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04.06.2013 Von der Bewältigung zur Bearbeitung lebensgeschichtlicher Krisen im Alter? Facetten einer erziehungswissenschaftlichen Theorie des biographischen Lernens Vortrag in der Reihe „Bildung und Lernen im Prozess des Alterns“ Prof. Dr. Dieter Nittel

Von der Bewältigung zur Bearbeitung lebensgeschichtlicher ... · -Überlagerung von Kindheit und Jugend durch die kollektive Verlaufskurve des II. Weltkrieges. Aufschichtung von

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04.06.2013

Von der Bewältigung zur Bearbeitung

lebensgeschichtlicher Krisen im Alter?

Facetten einer erziehungswissenschaftlichen

Theorie des biographischen Lernens

Vortrag in der Reihe „Bildung und Lernen im Prozess des Alterns“

Prof. Dr. Dieter Nittel

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Erkenntnischancen einer pluralistischen Altersforschung

Mehrperspektivischer

Blick auf das Alter/Altern

Abgleich der Vor-

und Nachteile von

wissenschaftlichen Ansätze

Weiterentwicklung

der wissenschaftlichen

Disziplinen

Alter/Alternals

Gegenstand ����Problem-stellung

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informelles Lernen und leidgeprägtes Lernen Lernen im Alter ist vor allem ....

Ausgangssituation

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Zwei gegenläufige Konzepte: Informelles Lernen und Lernen in Krisensituationen

Bewältigungskonzept

(Psychologie)

Lernkonzept

(Erziehungswissenschaft)

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Der weitere Fortgang der Argumentation im Vortrag

- Kurze Vorstellung des Bewältigungskonzeptes

- Einige kritische Nachfragen an die Bewältigungsforschung

- Skizze eines lerntheoretischen Konzepts

- Falldarstellung „Dietmar Dollinger“, Jg. 1934, Herzinfarktpatient

- Interpretation des Fallbeispiels unter einer lerntheoretischen Perspektive

- Interpretation des Fallbeispiels unter einer bewältigungstheoretischen Perspektive

- Vergleich der beiden Sichtweisen und Konklusion

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Stress � Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt

Richard Lazarus (1922 – 2002)

Bewältigungsverhalten (Coping) „bewußte willentliche Anstrengung zur Regulation von Emotionen, Verhalten und physiologischen Reaktionen“

als Reaktion auf Stress

Adaptive (funktionale) und maladaptive (dysfunktionale) Copingstrategien

Bei misslungenen Copingstrategien � Möglichkeit der Entstehung

psychischer Störungen.

„Kritische Lebensereignisse“ -Bewältigungskonzept

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Einige kritische Nachfragen an die Bewältigungsforschung

1. Kritische Lebensereignisse (wie lebensbedrohliche Krankheit, Tod eines nahe Angehörigen) werden in der Regel unabhängig von der subjektiven Deutung der Betroffenen als Stressoren „gesetzt“. Können Ereignisse im Leben der Menschen wirklich jenseits der Eigenperspektive der Akteure als krisenhaft oder nicht-krisenhaft „festgelegt“ werden? (Das Beispiel der älteren Krebspatienten)

2. Kritische Lebensereignisse oder Stressoren werden gewöhnlich mit Hilfe einer zweiwertigen Logik binär codiert: „bewältigt versus nicht bewältigt“. Wie kann der für die menschliche Existenzform konstitutive Bereich des „Dazwischen“bzw. die Zone der ambivalenten Erfahrungen in den Blick genommen werden?

3. Der Ansatz suggeriert die Möglichkeit einer finalen Lösung, die vollständige Überwindung eines Problems. Lehrt uns die Alltagserfahrung nicht, dass besonders schmerzhafte Erfahrungen durchaus nicht bewältigt werden können?

4. Kritische Lebensereignisse und das Bewältigungskonzept folgen einem durch und durch rationalistischen Menschen- und Gesellschaftsmodell. Lassen sich die Biographien von Menschen auf der Folie eines durch und durch rationalistischen Menschen- und Gesellschaftsmodell verstehen und erklären?

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Lernmodi

- Neulernen- Umlernen- Verlernen- Nichtlernen

Prozessuale Lerndimensionen

- Institutionalisierte Ablauf- und Er-wartungsmuster � verwaltetes Lernen

- Biographische Handlungsschemata �zielgerichtetes Lernen

- Verlaufskurven des Erleidens �leidgeprüftes Lernen

- Wandlungsprozesse der Selbst-identität� Schöpferisches Lernen

-

Lernkontexte

- Formales Lernen (Zertifikate)- Nonformales Lernen (in Bildungs-

einrichtungen aber ohne Zertifikate)- Informelles Lernen in der Lebenspraxis

Strukturelle Lerndimensionen

- Situative Aneignung von Wissen- Veränderung der Alltagspraxis- Modifikation der Identitätsformation

Analyseebenen

Schema zur Analyse von Lebensgeschichten � die

Lernperspektive

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Ein Fallbeispiel

Empirischer Teil

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Der Fall „Dietmar Dollinger“ – Paraphrasierung der Lebensgeschichte

- D.D. Jahrgang 1934: wächst mit den beiden jüngeren Geschwistern im Krieg auf. Vater über viele Jahre abwesend.

- Mutter hat einen Migrationshintergrund; er wächst zweisprachig auf.

- Acht Jahre Schullaufbahn, viele Fehlstunden (in einem Jahr 152 Tage).

- Landwirtschaftliche Lehre

- „Republikflucht“ im Anschluss an die Berufslaufbahn, D.D. verbringt mehrere Jahre im Ruhrgebiet, arbeitet dort unter Tage, reist viel, kommt zu einem bescheidenen Wohlstand, wohnt der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz bei.

- Mutter veranlasst Rückkehr in die damalige DDR, 7 Jahre Gefängnis, davon 5 Monate abgesessen. Mutter bestimmt auch die weitere berufliche Entwicklung.

- Studium als landwirtschaftliche Lehrkraft; D.D. avanciert zum Berufsschullehrer

- In der ersten Phase muss D.D. Fächer unterrichten, die er gar nicht studiert hat; Gefühl der Überforderung stellt sich ein. D.D. lernt seine Ehefrau kennen und heiratet. In kurzen Abständen bekommt er vier Kinder.

- 10 Jahre Fernstudium ���� Abschluss zum Agraringenieur

- Wechsel als Ausbilder und Berufsschullehrer in eine LPG (stellvertretender Vorsitzender der LPG).

- Erneuter Wechsel: Große berufliche Herausforderung, D.D. soll aus vier kleinen LPGs eine große Einrichtung formen.

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Der Fall „Dietmar Dollinger“ – Paraphrasierung der Lebensgeschichte

- Die Partei löst ein alte Verbindlichkeit ein. Sie insistiert auf der vor den Studium getroffenen Selbstverpflichtung von D.D., sich im Bedarfsfall den Anweisungen der Partei zu beugen. D.D. wird in den Norden geschickt, wo er eine noch größere LPG leiten und die Enteignung großer Höfe überwachen soll.

- 1985 erleidet er einen ersten Herzinfarkt: Überforderung ���� Vorsitzender von zwei LPG. Ein Betrieb: 3000 Hektar, 1000 Kühe, 13.000 Schweine.

- Die Ärzte raten dringend zur Aufgabe der beruflichen Tätigkeit. D.D. ignoriert diesen Rat.

- 1986 folgte der zweite Herzinfarkt; D.D. arbeitet weiter

- 1987 folgte der dritte Herzinfarkt; D.D. arbeitet er weiter

- 1989 wird D.D. auf Initiative der Ärzte „invalidisiert“.

- Es steht eine große Herzoperation an, die von zwei ausländischen Krankenhäusern abgesagt wird. In NRW kommt es dann zu einer erfolgreichenOperation.

- Mit dem Eintritt in die Rentenphase Aufnahme einer verstärkten Reisetätigkeit.

- Implantation einer Morphium Pumpe wegen notorischer Probleme mit der Wirbelsäule.

- Interview fand 2009 statt. Das weitere Schicksal ist unklar.

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Der Fall Dietmar Dollinger – biographieanalytischePerspektive

- Überlagerung von Kindheit und Jugend durch die kollektive Verlaufskurve des II. Weltkrieges. Aufschichtung von individuellen Verlaufskurvenpotential (Abwesenheit des Vaters, Hunger, Entbehrungen).

- Ungleichzeitigkeit in der Persönlichkeitsentwicklung: Vermittlung einer gefestigten Kollektividentität (lokale Identität = „ich bin A-Städter“) und einer schwachen interkulturellen Identität ���� hat Folgen für den Aufbau der persönlichen Identität.

- Das institutionelle Ablauf- und Erwartungsmuster der Schullaufbahn wird durch den Krieg konterkariert – Fixierung auf das physische Überleben –biographische Disposition der materiellen Unabhängigkeit.

- Frühe Übernahme von Verantwortung – Übernahme der Rolle des männlichen Beschützers.

- Keine innere Bindung an das institutionelle Ablauf- und Erwartungsmuster der Lehre ���� die Lehre versprach Ernährung (uneigentliche Berufswahl).

- Rückkehr des Vaters – latente Konkurrenz mit dem Vater

- Handlungsschema der radikalen Veränderung der Lebenssituation: „Republikflucht“.

- Relativer materieller Wohlstand im Westen; biographisches Handlungsschema des Erlebens von Neuem (viele Reisen, Fußballweltmeisterschaft, Motorradfahren).

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Der Fall Dietmar Dollinger –biographieanalytische Perspektive- Orientierung am lebenszyklischen Modell der familiären Solidarität ���� Moralische

Verbindlichkeit gegenüber der Mutter ���� Rückkehr in die DDR ����Gefängnisaufenthalt.

- Tendenzielle Fremdbestimmung durch die Mutter bei der weiteren. Berufswahlentscheidung ���� Ausbildung in einem „Lehrmeister-Institut“.

- Fremdbestimmtes institutionelles Ablauf- und Erwartungsmuster der Berufslaufbahn eines Berufsschullehrers, Ausbilders, stellvertretenden Direktor für den Wohnungsbaubereich ���� drei Gehälter.

- Aufnahme eines zehnjährigen Fernstudiums als Agraringenieur. Nicht auszuschließen: relative Straffreiheit wird mit äußerer Loyalität gegenüber Partei „erkauft“.

- Protagonist der zweiten Phase der Agrarpolitik: Mitwirkung bei der Verstaatlichung privater Bauernhöfe ���� nach dieser Bewährungsphase neue Aufgabe im Norden der DDR (Vorsitzender einer großen LPG).

- Die Kombination spezifischer Prozessmechanismen münden in eine Verlaufskurve der Anpassung ein���� a) Sachzwang der Versorgung einer Familie, b) Verpflichtung zum Dienst für die Partei, c) beruflicher Aufstieg und Erweiterung der Privilegien (Reisefreiheit). Diese ist gekennzeichnet ���� vordergründiger Erfolg auf allen Ebenen bei gleichzeitigem Leidensdruck und notorischerÜberforderung.

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Der Fall Dietmar Dollinger – biographieanalytische Perspektive

- Verschränkung der System/Organisationskrise und berufsbiographischer Probleme (=Überforderung) entladen sich gesundheitlich in einer „Implosion des Körpers“ (erster Herzinfarkt) und gesamtgesellschaftlich in einer tiefen, für die Vorwendezeit konstitutiven Legitimationskrise

- „Kampf“ zwischen dem institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster der Berufskarriere (als LPG-Chef) – und der damit verbundenen Anpassungs-Verlaufskurve - einerseits und dem institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster der medizinischen Behandlung andererseits ���� der zweite und dritte Herzinfarkt.

- Die Ärzte setzten die „Invalidisierung“ als Verwaltungsakt schließlich durch

- Koinzidenz von Lebensgeschichte und Geschichte: Austritt aus dem aktiven Berufsleben – deutsche Wiedervereinigung

- Institutionalisiertes Ablauf- und Erwartungsmuster der Krankenbehandlung ����nach Reha-Phase „Herzinfarkt“

- (Wieder)Aufnahme des biographischen Handlungsschemas der Suche nach Neuem (aktives Reisen)

- Institutionalisierung des Ablauf- und Erwartungsmusters der medizinischen Behandlung erweist sich als nicht vereinbar mit dem biographischen Handlungsschema der Suche nach Neuem ���� Reisen sind unmöglich

- Erzwungenes „Time-out“ ���� Konzentration auf die Familie, Kontrolle der Krankheitsverlaufskurve (labiles Gleichgewicht) mit Hilfe modernster Medizintechnik (Morphinpumpe).

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Das Fall Dietmar Dollinger – die lerntheoretische Perspektive

- Weist Ansinnen der Forscherin in Richtung interaktionsgeschichtliches Lernen „wer sind sie als Person?“ zurück ���� hat Probleme mit dem Interviewsetting.

- Verlernen der Sprache der Mutter ���� Distanzierung von der Kultur der Mutter.

- Institutionalisiertes Ablauf- und Erwartungsmuster der Schule/der Lehre evozieren verwaltetes Lernen und gleichzeitig einen latenten „Hunger nach Bildung“ (Generationsbezogenes Lernen)

- Lebenszyklische, auf die Familie bezogene Ablaufmuster tragen zur Aneignung der Handlungsmaxime der Erzielung und Sicherung von materiellem Wohlstand bei.

- Informelles Lernen = Lernen zu überleben: Improvisieren, (illegales) Organisieren, Umgang mit ausweglosen Situationen, Verantwortung für die Familie.

- Zielgerichtetes Lernen bei Umsetzung des biographischen Handlungsschemas des Erlebens von Neuem ���� Reiseerfahrungen erweitern den Horizont.

- Sanktionierung der Republikflucht löst (erzwungene) Loyalität im politischen Verhalten und ein Anpassungslernen aus. Politische Bildung = Bindung an die DDR.

- Das verwaltete Lernen im Zuge des institutionalisierten Ablauf- und Erwartungsmusters der Berufskarriere trägt zur nachhaltigen Systemintegration bei ���� hat Konsequenzen auf die soziale Identität als Staatsbürger und Berufstätiger ���� enge Kopplung Berufsrolle, Staatsbürgerrolle und Familienvater.

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Das Fall Dietmar Dollinger – die lerntheoretische Perspektive

- Kompetenter Umgang mit Nichtwissen.

- Lernt uneigentliche Berufswahlentscheidung zu korrigieren.

- Handlungsschema des Erlebens von Neuem und Karriere als LPG-Vorsitzender können z.T. vereinbart werden ���� Bewältigungslernen in beiden Bereichen notwendig ���� der Preis: Anpassungsverlaufskurve.

- Delegation systemischer Widersprüche an die Führungskader können nicht im Modus des Lernens bearbeitet werden: Sie spitzen sich zu und entladen sich körperlich im Herzinfarkt

- Symbolik des Falls: D.D. verlernt den „aufrechten Gang“ – oder anders formuliert: er versucht unter nicht mehr funktionalen Bedingungen zu funktionieren, massive Rückenprobleme („Wirbelsäule ist Schrott“, ärztliche Diagnose).

- Nichtlernen im Zusammenhang mit dem ersten Herzinfarkt ���� Gefangensein im institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster des LPG-Chefs, Überfokussierung auf sozialer Identität als LPG-Vorsitzender bei gleichzeitiger Ausblendung der personalen Identität

- Lösung des narrativen Bezugs als Indiz des Verlernens der persönlichen Identität ���� zugunsten der Fokussierung auf die Patienten- und Familienrolle

- Aneignung der biographischen Eigentheorie: ‚vieles erreicht, vieles in Europa gesehen, manche verlassen nie das Dorf A‘.

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Ausgewählte Bewältigungsstrategien von D.D.

- Distanzierung gegenüber dem eigenen Lebensschicksal als ganzem durch Witz und Ironie: „Manches nimmt man dann .... Auch nicht mehr ganz so ernst“ (S. 14:550). ���� Evaluation der Lebensgeschichte

- Distanzierung von der Patientenrolle durch Witz und Sarkasmus: „ich sag mal, ich bin n,n, hier drinne ist n eingebauter Klempnerladen bei mir im Körper. Ich hab ... die Stents drinne, den Port drinne von der Herzoperation, den Schrittmacher“ (S. 14: 536).

- Bewältigung durch Ausblendung: die politische Verstrickungen als LPG-Vorsitzender werden mit keinem Wort thematisiert.

- Die (Wieder)Aneignung verschütteter Teile der eigenen Lebensgeschichte durch den Besuch wichtiger Orte und Schauplätze Jahrzehnte später.

- Bewältigung existentieller Entscheidungskrisen durch die Orientierung an signifikanten anderen (Mutter) oder durch institutionelle Ablauf- und Erwartungsmuster der Berufskarriere/lebenszyklischer Ablaufmuster.

- Die Lust am Reisen ���� verdeckter Weg, die eigenen familienbiographischen Ursprünge der Familie zu entdecken (ein zentrales Reiseziel ist das Ursprungslang der Mutter)

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Bedingungen, die eine Bewältigung möglich machen würden

Vollständiger Subjektstatus des

Biographieträgers

Annähernde Passung von

biographischer

Eigentheorie und

faktischem Verlauf

Die individuelle Bewältigung ist

abhängig von der Bewältigung

im sozialen Umfeld

. Die Akteure müssen über die

zur Bewältigung notwendigen

Ressourcen verfügen.

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Konklusion aus lerntheoretische Sicht

Verzicht auf Verallgemeinerung! Hier sind Nachfragen an die Coping-Forschung gerichtet worden, die einen weiteren Dialog notwendig machen!

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Konklusion aus lerntheoretische Sicht ���� Blick auf D.Dollinger

D.D. hat vieles nicht bewältigt (und vielleicht deshalb ist er auch so von Krankheit gezeichnet). Und gerade weil dem so ist, hat er – vom Standpunkt des biographieanalytischen Beobachters – einen spezifischen Lernbedarf:

1.Mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen. Zu seiner politischenVergangenheit stehen lernen.

2.Seine beruflichen Leistungen sehen und erkennen – aber auch den Preis, den er dafür bezahlen musste.

3.Veränderung des Alltagsverhaltens im Alter als Herausforderung akzeptieren lernen.

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Konklusion aus lerntheoretische Sicht ���� Blick auf D. Dollinger

„Bewältigung“ nicht nur als individuelles Phänomen betrachten:

Der Fall D.D. hat gezeigt, wie die „politische Bewältigungspraxis“ der DDR aussah, um dafür zu sorgen, dass das strukturell Unmögliche (z.B. zwei LPGs gleichzeitig zu leiten) möglich zu machen: Rekrutierung von Personen, die fünf Bedingungen erfüllt haben:

- 1. Politische Loyalität der Person konnte erzwungen und nicht erbeten werden.

- 2. Extrafunktionale Qualifikationen (im Krieg erworbene biographische Handlungsdispositionen (Improvisieren, Organisieren) gekoppelt mit formaler Qualifikation (Studium und Ausbildung).

- 3. Aufstiegs- und Erfolgsorientierung (Suche nach materiellen Gratifikationen).

- 4. Keine eindimensionale Berufsorientierung: Funktionär und Fachexperte (Multitalent).

- 5. Starke Fixierung auf soziale Identität als Berufstätiger und Familienvater und eher geringe Ausprägung der persönlichen Identität. Disposition zur Anpassung.

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Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!

http://www.biographie-krankheit-lernen.de/index.html