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Manuscript version of Heinz L. Kretzenbacher. 2011. Platons Pulcinell. Reinhard P.
Grubers Zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte in der Tradition der antipoetischen Polemik. In: Bartens, Daniela / Fuchs, Gerhard (Hgg.). Reinhard P. Gruber. Graz: Droschl (Dossier; 30), 115-131.
1
Heinz L. Kretzenbacher
Platons Pulcinell.
Reinhard P. Grubers Zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte in der Tradition der
antipoetischen Polemik
O poeta é um fingidor. / Finge tão completamente /
Que chega a fingir que é dor / A dor que deveras sente. (Fernando Pessoa 1929)
Der Dichter macht uns etwas vor: / So weit treibt er sein Spiel, /
Daß Kummer, den er wirklich fühlt, / Gespielter Kummer wird.
(ins Deutsche „übergesetzt“ von Paul Celan 1954)
Kunst ist das, worüber man lügen kann, bis alle glauben,
dass man die Wahrheit sagt. (Lady Gaga 2011)1
Reinhard P. Gruber gehört zugleich zu den populärsten und zu den am wenigsten
literaturwissenschaftlich analysierten Gegenwartsschriftstellern deutscher Sprache. In der
Steiermark besitzt er längst Kultstatus weit über die Kreise hinaus, die gewöhnlich
experimentelle Gegenwartsliteratur konsumieren, und für seinen Hausverlag Droschl ist er
„mit Abstand der finanziell erfolgreichste Autor“ und wird dafür mit der seltenen Ehre einer
Werkausgabe zu Lebzeiten bedacht.2 Zugleich wird er von der germanistischen
Literaturwissenschaft weitgehend geflissentlich übersehen, höchstens als Vertreter einer
satirischen österreichischen Heimatliteratur betrachtet und ansonsten in den Schatten
typischerer GermanistInnenlieblinge unter seinen Grazer Gruppe-KollegInnen gestellt. Es
bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Band diesen Zustand beendet, aber soweit ich bisher
sehe, fehlt in der mir bibliographisch zugänglichen Literatur jede ernsthafte
Auseinandersetzung mit Grubers so kühnen wie (im Lichtenbergschen Sinn des 18.
Jahrhunderts) witzigen literarischen Gegenentwürfen, von seiner ouliopoesken Antwort auf
Oswald Wieners selbstverliebt-bedeutungsschwangere verbesserung von mitteleuropa, roman
aus den 60er Jahren in seinem Alles über Windmühlen, Essay (Erstveröffentlichung 1971)
über das Abwatschen der vor Selbstmitleid triefenden Väterliteratur der späten 70er Jahre in
Im Namen des Vaters. Roman in Fortsetzungen (1979) und die spielerische Erneuerung der
literarisch-ironischen Parabase3 literarischer Figuren von Christian Dietrich Grabbe bis zu
Andrej Sinjawskis Heteronym Abram Terz in Die grüne Madonna (1982) bis hin zu Grubers
jüngsten Veröffentlichungen.
Vielleicht hängt ja das eine (Grubers Vernachlässigung durch die germanistische
Literaturwissenschaft) mit dem anderen (seinem Kultstatus auch in von ebendieser
Literaturwissenschaft gewöhnlich nicht bedienten Kreisen) unmittelbar zusammen. Vielleicht
kann in der Wahrnehmung der Literaturwissenschaft halt nicht sein, was nicht sein darf: eine
populäre Avantgarde. Aber vielleicht folgt Gruber auch dem oben zitierten
programmatischen Gedicht des von ihm verehrten Fernando Pessoa und macht uns etwas vor
– oder verleitet uns vielmehr dazu, uns selbst etwas vorzumachen, nämlich dass der (unter
anderem als Asterix-Übersetzer ins Stoasteirische) hochkomische Schriftsteller nichts weiter
zu bieten habe als die oft genug zum Tränenlachen amüsante Oberfläche seiner Texte. In
einem früheren Aufsatz habe ich versucht, anhand einer Parallelsetzung der Antipoetik von
Grubers Lyrikband Zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte (Graz – Wien: Droschl 2004) mit
derjenigen von Fernando Pessoas Heteronym Alberto Caeiro diese Oberfläche zu
durchbrechen und zu zeigen, wie sich bei Gruber ebenso wie bei Caeiro hinter der scheinbar
2
unreflektierten Ablehnung von Poesie eine höchst subtile Auseinandersetzung mit
historischen Poetiken und Fragmente einer eigenständigen positiven Poetik verbergen.4 Im
Folgenden möchte ich Grubers Gedichtband in den größeren Zusammenhang der
antipoetischen Polemik in der Tradition Platons stellen, in der ja letztlich auch Caeiro steht.
Das programmatische Corpus Delicti: ein vergiftetes Lyrikbändchen
Schon der Titel müsste dem geübten Gruber-Leser zu denken geben: Zweimal 100 Gedichte
gegen Gedichte. Kann das wirklich sein? Ein Gedichtband – selbst ein Gegengedichtband –
von Reinhard P. Gruber? Auch die paratextuellen Verweise auf gewohnte Lyrikbändchen,
wie der ovaloid um eine photographische Vignette der lyrikgeschichtlich ja aufs Elegischste
verrilkten Burg Duino angeordnete Titel und die güldenen Zierleisten auf dem Buchdeckel
beruhigen uns keinesfalls, und erst die ersten drei Gedichte auf der ersten Textseite bringen
uns ins zwar ungewohnt lyrische, aber doch scheinbar vertraut humoristische Fahrwasser
eines Gruber-Buchs:
Gedicht Eins
Ein Gedicht hat keine Nummer.
Nie hat ein Gedicht eine Nummer.
Ein Gedicht, das eine Nummer hat, ist kein Gedicht.
Auch das Schwafeln über ein Gedicht mit einer
Nummer ist noch lange
kein Gedicht.
Gedicht Zwei
Ich kann
nicht dichten.
Ich kann nur
schreiben.
Dichten und Schreiben
ist wie
Atmen und Husten.
Sind wie
wäre Deutsch gewesen.
Gedicht Drei
Dichten will ich nicht, weil
ich dichten nicht kann. Ich kann, jawohl,
nicht dichten. Dafür gibt es Dichter.
Also doch: Reinhard P. Gruber (oder jedenfalls ein von ihm verantwortetes lyrisches Ich in
offenbarem Pulcinello-Kostüm)5 hat uns zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte geschrieben.
Oder etwa nicht? Nun, zunächst einmal sind es nicht wirklich zweimal 100 Gedichte. Das
erste Hundert ist noch verhältnismäßig vollzählig, obwohl schon „Gedicht Zehn“ sich selbst
negiert:
Nie hätte ich gedacht,
daß ich zehn Gedichte
schreiben könnte. Und
so war es auch.
Obwohl „Gedicht 13“ dräut:
3
Das 13. Gedicht ist immer
ein Unglück, Aber nur
für den Leser. Bis hierher
hätte es niemals kommen dürfen.
Und obwohl weitere Gedichte (41, 52 und 65) in ihrem eigenen Gedichttext explizit
gestrichen werden. Aber nach zwei Dritteln des zweiten Hunderts dekretiert das lyrische Ich
lakonisch:
Gedicht Einhundertsiebenundsechzig bis Zweihundert:
schenken wir uns.
Und der Band endet abrupt. Soviel also zur Zahl im Titel. Sind es aber tatsächlich Gedichte,
was uns Gruber nach dem Versprechen des Titels liefert? Schon die ersten drei Gedichte
negieren explizit, dass sie überhaupt Gedichte sind und dass das lyrische Ich dichten auch nur
könne oder wolle. Na gut, es sind also keine Gedichte? Naja, so leicht lässt uns Grubers
Pulcinell auch wieder nicht davonkommen. Denn der scheinbar banalen Verweigerung des
Gedichts auf der Oberfläche des „Inhalts“ wird auf der Vertextungsebene durch eine Vielfalt
traditioneller poetischer Verfahren vom Enjambement bis zu Parellelismen und Chiasmen
implizit widersprochen.6 Aha. Also als Nichtgedichte posierende Gedichte. Aber sind es denn
wenigstens alles Gegengedichte, wie im Titel verheißen? Wieder nein. Denn neben den
polemisch gegen „Gedichte“ und vor allem „Dichter“ agierenden Gedichten finden sich
immer wieder nicht nur solche, die bestimmte Dichter preisen, nämlich diejenigen, die eben
keine „Dichter“ im negativen Sinn des Wortes bei Gruber sind, wie z.B. schon im Gedicht
Zwölf:
Erich Fried hätte ich nicht
für einen Dichter gehalten.
Er tats auch nicht.
So wurde er es.
Und neben solchen Gegengedichten, die gegen Gedichte polemisieren, stehen immer wieder,
und zunehmend im zweiten Hundert, solche, die als Gegenentwürfe zu den verachteten
„Gedichten“ gelten können. So blüht gleich nach der Polemik gegen diejenige Blume, die als
ausgelutschte poetische Metapher schlechthin selbst in ihrer verweigerten Metaphorik bei
Gertrude Stein schon zum Klischee geworden ist, Haiku-artig eine ganz andere Blume auf:
Gedicht Dreiundzwanzig
Eine Rose ist keine Rose.
Über diese Kindereien
Sind wir hinaus
Gedicht Vierundzwanzig
Vor meiner Haustür
Die Akelei.7
Dass hinter Grubers Nein immer ein Ja zu einer Alternative steht, hinter seiner Gegnerschaft
zur verbrauchten Konvention immer ein avantgardistischer Gegenentwurf, ist in den Zweimal
100 Gedichten gegen Gedichte so erkennbar wie in seinem gesamten Werk, auch wenn
Gruber selbst die positive Seite dieser Anti-Haltung nicht betont:
4
Der Impuls zu schreiben war für mich nicht für etwas zu schreiben. Ich habe immer gegen etwas
geschrieben: Gegen das Vater-Sohn-Verhältnis, gegen verkorkste traditionelle Beziehungen und banale
Abläufe. Dabei habe ich mit verschiedenen literarischen Mitteln Dinge verstellt, verzerrt, grotesk
gemacht, um zu den verschiedenen Themen ein kritisches Verhältnis zu bekommen.8
Die positive Gegenpoetik hinter der negativen Antipoetik als Teil einer Metapoetik in
Zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte habe ich in meinem früheren Aufsatz zu diesem
Lyrikband herauszuarbeiten versucht. Im gegenwärtigen Beitrag soll es um den Kampf der
Prosa gegen die Poesie gehen, dessen klassische Frontstellungen Plato beschrieben hat.
„Gedichte sind Gift.“9 Platon und die Rache der Prosaisten
Ganz im Sinne des Bonmots von Alfred North Whitehead aus dem Jahr 1929, dass „the safest
general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series
of footnotes to Plato“,10
fehlt es nicht an umfangreichsten Fußnoten zu Platons Polemik
gegen die Poesie.11
Zum Glück angesichts des begrenzten hier zur Verfügung stehenden
Raumes ist Platon hier vor allem als Autor der meisten loci classici in der antipoetischen
polemischen Tradition interessant, und auch das nur insoweit das lyrische Ich in Grubers
Gedichtband diese Tradition aufnimmt. Dazu müssen wir feststellen, welche Gedichte für
Gruber lyrisches Ich Gift sind, welche Dichter zu den Giftmischern zählen und welches
„Schreiben“ das Gegengift zum „Dichten“ ist. „Dichten und Schreiben / ist wie / Atmen und
Husten“ heißt es ja schon im zweiten Gedicht. Dass hier allerdings kein Parallelismus der Art
Dichten = Atmen, Schreiben = Husten vorliegt, sondern ganz im Gegenteil ein Chiasmus, der
Dichten mit Husten und Schreiben mit Atmen verbindet, wird erst im weiteren Verlauf des
Bandes offensichtlich. In der langen Reihe von Beschimpfungen des „Dichtens“ im „Gedicht
Siebenundfünfzig“ wird diese Hustenmetaphorik ausgebaut:
[...]
Ich brauch die Auswürfe der
Sprache nicht,
die Gedichte sind Auswürfe,
jawohl, was das Hirn auswirft,
nennt der Mensch Gedicht, der
grüne Schleim des Magenkrebses [...]; Das Gedicht: Schleim! Lungenauswurf!
[…]
das Wehen des Geistes kommt zum
Stillstand durch den stinkenden Furz
des Gedichts. Eine gelbe Wolke
schwebt über Deutschland, überall
auf der Welt ist die Gedichtproduktion
eingestellt worden, nicht
wegen Auschwitz, ihr Schwitzer,
in Deutschland dichten die Krügers
und die Enzensbergers drauflos,
als wäre gerade der 3. Weltkrieg
ausgerufen worden […]!
Und im “Gedicht Einhundertdreiundvierzig” wird die Atemluft genannt, die das Gegenteil
des zum Husten reizenden Gedichts ist:
[...]
Die Prosa, eine Königin, die Poesie
5
ein stinkendes Weihrauchfaß, ein
Hustenanfall [...].
Es ist die Prosa, die als „Schreiben“ dem verachteten „Dichten entgegengesetzt wird,
ebenjene Prosa, an der man laut Nietzsche „wie an einer Bildsäule arbeiten“ muss:12
Gedichte sind kleine Fürzchen!
Dagegen: schreib einmal 10 Zeilen Prosa!
1 Zeile ist ein Horror, 10 Zeilen sind 10
Horrors! [...]
Der „seit alters her andauernde Kampf zwischen Philosophie und Poesie“ (παλαιὰ μέν τις
διαφορὰ φιλοσοφίᾳ τε καὶ ποιητικῇ), den Platon in der Politeia (607 b) erwähnt und in
dessen Tradition seine eigene Polemik gegen Poesie steht, ist eben der Kampf um die
Emanzipation der neuen Gattung der Prosa um Anerkennung gegenüber der älteren
poetischen Gestaltung von Erkenntnis in der frühen griechischen Philosophiegeschichte.13
Gegenüber dieser Frühzeit aber hat Platon die Beweislast umgekehrt: Die Prosa muss nicht
mehr beweisen, dass sie als Medium von Erkenntnis der durch die Musen vermittelten
gebundenen Rede der Poesie ebenbürtig ist,14
vielmehr muss die Poesie nun den Beweis
erbringen, dass sie eine angemessene τέχνη15
und somit epistemisch und pädagogisch als
Erkenntnisinstrument geeignet ist. In der Politeia geht es vor allem um die pädagogische
Eignung der Poesie, die ihr, bis auf den Kindergartenbereich, rundweg abgesprochen wird.16
Das spielt in Grubers Zweimal 100 Gedichten gegen Gedichte keine Rolle. Vielmehr geht es
dort um die epistemische Eignung der Poesie: „[…] das Wehen des Geistes kommt zum /
Stillstand durch den stinkenden Furz / des Gedichts“ heißt es im bereits zitierten „Gedicht
Siebenundfünfzig“. „Gedicht Einhundertdreiundzwanzig“ rechnet noch einmal mit der
Rosenmetaphorik bis hin zu Gertrude Stein ab und stellt die mentale Kompetenz der Dichter
in Frage:
Eine Rose ist eine Rose.
So ein Unsinn kann nur
entstehen beim Dichten.
Die Dichter sind alle nicht dicht.
Und „Gedicht Einhundertvierundvierzig“ sagt noch deutlicher, dass die Dichter keineswegs
mit den Denkern zu verwechseln sind:
Wenn ich denke.
denke ich an kein Gedicht.
Wenn wer denkt, denkt er kein Gedicht.
Denken und Dichten, das geht sich
nicht aus. Dichten, das ist das
verweigerte Denken. […]
Das ist eine Kritik, die Platon besonders im Kratylos zum Ausdruck bringt17
– wir werden
später darauf zurückkommen. Das „Gedicht Einhundertvierundvierzig“ nimmt noch einmal
kurz das Atem-Motiv wieder auf und setzt fort:
[…] Dichten, das
ist das hirnlose Atmen.
Dichten, der Wortrausch.
Rausch, jawohl, Dichtung ist Rausch
und alle Dichter sind Süchtige.
zumindest Sehn-Süchtige. […]
6
Diese berauschte Verzückung, die der Musenkuss beim poeta vates auslöst, wird von Plato
mit besonders spöttischer Verachtung bedacht18
– und nicht minder von Grubers lyrischem
Ich.
Berauschung, Entrückung, Verzückung und Verdauung
Platons Spott über die μανία (Verrücktheit) der Dichter ist in mehreren seiner Dialoge
genussvoll ausgebreitet. In der Apologie (22 a-c) vergleicht er die Begeisterung
(ἐνθουσιασμός) der Dichter mit derjenigen der Wahrsager und Orakelmedien; ähnlich im
Menon (99 b-d). Im Phaidros (244 a-245 a) wird die von den Musen übertragene μανία der
Dichter zusätzlich mit der μανία der Priester und der Liebenden parallel gesetzt und
sarkastisch als etwas gepriesen, was von einem nur durch Kunstfertigkeit (τέχνη)
ausgezeichneten Schriftsteller niemals ersetzt werden könne (245 a). Vollends kaustisch-
ironisch wird Platon im Ion (533 e – 534 b), wenn Sokrates die entrückten Dichter einerseits
mit besessenen Bacchanten und andererseits mit honigsammelnden Bienen vergleicht. In der
Schleiermacherschen Übersetzung:
Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst sondern als Begeisterte und
Besessene alle diese schönen Gedichte, und eben so die rechten Liederdichter, so wenig die welche
vom tanzenden Wahnsinn befallen sind in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch
die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie der
Harmonie und des Rhythmos erfüllt sind, darin werden sie den Bakchen ähnlich, und begeistert, wie
diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres
Bewußtseins mächtig dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst
sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten
und Hainen der Musen pflückend diese Gesänge uns bringen wie die Bienen, auch eben so
umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig,
und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft
nicht mehr in ihm wohnt. Denn so lange er diesen Besitz noch festhält ist jeder Mensch unfähig zu
dichten oder Orakel zu sprechen.19
Der mit Berauschungen aller Art – natürlich ausschließlich in der Chronistenrolle – nicht
unvertraute Reinhard P. Gruber20
lässt das lyrische Ich in den Zweimal 100 Gedichten gegen
Gedichte ganz im sokratischen Sinn von der Leine. Schon im „Gedicht Zweiundzwanzig“
wird der heimische Heckenklescher des Weststeirischen Schilchers zum fermentierten
Musenkuss des „Dichters“:
Beginn: Schilcher.
Ein Gluckern
Ein Glückern.
Ein glückernder Schilcher
in die Röhre [...]
Im Darm: Ausstrahlung
ins Hirn.
Der Schilcher strahlt ins Hirn.
Die Auflösung des Schilchers:
Strahlung ins Hirn.
Radioaktiv. Abstrahlung
aufs Papier, Papier
schilcherwortbedeckt,
gedichtverdächtig.
Körperverseuchungsschilcher.
Poesiezwangsalkohol.
Logikversenkersaft.
7
Gefühlsgiftspritzmeister.
Selbstmitleidsweltmeister.
Der von Grubers lyrischem Ich hier erwähnte Darm steht nicht nur im Zusammenhang mit
von gewissen fermentierten Musenküssen – darunter auch so manchem minderwertigen
Schilcher – verursachten Verdauungsstörungen, sondern auch mit den spöttischen
Bemerkungen über die von der Muse geküssten poetae vates, die Erich Kästner sich nicht
verkneifen kann. Kästner ist übrigens einer der wenigen „Dichter“, die Grubers lyrisches Ich
bestehen lässt: „Erich Kästner, gut, der bleibt, der / wollte was sagen.” (“Gedicht
Einhundertsechzig”):
Wer dreißig Lyriker befragt, wie sie dichten, darf sich nicht wundern, wenn er Antworten wie diese
erhält: ‚Oft kamen die Lieder angeflogen, während ich auf dem Rade fuhr und mich schleunigst auf
einen Eckstein oder einen Grabenrand setzen mußte, um es festzuhalten (?) ... Oft drängt es mich auch
so, dass ich ... irgendein Blättchen ..., das grade zur Hand ist ...’, beichtet einer der Befragten. Sogar der
Nichtmediziner weiß da sofort, worum es sich handelt, und wird zu Haferschleimsuppe raten.21
Was die Dichter da in mehrerer Hinsicht „nicht dicht“ macht, wie im „Gedicht
Einhundertdreindzwanzig“ steht, ist weniger der Schilchersturm als der Sturm und Drang der
Muse, der sie wie ein Föhnwind erwischt:
Gedicht Elf
Gedichte kommen
wie Naturereignisse.
Bei mir nicht möglich,
ich wohne
im Haus der Kunst.
Anders als der prosaische Bewohner des „Hauses der Kunst“, der mit Kunstfertigkeit (τέχνη)
auskommen muss statt seine „Dichtung“ in der μανία (Verrücktheit, Entrückung) des
musenerzeugten Entrückungsrausches serviert zu bekommen, kann der Dichter im Griff
solcher Naturereignisse natürlich nicht auch noch darauf achten, dass seine Dichtungen selbst
ohne Vermittlung professioneller Deuter irgendeinen Sinn ergeben. So heißt es schon früh in
Grubers Band:
Gedicht Sieben
Gedichte müssen
gedeutet werden.
Ein Gedicht deutet
an.
Verkürzt, verknappt, verdichtet,
verstümmelt, verspricht,
und die Welt soll raten.
Die Religionsgründer waren
auch Dichter.
Immer haben sie um Deutung gebeten.
Sprecht deutlicher!
Gedicht Acht
Wer undeutlich ist, ist
ein Dichter. Alles Undeutliche
muß gedeutet werden.
8
Werdet endlich
Schriftsteller!
Die Klarheit der Prosa lässt sich im Gedicht gar nicht ausdrücken, schon der Versuch gleitet
in die Verklärung, wenn nicht gar die Klarinette, ab:
Gedicht Neunundzwanzig
Mein Plan heißt Klarheit.
Als Gedicht hieße mein Plan
Verklärung.
Oder Klara.
Oder Klarinette.22
Das ist eben „dieses Getue, dieses Nichtzumpunktkommen: / diese verdammte Poesie!“
(„Gedicht Achtundvierzig“), ganz im Gegensatz zur im Leben stehenden Klarheit der Prosa:
Gedicht Einhundertzweiundsechzig
Schreien ums Leben, das ist
das Programm der Lyrik.
Das Programm der Prosa:
Sätze fürs Leben.
Der Satz ist der Feind des Poeten.
Ein Verb kann den Erleuchteten töten
Der Irrweg des Inhalts – die Erkenntnis der Form
Die inhaltliche Zuordnung des Atmens zum Schreiben und des Hustens zum Dichten im
„Gedicht Zwei“ ist nur über die Erkenntnis der formalen Struktur des Chiasmus möglich, und
diese erst im Nachhinein durch die Erkenntnis des formalen Aufbaus des gesamten
Bändchens vom irreführenden Parallelismus Dichten = Atmen; Schreiben = Husten zu
trennen. Und es ist der Inhalt, der das Gedicht auszeichnet, im Gegensatz zur durch den
„Horror der stilistischen Bildhauerarbeit des Prosaisten erreichte verdichtete Klarheit in der
Form der Prosa:
Gedicht Neunzehn
Ein Gedicht ist kein Gedicht.
Wäre der Inhalt des Gedichts
nur das Gedicht, das wäre
ein schlechtes Gedicht.
Das Gedicht aber will
immer etwas sagen.
Das Gedicht sagt nicht: Gedicht!
Das Gedicht sagt: Liebe!
Verzweiflung! Abendrot! Morgendämmerung!
Herbst! Tod! Menschen! Tiere!
Das Gedicht sagt: Es geht nicht um mich!
Sehr bescheiden, das Gedicht. – Im
Gegenteil, penetranter geht es nicht!
Im Kratylos,23
widerlegt Sokrates die inhaltsbasierte Erklärung von Namen (und im weiteren
Verständnis allen ὀνόματα – also in etwa: sprachlichen Begriffen) durch ihre Etymologie,
9
und die ebenso inhaltsfixierten Dichter kommen dabei nicht gerade gut weg (391 d ff.). Das
poetische Kernverfahren der Metapher, dessen tertium comparatonis ja auch ausschließlich
inhaltsbasiert ist, verhindert für Grubers lyrisches Ich das von der Prosa geförderte wahre
Leben. Sein Ratschlag: “vergiß die / Metapher und beginne / ein ernsthaftes Leben.”
(„Gedicht Einhundertachtunddreißig”).
Viel lügen die Sänger – fast so viel wie die Kreter
Anders als in einem Großteil der philosophischen Anti-Poesie-Polemik24
kommt in Grubers
Zweimal 100 Gedichten gegen Gedichte das Kriterium der Wahrheit gar nicht zum Tragen.
Denn das lyrische Ich, das darin so gegen Dichter und Gedichte aufbegehrt, hätte es ja ebenso
schwer, den Wahrheitsbeweis seiner Dichterschelte anzutreten wie der Kreter Epimenides bei
seiner Behauptung, alle Kreter seien Lügner. So ist das halt mit dem Gedicht:
Gedicht Dreiundneunzig
Ein Gedicht ist auf jeden Fall ein Spiel.
Du kannst alles behaupten, aber das
Leben ist davon nicht betroffen.
Behaupte, das Leben ist aus, und prompt
geht das Leben weiter, nein, nicht weiter,
es geht fort. Behaupte irgendwas über
die Liebe, die Sehnsucht, den Tod –
es ist so, als ob du nichts behauptet hättest.
Behaupte, daß du nichts behauptest.
Dann behauptest du dasselbe, wie wenn
du alles behauptetest.
Es ist überflüssig, eine Behauptung
aufzustellen. Es ist bloß der geile Reiz
des Moments.
Der Pulcinell des lyrischen Ich in Zweimal 100 Gedichte gegen Gedichte verbeugt sich und
nimmt die groteske Maske der Commedia dell’Arte ab.
Darunter die von Lady Gaga.
Darunter die von Paul Celan und die von Fernando Pessoa.
Erst nun zeigt er das groteske Silensgesicht des lachenden Sokrates.
10
Anmerkungen:
1 Pessoas “Autopsicografia” datiert 28. 2. 1929, zuerst veröffentlicht in Presença 36 (November 1932), siehe
Obras completas de Fernando Pessoa, t. 1: Poesias de Fernando Pessoa, 11.a ed. Lisboa: Ática 1980, S. 237
und 267. Zu Celans Übertragung vgl. Robert André,: ‘Lüge’ und Ethos des Lesens. Paul Celan übersetzt
Fernando Pessoas AUTOPSICOGRAFIA. In: Ulrich Wergin / Martin Jörg Schäfer (Hgg.): Die Zeitlichkeit des
Ethos. Poetologische Aspekte im Schreiben Paul Celans. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 213-232.
Lady Gaga zitiert nachTobias Rapp: Gefällt mir. In: Der Spiegel 20/2011 (16. 05. 2011), 128-133, hier: 133. 2 Peter Jöbstl: Droschl: Geschichte des Grazer Literaturverlages 1978-2008. Masterarbeit, Karl-Franzens-
Universität Graz 2009, S. 39. 3 Zu diesem Begriff vgl. Marika Müller: Die Ironie: Kulturgeschichte und Textgestalt. Würzburg: Königshausen
& Neumann 1995, passim. 4 Heinz L. Kretzenbacher: Alberto Caeiro in Kothvogl: Reinhard P. Grubers Zweimal 100 Gedichte gegen
Gedichte als pessoanische Antipoesie. In: Gert Reifarth (Hg.): Das Innerste von außen. Zur deutschsprachigen
Lyrik des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 109-141. 5 Wobei die Identität des lyrischen Ichs – gar diejenige mit Gruber selbst – erwartungsgemäß alles andere als
unkompliziert ist, wie „Gedicht Einhundertdrei“ zeigt: „Jemand fragte, ob ich / eine Identität hätte. / Ob ich ich
wäre. / Das war mir im ersten / Moment klar. Aber dann / dachte ich nach.“ 6 Im Detail nachgewiesen in Kretzenbacher, Caeiro in Kothvogl, S. 116 ff.
7 Zu negativen und positiven Kernmetaphern im Gedichtband vgl. Kretzenbacher, Caeiro in Kothvogl, S. 130
ff., zur Naturmotivik, die besonders im zweiten Hundert zur Geltung kommt, ebda., S. 124. 8 Andreas Pack: Kritisch gegenüber allem Versteinerten. In: Denken + Glauben 13.77 (1995), 21-23, hier: S. 21;
zitiert nach Jöbstl, Droschl, S. 40. 9 So beginnt das „Gedicht Dreiundsechzig“.
10 A. N. Whitehead, Process and Reality: An Essay in Cosmology, rev. ed., New York: Free Press 1978, S. 39.
11 Einen guten Überblick über Platons Poesiekritik und die Folgen gibt Mark Edmundson: Literature against
philosophy, Plato to Derrida: a defence of poetry. Cambridge - New York: Cambridge University Press 1995.
Aus den letzten Jahren seien zu Platon selbst beispielhaft genannt: Susan B. Levin: The ancient quarrel between
philosophy and poetry revisited: Plato and the Greek literary tradition. Oxford - New York: Oxford University
Press 2001; Lidia Maria Rodrigo: Platão contra as pretensões educativas da poesia homérica. In: Educação &
Sociedade 27.95 (2006), 523-539; Gerard Naddaf: The role of the poet in Plato's ideal cities of Callipolis and
Magnesia. In: Kriterion 48.116 (2007), 329-349; Bertold Hub: Platon und die bildende Kunst. Eine Revision. In:
Plato. The electronic Journal of the International Plato Society 9 (2009), http://gramata.univ-
paris1.fr/Plato/spip.php?article87#nb12 [24/03/11] 12
Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt.4, Bd. 3: Menschliches, Allzumenschliches. 2.
Band: Nachgelassene Fragmente: Frühling 1878 – November 1879. Berlin: de Gruyter 1967, S. 233. 13
Zu diesem Kampf vgl. Richard Graff: Prose versus poetry in early Greek theories of style. In: Rhetorica 23.4
(2005), 303-335. 14
Vgl. dazu Carol G. Thomas / Edward Kent Webb: From orality to rhetoric: an intellectual transformation. In:
Ian Worthington (ed.): Persuasion: Greek rhetoric in action. London - New York: Routledge 1994, 3-25, hier:
S. 10. 15
Im Sinn von Platons eigenen, im Gorgias aufgestellten Kriterien, die die Philosophie klar erfüllt, vgl. Levin,
Ancient quarrel, S. 131 ff. 16
Vgl. dazu besonders Rodrigo, Platão. 17
Vgl. dazu Levin, Ancient quarrel, S. 129 ff. 18
Vgl. besonders Hub, Platon und die bildende Kunst, S. 37 ff. 19
http://www.opera-platonis.de/Ion.html [01/06/11] 20
Man denke etwa an das in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Arnold Prestele verfaßte Heimatlos. Eine
steirische Wirtshausoper in einem Rausch (Graz: Droschl 1985) oder an Das Schilcher ABC (Graz: Droschl
1988). 21
Erich Kästner: Diarrhoe des Gefühls [1929]. In: Werke, Bd. 2: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, kleine
Prosa. Hg. v. Hermann Kurzke in Zus.arb. m. Lena Kurzke. München / Wien: Hanser 1998, 287-290, hier: S.
287. 22
Zu den weitreichenden Anspielungen dieses Gedichts auf andere Gedichte innerhalb und außerhalb des
Bandes vgl. Kretzenbacher, Caeiro in Kothvogl, S. 127 f. 23
Zu dem im Sinn Whiteheads dann die gesamte Geschichte der europäischen Rhetorik, Stilistik.
Soziolinguistik und Pragmatik im wesentlichen nur Fußnoten wären. 24
Als Übersicht immer noch unübertroffen der Klassiker von Harald Weinrich: Linguistik der Lüge. 6. Aufl.
München: Beck 2000, S. 70 ff.