Risikowahrnehmung aus psychologischer Sicht
Joachim Funke
Psychologisches Institut derUniversität Heidelberg
13.11.08 Einschläge von Asteroiden und Kometen – Gefahr für die Erde?
Meteor Crater, Arizona; 1,2 km ∅
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Überblick
Was bedeutet „Risiko“?Was bedeutet „Wahrnehmung“? Urteilsfehler Fehler beim Problemlösen Abschluß
Nördlinger Ries 24 km ∅
Was bedeutet „Risiko“?
Unsicherheit des Eintreffens positiver oder negativerKonsequenzen Risiko: objektiv, Unsicherheit: subjektiv Positive Konsequenz: 6 Richtige im Lotto
-> 1:14 Mio Negative Konsequenz: Vom Blitz getroffen werden ->
1:20 Mio Kontrollierbarkeit wichtig:
Lotto nicht kontrollierbar, Blitzschlag schon (je nachVerhalten)
Variierende Kontrollüberzeugungen Psychologisch wichtige Doppelnatur:
Risiko-Vermeidung (z.B. Versicherungen, Impfungen) Lust am Risiko (z.B. Lotto, Achterbahn, Bungee-
Jumping)
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Was bedeutet „Wahrnehmung“?
Wahrnehmung: In der Psychologie eine Kombination aus
bottom-up (Daten, Sensorik) und top-down (Erwartungen, Gedächtnis)
Keine 1:1 Abbildung, sondern breite Palette von konstruktiver Anpassung bis hin zur fehlerhaften Verzerrung(gerade dort, wo Gedächtnis ins Spiel kommt - also meistens...)
Für „Risiko“ keine Sensorik!
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Risikowahrnehmung
Risikowahrnehmung:ein Urteilsprozess, der zahlreichen Bewertungen und Verzerrungen (biases) unterliegt
Qualitative Risikomerkmale wichtiga) Eigenschaften der Risiko-Quelle
Schrecklichkeit der Folgen (Bsp. Auto- vs. Flugzeug-Unfall) Gewöhnung an die Quelle (Bsp. Straßenverkehr vs. Meteorit)
b) Eigenschaften der Risiko-Situation Persönliche Kontrollmöglichkeit (Bsp. AKW vs. Meteorit) Eindeutigkeit der Gefahren-Information (Bsp. Gentechnik vs. Radioaktivität)
5Renn, O., Schweizer, P.-J., Dreyer, M., & Klinke, A. (2007). Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgangmit Unsicherheit. München: Oekom.
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Urteilsfehler
Urteilen unter Unsicherheit: es gibt kein formales Kalkül zum Ableiten „wahrer” Induktionsschlüsse
(Bsp. Sonnenaufgang) dafür gibt es verschiedene normative Modelle (z.B Bayes-Theorem,
Regressionsrechnung, Wahrscheinlichkeitstheorie) aber: Menschen weichen systematisch von solchen normativen Modellen
ab! Grundannahme:
Menschen verwenden Heuristiken („Daumenregeln“), die sich evolutionärbewährt haben
sparsamer Umgang mit begrenzten kognitiven Ressourcen (Motto: „warumkompliziert, wenn‘s auch einfach geht?“)
Heuristiken sind oft erfolgreich, können aber eben auch manchmal Fehlerverursachen
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a) Verzerrung von Wahrscheinlichkeiten
Gewichtungsfunktion p: monotone Funktion von p am Rand: p(0)=0, p(1)=1
(„Sicherheitseffekt“) Funktion gibt subjektive Bedeutung
der Wahrscheinlichkeit an kleine p`s werden überschätzt
(„Lotto-Effekt“, Versicherungen),große p`s werden unterschätzt
Kahneman, D. & Tversky, A. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica,47, 263-291.
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b) Referenzpunkt-abhängige Nutzenfunktion
Wert-Funktion v: neutraler Referenzpunkt, abhängig
von der Problemdarstellung Funktion ist steiler bei Verlusten als
bei Gewinnen, dh. Verlust von €100schmerzt mehr als Gewinn von €100erfreut
konkav bei positiven Werten, konvexbei negativen (100/200 vs.1100/1200)
Referenzpunkt
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Programm A:damit würden 200 Menschensicher gerettet
Programm B:mit p=1/3 würden 600Menschen gerettet, mit p=2/3niemand
„Die Asiatische Krankheit“: Problemstellung
Sie sind Gesundheitsminister und wissen, dass eine bisher unbekannteasiatische Krankheit Ihr Land heimsuchen und voraussichtlich 600 Menschentöten wird. Von Wissenschaftlern sind verschiedene Präventionsprogrammevorgeschlagen worden, Sie sollen die Entscheidung treffen:
Programm C:400 Menschen würden sichersterben
Programm D:mit p=2/3 würden 600Menschen sterben, mit p=1/3niemand
Testpersonen wählen A Testpersonen wählen D
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„Menschen werden gerettet“:
Referenzpunkt ist der „worst case“,in dem nichts getan würde (=600Tote), daher geht es um Gewinne
v(200 Leben) > 1/3*v(600)
bei möglichen Gewinnen geringeRisikobereitschaft
„Die Asiatische Krankheit“: Erklärung
es werden für 2 wahrscheinlichkeitstheoretisch gleichartigeSituationen unterschiedliche Referenzpunkte gebildet („framing“):
„Menschen werden sterben“
Referenzpunkt ist der momentaneAusgangszustand (=0 Tote), dahergeht es um Verluste
2/3*v(-600 Leben) > v(-400)
bei drohenden Verlusten größereRisikobereitschaft
+–
Tversky, A., & Kahneman, D. (1981). The framing of decisions and the psychology of choice. Science,211, 453-458.
Risiko-Entschärfung
will man wirklich die Wahrscheinlichkeiten wissen? viel wichtiger erscheint Risiko-Entschärfung! (Oswald Huber,
1997, 2004) Personen möchten wissen,
ob es Alternativen gibt welche Kontrollmöglichkeiten bestehen wie man das Risiko entschärfen kann
eigene Untersuchung hierzu mit 12 Risiken aus drei inhaltlichenBereichen und vier Typen von Risiko, basierend auf 120Interviews
Huber, O. (2004). Entscheidungen unter Risiko: Aktive Risiko-Entschärfung. Psychologische Rundschau, 55, 127-134.
Wilke, M., Haug, H., & Funke, J. (2008). Risk-specific search for risk-defusing operators. Swiss Journal of Psychology, 67,29-40.
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RisikoDomäne
Typ desRisikos
Gesundheit Ökonomie /Politik Ökologie
Normal Röteln Kreditaufnahme Hochwasser
Medium KrebserregendeStoffe: Asbest
Investitionen inAktien Mülldeponie
Katastrophe Vogelgrippe Terroranschlag Vulkaneruption
Global Gen-Food WirtschaftlicheGlobalisierung Artenausrottung
12Joachim Funke, Department of Psychology, University of Heidelberg
Liste von 12 Szenarien gruppiert nach Risiko-Domäneand Risikotyp
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Ergebnis: Unterschiedliche Präferenzen der Risikoentschärfung
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Lambda-Koeffizienten für drei Artender Risikoentschärfung „newalternatives“, „possibilities forcontrol“, and „worst-case plans“;getrennt nach den vier Arten vonRisiko (normal, medium,catastrophic, and global).
Hauptbefund: HeterogenePräferenzen!
Für Meteoriten-Problem interessant:„Possibilities for control“ erzielenden höchsten Wert!
Rolle der Emotion!
Joachim Funke, Department of Psychology, University of Heidelberg13
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Typische Fehler beim Umgang mit komplexen Szenarien
(1) mangelnde Berücksichtigung zeitlicher Abläufe Bsp. AIDS-Ausbreitung: Lineare Fortschreibung unterschätzt exponentiellenAnstieg
(2) Schwierigkeiten bei exponentiellen Entwicklungsverläufen Bsp. Seerosen: wann ist der Teich zugewachsen?
(3) Denken in Kausalketten statt in Kausalnetzen Bsp. Arbeitslosigkeit und Ausländer: Warum wir uns die Welt einfach machenwollen (Komplexitätsreduktion)
(4) Überwertigkeit des aktuellen Motivs Bsp. temporaler Discount auf zukünftige Ereignisse: Ein Drink nächste Woche istschlechter als der Drink jetzt („hier und jetzt“-Orientierung, intergenerationaldiscounting)
Dörner, D. (1989). Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Hamburg:Rowohlt.
Risikotypen nach WBGU (1998)
Pandora bedeutet eine irreversible Einwirkung von Stoffen oder Dingen auf die Umwelt, derenAuswirkungen noch weitgehend unbekannt sind. Beispiel: Umweltgifte
Kassandra bedeutet eine große zeitliche Spanne zwischen der Ursache und dem Schadensfall.Beispiel: Klimawandel
Medusa bedeutet Mehrdeutigkeit und Uneinigkeit über Ursache und Schaden. Beispiel:Elektrosmog
Zyklop bedeutet eine Kombination von "Hohem Schaden im Eintrittsfall" und "unbekannterWahrscheinlichkeit". Beispiel: Erdbeben
Pythia bedeutet eine Kombination von "Unbekanntem Schaden im Eintrittsfall" und"unbekannter Wahrscheinlichkeit". Beispiel: BSE
Damokles bedeutet eine Kombination von "Hohem Schaden im Eintrittsfall" und "geringsterWahrscheinlichkeit". Beispiel: Bruch eines Staudammes
Meteoriteneinschläge sind vom Typ Zyklop bzw. (mit zunehmender Forschung) Damokles!
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Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (1999). Welt im Wandel: Strategien zurBewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998. Heidelberg: Springer.
6 Risikotypen gemäß WBGU (1998)
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Strategien für verschiedene Risiko-Typen
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Abschluss
Risikowahrnehmung: ein Prozess mit vielen Möglichkeiten zur Verzerrung
Risikoentschärfung: das, was Menschen mehr als die exakten Wahrscheinlichkeiten interessiert
Strategien des Umgangs mit Meteoritenrisiken: „Kopf-in-den-Sand“-Strategie vermutlich nicht hilfreich bewusstes Risiko-Management (nicht auf der Ebene des Einzelindividuums,
sondern auf überstaatlicher Ebene) aber: Meteoriten sind nicht das einzige Risiko, das die Menschheit
auslöschen könnte (Nuklearpotential, Bioterrorismus, Klimawandel)
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Mors certa, hora incerta – Todsicher geht die Uhr falsch
Horaz, griech. Uhrmacher
Prof. Dr. Joachim FunkePsychologisches InstitutUniversität HeidelbergHauptstr. 47D-69117 Heidelberg
http://funke.uni-hd.de/[email protected]