklung neuer Kampf-stoffe.

Gasangriffsverfahren: Der Blasangriff

Grundsätzlich gelangten im Ersten Welt-krieg drei Gasangriffsverfahren zum Einsatz: der Blasangriff, das Gasminen-schießen und das Artilleriegasschie-ßen. Alle drei Verfahren erforderten ein hohes Maß an chemisch-tech-nischen und meteorologischen Kennt-nissen. Sie wurden nacheinander ent-wickelt und bildeten auch hinsichtlich ihrer Effektivität eine klare Rangfolge. Der Blasangriff als erstes und zugleich schwächstes Verfahren eröffnete den Reigen. Chlor, Phosgen, Diphosgen und Chlorpikrin waren die am häu-figsten eingesetzten Kampfstoffe. Jede Substanz bot Vorteile und Nachteile, die es gegeneinander abzuwägen galt. Durch die Kombination verschiedener Stoffe erhofften sich die planenden Chemiker größtmögliche Wirkungen.

Ein wesentlicher Vorteil des Chlor-gases bestand in seiner hohen Flüchtig-keit. Begaste Geländeabschnitte waren nur kurzzeitig kontaminiert und konn-ten zügig von der eigenen Truppe be-setzt werden. Dementsprechend glaubten die Planer mit Blasangriffen schnell Durchbrüche in wichtigen Ge-ländeabschnitten zu erzielen. Sowohl

bei Ypern als auch wenig später an der Ostfront bei Bolimov (31. Mai 1915) riss die Chlorgaswolke zwar beachtliche Lücken in die gegnerischen Frontli-nien. In beiden Fällen unterblieb je-doch der notwendige infanteristische Nachstoß, der einen Einbruch in die gegnerische Verteidigung erzielen sollte. Somit war der operative Effekt der Blasangriffe eher gering. Hinzu kam die rasche Umstellung der En-tentetruppen auf die neuen Erforder-nisse, sodass auch der technologische Vorsprung sank.

Ein erstes Gasmaskenmodell war be-reits im 19. Jahrhundert in Großbritan-nien erfunden worden. So setzte die Entwicklung geeigneter Gasmasken zum Schutz vor Lungenkampfstoffen nahezu zeitgleich mit den ersten Gift-gaseinsätzen ein. Infanterieangriffe wurden entweder zu früh geführt, wo-durch die angreifende Truppe in ihre eigene Gaswolke geriet, oder zu spät und die Soldaten fielen im feindlichen Artilleriefeuer. Somit ging die deutsche Führung dazu über, Gasangriffe zu-nächst anzutäuschen. Mit ungiftigen Dämpfen wurde der Eindruck wesent-lich breiterer Blasangriffsstreifen er-weckt und der Gegner dadurch ge-zwungen, sein Artilleriefeuer breiter zu streuen. Gleichzeitig schufen die ungiftigen Rauchwolken Möglich-keiten zur Tarnung der angreifenden Infanterie.

Hinzu traten weitere neue Kampf-stoffe und Kampfstoffgemische. Jedoch zeitigte weder der Zusatz von Phosgen noch von Diphosgen (ab 1916) bei Chlorgasangriffen einen nachhaltige-ren Erfolg. Phosgen führte bei der im Blasverfahren erreichbaren Konzentra-tion erst nach ein bis zwei Stunden

zum Ausfall des Kombattanten. Dies wiederum ermöglichte es den ange-griffenen Soldaten trotz schwerer Ver-giftungserscheinungen wie Husten und Erbrechen, weiterhin Widerstand zu leisten. Der Tod ereilte die Betrof-fenen bei vollem Bewusstsein, oft erst nach Tagen. Ein weiterer Nachteil der ersten Lungenkampfstoffe war ihre leichte Nachweisbarkeit. Phosgen und Diphosgen waren am heuartigen Ge-ruch erkennbar. Die letale (tödliche) Dosis muss etwa eine Minute auf den Betroffenen einwirken. Gelang es diesem also, auf ein geeignetes Schutzmittel zuzugreifen, standen die Überleben-schancen gut. Zu diesen zahlrei chen Problemen kam die hohe Abhängigkeit der Blasangriffe von Gelände- und Wit-terungsbedingungen.

Interessant ist in diesem Zusammen-hang der britische Blasangriff bei Nieu-port in Flandern am 5. Oktober 1916. Hier nutzten die Briten die äußerst un-günstigen Windverhältnisse im Küs ten-abschnitt. Deutscherseits hielt man einen Blasangriff in diesem Frontab-schnitt für ausgeschlossen. Dies führte zur mangelhaften Ausstattung der Sol-daten mit Gasmasken und schlechter Gasdisziplin in der Truppe. So kostete jener Angriff, obwohl er bereits inner-halb einer Minute von den deutschen Einheiten erkannt wurde, etwa 1500 Gastote und -geschädigte.

Das Gasminenverfahren

Nicht zuletzt die Eigengefährdung der Truppe erforderte eine rasche Entwick-lung weiterer Gaskampfverfahren. Die Briten führten als erste Versuche für das deutlich wirkungsvollere Gasmi-nenschießen ein, blieben jedoch auch hier hinter den deutschen Entwick-lungen zurück.

Deutscherseits setzte sich Walther Nernst erfolgreich für das Gasminen-schießen ein. Nernst gehörte ebenso wie Haber zu den international renom-mierten deutschen Chemikern. Noch heute lernt jeder Chemiestudent die Nernstsche Gleichung zur Ermittlung der bei galvanischen Elementen auftre-tenden Spannungen.

Bereits im Juni 1915 wurde zum ers-ten Mal das einen Monat zuvor aufge-stellte Gas-Minenwerfer-Bataillon 1 bei Neuville-St.Vaast eingesetzt. Verschos-sen wurden mit Bromazeton gefüllte B-

5�Zwei deutsche Soldaten mit Gasmaske und Lanzen auf Pferden mit Gasmasken, 1918.

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Gaskampf im Ersten Weltkrieg

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Minen und C-Minen, die Chloramei-sensäuremethylester enthielten. Die Minen enthielten zwischen 0,8 und 15 Liter Reiz-, Gift- oder Kampfstoff. Unter den eingesetzten giftigen Sub-stanzen entfiel die größte Menge auf Phosgen. Zu den Reizstoffen zählten Xylolbromide und Bromazeton.

Bei den Einsatzverfahren wurden zwischen dem kleinen, mittleren und großen Gasminenschießen unterschie-den. Beim kleinen Gasminenschießen erfolgte ein schlagartiger, etwa einmi-nütiger Überfall auf einen eng begrenz-ten Geländeabschnitt, in dem sich aus-reichend lebende Ziele aufhielten. Es kamen hierbei möglichst alle Werfer einer Minenwerfergruppe gleichzeitig zum Einsatz. Beim mittleren und gro-ßen Gasminenschießen erfolgte eine großflächige Beschießung durch meh-rere Werfergruppen. Prinzipiell stellte dies nichts anderes dar, als zahlreiche Gasminenüberfälle nebeneinander zu setzen. Hierfür wurden Geländeab-schnitte von etwa einem Hektar Größe je Werfergruppe ausgewählt. Ein gro-ßer Vorteil des Gasminenschießens ge-genüber dem Blasangriff lag im Über-raschungsmoment und in der hiermit schlagartig zu erzielenden hohen Kampfstoffdichte.

Da die Gasminenbataillone auch Bri-sanzgranaten mitführten, wurde zu-nächst streng darauf geachtet, dass diese grundsätzlich nicht mit Gas-minen zusammen verschossen wur-

Während die Deutschen sowohl tech-nologisch als auch taktisch den Gasmi-nenkampf zügig entwickelten, blieben die Ententemächte in diesem Bereich bis Ende 1917 eindeutig unterlegen. So benötigten die Briten zwei Jahre für die Entwicklung eines einsatzreifen Gas-minenwerfers. Das von Frederick W. Stokes produzierte Gerät wurde in sei-ner ersten Typenfassung im Juni 1915 indischen Einheiten zugeteilt und ver-schoss zunächst nur Phosphor-Nebel-minen. Im Frühjahr 1916 stellte das bri-tische Heer das Gasbataillon 5 auf, dem im Folgejahr Minen mit etwa 3,2 kg Gaskampfstoff mit Phosgen, Chlorpi-krin und Jodessigester zugewiesen wurden. Französische Einheiten wur-den zwar bereits 1916 vereinzelt mit Gasminen beliefert, die Ethylschwefel-säurechlorid enthielten, wirksame Ein-sätze führte das französische Militär im Bereich des Gasminenschießens aber erst ab 1917 durch.

Das Artilleriegasschießen

Das wirksamste Gaskampfverfahren war das Artilleriegasschießen, das auch von den Ententetruppen im großen Umfang betrieben wurde. Es bot neben der Witterungsunabhängigkeit und dem Überraschungsmoment auch den Vorteil, keiner Gassondertruppen zu bedürfen. Es genügte, die Artillerie entsprechend zu bewaffnen. Deut-

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den, da die Gaswolke sonst zeriss und ihre Wirkung sich nicht mehr entfalten konnte. Dies änderte sich mit Einfüh-rung des Gasbrisanzschießens im Jahre 1917. Hierbei wurden Brisanzgranaten mit sesshaften Kampfstoffen gefüllt (sesshafte Kampfstoffe verdampften im Gegensatz zu flüchtigen weniger schnell). Der große Vorteil bestand in einer effektiven Kombination von Split-ter- und Kampfstoffwirkung. Das Gas-brisanzschießen war zudem bei jedem Wetter anwendbar.

5�Warnschild an der Westfront in Armentieres, ca. 1917.

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5�Deutsche Krankenschwestern demonstrieren Erste Hilfe nach einem Gasangriff, 1917.

Gaskampf im Ersten Weltkrieg

22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

scherseits existierten hierfür verschie-dene Munitionsarten: Grünkreuz (Lun-genkampfstoffe), Blaukreuz (Nasen- und Rachenkampfstoff) und Gelbkreuz (Hautkampfstoffe). Je nach Kombina-tion der Kampfstoffe erfolgte eine dif-ferenzierte Kennzeichnung der Muni-tion, beispielsweise mit einem, zwei oder drei Kreuzen. In Großbritannien verwendete man Sternsymbole und Buchstabenkombinationen zur Kenn-zeichnung. So erhielt reines, in Gasfla-schen abgefülltes Chlor die Tarnbe-zeichnung »red star«, Chlor in Kombi-nation mit Phosgen »white star«, mit 20 Prozent Schwefelchloriden »blue star«.

Mit dem ersten deutschen Einsatz von sogenannten Blaukreuzgranaten begann in der Nacht vom 10. zum 11. Juli 1917 bei Nieuport ein neues Zeital-ter chemischer Kriegführung. Die neuen Geschosse enthielten Diphenyl-arsinchlorid (Clark I; Clark – Abkür-zung für Chlorarsinkampfstoff) und Diephenylarsincyanid (Clark II), zwei kandiszuckerähnliche Feststoffe. Clark II wandelt sich erst bei 350 °C in Gas um. Der Stoff wurde zunächst in hals-lose Bierflaschen, später in andere Glasgefäße gefüllt und dann mit ver-flüssigtem Sprengstoff umgossen. Die nach der Detonation durch den Sprengstoff freiwerdende Hitze ver-dampfte den Blaukreuzkampfstoff. An der kalten Luft trat er dann rasch in die flüssige Phase und verteilte sich in 0,0001 mm feinen Tröpfchen in der Luft. Diese durchdrangen alle bis da-hin bekann ten Schutzmaskenfilter. Der Chemi ker spricht bei Gas-Flüssig-keitsgemischen von Nebeln. Erstaunli-cherweise durchdrangen Nebel die Atemschutzmasken, während Gase zu-rückgehalten wurden. Dies ist auf die relativ starke Eigenbewegung der Gas-moleküle zurückzuführen. Diese Be-wegungen führten zur Bindung an die im Schutzfilter enthaltenden Materia-lien. Die feinen Flüssigkeitstropfen in chemischen Nebeln hingegen bestehen aus mehreren Molekülen, deren enger Zusammenhalt die Teilchen deutlich ruhiger lässt. Hierdurch drangen die Nebelteilchen ungehindert durch die großen Zwischenräume des Schutzfil-termaterials.

Clark I und Clark II dienten als Reiz-kampfstoffe. Bereits ab 0,25 mg ruft Clark II unerträgliches Niesen, Kopf-, Ohr- und Zahnschmerzen sowie

Schmerzen im Brustbereich und schließlich Erbrechen hervor. Tödliche Wirkung wurde mit ihnen nicht erzielt. Vielmehr kombinierte man sie mit Grünkreuz. Hierdurch zwang man gegnerische Einheiten, die Schutzmas-ken herunterzureißen. Die erwünschte tödliche Wirkung konnte dann durch Lungenkampfstoffe herbeigeführt wer-den. Das Verfahren, Reiz- und Lungen-kampfstoffe zu kombinieren, wurde »Buntschießen« genannt, die vergasten Geländeabschnitte »Bunte Räume«.

Abschließend darf auf den berüch-tigten Gelbkreuzkampfstoff »Lost« (Dichlordiethylsulfid) hingewiesen werden. Der nach den deutschen Che-mikern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf benannte und in reiner Form nahezu geruchlose Kampfstoff drang durch alle Uniformstoffe und rief schmerzhafte blasige Wunden hervor. Tödlich war auch er nur in den sel-tensten Fällen. Durch chemische Ver-unreinigungen erhielt er einen senfar-tigen Geruch und war deshalb auch als Senfgas bekannt.

Fazit

Angesichts der Tatsache, dass bis zu 30 Prozent aller im Ersten Weltkrieg ver-schossenen Granaten mit Kampfstoffen

befüllt waren, ist die Zahl der Gastoten nahezu verschwindend gering. Sie schwankt in der Literatur zwischen 70 000 und 90 000. Ist dies Anlass ge-nug, die Effektivität des Einsatzes che-mischer Kampstoffe zu bezweifeln? Ziel des militärischen Ringens damals wie heute war und ist nicht der Tod des Gegners, sondern dessen Willen zur Fortsetzung des Kampfes zu bre-chen. In diesem Sinne war der Einsatz chemischer Kampfstoffe im Ersten Weltkrieg sehr effektiv. Die Zahl der Gasgeschädigten wird von der älteren und jüngeren Forschung auf 1,2 bis 1,3 Millionen beziffert. Die schweren kör-perlichen und psychischen Wunden führten nicht nur zur längeren oder vollständigen Frontuntauglichkeit, sondern begleiteten die Betroffenen oft zeitlebens.

Martin Meier

Literaturtipps

Dieter Martinez, Vom Giftpfeil zum Chemiewaffenverbot. Zur Geschichte der chemischen Kampfmittel, Frankfurt a.M. 1995.Rudolf Hanslian (Hrsg.), Der chemische Krieg, Bd 1: Mili-tärischer Teil, 3., völlig neubearb. Aufl., Berlin 1937.

Lungenkampfstoffe (dt. Feldbezeichnung: Grünkreuz)

ChlorDas 1771 von Carl Wilhelm Scheele erst-mals gewonnene blassgelbe Gas ist durch einfachste chemische Reaktionen darzu-stellen. Gerade die kostengünstige Herstel-lung ließ den giftigen Stoff bereits 1914 in das Blickfeld deutscher und französischer Chemiker als möglichen Kampfstoff rü-cken. Chlor löst beim Vergiften ein stark stechendes Gefühl in den Atmungsorga-nen aus, so »als zielte jemand mit dem Schweißbrenner auf deine Luftröhre« (Theo dore Gray). Betroffenen beginnen zunächst die Augen zu brennen. Mund und Verdauungstrakt werden angegriffen. Erbrechen und ein starkes Schwindelge-fühl stellen sich ein, bei Erreichen der leta-len Dosis kann Atem- oder Herzstillstand eintreten. Chlor lässt sich leicht verflüssi-gen und geht bei -34 °C in die Gasphase über. Es besitzt eine geringe Sesshaftigkeit und ist leicht neutralisierbar.

Phosgen/DiphosgenNoch wirkungsvoller als Chlor erwies sich aufgrund höherer Giftigkeit und Sesshaf-tigkeit Phosgen. Bei Blasangriffen kombi-nierten die Kriegsparteien beide Gase. Phosgen ist der von Ententetruppen am erfolgreichsten eingesetzte Lungenkampf-stoff. Nahezu 80 Prozent der deutschen Gasgeschädigten sind auf ihn zurückzu-

führen. Ein Nachteil des Phosgens liegt in seinem relativ hohen Siedepunkt (8 °C). Im Winter war deshalb ein kombinierter Ein-satz mit Chlor nur bedingt möglich.Chlorameisensäuretrichlormethylester lau-tet der chemische Name des wichtigsten deutschen Lungenkampfstoffes im Ersten Weltkrieg, der bis heute unter dem Trivial-namen Diphosgen oder Perstoff firmiert. Ähnlich dem Phosgen zerstört er die Lun-genschleimhaut und ermöglicht hierdurch ein Eindringen von Blut in die Lungenbläs-chen. Der Tod tritt somit durch langsames Ersticken ein.

Chlorpikrin (dt. Feldbezeichnung: Klop)Die farblose, stechend riechende Flüssig-keit hat seinen Siedepunkt bei 112 °C, setzt jedoch bereits bei Zimmertemperatur stark giftige Dämpfe frei. Vor allem die Horn-haut des Auges wird stark gereizt. Chlorpi-krin schädigt zudem das Lungengewebe sowie Magen und Darm. Die betroffenen Soldaten litten oft wochenlang an Durch-fällen, Atembeschwerden, Erbrechen. Die Entente setzte als Ersatz für Chlorarsin-kampfstoff (in den Varianten Clark I und II), der Ihnen nicht zur Verfügung stand, die sogenannte N.C.-Mischung ein, welche aus 80 Prozent Chlorpikrin und 20 Prozent Zinntetrachlorid bestand.

23Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

D ie frühen Niederlagen gegen die Deutschen im Sommer und Herbst 1914 bewogen das rus-

sische Oberkommando dazu, den Schwerpunkt der Kriegführung an die Südfront nach Galizien zu verlagern. Dort hatte man schon bald nach Kriegs-beginn die k.u.k. Armee erfolgreich bis auf die Karpaten zurückschlagen kön-nen. Ab Januar 1915 erhöhten die Russen deshalb ihren Druck an der Karpaten-front. Am 22. März musste die bela-gerte österreichische Festung Przemyśl kapitulieren; die Donaumonarchie stand vor einer militärischen Katastro-phe. Ihre Schwäche erhöhte zudem die Gefahr eines Kriegseintritts der neu-tralen Staaten Italien und Rumänien auf Seiten der Entente. Vor diesem Hintergrund fiel im deutschen Ober-kommando Anfang April 1915 der Ent-schluss, den Verbündeten mit einer großen Offensive im Osten zu entlas-ten. Ausgehen sollte sie vom Frontab-schnitt zwischen Gorlice und Tarnów in Westgalizien, der für Aufmarsch und Angriff gleichermaßen günstige Bedingungen bot. Dort zogen die Deut-schen ihre operative Heeresreserve zu-sammen, die 11. Armee unter General-oberst August von Mackensen. Sie erhielt den Auftrag, gemeinsam mit der k.u.k. 4. Armee (General Erzherzog Joseph Ferdinand) die Front der russi-schen 3. Armee (General Radko Dimi-triew) frontal nach Osten zu durchbre-chen, dadurch hinter die russische Karpaten front zu gelangen und diese zum Rückzug zu zwingen. Auf deutsches Verlangen wurde die k.u.k. 4. Armee der 11. Armee unterstellt. Da-mit entstand, unter deutscher Führung, erstmals im Krieg eine deutsch-öster-reichische Heeresgruppe. Formell wurde die gesamte Offensive vom k.u.k. Ge-neralstabschef geleitet. Er musste sich aber vor allen wichtigen Entscheidun-gen mit dem deutschen Oberkom-mando abstimmen.

Der Erfolg der gesamten Operation war abhängig vom Durchbruch durch die russischen Stellungen. Ein ausge-klügeltes taktisches Angriffsverfahren setzte auf die Ausnutzung des Überra-schungsmoments: Die Infanterie sollte

tief gegliedert und unter dem Schutz der letzten Artilleriesalven angreifen. Danach musste im schnellen Vorgehen der Widerstand auch in den hinteren feindlichen Stellungen frühzeitig ge-brochen und das Heranführen feind-licher Reserven verhindert werden. Von der Artillerie wurde Unterstüt-zung mittels eines detaillierten Feuer-planes erwartet – ein Verfahren, das an der Westfront bereits üblich, an der Ostfront aber noch ungewohnt war. Auch zahlenmäßig stellte man eine klare artilleristische Überlegenheit her: Insgesamt 720 leichte und 243 schwere Geschütze sowie 96 Minenwerfer erga-ben die bis dahin höchste Konzentra-tion von Feuerkraft im Weltkrieg. Da-gegen konnte die russische 3. Armee an diesem nördlichen Abschnitt ihrer Front nur etwa 350 leichte und maxi-mal vier schwere Geschütze einsetzen, denen es zudem an Munition man-gelte. Die Mittelmächte versammelten eine mindestens zweifache Übermacht an Infanterie, vor allem im Schwer-punktabschnitt der 11. Armee. Deren zehn Infanteriedivisionen, darunter mehrere Eliteverbände, standen ledig-lich viereinhalb russische gegenüber, überwiegend Reserve- und Ersatzver-bände. Der Aufmarsch blieb der Ge-genseite trotz strenger Geheimhaltung und Täuschungsmaßnahmen nicht ver-borgen. Doch verkannte das russische Oberkommando die Gefahr eines Großangriffs, weshalb es die 3. Armee nicht rechtzeitig verstärkte.

Der deutsche Angriff begann am 2. Mai 1915 um 6 Uhr mit einem vier-stündigen Trommelfeuer auf die rus-sischen Stellungen. Um 10 Uhr folgte der Sturmangriff der Infanterie. Bereits das gut gelenkte, massierte Artillerie-feuer wirkte sich verheerend aus. Viele russische Schützengräben von meist nur behelfsmäßiger Qualität waren in kurzer Zeit zerstört. Ohne Deckung er-litten die vordersten russischen Linien bereits in dieser Phase Ausfälle von bis zu einem Drittel ihrer Gesamtstärke, bevor sie vom nachfolgenden Infante-riesturm überwältigt wurden. Den tak-tischen Reserven erging es nicht besser, da sie ungedeckt zu weit vorne lager-

ten. Auffangstellungen in der Tiefe hat-ten die Russen nicht angelegt, was ih-ren Rückzug mancherorts bald zur Flucht ausarten ließ. So gerieten allein am ersten Angriffstag 17 000 russische Soldaten in Gefangenschaft. Bereits am Abend des 2. Mai war die 11. Armee auf ganzer Breite von 30 km zwischen 2 und 4 km tief in die gegnerischen Stellungen eingebrochen. Durch ständi-ges Nachsetzen, Einführen der Armee-reserve und neue Schwerpunktbildung auf dem rechten Flügel (X. Armee-korps) konnte sie den Einbruch bis zum 5./6. Mai zu einem fast 40 km tiefen Durchbruch ausweiten. Das III. Kauka-sische Korps, das zur Unterstützung der russischen 3. Armee im Anmarsch war, kam zu spät und wurde bald in den Strudel des russischen Rückzugs gerissen. Die 3. Armee war geschlagen.

Der Erfolg ihres Durchbruchs bei Gorlice und Tarnów ermöglichte es den Mittelmächten, auch ihre weiter gesteckten Ziele zu verwirklichen. Mitte Mai erreichten sie den Fluss San, über den bald Brückenköpfe gebildet waren, wodurch sich die gesamte rus-sische Karpatenfront zum Rückzug ge-zwungen sah. Am 3. Juni gelang den Mittelmächten die Rückeroberung von Przemyśl, am 22. Juni nahmen sie Lem-berg ein. Bald darauf befand sich fast ganz Galizien wieder in österreichi-scher Hand. Die Gefahr für Österreich-Ungarn war endgültig abgewendet. Gleichzeitig legte der Erfolg der Hee-resgruppe Mackensen im Süden der Ostfront die Grundlage für eine große Zangenoffensive der Mittelmächte, die im Sommer/Herbst 1915 die Russen zur Aufgabe von ganz Polen zwingen sollte. Aus dem taktischen Durchbruch von Gorlice und Tarnów erwuchs so-mit einer der größten operativen Er-folge der Mittelmächte des gesamten Krieges. Die Verluste auf beiden Seiten waren hoch: Bis Mitte Juni verzeichne-ten die Mittelmächte 90 000 gefallene, verwundete und in Gefangenschaft ge-ratene Soldaten. Die russischen Ver-luste betrugen das Vierfache, davon al-lein 240 000 Gefangene.

Holger Hase und Thomas Vogel

Die Schlacht von Gorlice-Tarnów

Das historische StichwortService

medien

Service

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Neue Medien

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

»Die Suche nach der Wahrheit«

Kritischer, investigativer Journalis-mus ist ein wichtiges Korrektiv,

wenn Behörden und Justiz (vermeint-lich) versagen. Ulrich Chaussy, Hör-funkjournalist des Bayerischen Rund-funks, recherchiert seit nunmehr fast 35 Jahren zur Bombe, die im Septem-ber 1980 auf dem Münchner Oktober-fest 13 Menschen in den Tod riss (mehr dazu in Geschichte kompakt auf S. 29). Seiner beharrlichen Suche nach der Wahrheit wurde vor Kurzem im Spiel-film »Der blinde Fleck« zur besten Sen-dezeit in der ARD ein mediales Denk-mal gesetzt. Der Bayerische Rundfunk präsentiert seine Recherchen nun auf einem eigens eingerichteten, sehr auf-wendig gestalteten Internetauftritt: Ge-zeigt werden neben Dokumenten und Fotos vor allem Audio- und Videomit-schnitte, u.a. die ARD-Tagesschau vom 28. September 1980. Zu Wort kommen Opfer und Augenzeugen, die kurz vor der Explosion neben dem mutmaß-lichen Attentäter zwei weitere Männer gesehen haben; ein weiterer Zeuge sagt aus, unmittelbar nach der Explosion sei etwas entfernt eine Stichflamme wie bei einer Zündung zu sehen gewe-sen. Möglicherweise gab es eine wei-tere Bombe, die nicht detonierte.

Sein Schweigen bricht erstmals auch der damalige Sprengstoffexperte des Bundeskriminalamtes Gerd Ester, der im Zuge der Ermittlungen die Okto-berfestbombe rekonstruiert hat und deren Aufbau genau erklärt. Im Kapi-

tel »Die Hand« weist Chaussy gravie-rende Ermittlungsfehler nach. Aser-vate wurden vernichtet, eine abgris-sene Hand, die weder dem mußmaß-lichem Täter noch einem der Opfer zuzuordnen war, ist noch immer spur-los verschwunden. Im Kapitel »Die Po-litik« sucht Chaussy nach möglichen Erklärungen und Hintergünden: Die Bombe explodierte wenige Tage vor der Bundestagswahl 1980, bei welcher der bayerische Ministerpräsident Franz Joseph Strauß gegen Helmut Schmidt kandidierte. Offene Worte über die da-maligen Ermittlungen findet Max Strauß, der damals 21-jährige Sohn des Ministerpräsidenten. Besonders bri-sant sind die Informationen über Hans Langemann, den damaligen Leiter der Abteilung Staatsschutz im Bayerischen Innenministerium (»Der Ex-Agent«). Dieser habe die Ermittlungen massiv behindert und in die politisch gewollte Richtung der Einzeltäterthese gelenkt. Die multimediale Zeitreise endet mit einem optimistischen Ausblick: 2014 hat der Generalbundesanwalt die Wie-deraufnahme der Ermittlungen ange-ordnet. Ein großer Erfolg für Chaussy und den investigativen Journalismus.

ks

Screenshot der Tagesschau vom 28. September 1980.

maßgeblich von ihm beförderte Grün-dung des Deutschen Reiches unter Vor-herrschaft Preußens im Jahre 1871 war sein wohl größter politischer Erfolg. In den folgenden zwanzig Jahren galt sein Wirken der Stabilisierung des neuen Reiches im Konzert der Großmächte. Außenpolitisch schmiedete Bismarck zahlreiche Bündnisse, innenpolitisch bekämpfte er seine Gegner mit aller Kraft. Seine Entlassung durch den jun-gen Kaiser Wilhelm II. am 20. März 1890 bedeutete das Ende dieser über-aus erfolgreichen Karriere. Die Le-gende des »Eisernen Kanzlers« Otto von Bismarck war geboren.

Pünktlich zu seinem 200. Geburtstag am 1. April erschien nun ein Feature des Hessischen Rundfunks, das sich tiefgreifend mit der schillernden Per-sönlichkeit und dem politischen Wir-ken Bismarcks auseinandersetzt. Das Hörbuch überzeugt durch seine um-fassende und abwechslungsreiche Dar-stellung Bismarcks und seiner Zeit. Es beschränkt sich nicht nur auf die Per-son des Reichskanzlers, sondern bringt dem Hörer auch die historischen Um-stände und Ereignisse anschaulich nä-her. Ergänzt werden die erklärenden Passagen durch Zitate Bismarcks und durch Kommentare der renommier-ten Historiker Katharine Lerman und Lothar Gall. Abgerundet wird das Hörbuch durch die Verwendung atmo-sphärisch passender Musik zur Ein-rahmung der Kapitel. Ein uneinge-schränktes Hörvergnügen.

Carsten Siegel

www.story.br.de/oktoberfest-attentat

Bismarck

Der aus altem preußischem Land-adel stammende Bismarck zeigte

schon während seiner Studienzeit das Durchsetzungsvermögen und die Be-harrlichkeit, die ihn in späteren Jahren auszeichnen sollten. Mit dem langwei-ligen Staatsdienst in der preußischen Provinz konnte er sich jedoch nicht an-freunden. So schied er bereits früh aus dem Staatsdienst aus und übernahm die Verwaltung des elterlichen Gutes in Pommern. Dort sammelte er erste politische Erfahrungen und Erfolge, u.a. den Einzug in den Preußischen Landtag. Sein Mandat nutzte er ge-schickt als Sprungbrett, um sich für hö-here Aufgaben zu empfehlen. Nach Stationen als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund und in St. Pe-tersburg erreichte er 1862 mit der Beru-fung zum Ministerpräsidenten seinen vorläufigen Karrierehöhepunkt. Die

Frank Eckhardt, Otto von Bismarck, München 2015. ISBN 978-3-8445-1622-7; 1, 2 CDs, 128 Minuten, 9,99 Euro

medien 25Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

neueschließt unmittelbar daran an und zeichnet den Weg Renés von Hammer-stein quer durch Nord- und West-deutschland bis nach Valence nach, wo seine Verlobte Henriette auf ihn wartet. Vier Monate dauert es, bis er sie end-lich in seine Arme schließen kann. Den deutschen Flüchtlingen begegnet René ohne Mitleid, ihr Schicksal ist ihm egal, besonders nachdem seine Kriegsgefan-genenkolonne am Lager Bergen-Belsen vorübergekommen ist und Lagerinsas-sen auf Todesmärschen ihren Weg ge-kreuzt haben. Die Deutschen haben es seiner Meinung nach nicht anders ver-dient, dass sie nun beklaut und ausge-bombt werden.

Wie schon im ersten Teil begleitet der Junge seinen Vater imaginär, stellt Fra-gen, die selten beantwortet werden, und liefert Hintergrundinformationen über die Ereignisse während der letz-ten Kriegsmonate in Mitteleuropa. Die Kombination aus den subjektiv-zy-nischen Anmerkungen Renés und den recherchierten Ereignissen des Sohnes ergeben ein eindrückliches Gesamt-bild. Dass sich zwischen den beiden dabei nur selten ein Dialog entspinnt, kann als Hinweis darauf gesehen wer-den, dass die Heimkehrer mit ihren Fami lien daheim oder den Nachgebo-renen wie Jacques (Jahrgang 1946) auf-grund ihrer unterschiedlichen Kriegs-erfahrungen nicht ins Gespräch über den Krieg kommen konnten. Das gilt auch für Vater und Sohn Tardi.

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Der Terror der NS-Schlägertrupps gegen jüdische Bürger und politi-

sche Gegner begann schon weit vor 1933. Gerade in der Hauptstadt Berlin eska-lierte die Gewalt, angeführt von der SA, mitten im Zentrum. Am 12. Sep-tember 1931, am jüdischen Neujahrs-tag, sammelten sich mehrere hundert SA-Männer an der Gedächtniskirche und begannen auf Passanten einzuprü-geln, die ihrer Meinung nach Jüdinnen oder Juden waren. Sie stürmten Lokale und Geschäfte und verletzten zahl-reiche Menschen. Fast zwei Jahre spä-ter, Ende Juni 1933, war die NSDAP be-reits Regierungspartei und die Macht ihrer paramilitärischen Organisationen war gewachsen. Während der »Köpe-nicker Blutwoche« (siehe Militärge-schichte 2/2013, S. 10–13) folterten SA-Männer Sozialdemokraten, Kommu-nisten und Juden im Berliner Bezirk Köpenick. Mindestens 24 Menschen starben. Als sich ein junges SPD-Mit-glied wehrte und drei Männer er-schoss, eskalierte die Situation.

Wer heute nach Berlin fährt und mehr über die Geschichte der nationalsozia-listischen Verbrechen in der Stadt er-

fahren möchte, kann zum Kurfürsten-damm oder nach Köpenick fahren. Die Orte der Verbrechen sind noch immer vorhanden, aber ohne intensive Re-cherche kaum mehr zu lokalisieren. Diese Mühen haben sich junge Histori-kerinnen und Historiker aus Berlin ge-macht: Am Kurfürstendamm und in Köpenick bringen sie die Geschichte zum Sprechen. Mittels sogenannter Hörblasen wird an den Schauplätzen des Terrors über die Geschichte der Orte informiert, Zeitzeugen und Ange-hörige erzählen von den Gewalttaten und den Opfern. Dazu werden die Ge-schehen in einen breiteren Rahmen eingeordnet.

Für den Hörspaziergang wird die App »Radio Aporee« benötigt, die ko-stenlos für Apple- und Android-Smart-phones heruntergeladen werden kann. Vor Ort müssen die Anwender/innen die Anwendung nur noch starten und loslaufen, die Hörblasen starten auto-matisch per GPS. Unter <www.gedenk-staette-koepenicker-blutwoche.org/au-diowalk> und <http://kudamm31.com/karte> können die Hörblasen auch ganz einfach von zu Hause angehört werden. Dort sind zudem weitere In-formationen zu der genauen Lokalisie-rung der Audiowalks zu finden.

fh

Kriegsgefangenschaft

Das Stammlager (Stalag) II B in Hammerstein/Pommern (poln.

Czarne) diente seit 1940 als Lager für polnische, belgische und französische Kriegsgefangene. Einer von ihnen war René Tardi, französischer Panzersol-dat, der im Mai 1940 in deutsche Ge-fangenschaft geriet und bis zur Räu-mung des Lagers Ende Januar 1945 dort verblieb. Als das Gebiet um das Lager mit dem Vorrücken der Roten Armee zum Kriegsgebiet wurde, eva-kuierte die Wehrmacht das Stalag und schickte die Gefangenen auf einen mo-natelangen Marsch gen Westen.

Der französische Comicautor Jacques Tardi rekonstruiert aus den Aufzeich-nungen seines Vaters René dessen Ge-schichte im Zweiten Weltkrieg. Der erste Teil, der von der Zeit als Soldat und seiner Kriegsgefangenschaft in Hinterpommern berichtet, erschien 2013 auf Deutsch (siehe Militärge-schichte 2/2014, S. 25). Der zweite Band

Jacques Tardi, Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B. Der lange Marsch durch Deutschland, Zü-rich: Edition Moderne 2014. ISBN 978-3-03731-136-3; 128 S., 32,00 Euro

Audiowalks in Berlin

www.gedenkstaette-koepenicker-blutwoche.org/audiowalk

http://kudamm31.com/

Lusitania

Am 7. Mai 1915 um 13.20 Uhr ent-deckte das deutsche U-Boot »U

20« unter Kapitänleutnant Walther Schwieger vor der südirischen Küste den britischen Passagierdampfer »Lu-sitania«. Das luxuriöse Schiff war auf dem Weg von New York nach Liver-pool. An Bord befanden sich fast 2000 Personen, darunter viele Angehörige der angelsächsischen High Society. Die »Lusitania« war das einzig verbliebene Passagierschiff auf der Nordatlantik-route. Alle anderen befanden sich im Kriegseinsatz. Den deutschen U-Boot-Kommandanten war sie ein Dorn im Auge, da sie sich über den Kriegszu-stand hinwegzusetzen schien. Nach der Order zur Verschärfung des U-Boot-Krieges vom 13. Februar 1915 war die Jagd auf den Passagierdampfer er-öffnet. Auf ihrer 17. Fahrt während des Krieges traf der Dampfer auf »U 20«. Schwieger ließ einen Torpedo abfeuern und traf den Kohlenbunker. Die Lusi-tania explodierte und sank binnen 18 Minuten. Unter den 1198 Toten waren etliche Kinder und Säuglinge.

Willi Jasper sieht den kaltblütigen Abschuss eines unbewaffneten Passa-gierschiffs im Zusammenhang mit dem Beginn des Gaskrieges in Flandern und dem Völkermord an den Armeniern in Anatolien. Im Frühjahr 1915 entgrenzte der Krieg und eröffnete das Zeitalter der totalitären Gewalt, das erst 1945 enden sollte. Um diese These zu unter-mauern, untersucht Jasper die Reaktio-nen auf den Untergang der »Lusitania« in der deutschsprachigen Kulturwelt und die Empörung auf der anderen Seite, die sich fortan nur intensiver der Bekämpfung der deutschen Barbarei widmen wollte. Das Buch geht weit über die Geschichte der »Lusitania« hinaus und führt gewinnbringend in die Geisteswelt der Kriegsintellektu-

ellen ein.fh

Spionage im Ersten Weltkrieg

Als Heinrich Wandt 1920 sein Kriegstagebuch auszugsweise in

der Presse abdrucken ließ, löste dies lautstarke Empörung in Armeekreisen aus. Das Reichswehrministerium lei-tete Untersuchungen ein. Bereits im Dezember 1920 wurde Wandt zu sechs Monaten Haft verurteilt; 1921 folgten ein weiterer Prozess und neuerliche Untersuchungshaft. 1923 wurde er er-neut, jetzt sogar vor dem Reichsgericht, wegen Landesverrats angeklagt und zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Auf Druck der belgischen Öffentlich-keit wurde er 1926 aus der Haft entlas-sen. Der Furor, mit dem die Reichswehr-führung Wandt juristisch verfolgte, lag in der Brisanz seines Tagebuchs über die deutsche Besatzungsherrschaft von 1914 bis 1918 in Belgien und Nordfrank-reich. Wandt nannte die beteiligten Offiziere bei vollem Namen, u.a. Prinz Udo zu Stollberg-Wernigerode-Uslar: »Prinz Udo machte die Offiziersbor-delle unsicher. Dort ritt er seine schnei-digen Reiterattacken […] sternhagel-voll [...] torkelte er in wenig fürstlicher Haltung aus der Brunststätte hinaus und ließ sämtliche streng geheimen Schriftstücke zurück […] Selbstver-ständlich war die Rote Titi nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte dafür ge-sorgt, dass der Inhalt der Geheimbe-fehle zur Kenntnis eines feindlichen Agenten gekommen war. Dem Prinzen ist nichts passiert. Hätte sich ein ein-facher Mann eines solchen ›Verges-sens‹ schuldig gemacht, wäre er auf den Sandhaufen gestellt worden.« Selbst »die Liebesgenüsse des Kron-prinzen« wurden nicht verschwiegen. Diese detailreiche Dokumentation liest sich auch heute überaus spannend und gibt einen aufschlussreichen Einblick in Verbrechen von Teilen der deut-schen Armee im Ersten Weltkrieg.

ks

Geschichte Kambodschas

D as »Zeitalter der Extreme« hat in der Geschichte Kambodschas tiefe

Narben hinterlassen. Im Schatten des Vietnamkriegs allen Seiten als rück-wärtiges Operationsgebiet dienend, wurde Kambodscha auch vom Viet-cong genutzt, was die USA zunehmend als Sicherheitsrisiko betrachteten. Un-ter strenger Geheimhaltung versuchten die USA daher, die Versorgungslinie der Guerillaorganisation Anfang der 1960er Jahre durch massive Bombarde-ments zu unterbrechen, da Angriffe auf das offiziell neutrale Kambodscha geltendes Völkerrecht verletzten. Auch auf diesem »Nebenschauplatz« kamen berüchtigte Entlaubungsmittel wie

Heinrich Wandt, Erotik und Spionage in der Etappe Gent. Hrsg. von Jörn Schütrump, Berlin 2014. ISBN 978-3-320-02303-4; 365 S., 19,90 Euro

»Agent Orange« zum Einsatz. Mit Be-ginn des uneingeschränkten Luft- und Bodenkriegs am 18. März 1969 wurde Kambodscha vollends zum Angriffs-ziel. Die bis Mai 1970 andauernde »Operation Menu« hielten US-Präsi-dent Richard Nixon und sein Sicher-heitsberater Henry Kissinger selbst vor hohen Befehlshabern geheim. Die mili-tärisch sinnlose Offensive führte zu ei-ner horrenden Zahl ziviler Opfer. Trotz massiver öffentlicher Proteste und de-monstrativer Rücktritte von Mitarbei-tern Kissingers flogen die B-52-Bomber Tag und Nacht Luftangriffe. Der zer-störerische Höhepunkt war 1973 er-reicht. Den Roten Khmer, denen die zu Waisen gewordenen Kinder und Ju-gendlichen zuhauf zuliefen, waren Tür und Tor geöffnet.

Dieses und weitere Kapitel der wech-selvollen Geschichte Kambodschas lässt Bernd Stöver den Leser nacherle-ben: von den Anfängen des Landes im 2. Jahrhundert über die Zeit der fran-zösischen Kolonialherrschaft bis hin zu seiner »Wiederentdeckung durch die Welt« seit 1999.

Stefan Kahlau

Bernd Stöver, Geschichte Kambod-schas. Von Angkor bis zur Gegenwart, Mün-chen 2015. ISBN 978-3-406-67432-7; 268 S., 12,95 Euro

Willi Jasper, Lusitania. Kulturgeschichte einer Katastrophe, Berlin 2015. ISBN 978-3-89809-112-1; 208 S., 19,95 Euro

Lesetipp

26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Service

Friedenskunst

Kriegerdenkmale und Bücher über Kriege gibt es in großer Zahl. Beim

Thema Frieden wird es rarer. Ausnah-men von dieser Regel sind unter ande-rem der Friedensengel in München und das hier anzuzeigende Buch von Stephan Elbern. Darin werden nicht weniger als 59 Friedensverträge bzw. Friedensschlüsse analysiert, die sieben Epochen zugeordnet sind: Alter Orient, Klassisches Altertum, Mittelalter, Zeit-alter der Reformation, Barock und Auf-klärung, 19. Jahrhundert und 20. Jahr-hundert. Der Autor spannt dabei den Bogen von Ägypten über die Welt und wieder zurück nach Ägypten. Am An-fang steht das erste bekannte Friedens-

Churchill

Winston Churchills Leben bewegte sich zwischen den Polen Kämp-

fen, Schreiben und Politik. Er konnte in persönlicher Gefahr todesmutig sein: als junger Leutnant bei der Schlacht von Omdurman im Sudan (1898), als Kriegsberichterstatter im Zweiten Buren krieg. Nur mit Mühe konnten die alliierten Militärs den Premiermini-ster davon abbringen, mit der ersten Welle der Invasion am 6. Juni 1944 in der Normandie an Land zu gehen. Mit 25 Jahren wird Churchill ins Unter-haus gewählt, dem er von 1900 mit kurzer Unterbrechung bis 1964 ange-hört. Im Ersten Weltkrieg Marinemi-nister, muss er nach der gescheiterten

Feindbilder

Wie nationalsozialistisch war die Deutsche Wehrmacht? Die neu-

ere Forschung stellte fest, dass es nur zum Teil die NS-Ideologie war, die »normale« Menschen brutal handeln ließ. Es kam viel eher auf die Prägung innerhalb des Militärs, auf das Verhal-ten der Gruppe und ganz besonders auf die jeweilige Situation an. Michaela Kipp griff diese Überlegungen auf und stellte die Frage anders herum: Wie prägten Alltagsvorstellungen das bru-tale Handeln? Sie kam dabei auf »deut-sche« Bilder von Ordnung, Sauberkeit und Hygiene. Die Autorin untersuchte Feldpostbriefe hinsichtlich der Ver-wendung der genannten drei Bilder und erstellte daraus Freund- und Feindbilder: Die Sauberkeits- und Ord-nungsdiskurse in Feldpostbriefen aus dem Osteinsatz, die Radikalisierung des Sagbaren im Nationalsozialismus und die Radikalisierung des Mach-baren am Einsatzort.

Wenn Ordnung und Sauberkeit als deutsche Eigenschaften u.a. im Natio-nalsozialismus hochstilisiert wurden, dann wurde logischerweise der Geg-ner im Osten mit den gegenteiligen Be-griffen versehen: Schmutz, Dreck, Un-ordnung und Chaos. Als Maßnahmen griffen: Aufräumen, Reinemachen, Un-geziefer und damit auch den Gegner beseitigen sowie Ordnung stiften bzw. schaffen. Diese Begriffe und die damit verbundenen Gedanken fanden sich sowohl in den Feldpostbriefen, die Sol-daten nach Hause schickten, als auch in der Post, die sie von daheim er-hielten. Briefe aber waren nicht nur privat, mit ihnen wurde in Flugblät-tern und Frontzeitschriften Propa-ganda betrieben. Kipp kommt in dem ungewöhnlichen Buch zu dem Ergeb-nis, dass der Reinlichkeitsdiskurs funktionaler Bestandteil der Kriegfüh-rungsmaschinerie war.

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Stephan Elbern, Frieden - Eine verlorene Kunst. Von Kadesch bis Camp David, Mainz 2014. ISBN 978-3943904-39-0, 199 S., 24,90 €

Michaela Kipp, »Grossrei-nemachen im Osten«. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M., New York 2014. ISBN 978-3-593-50095-9; 493 S., 45,00 Euro

Thomas Kielinger, Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie, München 2014. ISBN 978-3-406-66889-0; 400 S., EUR 24,95

abkommen der Geschichte zwischen Pharao Ramses II. und den Hethitern nach der Schlacht bei Kadesch im Jahre 1284 v.Chr. Am Ende des Bandes wird das Abkommen von Camp David zwi-schen Israel und Ägypten von 1978 behan delt. Natürlich sind der Westfä-lische Friede (1648), der Friede zu Hu-bertusburg (1763), der Wiener Kongress (1814/15), der Frieden von Frankfurt (1871), von Brest- Litowsk (1918) und von Versailles (1919) mit dabei. Die ein-zelnen Konfliktparteien, die Kriege, die Friedensbestimmungen und ihre Wirkungsgeschichte werden zu jedem der 59 Frieden vorgestellt. Bezeich-nend für das 20. Jahrhundert ist, dass weder der Zweite Weltkrieg noch der Koreakrieg mit einem formalen Frie-densschluss endeten, sondern mit Ka-pitulation und Waffenstillstand. Nicht zuletzt deshalb spricht der Autor von einer verlorenen Kunst, und es gilt das Wort von Franz Grillparzer: »Der Weg der neueren Menschheit geht / von Hu-manität durch Natio nalität zur Bestia-lität« – religiöser Fanatismus und Ide-ologie müssen im 21. Jahrhundert lei-der hinzugefügt werden.

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alliierten Landung in den Dardanellen zurücktreten und verschwindet nach 1929 weitgehend in der politischen Versenkung. Schon früh sieht er, dass Hitler auf einen neuen Weltkrieg hin-steuert, und schärfer als jeder andere geißelt er die britische Appeasement-Politik. Als sich abzeichnet, dass der Krieg unausweichlich wird, wird aus Churchill der Mann der Stunde. Am 8. Mai 1945 jubeln ihm die Londoner enthusiastisch zu; im Herbst, bei den von ihm selbst angesetzten Wahlen, lassen sie ihn fallen. 1951 wird er er-neut Regierungschef, aber jetzt setzen ihm sein Alter und seine Gesundheit Grenzen: 1955 muss er zurücktreten.

Thomas Kielinger fasst geschickt die Forschungsliteratur zusammen und stützt sich zugleich auf Churchills ei-genes literarisches Œuvre. Sein Buch widmet den langen Jahren der politi-schen Lernprozesse Churchills große Aufmerksamkeit. So entsteht das Bild des vielseitigen, manchmal schwie-rigen, immer wortgewaltigen Mannes, dem der historische Moment am Ende doch seine Rolle zuweist: eben die des »späten Helden«.

Winfried Heinemann

27Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

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Service Die historische Quelle

Militärhistorisches Archiv Prag

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Auschwitz − Ausbau für die Kriegswirtschaft

Auschwitz − das ist von Juni 1940 bis Januar 1945 einer der Orte der Unterdrückung des polnischen Wider-

stands, der Folter und Hinrichtung von Männern und Frauen, die sich gegen die deutsche Besetzung des Lan-des zur Wehr setzten. Auschwitz ist 1941/42 auch ein Ort des Massenmords an sowjetischen Kriegsgefangenen und 1943/44 Ort der Vernichtung der zumeist deutschen, österreichischen und tschechischen Sinti und Roma. Und Auschwitz ist der Ort, an den aus dem deutschen Macht-bereich ab März 1942 über eine Million Juden deportiert wurden, von denen die SS bis Oktober 1944 die meisten, mehr als 900 000, vom Säugling bis zum Greis, binnen Stunden nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermor-dete.

Das Dokument aus dem Militärarchiv in Prag illustriert den Funktionswandel des Lagers im zweiten Halbjahr 1942: Im Februar 1941 hatte die SS der IG Farben, die im Osten der polnischen Stadt Oświęcim ein gigantisches

Kunststoffwerk errichtete, 10 000 KZ-Arbeiter für die Werkbaustellen zugesagt. Der Chemiekonzern revan-chierte sich mit der Bereitstellung von Bezugsrechten für kontingentiertes Baumaterial, um der SS den Ausbau und die Erweiterung des Stammlagers Auschwitz zu ermögli-chen. Das zweite Auschwitzer Lager in Birkenau sollte nach Maßgabe des Reichsführers-SS Heinrich Himmler vom 1. März 1941 als Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS für den bevorstehenden Überfall auf die Sowjetunion errichtet werden. Der erst im Oktober 1941 begonnene Aufbau des Lagers kam jedoch bereits im Laufe des ers-ten Halbjahres 1942 zum Stillstand: Die SS richtete Tau-sende Gefangene bei Erdarbeiten in dem versumpf ten Gelände zugrunde; aus Abbruchmaterial bauten Gefan-gene die dreißig Steinbaracken im ersten Lagerabschnitt; ansonsten wurden als Unterkünfte nur die vom Ober-kommando des Heeres bewilligten, für 52 Pferde ausge-

legten Holzbaracken aufgestellt, in die zwischen 500 und 1000 Menschen gepfercht werden sollten. Ein Einsatz von Baufirmen mit Facharbeitern und Maschinen jedoch war ausgeschlossen; kontingentiertes Baumaterial − Holz, Steine, Zement und Eisen − fehlte, eine Folge später An-meldung, mehrfacher Umplanung und mangelnder Kriegswichtigkeit des Bauvorhabens. Nur weil Rüs-tungsminister Albert Speer das Bauvorhaben der SS für eigene Zwecke vereinnahmte und als Umschlagplatz für Zehn- und dann Hunderttausende von Arbeitssklaven in den Dienst der Kriegswirtschaft stellte, konnte die SS das Lager überhaupt weiter ausbauen. Mitte September 1942 bewilligte der Rüs tungsminister der SS ein zusätzliches Bauvolumen in Höhe von 13,76 Millionen Reichsmark für das »Sonderprogramm Prof. Speer«.

Im Lageplan vom 6. Oktober 1942 (im Original 1,30  x  1  m, im Bild ein Ausschnitt) rot markiert sind die eingezäunten neuen Anlagen: zwei spiegelbildlich glei-

che Krematorien mit unterir-dischen Gaskammern am Ende der Eisenbahnrampe (links), der Lagerabschnitt mit dreißig Baracken zur Sortierung der den Deportierten geraubten Habe, zwei weiteren Kremato-rien mit Gas kam mer anbauten und dem »Zentrale Sauna« ge-nannten Aufnahmegebäude (Mitte), durch das die SS die zur Sklavenarbeit selektierten De-portierten schleuste. Der Plan zeigt einen neuen Komman-danturbereich am gegenüber-liegenden Ende der künftigen Hauptlagerstraße; das jenseits dieser rot markierte Baracken-lager wurde nur noch teilweise

aufgebaut. Ab Sommer 1944 − das bei Lublin liegende Vernichtungslager Majdanek hatte die Rote Armee am 24. Juli befreit − beeilte sich die SS, die als Arbeitssklaven an der Rampe selektierten ungarischen und polnischen Juden in industrielle KZ-Außenlager im Reichsinnern zu transferieren. Darunter befanden sich Großbunkerbau-stellen, wie die für die Flugzeugmontage von Messer-schmidt, Focke-Wulf und Dornier in Landsberg am Lech, einem heutigen Bundeswehr-Standort.

Susanne Willems

Literaturtipp

Susanne Willems, Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers. Mit Fotos von Frank und Fritz Schumann, Berlin 2015.

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Geschichte kompakt

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015 29

Im Rahmen der Wiederbewaffnung bezog die junge Bun-deswehr ihr erstes Wehrmaterial von den verbündeten

NATO-Staaten, allen voran den USA. Ende der 1950er Jahre gab es Überlegungen, die westdeutsche Rüstungsproduk-tion zu stärken und eigene Waffensysteme herzustellen. In der Folge wurde 1957 begonnen, gemeinsam mit Frank-reich einen neuen Kampfpanzer mittleren Typs zu entwi-ckeln. Als Grundlage diente ein Anforderungskatalog der NATO und des Führungsstabes des Heeres, der die Erfah-rungen des Zweiten Weltkrieges berücksichtigte und u.a. eine hohe operative Beweglichkeit sowie eine effektive Mi-schung aus Panzerung und Feuerkraft vorgab. An der Ent-wicklung der ersten Prototypen waren mehrere deutsche Unternehmen beteiligt, etwa die Porsche KG und Rhein-metall, die bis 1963 die Entwicklungsarbeiten abgeschlos-sen hatten, sodass das bis dahin als »Standardpanzer« be-zeichnete Projekt nun der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Zeitgleich liefen intensive Erprobungsversuche an Wehrtechnischen Dienststellen der Bundeswehr sowie an der Panzertruppenschule Munster.

Da Frankreich wegen Finanzierungsproblemen aus dem Projekt ausschied, erhielt der Panzer 1963 einen deutschen Namen: Der »Leopard« wurde damit zum ersten nach 1945 in Deutschland serienmäßig hergestellten Kampfpanzer, der in der Truppe den bis dahin eingesetzten, jedoch veral-teten amerikanischen M 47 ersetzen sollte. Der Bundestag stellte 1,5 Mrd. DM für den Kauf von 1500 Stück des neuen Modells zur Verfügung. Daraufhin fand bei Krauss-Maffei in München, dem Hauptproduzententen, am 9. September 1965 durch Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU) die offizielle Übergabe des ersten Serienmodells an die 4. Kompanie des Panzerlehrbataillons 93 statt. 1976 um-fasste der Gesamtbestand der Bundeswehr bereits knapp 2500 Leopard 1.

In den folgenden Jahren wurde der Kampfpanzer Leo-pard 1 kontinuierlich weiterentwickelt und systematischen Kampfwertsteigerungen unterzogen. Weiterentwicklungs-potenzial und der allgemein hohe Qualitätsstandard führten dazu, dass der Panzer als Basis für zahlreiche wei-tere Kettenfahrzeuge diente (z.B. Brückenlege-, Flak-, Berge- oder Pionierpanzer) und auch international als Exportpro-dukt sehr angesehen war. Bis zum Produktionsende 2003 wurden insgesamt 4700 Exemplare des Leopard 1 gefertigt, die in neun Ländern auf fünf Kontinenten eingesetzt wur-den oder sich nach wie vor im aktiven Dienst befinden.

Tobias Gräf

Die Pressemitteilung des Generalbundesanwalts vom 11. Dezember 2014 zur Wiederaufnahme der Ermitt-

lungen in Sachen »Oktoberfestbombe« war eine kleine Sen-sation. Am Abend des 26. September 1980, also ganze 34 Jahre zuvor, explodierte am Ausgang des Münchner Okto-berfestes eine Bombe und forderte 13 Tote, darunter drei Kinder, und mehr als 200 zum Teil schwer Verletzte. Als Tä-ter wurde schnell der 21-jährige Gundolf Köhler identifi-ziert, auch er starb bei der Explosion. Nach seiner Dienst-zeit als Zeitsoldat in Immendingen hatte Köhler Geologie studiert. Aber schon schon als Jugendlicher besaß er Kon-takte zu rechtsradikalen Gruppen, später unterhielt er enge Verbindungen zur »Wehrsportgruppe Hoffmann«. Die Ermitt ler legten sich schnell fest: Köhler sei Einzeltäter ge-wesen; es gebe keine weiteren Beteiligten und keine Hinter-männer. Ein rechtsterrorisischer Hintergrund sei ausge-schlossen. Bereits 1982 stellte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann das Ermittlungsverfahren ein. 1997 wurde die beim Generalbundesanwalt verwahrten Asservate vernich-tet, obwohl Mord bekanntlich nie verjährt.

Schon damals gab es erhebliche Zweifel an der Einzeltä-terthese. Der Journalist Ulrich Chaussy sowie der Hinter-bliebenen- und Opferanwalt Werner Dietrich kämpften hartnäckig und mutig gegen alle Widerstände, ermittelten auf eigene Faust, fanden neue Zeugen. Ihnen ist die Wie-deraufnahme der Ermittlungen zu verdanken. Die nach ih-rer Überzeugung einseitig geführten Ermittlungen in den 1980er Jahren waren auch mehrfach Thema im Deutschen Bundestag. Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke stellten in den vergangenen Jahren Dutzende parlamentarischer Anfragen zum Thema. In ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linken im September 2014 teilte die Bundesregierung u.a. mit, dass vor dem Hintergrund rechtsterroristischer Er-eignisse des Jahres 1980 im April 1981 im Bundesamt für Verfassungsschutz »erstmals ein Referat eingerichtet« wor-den sei, dass »rechtsexremistischen Terrorismus« beobach-ten sollte (Bundestagsdrucksache 18/2544, S.2). Damals jedoch war gegenüber der Öffentlichkeit jeder rechtsterroris-tische Hintergrund des Anschlags verneint worden. Im No-vember 2014 verlangten die Grünen auch Auskunft über V-Leute des Verfassungsschutzes im Umfeld des Bombenan-schlags. Die Bundesregierung teilte daraufhin mit, dass »die Informationen der angefragten Art so sensibel [seien], dass selbst ein geringfügiges Risiko des Bekanntwerdens unter keinen Unständen hingenommen werden kann« (Bundestagsdrucksache 18/3117, S. 12). Im April 2015 kün-digten die Grünen an, vor dem Bundesverfassungsgericht auf Herausgabe aller Informationen zum Oktoberfestan-schlag zu klagen, v.a. im Hinblick auf V-Leute deutscher Geheimdienste im Umfeld des Anschlags. Laut Medienbe-richten, u.a. in Zeit-online vom 4. Januar 2015, hat auch der Generalbundesanwalt die Herausgabe bislang zurückge-haltener Akten verlangt.

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9. September 1965 26. September 1980

Erster Leopard-Panzer der Bundeswehr Die Oktoberfestbombe

3�Kampfpanzer Leopard auf dem Truppenübungsplatz Munster-lager, Lüneburger Heide, 1965.BA

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• Berlin

1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft24. April bis 25. Oktober 2015sowieHomosexualität_en26. Juni bis 1. Dezember 2015Deutsches Historisches MuseumUnter den Linden 210117 BerlinTel.: 0 30 / 20 30 40www.dhm.detäglich 10.00 bis 18.00 UhrEintritt: 8,00 Euro(unter 18 Jahren Eintritt frei)

1914–1918: Falkenstein zieht in den Krieg. Perspektiven auf den WeltenbrandMilitärhistorisches Museum Flugplatz Berlin-GatowAm Flugplatz Gatow 3314089 BerlinTel.: 0 30 / 36 87 26 91www.mhm-gatow.deDienstag bis Sonntag10.00 bis 18.00 UhrEintritt frei

• Dresden

»Die Flotte schläft im Hafen ein« –Kriegsalltag 1914/1918 in Matrosentage-büchernMilitärhistorisches Mu-seum der BundeswehrOlbrichtplatz 201099 DresdenTel.: 03 51 / 82 32 85 1www.mhmbw.de26. Juni bis vorauss. Oktober 2015Montag 10.00 bis 21.00 UhrDonnerstag bis Dienstag10.00 bis 18.00 UhrEintritt: 5,00 Euro

ermäßigt: 3,00 Euro(für Bundeswehr- Angehörige Eintritt frei)

• Friedrichshafen

Zeppelin Museum Seestraße 2288045 Friedrichshafen Tel.: 07541 / 3801-0www.zeppelin-museum.deDauerausstellungtäglich 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr

• Ingolstadt

Die Alpen im Krieg – Krieg in den Alpen. Die Anfänge der deutschen Gebirgstruppe 1915bis 27. September 2015

Napoleon und BayernBayerisches Armee-museum IngolstadtNeues Schloss85049 IngolstadtTel.: 08 41 / 88 14 94 0www.armeemuseum.debis 31. Oktober 2015täglich 9.00 bis 18.00 Uhr

• Frankfurt a.M.

Struwwelpeter wird Soldat. Der Erste Weltkrieg im KinderzimmerStruwwelpeter-MuseumSchubertstr. 2060325 Frankfurt a.M.Tel.: 0 69 / 74 79 69www.struwwelpeter- museum.debis 20. September 2015Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 UhrEintritt: 4,00 Euroermäßigt: 2,00 Euro

• Ludwigsburg

»Gerüstet für den Krieg – vorbereitet auf den Frieden«24. Mai 2015 bis 31. Januar 2016

sowieAttentat auf Hitler – Stauffenberg und mehr12. Juli bis 13. September 2015Garnisonmuseum LudwigsburgAsperger Str. 5271634 LudwigsburgTel.: 07 11 / 25 73 416www.garnisonmuseum-ludwigsburg.deMittwoch 15.00 bis 18.00 Uhr, Sonntag 13.00 bis 17.00 Uhr

• Meersburg

Zeppelinmuseum Schlossplatz 888709 Meersburg Tel.: 07 53 2 / 79 09www.zeppelinmuseum.euDauerausstellungtäglich 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr

• Neu-Isenburg

Zeppelinmuseum Kapitän-Lehmann-Str. 2 63263 Neu-Isenburg / Zeppelinheim Tel.: 0 69 / 69 59 59 78www.zeppelin- museum-zeppelinheim.deDauerausstellungFreitag 14.00 bis 17.00 Uhr Samstag, Sonntag, Feiertag 11.00 bis 17.00 Uhr

• Wustrau

Bismarck 200 – von Water loo bis FriedrichsruhBrandenburg-Preußen MuseumEichenallee 7a16818 WustrauTel.: 03 39 25 / 7 07 98www.brandenburg- preussen-museum.de26. April bis 22. November 2015täglich (außer Montag) 10.00 bis 18.00 Uhr

MilitärgeschichteZeitschrift für historische Bildung

Vorschau

Im nächsten Heft untersucht Rudolf J. Schlaffer die Führungsphilosophie der Bundeswehr im Verlauf der vergan genen 60 Jahre. Er fragt, in-wiefern die »Innere Führung« Verän-derungen unterliegt und wie das Leitbild des »Staatsbürgers in Uni-form« heute noch umgesetzt wird. Ein besonderes Augenmerk legt er hierbei auf die zahlreichen Einsätze der Bundeswehr im Ausland und de-ren Auswirkungen auf das solda-tische Grundverständnis.

Ulrich van der Heyden widmet sich dem Thema der ungesühnten Kriegs-verbrechen im Ersten Weltkrieg am Beispiel des deutschen U-Boot-Kom-mandanten Helmuth Patzig und seines Befehls, Überlebende eines versenkten Hospitalschiffes zu er-schießen. Im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg, wo Kriegsverbrecher vor alliierte Gerichte gestellt wurden, ge-schah dies bei Beschuldigten aus dem Ersten Weltkrieg nicht.

Das Bismarckbild hat sich in den letzten 100 Jahren stetig verändert. Doch wie wurde und wie wird der Reichskanzler in der Bundeswehr re-zipiert? Dieser interessanten Frage geht Christoph Nübel nach.

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Service

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Ausstellungen

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Militärgeschichte im Bild

»Zeppelin kommt!«

3�Zeppelin L 14 (Werk-Nr. LZ 46), erfolgreichstes deutsches Marineluftschiff mit 42 Aufklä-rungsfahrten und 17 Angriffs-fahrten gegen England, dabei Abwurf von 22 045 kg Bom-ben.

5�Propagandapostkarte, ca. 1915. Kinder und Kriegsspielzeug waren ein beliebtes Motiv für Bildpostkarten dieser Art.

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Am frühen Morgen des 31. Mai 1915 begann mit dem ersten Bomben-

angriff eines deutschen Luftschiffs auf die britische Hauptstadt London eine neue Ära der Kriegführung: der strate-gische Luftkrieg. Ermöglicht wurde dieses Übergreifen des Krieges auf weit hinter der Front liegende Städte durch die Konstruktionen des Luftfahrtpio-niers Ferdinand Graf von Zeppelin. Am 2. Juli 1900 hatte Graf von Zeppe-lin die erste Fahrt mit einem von ihm gebauten Luftschiff unternommen. Die militärische Führung des Deutschen Reiches und besonders Kaiser Wilhelm II. zeigten sich sehr interessiert an dem neuartigen Luftfahrzeug. 1908 wurde das dritte von Graf Zeppelin produ-zierte Luftschiff als »Z 1« für den Be-trag von zwei Millionen Mark von der preußischen Armee angekauft.

Das Luftschiff besaß in der Früh-phase der Fliegerei deutliche Vorteile gegenüber dem Flugzeug. Bei gleicher Geschwindigkeit konnten Luftschiffe deutlich höher steigen, weiter fahren, mehr Nutzlast mitführen und vor allen Dingen viel länger in der Luft bleiben. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges ver-fügte das Deutsche Reich über sieben Luftschiffe des Typs Zeppelin. Die Be-satzung der Zeppeline bestand aus je 20 Mann, die unter anderem die bis zu vier Bord-MGs bedienten, Bomben ab-warfen und Aufklärung betrieben.

Die Erfolge dieses noch neuen Kriegs-mittels fanden ihren Niederschlag auch in der patriotischen Propaganda wäh-rend des Ersten Weltkrieges. So sangen deutsche Schulkinder: »Zeppelin, flieg /

Hilf uns im Krieg / Fliege nach Enge-land / Engeland wird abgebrannt / Zeppelin, flieg«. Ein sehr verbreitetes Mittel zur Stärkung der Moral an der Heimatfront waren in großen Auflagen produzierte patriotisch-propagandis-tische Postkarten. Auf der Postkarte mit der Überschrift »Zeppelin kommt!« wird der 1915 von deutscher Seite ein-geleitete strategische Luftkrieg auf London oder den »Kriegshafen von England« zum Kinderspiel. Die Propa-ganda-Postkarte macht durch die Kin-der, die etwa unter Regenschirmen oder Stühlen Schutz suchen und furcht-sam auf den über ihnen hängenden Mi-niatur-Zeppelin schauen, allerdings recht gut deutlich, um was es bei den

deutschen Bombardements britischer Städte im Zeitraum 1915 bis 1917 ei-gentlich ging. Denn bei den nächt-lichen Angriffen auf Großbritannien waren nicht so sehr die tatsächlichen Zerstörungen von Bedeutung, sondern die erhebliche moralische und demoti-vierende Wirkung auf gegnerische Sol-daten und die Bevölkerung sowie die Bindung von Kräften durch die immer effektivere Luftverteidigung.

Von den 123 Luftschiffen, die wäh-rend des Ersten Weltkrieges auf deut-scher Seite zum Einsatz kamen, verlo-ren Heer und Marine 79, davon 40 durch Feindeinwirkung. Denn neben der zunehmend wirkungsvolleren geg-nerischen Luftabwehr führten eine Vielzahl von Unfällen zum Verlust der Luftfahrzeuge, da insbesondere die Be-füllung der aus zelloniertem Baum-wollstoff bestehenden Umhüllung mit Wasserstoffgas, das Aushallen, sowie der Start und die Landung bei schwie-rigen Wetterverhältnissen oder Dun-kelheit erhebliche Risiken aufwiesen. Im Ersten Weltkrieg fielen 450 Angehö-rige der deutschen Luftschiffeinheiten. Die hohen Verluste führten schließlich dazu, dass 1917 die Heeresluftschiff-fahrt eingestellt wurde, die Marineluft-schiffe operierten noch bis zum Kriegsende 1918.

Christian Senne

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2015

Neue Publikationen des ZMSBw

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Matthias Rogg, Kompass Militärgeschichte. Ein historischer Überblick für Einsteiger. Hrsg. vom ZMSBw, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, X, 384 S., 19,80 EuroISBN 978-3-7930-9732-7

Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Michael Epkenhans und Carmen Winkel, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, 120 S., 10 EuroISBN 978-3-7930-9729-7

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Wie Napoleon nach Waterloo kam. Eine kleine Geschichte der Befreiungskriege 1813 bis 1815. Im Auftrag des ZMSBw, Potsdam, und in Zusammenarbeit mit dem Napoleonmuseum Thurgau hrsg. von Eberhard Birk, Thorsten Loch und Peter Popp, Freiburg i.Br. u.a.: Rombach 2015; VIII, 340 S.; 24,80 EuroISBN 978-3-7930-9802-7

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Bastian Giegerich, Holger H. Herwig, Dieter H. Kollmer, John Louth, Søren

Nørby, Erwin A. Schmidl, Florian Seiller, Niklas Stenlås, Matthias Uhl und

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Freiburg i.Br.: Rombach 2015; VIII, 312 S.; 24,80 Euro

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Periphery or Contact Zone? The NATO Flanks 1961 to 2013.On behalf of Bundeswehr Centre of Military History and Social Sciences ed. by Bernd Lemke, Freiburg i.Br.: Rombach 2015 (= Neueste Militär-geschichte. Analysen und Studien, 4); 231 S.; 34,00 Euro ISBN 978-3-7930-9798-3