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Thomas Klein | Thomas Koebner (Hrsg.) Robert Altman Abschied vom Mythos Amerika Bender + Altman_C 27.03.2006 9:58 Uhr Seite 3

Robert Altman. Abschied vom Mythos Amerika

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Thomas Klein | Thomas Koebner (Hrsg.)

Robert AltmanAbschied vom Mythos Amerika

Bender

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeEin Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

Bildnachweise Titelbild: Motiv aus Short Cuts, FilmdienstInnenteil : S. 7: Deutsches Filminstitut – DIF;S. 40, 161, 194: Deutsche Kinemathek;S. 97: Filmdienst; S. 124, 132: Privatarchiv N. Grob;alle anderen Abbildungen: DVD-Prints, für dieseAusgabe: Bender-Verlag; © bei den jeweiligenRechteinhabern.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile isturheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel-fältigungen, Microverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen.

© 2006 Ventil Verlag KG, MainzISBN 3-9806528-3-1Umschlaggestaltung: Oliver SchmittSatz: Korinna TrinckaufDruck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda

Bender VerlagAugustinerstraße 18, 55116 Mainzwww.bender-verlag.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Thomas Koebner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Von Verrückten und TollhäusernEin Querschnitt durch die Filme

Norbert Grob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Bruch der Weltenlinie, Bilder der AuflösungNeun Annotationen zu Altman und New Hollywood

Margarete Wach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Zufallskombinationen im offenen Netz der LebenswegeDas episodische Erzählprinzip in Short Cuts und die Folgen

Sandra Theiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Images und die Auflösung des Realitätsprinzips

Felicitas Kleiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Gesellschaft als Albtraum: Three Women

Marcus Stiglegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133GeschichtsstundenZum Umgang mit Genrekonventionen in zwei Western

Dietmar Gaumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Private eye und MenschenfreundDie Literaturverfilmung The Long Goodbye

Ann Dettmar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Träumen und Leben – Gangsterbräute

Bernd Perplies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171Zwischen Behaglichkeit und (Mit-)LeidGratwanderungen in der Komödie

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Thomas Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Stars und Ensembles

Michael Gruteser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201The Laziest Boy in Town

Miruna Niculiu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Introducing Shelley Duvall

Andreas Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217Von Nashville nach Kansas City – Soundtracks

Thomas Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228A Prairie Home Companion

Filmografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

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Thomas Klein

Stars und Ensembles

»Für mich ist die Hauptarbeit erledigt,wenn ich das Casting abgeschlossen habe.«Robert Altman

I

Aus der Tiefe des Bildes fliegt ein Schallplattencover auf den Zuschauer zu, doch die Voice-Over-Stimme wirbt nicht für Musiker.Nacheinander werden 24 in Nashville (1975) mitwirkende Schau-spieler durch Star-Porträts und Werbeslogans vorgestellt, als handelees sich um jene Größen der country music, von denen der Film, des-sen Vorspann wir gerade sehen, erzählen will. Sie sind jedoch wederdas eine noch das andere. Viele von ihnen haben durch die Arbeit mitRobert Altman Bekanntheit erlangt, doch Berühmtheit ist ihnen ver-wehrt geblieben. Wenn es Stars sind, dann solche des New Holly-wood, eines Kinos, das sich rigoros vom Classical Hollywood Cinemaund seinem Starsystem unterscheiden wollte. Altman beginnt seinenwohl wichtigsten Film der 1970er-Jahre mit einem Coup selbstrefle-xiven Filmemachens, vermischt auf sehr geschickte Weise zwei Star-Paradigmen, das der Musik und das des Kinos. Zu einem späterenZeitpunkt der Handlung wird er das Star-Paradigma um eine Ebeneerweitern. Elliott Gould, mit dem er zuvor M*A*S*H (1970), TheLong Goodbye / Der Tod kennt keine Wiederkehr (1973) undCalifornia Split (1974) gedreht hatte, erscheint als Elliott Gould,Julie Christie, die in McCabe & Mrs. Miller (1971) mitwirkte, alsJulie Christie. Vielleicht will Altman demonstrieren, dass Filmema-cher, die mit Stars den Starrummel angreifen wollen, selbst bereitsTeil des schönen Scheins sind. Will er auf dieses grundsätzlicheDilemma des Filmemachens hinweisen oder distanziert er sich gera-de davon, weil seine Schauspieler ohnehin keine Stars jenen Kaliberssind, wie die fiktive Country-Prominenz seines Films? Nashville spielt in der Hauptstadt Tennessees, im Mekka der Coun-try-Industrie Amerikas. Im Showgeschäft angesiedelte Filme stellen

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Schauspieler gemeinhin vor die Aufgabe, den Star auf und denMenschen hinter der Bühne darzustellen, das heißt die öffentlicheund die private Person, zwei Lebensbereiche, die miteinander kolli-dieren. Einerseits ist somit der Bühnenauftritt zu spielen, die Rolledes Musikers im Augenblick seiner Profession. Wenn Altman auf denschönen Schein der Star-Kultur abzielt, ein von der Realität entrück-tes System, das dem Gesetz der Show um jeden Preis gehorcht, istdas Überspielen, die betonte Bühnenperformance in die Darstellungeinzubringen. Altmans Schauspieler zeigen perfekte Performancesder von ihnen verkörperten Musiker. Doch eine Privatsphäre scheintkaum zu existieren. Die öffentliche Person prägt sich unweigerlich in die private ein. Viele der Stars sind nicht dazu in der Lage, ihreRollen jemals abzulegen. Sie verkörpern in jeder Situation ihr Star-Image. Die Country-Ikone Haven Hamilton wird von Henry Gibsonals ein solcher Selbstdarsteller angelegt: ein Opportunist und Popu-list, am Mikro stets am Lächeln, präsentiert er seinen erwachsenenSohn in der Öffentlichkeit wie ein dem Willen des übermächtigenVaters unterworfenes Kleinkind. Von kleiner, unauffälliger Statur undnicht mit Attraktivität gesegnet, muss er seine äußere Wirkung vorallem durch glitzernde Anzüge im Elvis-Stil produzieren. Diese Kör-perlichkeit kollidiert mit der in seinem Verhalten sich ausdrückendenSouveränität und schafft mitunter groteske Momente. Als männlicherStar hat er es geschafft, fehlende Attraktivität durch seine stimm-lichen Qualitäten, ein gehöriges Maß an Aufgeblasenheit und auf-gesetzte Sicherheit bis hin zur Arroganz zu kaschieren. Ein Gegenpolzu Hamilton ist der von Keith Carradine gespielte Tom Frank. Dessenstimmliche Qualitäten werden durch ein begehrenswertes, wennauch vernachlässigtes, Äußeres komplettiert. Carradine spielt jenenTyp des jungen Musik-Stars, der wenig Rücksicht auf seinen Körpernimmt, jenes so gern zitierte intensive Leben des Stars führt, das

Elliott Gould(Mitte) als Elliott Gould inNashville (1974).

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doch nur aus Drogenkonsum und Sex besteht. Seine Attraktivitätmuss er nicht erst beweisen, er besitzt sie und die Frauen, die sich zuihm ins Bett gesellen, bestätigen ihn darin. Die weiblichen Stars in Nashville zeigen Brüche, Momente, in denen das Private in den Bühnenauftritt eindringt, damit jedochnichts überspielt, stattdessen eher offenbart wird. Wenn die psy-chisch kranke Barbara Jean für eine politische Veranstaltung auf dieBühne tritt, beginnt sie nicht zu singen, sondern von ihrer Kindheitzu erzählen. Ronee Blakley, selbst eine Sängerin, die für AltmanSongs zu Nashville schrieb und dann prompt von ihm für die Rolleder Country-Sängerin Barbara Jean besetzt wurde, spielt diesenBühnenauftritt mit beklemmender Intensität. So entrückt sie undauch andere Sänger und Sängerinnen in ihren Auftritten wirken,wenn sie geradezu in der Musik versinken, so krankhaft entrücktwirkt Barbara Jean nun, von der Realität entfremdet, auf merkwür-dige Art mit dem Publikum kommunizierend und eigentlich doch nur mit sich selbst redend. Der schöne Schein, der auf der Bühnenichts Privates, ja sogar meist wenig Persönliches erlaubt, platzt hiererschreckend auf. Jene Frauen, die zum Star werden wollen, müsseneinerseits ihre Stimme bei jeder Gelegenheit beweisen, selbst wennniemand zuhören kann (was im Prinzip auch für Männer geltenkönnte), wie Albuquerque in ihrem Auftritt während eines Autoren-nens. Barbara Harris spielt die junge Frau, die ihrem ungehobeltenEhemann wegläuft, um ein Star zu werden, mit einer interessantenMischung von Gleichgültig- und Zielstrebigkeit. In ihrem Gesichtspielt sich bemerkenswert wenig ab, als handle es sich bei der Ab-sicht berühmt zu werden nicht um einen ersehnten Wunsch, sondernum eine Normalität, die problemlos durch eine andere ersetzt wer-den kann. Während des finalen Konzerts ergreift sie sofort ihreChance, ist nur kurz perplex, als sie das Mikro in die Hand gedrücktbekommt, wird während ihrer Darbietung immer souveräner, alshabe sie ihr ganzes Leben nichts Anderes getan als vor einer Men-schenmenge zu singen und bietet den Zuschauern, in deren Gliedernnoch der Schock des Mordanschlags sitzt, das musikalische Ventil,um der Realität sogleich wieder entfliehen zu können. Andere Frau-en können nicht singen, müssen diesen Mangel mit dem Körperwettmachen, ihn im extremsten Fall nackt zu Markte tragen. So willdie gesanglich untalentierte Connie White zum Star werden. Sieglaubt ihre große Chance sei gekommen, als sie für einen Män-nerabend im Rahmen der Wahlkampagne des Präsidentschaftskan-didaten gecastet wird. Doch ihr Auftritt bringt ihr nur Selbsternied-rigung, sie wird ausgebuht wegen ihres Gesangs, umjubelt ob ihrerNacktheit. Connie White mag nicht glauben, dass sie kein Gesangs-

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talent besitzt, ferner nicht dazu in der Lage ist, den Körper dem tra-dierten Code erotischer Bewegungen gemäß zu kontrollieren. KarenBlack verkörpert eine Frau, die in ihrer Unbeholfenheit auf der Bühneimmens verletzlich wirkt. So kollidiert der schöne Schein nicht selten mit der Enttäuschungund der psychischen Zerstörung von Körper und Seele, die aus demStarruhm und dem steten Kampf um das größere Publikumsinteresseresultieren. Die Hoffnung auf Erfolg oder auf einen kurzen Momentder Teilhabe am Starruhm machen blind für die wahre Tragödie unddie Prostitution des eigenen Körpers für politische Zwecke. Die Per-sonen dieses Films sind permanent damit beschäftigt Lügen zu ver-breiten, sie belügen andere und sich selbst. Die Lüge resultiert ausder »Diskrepanz zwischen privatem und öffentlichem Verhalten, diedie Personen immer wieder korrumpiert, die wenigstens nach außenstrahlende, intakte Fassaden vorführen wollen«i. Zentral ist in die-sem Zusammenhang auch die Rolle der Politik. Die Manager-Starsder Wahlkampapagne des Präsidentschaftskandidaten instrumenta-lisieren die Country-Kultur für ihre Zwecke, produzieren ein propa-gandistisches Amalgam von politischem Kalkül und gnadenlosemMusikgeschäft. Altman sah ohnehin keinen Unterschied zwischenden Protagonisten beider Kulturen: »Country Music, Stars und Politi-ker sind in diesem Lande gleich. Ihre Hauptbeschäftigung ist die Teil-nahme an Popularitätswettbewerben.«ii

Der spezifisch inszenierte Star bei Altman, eine »Mischung aus vor-gegebener Rolle und Eigen-Spiel oder Eigen-Sein«, wodurch »dieDoppelbödigkeit des amerikanischen Erfolgslebens, das ohne Shownicht geht und mit der Show zergeht«iii besonders authentisch prä-sentiert werde, fand in Altmans fast zwanzig Jahre späterem ›Holly-wood-Comeback‹ The Player von 1992 eine Fortsetzung und ersteAnwendung auf Hollywood selbst. Ein »Film gegen das Star-Systemunter kräftiger Mithilfe der Stars«, meinte Matthias Matussek 1992im »Spiegel«. Altman schloss an den in Nashville erprobten Auftrittvon Stars in ihrer realen Rolle an. Diese Walk-On-Auftritte sind nichtmit den Cameos zu verwechseln, womit der kurze prägnante Auftritteiner Persönlichkeit in einer fiktiven Rolle, die keine nennenswerteBedeutung für den Film hat, gemeint ist. iv Walk-Ons besitzen einespezifische praktische und theoretische Relevanz für die Star-Schau-spieler, die darin besteht, dass sie für den Zuschauer auf der Lein-wand zwar sie selbst sind, sie sich selbst aber dennoch spielen müs-sen, weil sie wie alle Darsteller Teil einer fiktionalen Handlung undden für den Film bekannten Aufnahmeverfahren (Kamera, Montage)unterworfen sind. Das gilt auch für die Masse von Hollywood-Promi-

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nenz, mit der Robert Altman seinen Hauptdarsteller Tim Robbins inder Rolle des jungen Hollywood-Produzenten Griffin Mill zusammen-treffen lässt. Im Prinzip galt diese spezifische Form des Selbst-Spielsbereits für Elliott Gould und Julie Christie in Nashville. In ThePlayer wird es jedoch quantitativ ins Extrem getrieben und dadurchum eine Bedeutungsebene erweitert. Das Interagieren von Schau-spielern in der Rolle fiktionaler Figuren – Tim Robbins als GriffinMill, Peter Gallagher als Larry Levy oder auch Sydney Pollack als seinAnwalt Dick Mellen (Sydney Pollack wird 1999 in Kubricks Eyes Wide Shut eine vergleichbare Rolle erhalten) – mit Schauspielern inder Rolle ihrer selbst, macht in The Player die Bedeutungslosigkeitdes Einzelnen im Hollywood-System deutlich. Es ist eine Welt, indem nur die Star-Persona zählt. Besitzt das Rollenspiel bereits im ge-sellschaftlichen Alltag die Funktion, in wechselnden Kommunika-tionssituationen einen spezifischen Eindruck beim Interaktionspart-ner zu hinterlassen, so wird uns in The Player ein Hollywoodpräsentiert, in dem Verstellung, Täuschung und Maskerade letztend-lich immer das Ziel haben, in diesem System gegenseitiger Abhän-gigkeiten nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Während inder alltäglichen Interaktion Fehler im Verhalten nur in besonderenFällen weit reichende und ernsthafte Konsequenzen haben, führt esim Hollywood Altmans unweigerlich zum Absturz. Gerade für GriffinMill gilt noch mehr als für die Schauspieler-Stars, denen er begegnet,dass er so schnell wieder fallen kann wie er hochgekommen ist. AlsStudio-Exec spielt er eine Rolle, die zwar von großer Wichtigkeit, inder Personalität jedoch austauschbar ist. In dieser hermetischen Weltdes Scheins wird eine außerfilmische Wirklichkeit von keinem

The Player (1992):ein Film überHollywood, in demsich Hollywood-Stars – hier BurtReynolds – inWalk-On Auftrittengegenseitig dieKlinke in die Handgeben.

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erwünscht, der die Karriereleiter empor klimmen will. Dadurch wirddie ewige Dramaturgie des Hollywood-Films zur Folie für die Inter-aktionen im Hollywood-System. Es zählen die Oberfläche, die Täu-schung, die Lüge, das falsche Versprechen, Opportunismus, der Erfolg. Wer sich innerhalb dieses Rahmens bewegt, überlebt, kannsich auf ein Happy-End verlassen, vermag auch eine zwischen-menschliche Beziehung aus der Dialektik aus Angst vor dem Ver-lust des Arbeitsplatzes und Liebe zu extrahieren, wie eben GriffinMill zum Schluss des Films. Wer aus dem Rahmen herausfällt, läuftGefahr, seine Existenz aufs Spiel zu setzen, so zum Beispiel, wenndie berufliche Professionalität nicht mehr durch eine sexuelle Bezie-hung komplettiert wird und damit ein Eckpunkt des Handlungs- undErfolgsrahmens verschwindet. Cynthia Stevenson in der Rolle vonMills Mitarbeiterin Bonnie Sherow zeigt ein derartiges Abhängig-keitsverhältnis. Sie leistet hervorragende Arbeit für Griffin Mill, wirktin geschäftlichen Situationen äußerst konzentriert und ist von einer erstaunlichen Flexibilität. Als das sexuelle Verhältnis mit Griffin sichaufzulösen droht, verliert sie zunehmend die Kontrolle, sie muss,weil Griffin ihr keine anderen zeitlichen und räumlichen Gelegenhei-ten gibt, im Rahmen des Geschäftlichen das Private thematisieren.Cynthia Stevenson spielt den daraus resultierenden Stress, der zuFehlern im Privaten und im Geschäftlichen führt und Bonnie Sherowletztendlich aus dem Rennen wirft. Ohnehin ist nahezu allen Figurendie innere Spannung anzusehen, die Angst davor einen Fehler zu begehen, der sie aus dem großen Spiel bringt. Eine beängstigendeGeschäftigkeit legen sie an den Tag, stehen ständig unter Strom,selbst wenn es eigentlich keinen Grund dazu gibt.Mit einem präzisen Casting verteilt Altman seine Stars auf die fik-tiven und die real existierenden Rollen. Neben Tim Robbins undSydney Pollack agieren Schauspieler wie Peter Gallagher, Dean Stock-well und Fred Ward als fiktive Charaktere, Schauspieler, die keinenderart großen Star-Status genießen, dass sie in einer filmischen Fik-tion, die mit realen Persönlichkeiten operiert, irritieren könnten. Sie besitzen dafür oder gerade deshalb das Potential, Altmans fiktiveFiguren adäquat umsetzen zu können, wobei durchaus die jeweiligeRollengeschichte durchschimmert. So verkörperte Peter Gallagherbereits in Sex, Lies and Videotapes / Sex, Lügen und Video (1989)auf eindrucksvolle Weise den Typ des verantwortungslosen Yuppies,der keine Bedenken hat, mit der Schwester seiner Frau ins Bett zugehen. In The Player spielt er einen jungen aufsteigenden Studio-Exec (Larry Levy), der keine Skrupel kennt, mit Frauen zu schlafen,wenn dabei ein gutes Geschäft herausspringt. Er beherrscht das Kar-riere-Spiel perfekt, vermag Produzenten zu überzeugen, ohne auch

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nur die geringste Ahnung vom Film zu haben. Er weiß, wie manIdeen verkauft, eben meist im Bett oder in einer anderen, mit in demVerhandlungsgegenstand in keiner näheren Beziehung stehenden,Kommunikationssituation. Tim Robbins spielt den nur in feinenNuancen sich von Gallagher unterscheidenden Erfolgsmenschen.Sein rundliches, jugendliches Gesicht vermag Sympathie, aber auchBlasiertheit bis hin zu einer klischeehaft amerikanischen Macho-Arroganz auszudrücken. Peter Körte hat Robbins’ Spiel auf den Punktgebracht: »Robbins hält die Figur des Griffin Mill im Niemandslandzwischen Armani-Chic und Angstschweiß, Charme und Brutalität,Arroganz und Hilflosigkeit. Der Player bleibt ein flacher Charakter,dem Robbins Spiel brillant alle Tiefe verweigert.«v Somit erscheintGriffin als Außenseiter und funktionierendes Rädchen im GetriebeHollywoods zugleich. Tim Robbins, den Altman wegen seines Regie-debüts Bob Roberts (1992) sogar zum neuen Orson Welles erklärte,wird in den 1990ern mit seinen Auftritten in Short Cuts (1993) undPrêt-à-porter (1994) zu einem der wichtigsten Schauspieler RobertAltmans werden.

Für Altman waren die Stars in The Player »einfach wichtig für dieAuthentizität«, er verstand den Film als »fiktive Dokumentation«vi.Dieses Konzept ist auch hinter dem Star-Aufgebot des 1994 gedrehtenPrêt-à-porter zu vermuten. Altman selbst erklärte die prominenteBesetzung damit, dass »der Zuschauer in der Puzzle-Erzählstruk-tur eine Figur sofort identifizieren muß. Ich habe ›Ikonen‹ wie KimBasinger, Sophia Loren oder Lauren Bacall engagiert, um das Ver-ständnis der einzelnen Episoden zu erleichtern.«vii Das Spiel mit dem

Nachdem derPlayer Griffin Mill getötet hat,beginnt sein Ab-sturz, ein Absturz,der hier mit derBildsprache desFilm noir konno-tiert wird.

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Star-Paradigma in Prêt-à-porter ist jedoch subtiler, als Altman esselbst ausdrückt. Es funktioniert auf eine ähnliche Weise wie in ThePlayer. Hans Günther Pflaum: »Fiktion und Dokument überschnei-den sich, die Grenzen zwischen bloßer Anwesenheit und inszenier-tem Auftritt eines Stars werden fließend.«viii

Altman wählt eine neue, ihm aber gar nicht so fremde Star-Kulturaus, hat er doch selbst viele Jahre in Paris gelebt. Es geht um die Weltder Mode, genauer des Prêt-à-porter, der berühmten Modeschau, dieim Frühjahr und Herbst jeden Jahres stattfindet. Die Darsteller desFilms werden in ein intelligentes, hintergründiges Spiel versetzt, indem es darum geht, welche Rolle das Kostüm für die Identität einerPerson besitzt, sei sie real oder fiktiv und daher zum Mythos avan-ciert. Der Walk-On wird einerseits auf die Spitze getrieben, andererseitsvariiert. Zahlreiche Models und Stars treten in ihrer realen Rolle auf,wie zum Beispiel Claudia Schiffer, Cher oder Harry Belafonte, derspäter in Altmans Kansas City (1996) eine Hauptrolle spielen sollte.Der Walk-On kann hier in einem übertragenen Sinne gedeutet wer-den: Der Star inszeniert sich – bewusst oder unbewusst – in der Öffentlichkeit überwiegend durch das äußere Erscheinungsbild, erbefindet sich gleichsam stets auf einem cat walk, der ihn der Be-urteilung und Wertschätzung eines Publikums aussetzt. Andere Stars spielen fiktive Personen, werden jedoch dergestalt funk-tionalisiert, dass sich ihr Image in der gespielten Rolle besondersdeutlich herauskristallisiert. Es findet eine merkwürdige, fast traum-hafte Amalgamierung von fiktionaler Figur und Star statt. So erzähltdie Liebesgeschichte um Sergej und Isabella de la Fontaine auf derfiktionalen Ebene von einer unglücklich mit einem französischen Modemogul verheirateten Frau und dem Wiedersehen mit ihrem ehe-maligen Liebhaber und gleichzeitig auf einer Star-performativen vonMarcello Mastroianni und Sophia Loren, zwei Ikonen des Kinos, diemit gut einem Dutzend Filmen zum Liebespaar des italienischenFilms der 1950er- und 1960er-Jahre wurden. Die beiden Stars spielengeschickt mit unserem Wissen über ihre zum Mythos gewordene»Identität zur Ansicht« (Thomas Koebner), die Geschichten, die sichum sie gebildet haben und Teil des filmhistorischen Gedächtnissesgeworden sind. Mastroianni verkörpert den gealterten latin lover,Sophia Loren die in die Jahre gekommene Traumfrau, die sich all dieJahre ihrer unglücklichen Ehe nach wirklicher Liebe gesehnt hat. Aufder Suche nach seiner ehemaligen Geliebten muss Sergej immer wie-der die Kleidung wechseln, weil er verdächtigt wird, Olivier de laFontaine ermordet zu haben. Isabella de la Fontaine fällt es daherschwer, ihn aus der Entfernung zu identifizieren. Er muss sich in

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unmittelbarer Nähe befinden, ein Blickkontakt ist herzustellen, damitdie beiden Liebenden sich erkennen. Gerade das auf Selbstinszenie-rung ausgerichtete Kostüm schafft Anonymität. In der Menge vonPersonen, die alle im Mittelpunkt stehen wollen, ist der Einzelnenicht fokussierbar, ist die individuelle Wahrnehmung nur in der face-to-face-Interaktion möglich. Mit den Maskeraden Mastroiannis wirduns auch erzählt, dass die Star-Personae zwar viel mit dem Kostümzu tun haben, damit, wie der Körper präsentiert wird, letztendlichaber das Gesicht das entscheidende Kriterium für das Verankern desStars im kollektiven und im Gedächtnis des einzelnen Zuschauers ist.Erst als Sergej direkt vor Isabella steht und auch noch die Sonnen-brille abnimmt, erkennt sie ihn. Wenn das Paar schließlich in einemHotelzimmer landet und Loren mit einem Striptease den 1964 in derRegie von Vittorio de Sica entstandenen Gestern, heute und mor-gen zitiert, Mastroianni nach anfänglichen lustvollen Balzgeräuschenjedoch den Anstrengungen des Tages Tribut zollen muss und ein-schläft, wird der Mythos als solcher kenntlich gemacht. Das Alter desStars Mastroianni ist einer uneingeschränkten mythischen Leiden-schaft nicht mehr gewachsen.Auch die französischen Altstars Jean-Pierre Cassel und Jean Roche-fort sind mit einer diskreten Ironie inszeniert. Cassel ist von bourge-oiser Eleganz, die schnell, wie in Buñuels Le Charme discret de labourgeoisie / Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) zurDekadenz tendieren kann; Jean Rochefort mimt geradezu jene diefranzösische Lebensart widerspiegelnde Gemütlichkeit, die sich bereits in dem nahezu unbeweglichen, von dem großen Schnurrbartdominierten Gesicht ausdrückt. Fast alle Schauspieler stimmen hin-sichtlich der Nationalität und kulturellen Zugehörigkeit mit ihrer Figur überein. So verkörpert Tim Robbins als etwas ungehobelterSportreporter, den all american boy als sei er gerade erst aus dem

Prêt-à-Porter(1994): Gleich wird es zum Blick-kontakt zwischendem von MarcelloMastroianni undSophia Lorengespielten ehema-ligen Liebespaarkommen. Im Vor-dergrund: HarryBelafonte.

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College gekommen. Stephen Rea überrascht eher in der Rolle des irischen Starfotografen Milo O’Brannigan. Mit kaum zu überbieten-der Arroganz, die Augen meist hinter einer Sonnenbrille verborgen,bewegt er sich mit aufgesetzter Sicherheit durch die Welt der Stars,wirkt angewidert von dieser Welt, lebt aber zugleich in und von ihr.Richard E. Grant spielte in The Player noch einen jungen Drehbuch-autor, der sich anfangs engagiert für sein mit Hollywood-Klischeesaufräumendem Drehbuch einsetzt, letztendlich in der filmischen Fas-sung jedoch ein haarsträubendes Happy End akzeptiert. Die vorder-gründige Selbstverständlichkeit im Verteidigen eigener Ideale, findetin Prêt-à-porter eine Verlängerung, wenn er einen Modedesignergibt, der seine Liebe zu einem dunkelhäutigen Designer der alterna-tiven Szene (gespielt von Forest Whitaker), geheim zu halten ver-sucht. Beide von sich sehr überzeugten Künstler, der Drehbuchautorund der Designer, sind Exzentriker, ein Figurentyp, der sich fürGrants feminines Gesicht, das in Prêt-à-porter geradezu barock geschminkt ist, eignet. Grant entwickelt seine Figuren aber so, dassdie im Exzentrischen implizierte Abkehr vom Establishment letztend-lich nicht konsequent durchgehalten wird.

II

Altman ist ein Meister der Schauspielerregie. Scheinbar problemlosvermag er eine große Zahl von Hauptrollen in seinen Filmen zu inszenieren, ohne dass auch nur eine vernachlässigt würde, ohnedass auch nur ein Schauspieler Gefahr liefe von einem anderen andie Wand gespielt zu werden. Altman selbst sieht darin jedoch keinebesondere Leistung mehr: »Mit vielen Schauspielern zu arbeiten istgar nicht so schwierig, denn alle zusammen bauen eine große Ener-gie auf, die ich dann nur noch kanalisieren muss. Für mich ist daherdie Hauptarbeit erledigt, wenn ich das Casting abgeschlossen habe.«ix

Immer wieder stößt man auf das abschließende Statement Altmans.Wenn Hitchcock seine Filme mit dem Drehbuch für abgeschlossen erklärte und den Dreharbeiten keine große Bedeutung mehr beimaß,weil nur noch den Anweisungen des Drehbuchs gefolgt werden mus-ste, so gehört Altman zu jenen Regisseuren, die während den Dreh-arbeiten noch Änderungen am Drehbuch vornehmen. Oft hat er eserst zum Teil geschrieben bevor es zum Set geht. Dort verlässt er sichganz und gar auf die Fähigkeiten der Schauspieler. Die Arbeit des Regisseurs sieht er in dieser Phase der Filmproduktion nicht mehr alsdas Entscheidende an: »Ich glaube, dass zu diesem Zeitpunkt diekünstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten in die Hände des Schau-

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spielers übergehen. Sie sind dann das schöpferische Potential desFilms.«x Hitchcock hat sich auch auf seine Schauspieler verlassen, hatsie sorgfältig ausgewählt. Doch im Unterschied zu ihm ist Altman einVerfechter der Improvisation. Er lässt seinen Schauspielern »relativviel Freiheit, sie können ihre Ideen mit einbringen, können das tun,wozu sie Lust haben, aus schauspielerischen Konventionen ausbre-chen. Außerdem wissen sie, dass sie mir trauen können, dass ich sienicht falsch einsetze oder ins Messer laufen lasse, sondern sie die Figur spielen lasse, die zu ihnen passt.«xi Wenn man Aussagen seinerSchauspieler hört, so wird dieser Eindruck nur bestätigt. MatthewModine, der in Streamers (1983) und Short Cuts auftrat, hat in einem Interview mit dem Filmmagazin »Schnitt« betont, dass Altmandem Schauspieler die Freiheit gebe, die Rolle zunächst selbst zu inter-pretieren, ihm die inszenatorische Hilfe geradezu verweigere, um dieMöglichkeit einer unbeeinflussten Darstellung einer Figur in einemTake zu bewahren. Zuerst sei Modine dadurch verunsichert worden.Letztendlich habe es ihm aber geholfen, die Rolle anzulegen.xii FredWard meint zur Schauspielerführung Altmans: »Er gibt einem viel,aber er verlangt auch, dass man selbst viel gibt, und diese gemeinsa-me Kreativität macht die Arbeit zu einem wunderbaren Vorgang.«xiii

Jennifer Jason Leigh schwärmt gar: »Bei einem Robert-Altman-Filmfindet ein Schauspieler die befreiendste Atmosphäre vor, die man sichvorstellen kann. Man braucht nicht auf Markierungen zu achten oderdarauf, ob sich Dialoge überschneiden. Alles ist auf den Schauspielerausgerichtet, und so kann man herausfinden, wer man ist.«xiv In die-ser Aussage Jennifer Jason Leighs, die nach Short Cuts noch in Kan-sas City mit Altman zusammenarbeitete, findet sich der so wichtigeAspekt des sich überschneidenden Dialogs. California Split warder erste Film, in dem Altman mit dem 8-Spur-Verfahren arbeitete,Nashville der erste Höhepunkt dieser Technik, die es ermöglichte,»selbst Hintergrunddialoge verständlich zu machen und einen kako-phonischen Originalton zu erhalten, so komplex, wie das bisher unbekannt war«xv. Diese Verwendung des Tons scheint mir mit denvon Altman geliebten Plansequenzen untrennbar verbunden zu sein.Die Schauspieler werden dadurch stärker in ein Gesamtgeschehenvor der Kamera integriert, müssen sich durch Wechsel des Kamera-standpunktes nicht immer neu auf die Situation einstellen. Eine Kamerafahrt, wie die zu Beginn von The Player, gibt dem Schau-spieler bezüglich des Dialogs zwar Freiheiten, verlangt aber auch eine große Präzision, das Timing des Spiels muss in besonderem Maße auf die Bewegung der Kamera abgestimmt werden.Altmans Praxis scheint der bekannten These Andrej Tarkowskijs, dassder Filmschauspieler eigentlich gar kein Rollendarsteller sein dürfe,

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nahezu diametral entgegengesetzt zu sein. Während Tarkowskij die»Selbststrukturierung, die Verteilung der Akzente, der Kräfte, der Intonationen« des Filmschauspielers entschieden ablehnte und des-sen einzige Aufgabe darin sah, »zu leben und dem Regisseur zu ver-trauen«xvi, überlässt es Altman oft ganz allein dem Schauspieler, mitseinen spezifischen Mitteln und kreativem Potential der Rolle Kontu-ren zu verleihen und trotzdem einem Gesamtkonzept des Films gerecht zu werden. Deshalb kann Altman auch mit Schauspielern arbeiten, die aus ganz unterschiedlichen Schauspielertraditionenstammen, wohingegen Tarkowskij die schwierige Zusammenarbeitmit Donatas Banionis in Solaris (1972) betont, der als analytischerSchauspieler sich zu sehr mit dem Gesamtkonzept seiner Rolle be-schäftigt und damit seine Spontaneität eingeschränkt habe.xvii Alt-man scheint alle Schauspieler zu einem spontanen und eigenverant-wortlichen Ausfüllen der Rolle führen zu können. Allen Garfield, derin Nashville Barnett, den Manager Barbara Jeans spielt, war ein aktives Mitglied von Lee Strasbergs Actors Studio, wo er auch Regieführte, Matthew Modine ein Schüler Stella Adlers, die Lee Strasbergs›Method‹ entscheidend modifizierte. Lily Tomlin, die in Nashvilleihr Kinodebüt feierte, Henry Gibson und einige mehr hatten sich alsTV-Komiker bereits einen Namen gemacht bevor sie zu Altman stie-ßen. Musiker haben mit ihm gearbeitet, wie die Country-SängerinRonee Blakely, die Jazz-Interpretin Annie Ross (Tess’ Trainerin inShort Cuts) oder auch Tom Waits (Earl Piggot in Short Cuts), derallerdings durch seine Rollen bei Jarmusch bereits als Schauspieler inErscheinung getreten war. Es dürfte wohl nur wenige in der Schauspielerzunft so beliebte Film-regisseure geben wie Robert Altman. Die Tatsache, dass alle Stars inThe Player ihren gewerkschaftlichen Mindestlohn an notleidendeKünstler gespendet haben, sehe ich zwar bei Multimillionären kaumals besondere soziale Leistung, kann aber dennoch als Zeichen dafürgelten, wie sehr sie die Zusammenarbeit mit Robert Altman schät-zen. Obwohl in seinen Filmen immer wieder neue Gesichter auf-tauchen, hat Altman überwiegend mit einem festen Stamm von Schauspielern gearbeitet. In den 1970er-Jahren nannte man seineTruppe die »Repertory Company«. Damit war die »Idee der behaviorseng verbunden; so nennt Altman seine Schauspieler gern. Er meintdamit Darsteller, mit deren Möglichkeiten er vertraut ist, und derenStil und Fähigkeiten er kennt.«xviii In den 1990er-Jahren hat es Alt-man wieder geschafft ein Ensemble um sich zu versammeln, das demder 1970er-Jahre ebenbürtig ist. Waren es früher Schauspieler wieShelley Duvall, Elliott Gould, Michael Murphy und Keith Carradine,so besteht seine »Repertory Company« der 1990er-Jahre aus Tim

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Robbins, Peter Gallagher, Fred Ward, Lyle Lovett oder Lili Taylor. Mitihren Rollen in The Player und Short Cuts kehrte zudem Lily Tom-lin ins Altman-Ensemble zurück. Keith Carradine hat, bei aller Ungenauigkeit und Widersprüchlichkeitzu den anderen Statements der Schauspieler, Altmans Kunst des Cas-tings und die Befreiung von allen üblichen Zwängen des Filmschau-spielens am nachhaltigsten beschrieben: »Altman sucht nach Schau-spielern, die so gut sind, dass sie gar nicht zu spielen brauchen.«xix

III

In A Wedding / Eine Hochzeit (1978) besetzte Altman die Rolle derGroßmutter, die sich kurz nach der Hochzeit ihres Enkelkindes ent-schließt zu sterben, mit einer Ikone, die in der Tat kaum zu spielenbraucht: Lillian Gish. In D. W. Griffiths Klassikern Intolerance: Love’s Sruggle Through the Ages / Intoleranz (1916) und TheBirth of a Nation / Die Geburt einer Nation (1915) gelangte sie zuStarruhm. Auch in Tonfilmen wirkte sie noch mit, so in King VidorsDuel in the Sun / Duell in der Sonne (1947) oder Charles Laugh-tons The Night of the Hunter / Die Nacht des Jägers (1955). WieAltman es selbst in Bezug auf andere Filme erklärte, hat der Starauch in diesem Fall die Funktion, die Figur und deren Bedeutung inder Handlung nachvollziehbarer zu machen, indem eine große alteDame des Films die große alte Dame einer großbürgerlichen Familiespielt, der im Tod jedoch nicht der Respekt gezollt wird, der ihr zu-kommen müsste. Die Hochzeitsfeier wird fortgesetzt, der Tod unterden Tisch gekehrt, weil er bei dieser Feier nichts verloren hat. LillianGish spielt eine zunächst noch durchaus rüstig wirkende Frau, diedann sehr plötzlich und überraschend entschläft. Wenn Familienmit-glieder nacheinander von dem Todesfall erfahren, zu dem Bett derGestorbenen treten, und wir das leichenblasse, bewegungslose Ge-sicht Lillian Gishs wiederholt gezeigt bekommen, will ich trotz desdamit verbundenen Sarkasmus Gishs Spiel als extremes Unterspielenbezeichnen und es damit in einen auffälligen Gegensatz zu ihrerStummfilmzeit stellen, wo auch ihr Spiel noch von ausladender Ge-stik und Mimik geprägt war, weil Worte durch die Körperlichkeit mitausgedrückt werden mussten.Altmans Hochzeitsfeier bewegt sich zwischen jenen Filmen, die imShowgeschäft spielen und den dezidiert sozialen Dramen der 1970er-Jahre wie Images / Spiegelbilder (1972) oder Three Women / DreiFrauen (1977). Altman zeigt gleichsam eine Show des sozialen Ritu-als, Anlass, Gelegenheit und Zwang für die Protagonisten sich als

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Subjekte allgemeiner Aufmerksamkeit zu inszenieren. Das ästhetisch-gesellschaftskritische Konzept hinter den Porträts von sage undschreibe 48 Hauptfiguren bringt Hans Günther Pflaum auf den Punktund bezeichnet damit auch eine zentrale Aufgabe der Schauspieler:»Altmans Aggressivität besteht auch in der Wahl seiner Mittel, diedem Zuschauer eine quasi-dokumentarische Methode suggeriert, alsstünde ein hellhörig böser Gesellschaftsreporter, über viele versteckteKameras herrschend, vor einer Reihe von Monitoren am Regiepultund wählte sich unentwegt neue Gesichter, Geschichten, Auftritte undKatastrophen aus, in denen regelmäßig neue mit bereits aus anderenKonflikten bekannten Personen zusammentreffen und nicht ihr Gesicht, sondern ihre Maske verlieren, hinter der dann ein Gesichtauftaucht. In der Demaskierung erscheinen keine Fratzen, sondernMenschen mit Fehlern und Makeln, mit Defekten und Wunden.«xx

Dergestalt sind Personen zu verkörpern, die sich einerseits dem offi-ziellen Anlass der Hochzeit gemäß verhalten, andererseits immer wie-der Gefahr laufen, aus diesem Rahmen auszubrechen, weil besonderezusätzliche Umstände sie dazu zwingen. Wem wir hier begegnen, istgeradezu der ›Goffmensch‹ (im Sinne des Soziologen Erving Gof-man), der eine bestimmte gesellschaftliche Rolle zu spielen hat, dieseaber immer wieder auf neue Situationen abstimmen muss; Personen,die ihre Rolle allzu verbissen durchzuziehen versuchen, andere wiede-rum, die auf die ihnen zugetragene gesellschaftliche Rolle pfeifen.

A Wedding (1978):Florence Farmeer(Lauren Hutton)mit ihrem Film-team mitten imChaos einer ame-rikanischen Hoch-zeit.

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Zu zahlreich und komplex sind die Personen und schauspielerischenLeistungen, um wirklich angemessen auf sie eingehen zu können.Nur einige wenige seien herausgegriffen. Wie ein roter Faden undgleichsam als running gag ziehen sich die Reaktionen auf den Tod derGroßmutter durch die Handlung. Da ist die verzweifelte fast hysteri-sche Reaktion der Pflegerin (Beverly Ross), die sich in ihrem Berufzum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert sieht, die Reaktion desSchwiegersohns (Vittorio Gassman), der aufgebracht ist, weil er implötzlichen Sterben ein vorsätzliches bösartiges Handeln vermutet.Clarice Sloan (Virginia Vestoff) wiederum erfährt gerade, dass ihreMutter gestorben ist, bekommt dann aber von ihrer Schwester Antoi-nette (Dina Merrill), die von der Wahrheit noch nichts weiß, mitge-teilt, der Mutter gehe es gut. Clarice Sloans Gesicht entgleist nur mitden Augen ob dieser verwirrenden Situation, aber so, dass es Antoi-nette nicht bemerkt. Als dann Tulip Brenner (Carol Burnett), dieMutter der Braut hinzutritt und im Stil des Small Talks wieder vonNattie Sloan die Rede ist und wie man sich fühlte, wenn man in frü-hen Jahren die Mutter verliert, bekommen wir ein beispielhaftesSpiel mit Requisiten geboten. Alle drei Frauen haben ein Glas mitChampagner in der Hand. Virginia Vestoff spielt nun die Verwirrung,indem sie nervös mit den Fingern an dem Glas spielt, sich wie hilfe-suchend umschaut, den Mund öffnet, als wolle sie die Wahrheit aus-sprechen und dann doch nur an dem Champagner nippt. Nahezu alle Reaktionen auf preisgegebene Geheimnisse und neue Informationen werden mal mit einer dezenten, mal mit einer slap-stickhaften Komik gespielt. Hierbei zeigen sich auch kulturelle Eigen-arten im gesellschaftlichen Verhalten und im Kinohumor. So spieltVittorio Gassman Luigi Corelli, den Vater des Bräutigams, weitge-hend mit italienischem Stolz auf die Familie. Die relative Ruhe kannaber schnell in einen typisch italienischen Temperamentsausbruchumschlagen, so zum Beispiel, wenn sein Bruder überraschend ausItalien auftaucht. Italienische Wortkaskaden brechen hervor, beglei-tet von einer ausladenden Gestik, die zunächst noch den Vorwurfausdrücken, um sofort in eine Körpersprache der Freundschaft um-zuschlagen, als er erfährt, dass mit dem Tod der Schwiegermutter seine italienische Familie endlich Zutritt ins Haus erhält. Paul Dooleygibt den amerikanischen Widerpart. Sein Snooks Brenner verziehtselten eine Miene, ein grimmiges, faltiges Gesicht, das an einen Bern-hardiner erinnert. Als er erfährt, dass seine ihm etwas zu nahe ste-hende Tochter Buffy ein Kind vom Bräutigam Dino erwartet, ändertsich daher auffällig wenig in seinem Verhalten. Altman scheut sichnicht, seine Schauspieler auch das ein oder andere Klischee spielenzu lassen. Doch das Ineinander-Übergehen von wahrhaft gespielten

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Emotionen und verschiedenen Formen des komischen Spiels schaffenMomente von sanfter Absurdität und Irritation, Momente, die an dieZeichentrickserie The Simpsons (1989) erinnern. Zwei bedeutende Schauspielerinnen sollen nicht unerwähnt bleiben:Mia Farrow und Geraldine Chaplin. Mia Farrow spielt eine apathischwirkende, mit einer gespenstischen juvenilen Sexualität ausgestatte-te Frau, die letztendlich wie ein Geist der jungfräulichen Sittenlosig-keit durch den Film schwebt. Ihre Rolle in Rosemary’s Baby (1968)klingt da zweifellos nach. Geraldine Chaplins ZeremonienmeisterinRota Billingsley erinnert an ihre Rolle der Opal in Nashville. HansGünter Pflaum schafft unbewusst eine Verbindung zwischen beidenRollen, wenn er von der Perspektive des Gesellschaftsreportersspricht. Opal will ein Übermaß an Informationen über die Welt derCountry-Stars einheimsen und glaubt damit, diese Welt journalis-tisch zu erfassen und zu kontrollieren; Rota Billingsley ist die rasen-de, übereifrige Organisatorin der Hochzeitsfeier, auch sie kontrolliertletztendlich nur sehr wenig, weil ihr Engagement das der Hochzeits-gesellschaft um Längen übersteigt.

In dem vier Jahre nach The Player entstandenen Short Cuts hatAltman sich wieder an ein gigantisches Kaleidoskop menschlicherInteraktionen herangewagt. Das Showgeschäft spielt diesmal nur eine periphere Rolle, es sind Personen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus und Berufszweigen, deren Problemen wir begegnen,gespielt allerdings von einer beispiellosen, doch für Altman gewohn-ten Starbesetzung. Tim Robbins spielt den Polizisten Gene Shepard. Seine drei Kindersind enervierend, der Hund erst recht, die Ehefrau interessiert ihnauch nicht mehr, also geht er fremd und will sich gar scheiden lassen.Als Bediensteter des staatlichen Kontrollorgans legt er auffällig we-nig Selbstkontrolle an den Tag, er verschläft bei seiner Geliebten, erflucht immerzu, auch das Gesicht entgleitet ihm sehr schnell zu Gri-massen, wenn er in Rage gerät oder sich irgend etwas seiner Kon-trolle entzieht. Robbins spielt in diesem Film alle Eigenschaften sei-ner äußeren Erscheinung aus, die zum Unsympathischen tendieren.Einer seiner Höhepunkte ist ein geradezu akrobatisches Spiel mit einem Zahnstocher, den er im Mund in alle Positionen zu bringenvermag. Es bleibt aber nicht bei dieser körperlichen Virtuosität, Rob-bins schafft es damit den dieser Figur eigenen Gestus – ein Möchte-gern-Macho, der nichts unversucht lässt dieser Rolle zu entsprechen,dabei aber mitunter lächerlich wirkt – zu unterstreichen. Stormy Weathers (!), in einem gewissen Sinne Robbins Gegenspieler, wirdvon Peter Gallagher gespielt. Es ist Weathers Frau, mit der Shepard

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fremdgeht. Weathers irrationale Reaktion auf das Ende seiner Ehe –er zerstört das Interieur der Wohnung mit einer Kettensäge und zer-schneidet die Kleider seiner Frau mit einer Schere – bringt etwas andie Oberfläche, was Peter Gallagher latent zu verkörpern scheint: ImUnterschied zu Robbins kann Gallagher auf abstoßende Weise einen abstrus gewalttätigen Kontrollverlust spielen. Er gibt sich souverän,hochnäsig und auf widerwärtige Weise selbstzufrieden so lange erHerr der Lage ist. Verliert er sie aber, so rastet er aus. Dies spielt Gal-lagher interessanterweise aber nicht in Form eines Wutausbruchs.Altman hätte ihn ja auch die Wohnung wie einen Berserker in kurzerZeit zerstören lassen können. Doch dem Tempo des Films, das sichan der Jazz-Musik orientiert, ist die langsame Geschwindigkeit, dieGeduld im Handeln passender. Gallagher agiert mit einer erschre-ckenden Langsamkeit und Genüsslichkeit, gerade wenn er die Unter-wäsche seiner Frau zerschneidet. Im Moment des für sein Leben wohlentscheidenden Handelns wird er bedrohlich langsam, der Verlustder Vernunft zeigt sich bereits in der Verlangsamung der Körpermo-torik.Fast Entgegengesetztes beobachten wir bei Jerry Kaiser, gespielt vonChris Penn, dessen allgemeiner Bewegungsduktus seinem korpulen-ten Körper gemäß träge ausfällt und der am Ende des Films plötzlichSchnelligkeit entwickelt. In einem kurzen Anfall, einem sekunden-kurzen Kontrollverlust, erschlägt er eine Frau. Die Frustration übersein Leben, darüber, dass seine Frau Telefonsex betreibt, während siesich um ihre Kinder kümmert, hatte schon in dem Moment, als er siefragt, warum ihr Sexualleben nicht durch die Vokabeln, die sie amTelefon fremden Männern gegenüber verwendet, aufgefrischt wer-den könne, einen entscheidenden Bruch erlitten. In dem Momentdeutet sich schon an, dass er Realitätsebenen, Verhaltensrahmungennicht zu trennen in der Lage ist. Seine Frau Lois spielt Jennifer Jason

»Your cock isgonna be so big in my mouth«,haucht Lois insTelefon. JenniferJason Leigh zwi-schen Mutterschaftund Telefonsex inShort Cuts (1993).

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Leigh, eine Schauspielerin, die schon mehrmals Frauen verkörperthat, die in besonders extremer Weise an ihre existentiellen Grenzenstoßen, Frauenfiguren, die geradezu selbstzerstörerische Züge tra-gen. Man erinnere sich nur an ihre Rolle in Uli Edels Last ExitBrooklyn / Letzte Ausfahrt Brooklyn (1989). In der Rolle der Lois Kaiser gelingt ihr ein eindrucksvolles Spiel im Spiel, sie verbin-det zwei Handlungsrahmen, die eigentlich unvereinbar scheinen: siefüttert, wickelt, versorgt ihre Kinder, während sie am Telefon Männergeil macht. Auf der sprachlichen Ebene findet gleichsam eine andereKommunikationssituation als auf der gestischen Ebene statt. Das Gesicht bleibt dabei eher neutral. Es wird lediglich für Geräusche benutzt, wie z. B. das Hin-und-her-Bewegen des Fingers im Mund,wodurch der Laut der oralen »Penetration« des Penis simuliert wer-den soll. Jennifer Jason Leigh muss etwas immens Schwieriges spie-len, sie muss zeigen, dass im Kopf zwei völlig verschiedene Situatio-nen kombiniert werden und auf bestimmte Regionen, Organe desKörpers verteilt werden können. Es handelt sich um eine Art Schi-zophrenie des körperlichen Ausdrucks.Lois kann die Reaktion ihres Mannes nicht verstehen, als er sie dar-auf anspricht, warum sie die obszönen Wörter nicht auch in den ent-sprechenden Situationen in ihrer beider Beziehung verwendet. DieSprache und ihre Artikulation ist für sie selbstverständlich trennbarvon kinetischen Handlungen, beide Rollen sind nicht nur separatspielbar, sondern die Sprache der Anmache ist nur beruflicher Slang,hat demnach nichts im Privatleben zu suchen. Es ist die Verbindungzweier sozialer Rollen, eine unproblematische Kombination kommu-nikativer Codes, von denen der eine reinen Zweckwert besitzt. DieAnmache am Telefon ist Beruf, ist Geschäft. Damit gelingt es Altmanund Jennifer Jason Leigh auf das Problem der unbezahlten Hausar-beit und Arbeit als Mutter ›anzuspielen‹: Die Frau tätigt die unvergü-

Jack LemmonsStar-Performancein Short Cuts(1993).

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tete Erziehungsarbeit gleichzeitig mit der Rolle, die gerne an die Frau herangetragen wird, die der Hure, die die Lust des Mannes zubefriedigen hat – beim Telefonsex eher zu stimulieren –, die aber ab-surderweise ebenfalls nicht von der patriarchal strukturierten Gesell-schaft sanktioniert wird, d. h. nicht offiziell als Erwerbsarbeit gilt.Vergleichbar dem Auftritt Lillian Gishs in A Wedding hat Jack Lem-mon in Short Cuts eine Rolle, die zwischen psychologischem Schau-spielen und Star-Performance pendelt. Bereits Jack Lemmons ersteSzene zeigt die Anlage seiner Figur des Paul Finnigan. Er steht an derRezeption des Krankenhauses, in dem sein Enkelkind wegen einesAutounfalls liegt. Die von Anne Archer gespielte Claire Kane tritt inihrem Clownskostüm neben ihn. Sie will zur Kinderstation. Promptführt Finnigan ihr einen Trick mit einem Ei und zwei Schnapsgläsernvor. Sie reagiert mit der abfälligen Bemerkung, dass sich dieser Trickwohl nur für Bars eigne und geht. Konsterniert blickt Lemmon/Fin-nigan ihr hinterher. Es ist dieses Unverständnis darüber, dass seinHumor nicht automatisch bei jedem Zeitgenossen ankommt, dasLemmons Figurenkonzeption auszeichnet. Lemmon begleitet dieseMomente, wenn Finnigan witzig sein will, mit seinem bekanntenbreiten Grinsen, das die Underdogfiguren seiner Karriere (vor allemThe Appartment / Das Appartment, 1960) so bemitleidenswert undsympathisch machte, weil es eine Hilflosigkeit ausdrückte, die denstarken Männern der Leistungsgesellschaft entgegengesetzt war. Hierfunktioniert der Gestus dieses spezifischen Tragikomikers nicht, weiler fehl am Platze ist. In der Begegnung mit seinem Sohn zeigt sichdie zweite wesentliche Eigenschaft von Lemmons Figur, die mit derersten eng verbunden ist: die Ignoranz gegenüber den extremen Gefühlen Howards, dessen Sohn schwer verletzt ist. Lemmon spieltvirtuos die Hilflosigkeit im Verhalten des Vaters, der seinen Sohnschon so lange nicht mehr gesehen hat, dass Howards Frau ihn nichtkennt. Lemmons Grinsen wirkt nun mehr und mehr gequält, der Aus-druck eines alten Mannes, der erkennen muss, dass er viel falschgemacht hat, aber nichts mehr gut machen kann.»Es ist wirklich ein Schauspieler-Film, es ist eine darstellerische Erfahrung. Jede dieser Figuren hat im Film einen sehr ernsthaftenHöhepunkt, und ich wollte unbedingt, daß sie diese Momente haben«,xxi kommentierte Altman. Short Cuts zeichnet sich wie soviele seiner vorherigen Werke durch ein brillantes Casting aus. DerFilm ist geradezu übervölkert mit Stars, die bereits in The Player inden fiktiven Rollen mitgewirkt haben – Tim Robbins, Peter Gallagher,Fred Ward – Stars, die bei genauerem Hinsehen darüber hinaus eineÜbereinstimmung aufweisen, die für den Film von zentraler Bedeu-tung ist. Die genannten sowie Matthew Modine, Lily Tomlin, Jenni-

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fer Jason Leigh, Julianne Moore oder Tom Waits, um nur wenige zunennen, stehen für den anspruchsvollen amerikanischen oder an-spruchsvollen Hollywoodfilm. Sie alle sind Stars, die genau das zumAusdruck bringen, was Wenders in Bezug auf Nashville als »Art von›Normalität‹, eben nicht der von ausgesuchten Schauspielern, wieman es sonst in Filmen nur in Einzelfällen erlebt«xxii bezeichnete.Short Cuts ist in der Tat ein virtuoser Schauspielerfilm, der den alten Ensemblegedanken des Theaters für den Film in die Gegenwartzurückholt. So kam es zu dem einzigartigen Fall, dass die Schau-spielerriege bei den 50. Filmfestspielen in Venedig den Spezialpreis»Coppa Volpi« für das beste Schauspielerensemble erhielt.

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Anmerkungen

i Hans Günther Pflaum: Nashville.In: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte(Hrsg.): Robert Altman. Reihe Film25. München: 1981, S. 129.

ii Zit. nach dem deutschen Presse-heft des Verleihs von Nashville.

iii Heinz Ungureit: Robert Altman.In Peter W. Jansen / Wolfram Schütte(Hrsg.): New Hollywood. Reihe Film10. München: 1976, S. 78.

iv Hitchcocks Auftritte in seinen Filmen sind die wohl berühmtestenCameos.

v Frankfurter Rundschau,02.07.1992.

vi Interview im Münchner Merkur,27./28.6.1992.

vii Interview mit Marcus Rothe, TIP 7/95, S. 38.

viii Hans Günther Pflaum. In: Süddeutsche Zeitung, 30.03.1995.

ix Interview mit Marcus Rothe, TIP 7/95, S. 38.

x Interview in Rheinische Post Düsseldorf, 21.7.1992.

xi Interview mit Margret Köhler. In: Zoom, Januar 1994, S. 23.

xii Vgl. Schnitt 4/99, S. 49.

xiii Zit. nach dem deutschen Presse-heft des Verleihs von Short Cuts.

xiv Ebenda.

xv Wim Wenders. In: Die Zeit,21.5.1976.

xvi Andrej Tarkowskij: Die versiegelteZeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Frank-furt am Main, Berlin: 1991, S. 150.

xvii Vgl. ebenda, S. 154.

xviii Judith M. Kass: Ein amerika-nischer Neuerer. In: Peter W. Jansen /Wolfram Schütte (Hrsg.): Robert Altman. Reihe Film 25. München:1981, S. 10.

xix Zit. nach dem deutschen Presse-heft des Verleihs von Nashville.

xx Hans Günther Pflaum: A Wedding. In: Peter W. Jansen /Wolfram Schütte (Hrsg.): Robert Altman. Reihe Film 25. München:1981, S. 148.

xxi Zit. nach dem deutschen Presse-heft des Verleihs von Short Cuts.

xxii Wim Wenders. In: Die Zeit,21.5.1976.

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Thomas Klein

A Prairie Home Companion

Eine Weisheit besagt, ein Regisseur solle jeden neuen Film so gutmachen, als sei es sein letzter. Robert Altman hat einen neuen Filmgemacht, der die Weisheit in die Praxis umsetzt. Wie in vielen seinerletzten Filme verbindet sich das Heitere mit dem Tragischen. Diebissige Gesellschaftssatire, die seine großen Filme ausgezeichnet hat,ist von versöhnlicher Ironie abgelöst worden. A Prairie Home Com-panion erweckt jedoch zusätzlich den Eindruck eines Fazits – einesAbschieds? Mit der Radioshow »A Prairie Home Companion«, die tatsächlichexistiert und seit der ersten Sendung 1974 von Garrison Keillor – derdie Show auch entwickelt und das Drehbuch zu Altmans Film ge-schrieben hat – moderiert wird, hat Altman ein Sujet gewählt, dasihm zugute kommt, denn der spezifische Umgang mit dem Ton isteines seiner Markenzeichen. Mit M*A*S*H und den allgegenwärtigenLautsprechern, deren permanenter Output aus Musik, Kommentaren,Durchsagen und Ankündigungen Film und Hörfunk intermedial ver-knüpft, fing 1969 alles an. Fünf Jahre später in Nashville perfek-tionierte Altman seine eigentümliche Handhabung des Originaltons.Die Mehrspurtechnik ermöglichte es ihm, Dialoge bis zur Verständ-nislosigkeit sich überlappen zu lassen und Stimmen und Geräuschezu einem polyphonen Konzert zu vereinigen. Und die Musik, die ihmzuvor schon außerordentlich wichtig war, wurde in die Handlungintegriert. Es ist die Industrie der Countrymusik, die Nashville mitSarkasmus als bisweilen ebenso korrupt und verlogen wie die Politikbloßlegte. Auch in A Prairie Home Companion ist viel Country & WesternMusik zu hören. Doch sind es nicht erzkonservative, patriotischeHymnen wie in Nashville. Es sind Songs, die vom Leben erzählen,nie pathetisch, vielmehr das Besondere im scheinbar Unbedeutendensuchend. Dargeboten werden sie nicht nur für die Radiohörer. »A Prairie Home Companion« ist eine Live-Show und infolgedessensehen wir auch einen Konzertfilm. Altman inszeniert die Gesangsauf-tritte der Johnson-Schwestern (Meryl Streep und Lily Tomlin), vonDusty und Lefty (Woody Harrelson und John C. Reilly) und all den

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anderen in einer Weise, die an Martin Scorseses The Last Waltz(1978) erinnert. »Seine Inszenierungsweise führt … nicht zu einerIdolisierung der Musiker, sondern im Gegenteil zu ihrer Vermensch-lichung, und nicht zuletzt sehen wir auf dieser Bühne Menschen zu,die alt geworden sind«, schreibt Georg Seeßlen über Scorseses Kon-zertfilm. Dies trifft auch auf A Prairie Home Companion zu, zumalauf die Inszenierung von Meryl Streep und Lily Tomlin. Die erste isteine der bedeutendsten Schauspielerinnen ihrer Generation, die bis-her nie mit Altman gearbeitet hat. Die zweite hat in Nashville undShort Cuts, also seinen vielleicht wichtigsten Filmen mitgewirkt. Es sind zwei in die Jahre gekommene Grande Dames des amerikani-schen Showgeschäfts, denen Altman mit seiner liebevollen Inszenie-rung Ehre erweist. Meryls Streeps Gesangstalent ist beachtlich, ohnedamit die Leistung Lily Tomlins schmälern zu wollen.Neben den Gesangsnummern spielt der Ton auch in anderer Formeine Rolle. Da wären zum einen die von Garrison Keillor vorgetra-genen Werbejingles zu erfundenen Produkten und vor allem impro-visierte Dialoge, vor oder auch während der Songs. Einmal kommt eszu einem Wort- und Tonwechsel zwischen Meryl Streep, Lily Tomlin,Garrison Keillor und dem auf der Bühne anwesenden Tonmann. Letz-terer muss die Geräusche für eine Geschichte herbeisteuern, die vonden anderen entwickelt wird. Die Geschichte wird immer abstruserund verfolgt sichtbar den Zweck, den Tonmann auf die Probe zu stel-len. Der wird ziemlich in die Enge getrieben, aber er gibt sein Bestes.Abgesehen davon, dass die Szene irrsinnig gut gespielt und ebenso

Garrison Keillor,Meryl Streep,Lindsay Lohan

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komisch ist, ist sie nicht zuletzt auch deswegen interessant, weilsichtbar gemacht wird, wie Ton nicht nur auf der Bühne, sondernauch im Film entsteht. In Nashville sind die Songs oft verankert in der Situation, in denensie gerade dargeboten werden. Dadurch entstehen Ambivalenzen,vor allem zum Schluss, wenn die Floskel »The Show must go on«bitterböse kommentiert wird, indem die junge Sängerin Albuquerquenach dem Attentat auf einen Star ihre Chance ergreift und einenebenso ergreifenden wie für diesen Moment fragwürdigen Songdarbietet. In A Prairie Home Companion zeichnen sich die Songsnicht mehr durch Ambivalenzen aus, sondern dadurch, dass sie vonden Interpreten selbst erzählen. Der amerikanische Traum wird nichtbezweifelt, er wird ausgeblendet. Wenn hier davon die Rede ist, dieShow müsse weitergehen, dann deshalb, weil alle ihre Arbeit liebenso wie Altman das Filmemachen. Wenn die Tochter Yolanda Johnsonsam Ende ihre Chance bekommt und auch ergreift, ist die Showdanach dennoch zu Ende und die junge Frau wird, wie wir spätersehen, einen ganz anderen Beruf ergreifen. Und wenn ein alter Coun-try-Sänger nach seinem Auftritt stirbt, wird die Sendung dessen un-geachtet fortgesetzt. Ihn trifft nicht der Schuss eines Attentäters, erentschläft sanft in seiner Garderobe. Ein schöner, friedlicher Tod. Indes ist es diese Gegenwärtigkeit des Todes, des Abschied-Nehmens,kombiniert mit zahlreichen Anspielungen auf Altmans Werk undeinem raffinierten Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, die jenes ein-gangs erwähnte Gefühl erzeugt, Altman habe diesen Film als Testa-ment konzipiert. Unabhängig davon, was in Keillors Drehbuch bereitsvorgesehen war, bevor er sich mit Altman traf: Die Anspielungen undParallelen sind mehr als offensichtlich. Neben den Bezügen zu Nash-ville springt mit Guy Noir der Bezug zu The Long Good-Bye / DerTod kennt keine Wiederkehr (1973) ins Auge. Tappte schon ElliotGoulds Marlowe meist im Dunkeln, so wird dies von Kevin KlinesGuy Noir auf die Spitze getrieben. Sein detektivisches Gespür ist nurBehauptung. Er ist sozusagen die Comic-Variante der Detektivfigur.Die Cowboys Dusty und Lefty stellen den Bezug zu Altmans Western-Variationen her, wobei auch auf Woody Harrelsons Big Boy inStephen Frears The Hi-Lo Country (1998) verwiesen wird. Ihrengroßen Auftritt haben die beiden, als sie in einen Song eingebautderbe Witze zum Besten geben, die den Stage Manager hinter derBühne zur Weißglut treiben. Leider wird die sprachliche Raffinesseder Witze in der deutschen Synchronfassung vermutlich auf der Stre-cke bleiben.Andere Merkmale hinterlassen eine wehmütige Wirkung. Der Filmerzählt von den wenigen Stunden der letzten Sendung. Alle Beteilig-

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ten an der Show bedauern dies zutiefst. Selbst der von Tommy LeeJones gespielte Vertreter der texanischen Rundfunkbehörde, derwährend der Sendung, deren Absetzung er in die Wege leiten soll,auftaucht, verfolgt die letzten Nummern auf der Bühne mit einemwehmütigen Blick. Für alle geht mit der Radioshow ein wichtiger Teil ihres Lebens zu Ende. Ein schöner Todesengel (Virginia Madsen)geistert durch die Räume backstage und nimmt einen alten weiß-haarigen Barden mit ins Jenseits. Wer die »lavender blonde« zu se-hen in der Lage ist, hofft, dies sei kein Zeichen für sein bevorstehen-des Ableben. Als erster sieht sie Guy Noir. Dem Todesengel geht dereitle Möchtegern-Detektiv nicht aus dem Weg – was er besser tunsollte – sondern steigt der geheimnisvollen Frau nach, sogar durchdie Kulissen im Bühnenhintergrund. Mit Guy Noir in einer EdwardHopper-Bar und seiner Voice-Over beginnt der Film auch. Am Ende,seit der Absetzung der Sendung ist wohl einige Zeit vergangen, fin-den sich einige der Protagonisten in dieser Bar zusammen. Vorsichtigwerden Pläne für die Zukunft geschmiedet. Die beiden Cowboyskommen hinzu und die Idee, eine kleine Tour zu starten, nimmt mehrund mehr Gestalt an. Es soll weitergehen, denn das Showgeschäft istnun einmal ihr Leben. Da erscheint erneut der Todesengel, blickt zu-nächst liebevoll von draußen durchs Fenster auf die Versammelten.Er tritt ein und erntet Blicke, denen man die Bitte ablesen kann, derKelch möge noch einmal an ihnen vorübergehen. Von diesem bezaubernden Todesengel besucht zu werden kann mansich nur wünschen, doch hoffentlich verschont er Altman vorerstnoch. Denn mit A Prairie Home Companion hat Altman wiedereinen Mikrokosmos gefunden, mit dem es ihm gelingt, so tiefsinnigund elegant wie selten in den letzten zehn Jahren eine Geschichteüber Amerika und seine Bewohner zu erzählen.

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