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Leseprobe (c) Rombach Verlag Daniela Gretz / Nicolas Pethes (Hg.) Archiv/Fiktionen Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts

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ROM BACH WI SS EN SCHAFTEN • REI H E LITTERAE

herausgegeben von Gerhard Neumann, Günter Schnitzler und Maximilian Bergengruen

Band 217

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Archiv/Fiktionen

Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http:/dnb.d-nb.de> abrufbar.

Auf dem Umschlag: American Editors. II. – Joseph Pulitzer, in: Harper’s Weekly, 28. Dezember 1901, S. 1345 (© 2001 HarpWeek).

© 2016. Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien1. Auflage. Alle Rechte vorbehaltenLektorat: Dr. Friederike WursthornUmschlag: Bärbel Engler, Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/WienSatz: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg im BreisgauHerstellung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg im BreisgauPrinted in GermanyISBN 978-3-7930-9843-0

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Inhalt

DANIELA GRETZ / NICOLAS PETHESEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Institutionen

ULRIKE VEDDERZwischen Depot und Display: Museumstechniken in der Literatur des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 35

CHRISTINE WEDERGegenwärtige Geschichte(n): Gesammelte Uhren und Bücher im Spannungsfeld von Archiv und Aktualität bei Marie von Ebner-Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

MICHAEL NIEHAUSUniversalbibliothek und Universalarchiv Zu einer kurzen Erzählung von Kurd Laßwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

PHILIP AJOURIChronologische Werkausgaben im 19. Jahrhundert Die Genese einer ›werkpolitischen‹ Praxis im Spannungsfeld von Autorwillen, Archivordnung und Publikumserwartung . . . . . . . . . . . . 85

II. Fiktionen

STEFAN WILLERArchivfiktionen und Archivtechniken in und an Goethes Wanderjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

NICOLAS PETHESArchive des Alltags Normalität, Redundanz und Langeweile als Elemente einer Poetik der Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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TORSTEN HAHNAktenstaub/Blumenstaub: Die Form und das ästhetische Verfahren der Epigonalität . . . . . . . . . 149

CLAUDIA LIEBRANDAufsammeln und archivieren Arrangements in Drostes Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

ROLF PARRLiterarische Verfahren der ›Archifikation‹ Wie Wilhelm Raabe und Theodor Fontane auf die Informationsexplosion des 19. Jahrhunderts reagieren . . . . . . . . . . . . 189

III. Medien

SEAN FRANZELVon Magazinen, Gärbottichen und Bomben: Räumliche Speichermetaphern der medialen Selbstinszenierung von Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

MANUELA GÜNTER / MICHAEL HOMBERG›cut & paste‹ im ›Archiv der Massenmedien‹? Theodor Fontanes Unechte Korrespondenzen und die Poesie der Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

STEFAN SCHERER / CLAUDIA STOCKINGERArchive in Serie Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

DANIELA GRETZ›Eine große Zeitungsthat‹: Die serielle Exploration des I/inneren Afrika/s in populären Zeitschriften des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

MADLEEN PODEWSKI›Archivieren‹ mit Serienheften Zum Kolportageroman am Ende des 19. Jahrhunderts (Karl May: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Roman aus der Criminal-Geschichte, 1884–1886) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

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IV. Quantitative Analysen

LYNNE TATLOCKSammeln, Katalogisieren, Serialisieren, Aufbewahren, Verbinden: Wilhelm Raabes Vom alten Proteus, auch bekannt als Die Krähenfelder Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

MATT ERLINSammlung, Inventar, Archiv: Epistemologien der Liste im Roman des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . 363

THOMAS WEITINSelektion und Distinktion Paul Heyses und Hermann Kurz’ Deutscher Novellenschatz als Archiv, Literaturgeschichte und Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

MARCUS TWELLMANNGedankenstatistik Proto-digitale Wissenschaften vom »objektiven Geist« und ihre Archivverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

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DANIELA GRETZ / NICOLAS PETHES

Einleitung

Die explosionsartige Zunahme von Texten und Daten sowie die mit ihr einhergehenden Probleme der Selektion, Verarbeitung, Ordnung, Speiche-rung und Erschließung von Wissen sind in der europäischen Moderne ein medienhistorisches Faktum und ein kulturkritischer Topos zugleich.1 Hatte das 18. Jahrhundert noch von der Möglichkeit einer systematischen und enzyklopädischen Ordnung des Wissens geträumt, erwacht das 19. in einer Wirklichkeit immer weiter anwachsender Aktenberge der bürokratischen Verwaltung und Papierfluten der unüberschaubaren (periodischen) Pres-seerzeugnisse des medialen Massenmarkts.2 Die Kultur des langen 19. Jahr-hunderts stand auf diese Weise vor vielfältigen Herausforderungen der Ar-chivierung – verstanden als Problem sowohl der materiellen Aufbewahrung als auch der diskursiven Prozessualisierung der Informations- und Wissens-explosion der Zeit.Diese historische Herausforderung gewinnt heute, im Lichte einer mehr oder weniger vollständigen Transformation hand- und druckschriftlicher Textzeugnisse in digitale Formate, neues und aktuelles Gewicht, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen, weil digitale Medien – neben einer nach wie vor expandierenden Buch- und periodischen Presseproduktion – wei-ter zur modernen Informationsexplosion und den mit ihr einhergehenden Archivierungsproblemen beitragen, so dass sich die Frage nach den Konti-nuitäten zwischen gegenwärtigen und historischen Debatten stellt; zum an-deren, insofern die neuen textuellen Erfassungstechnologien, wie sie sich in den letzten Jahren unter dem Schlagwort ›Digital Humanities‹ akademisch

1 Vgl. die beiden Bände von Peter Burkes Sociology of Knowlegde, die in deutscher Über-setzung unter den sprechenden Titeln Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesell-schaft (Berlin 2001) bzw. Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia (Berlin 2014) erschienen sind, sowie Ann Blair: Too much to Know. Managing Scholarly Infor-mation Before the Modern Age, Yale 2010; Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht, Würzburg 2010; Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2012; Ramón Reichert (Hg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld 2014.

2 Vgl. Cornelia Eismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000; Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2012; Lisa Gitelman: Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents, Durham/London 2014.

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etabliert haben, Zugänge und Erschließungswege zu just demjenigen his-torischen Textbestand eröffnen, der den Zeitgenossen selbst zunehmend unüberschaubar und unbewältigbar erscheinen musste.3

Digitale Archivierungsprojekte unserer Tage tragen damit gleichermaßen zur Reduktion wie zur Steigerung der Komplexität des Archivs der schrift-textuellen Tradition bei: Sie machen historisches Material zugänglich, das mit herkömmlichen Papiertechnologien sowohl für damalige Leser als auch für heutige Historiker in seiner gesamten Masse unzugänglich bleiben muss-te, reduzieren es dazu allerdings gerade um seine je spezifische Materialität. Damit befördert die Vervielfältigung vormals papierner Inhalte in digitalen Dateien aber unweigerlich denjenigen Prozess, den sie zu kontrollieren vor-gibt: Sie transformiert ein unüberschaubares papiernes Archiv in ein digita-les, das nur mehr mit quantitativen Methoden erschließbar scheint – und schafft auf diese Weise nicht etwa weniger, sondern mehr Daten. Der vorliegende Sammelband interessiert sich für beide damit angedeutete Zusammenhänge: für die Frage, inwiefern die gegenwärtigen Mediendebat-ten und Archivierungsprojekte eine instruktive Vorgeschichte im 19. Jahr-hundert haben; und für die Beobachtung, dass die Verbindung zwischen dieser papierkulturellen Vorgeschichte und unserer digitalen Gegenwart in einer spezifischen Paradoxie aller kultur- wie medienhistorischen Verfahren, die man unter dem Oberbegriff des Archivierens fassen kann, besteht: Sie beruhen auf dem Verwalten, Beherrschen und Prozessieren von anwach-senden Massen von Archivalien und Wissen bzw. zielen auf Ordnung, Kon-servierung und Erschließung4 und gewinnen aus dieser spannungsreichen Anlage ihren übergreifenden kulturhistorischen Stellenwert.5

3 Vgl. Adrian van der Weel: Changing our Textual Minds. Towards a Digital Order of Knowledge, Manchester 2011; Anne Burdick u.a.: Digital_Humanities, Cambridge (MA)/London 2012.

4 Vgl. zur »Konservierungs-, Ordnungs- und Erschließungsfunktion« von Archiven: Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 165–176, hier S. 173.

5 Vgl. dazu auch Dietmar Schenk: Kleine Theorie des Archivs, 2. Aufl., Stuttgart 2014, sowie Cornelia Vismanns instruktive doppelte Lesart des Archivs als »Topos«, »Modus des Gesetzes« einerseits und als materieller, ver- und abgeschlossener »Raum« oder »Con-tainer« andererseits: als »-archie und arca, Herrschaft und Kiste«. Cornelia Vismann: Arche, Archiv, Gesetzesherrschaft, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivolo-gie, S. 89–103, hier S. 103. Parallel dazu konstatiert auch Wolfgang Ernst: »Tragen und Durchherrschen bilden das mediale Dispositiv des Archivs«. Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie, S. 177–200, hier bes. S. 187. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte die ebenfalls auf Archivpraktiken

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11Einleitung

Von ›Verfahren des Archivierens‹ kann in einem so allgemeinen Sinn die Rede sein, weil es eine konzise und konsensuelle Definition des Archivs nach wie vor nicht gibt. Zwar hat Jacques Derrida in seinem vielzitierten Essay Mal d’archive von 1995 seine Hinweise auf die verdrängte schriftma-terielle Äußerlichkeit jeder Ursprungssemantik als Projekt einer »Archivo-logie« gefasst;6 und der von Knut Ebeling und Stephan Günzel herausge-gebene Band gleichen Titels versammelt eine Reihe zentraler theoretischer geschichts-, medien-, kunst- und kulturwissenschaftlicher Adaptionen des Archivbegriffs.7 Sowohl Derridas unterschiedliche Referenzen auf die an-tike Rechtsgeschichte und Freuds Psychoanalyse als auch die disziplinäre Heterogenität der Ansätze bei Ebeling/Günzel changieren jedoch zwi-schen verschiedenen, institutionellen, funktionalen und metaphorischen Verwendungsweisen des Archivbegriffs, die neben Staats-, Gerichts- oder Stadtarchiven im engeren Sinne z.B. auch Museen, Bibliotheken und wei-tere Objekt- bzw. Textsammlungen, wie Enzyklopädien,8 und Zeitschrif-ten der periodischen Presse,9 aber auch die visuellen Archive der Mas-senmedien10 als (diskursive) Wissensräume umfassen.11 Diesen ›Archiven‹ im engeren und weiteren Sinne ist gemeinsam, dass sie im hier relevanten Kontext der Informations- und Wissensexplosion des 19. Jahrhunderts auf je unterschiedliche Weise an Prozessen des Selegierens, Transformierens und Überlieferns beteiligt sind, was sich im Rahmen eines metaphorischen Archivverständnisses als ›Übertragung‹ von archivalischen Verfahren (der

ausgerichtete Bestandsaufnahme von Marcel Lepper/Ulrich Raulf (Hg.): Handbuch Ar-chiv. Geschichte, Aufgabe, Perspektiven, Stuttgart 2016.

6 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression [1995]. Aus dem Französischen von Hans Gondek und Hans-Dieter Naumann, Berlin 1997, zum »Projekt einer allgemeinen Archivologie«, S. 61.

7 Vgl. Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philoso-phie, Medien und Künsten, Berlin 2009.

8 Vgl. dazu Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 155–172, hier S. 155.

9 Vgl. Anja Horstmann/Vanina Kopp (Hg.): Archiv, Macht, Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt a.M. 2010.

10 Vgl. Gustav Frank/Madleen Podewski/Stefan Scherer: Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ›kleine Archive‹, in: Internationales Archiv für Sozialgeschich-te der Literatur 34 (2009), S. 1–45, sowie das Themenheft Zeitschrift als Archiv (= Spra-che und Literatur 46 (2014), 2. Halbjahr, hg. von Susanne Düwell und Nicolas Pethes) [im Druck].

11 Vgl. zu den unterschiedlichen Archivkonzepten der gegenwärtigen Debatte: Annika Wellmann: Theorie der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen der Archivge-schichte, in: Neue Politische Literatur 57 (2012), S. 385–401.

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12 Daniela Gretz / Nicolas Pethes

Selektion, Registratur, Sortierung, Anordnung, Speicherung, Verzettelung, Katalogisierung und Erschließung von Information und Wissen) auf un-terschiedliche institutionelle, mediale und literarische Kontexte verstehen lässt, ohne auf die lokale und materielle Konkretion des Archivs im engeren Sinne beschränkt zu sein.12 Es geht entsprechend nicht darum, eine syste-matische und umfassende Theorie des Archivs zu entwickeln, im Rahmen derer das Archiv dann zu einer »kulturtechnische[n] Universalmetapher« würde,13 sondern um die spezifische Frage, welche unterschiedlichen Funk-tionen derartigen Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts bei der Bewältigung der Informations- und Wis-sensexplosion zukommen und wie sich vor dem Hintergrund dieser Her-ausforderung traditionelle Verfahren wandeln und neue etablieren.Die Fokussierung der literarischen und medialen Inszenierung schließt an Michel Foucaults Beobachtung an, dass die »endlosen Wucherungen be-druckten Papiers« zum Gegenstand der Literatur des 19. Jahrhunderts wer-den, und das in einer Weise, die sie auf eine spezifische »Bibliotheksphanta-sie« gründen läßt: »Ihre Kunst siedelt sich an, wo das Archiv entsteht«, und führt auf diese Weise zusammen, was in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts noch streng geschieden schien: die archivarische Ordnung als Repräsenta-tion systematischen Wissens und das Vermögen der Einbildungskraft als subjektive Quelle der Dichtung.14 Foucaults Beobachtung einer produkti-ven wie reflexiven Bezugnahme literarischer Verfahren und Texte auf den Prozess der medialen Informations- und Wissensexplosion des 19. Jahrhun-derts soll hier für den deutschsprachigen Kontext aufgegriffen werden, in-dem die Konstellation von ›Bibliothek‹ und ›Phantasie‹ durch diejenige von ›Archiv‹ und ›Fiktion‹ ergänzt wird. Die Frage nach der Rolle medialer Formate bei der Ausbildung und Ver-handlung von Wissensdiskursen kann hingegen an den Archivbegriff an-schließen, den Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens entfaltet und der als »historisches Apriori« die regelmäßigen Verfahren im Rahmen der Formierung von Diskursen abbildet:

12 Eine grundlegende Ausdifferenzierung derartiger archivförmiger Operationen leisten Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbe-wahrung, Köln 2002.

13 Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort, S. 184.14 Michel Foucault: Un »fantastique« de bibliothèque. Nachwort zu Gustave Flauberts ›Die

Versuchung des heiligen Antonius‹ [1966]. Aus dem Französischen von Anneliese Botond, in: Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 157–177, hier S. 162 und S. 174.

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13Einleitung

Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Ar-chiv ist auch das, was bewirkt, daß alle diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; sondern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, die sich auf-grund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischen Regel-mäßigkeiten sich behaupten oder verfließen.15

Es handelt sich mithin um einer Art ›virtuelles Archiv‹16 rekursiver Figura-tionen und Verfahren, die so eine »unbewußte Struktur einer Kultur(epo-che)« bilden.17 Diese Definition ist auch im New Historicism virulent, der beansprucht, das ›Archiv‹ diskurshistorischer Kon-Texte zu erschließen.18 Literarische Texte sind diesem Verständnis zufolge ebenso sehr Teil des ›Archivs‹ wie literarische Verfahren Bestandteil unterschiedlicher Archiv-prozesse der Herausbildung von Wissen. Auch die jüngere Zeitschriftenfor-schung hat in ähnlicher Weise auf Foucaults Archivbegriff zurückgegriffen, um das »mediale Apriori«19 zeitgenössischer Wissensproduktion in einem »Kontinuum der Printmedien«20 (von Zeitungen über Zeitschriften sowie buchförmigen (Halb-)Jahrgangsbänden derselben über Bücher und Buchpu-

15 Ders.: Archäologie des Wissens [1969]. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1973, S. 187. In diesem Sinne bezeichnet Gilles Deleuze Foucault auch als »[e]in[en] neue[n] Archivar«: Gilles Deleuze: Foucault [1986]. Aus dem Französischen von Hermann Kocyba, Frankfurt a.M. 1987, S. 9–36, hier S. 9.

16 Vgl. Anja Horstmann/Vanina Kopp (Hg.): Archiv, Macht, Wissen, S. 13. Vgl. dazu auch die Modellierung der mit Archiven stets verbundenen Gesetzesherrschaft bei Cornelia Vismann: Arche, Archiv, Gesetzesherrschaft, S. 93: »Diese Nomos-Archie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie vorangeht. Das abstrakte Gesetz ist ein virtuelles Archiv, es geht dem Einzelfall voraus, so wie die archivierten Texte den aktuellen vorausgehen.«

17 Hannelore Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten. Zum Wissens-archiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 226.

18 Vgl. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995; Ders.: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literatur-wissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, München 2005.

19 Vgl. die Adaption des diskursanalytischen Archivbegriffs für die Zeitschriftenforschung bei Gustav Frank/Madleen Podewski/Stefan Scherer: Kultur – Zeit – Schrift, S. 44: »Das mediale Apriori […] ist […] auf einer mittleren Ebene der Abstraktion bzw. Konkretion angesetzt: Im Blick bleiben einerseits die Organisationsstrukturen und Formenrepertoires der Wissensgenerierung und andererseits deren wiederum funktionale Spezifik innerhalb historischer Medienkonstellationen.«

20 Gustav Frank: Was der Fall ist. Zur Funktion von Literatur in ›kleinen Archiven‹ am Beispiel von Schillers Geisterseher, in: Sprache und Literatur 46 (2014), 2. Halbjahr (= Themenheft: Zeitschrift als Archiv, hg. von Susanne Düwell und Nicolas Pethes) [im Druck].

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blikationen in Fortsetzungen bis hin zu Buchreihen) als signifikanten Teil des diskursiven Wissensarchivs des 19. Jahrhunderts zu charakterisieren. Damit erfolgt zugleich eine »historische Re-Konkretisierung des Archivbegriffs auf Foucaultscher Grundlage«,21 indem die »Archäologie des Wissens« um eine »Medienarchäologie« ergänzt wird.22 Letztere interessiert sich für Elemente des Archivs als Anordnung von Daten und lehnt den Zugang sowohl des ›alten‹ Historismus wie des New Historicism ab, sie lediglich als Rohmaterial zu verwenden, das es in Geschichtsschreibung bzw. fiktionale Erzählungen zu übersetzen gilt.23 Ruft man sich aber in Erinnerung, wie sehr Foucault in seinen späteren Arbeiten unter dem Begriff des Dispositivs die Kompa-tibilität diskursiver und nichtdiskursiver Elemente betont hat, muss man es keinesfalls bei einer solchen alternativen Gegenüberstellung belassen.24 Foucaults Dispositivbegriff erlaubt es vielmehr, sowohl die räumlich kon-krete Architektur als auch die systematische Anordnung von Inhalten, so-wohl die Medialität der Speichertechniken als auch die Prozessierung und

21 Ebd.22 Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002.23 Ders.: Das Archiv als Gedächtnisort, S. 185 und S. 189: »Im Archiv wird in Form von

Aktenzeichen evident, dass es nicht Vergangenheit erzählen kann, sondern nur: zählen. […] Transitives Schreiben bedeutet, nicht Zitate aus dem Archiv in narrative Texte einzu-packen, sondern das Verhältnis umzukehren: Archiv-Funde in einer plausibel strukturier-ten, aber eben nicht narrativ geschlossenen Form auszustellen.« Vgl. Ders.: Das Rumoren der Archive, S. 44–53.

24 Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 2008, S. 119f.: »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrich-tungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissen-schaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. […] Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können. Drit-tens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von […] Formation, deren Hauptfunktion zu ei-nem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« Foucaults Definition, der zufolge ein Dispositiv aus »Gesagte[m] ebensowohl wie Ungesagte[m]« bestehe und durch ein »Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen« ge-prägt sei, erlaubt auch Anschlüsse an Konzepte der Actor-Network-Theory, die »Kon-stellationen von Menschen und nicht-menschlichen Aktanten« ebenfalls als »dispositif« (englisch: setting) bezeichnet: Vgl. Madeleine Akrich/Bruno Latour: Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführen-des Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 399–405, hier S. 399f.

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15Einleitung

Transformation von Aussagen, sowohl institutionelle Einbindung als auch individuelle Nutzungspraktiken bzw. deren Normalisierung als Formations-räume zu fassen, als ›Archiv‹-Dispositive, innerhalb derer sich heterogene aber zum Teil strukturanaloge und untereinander vernetzte konkrete Ar-chivverfahren ausbilden.25 Das bedeutet aber nicht zuletzt, ein »reduktives Konzept des Archivs als passiver und statischer Registratur« um die »aktive Vorstellung vom Archiv, das selbst Macht ist«,26 zu ergänzen. Im Anschluss daran umreißen die vier Sektionen des Bandes je punktuell und exemplarisch den strategischen, wahlweise restaurativ-kompensatori-schen oder innovativ-beschleunigenden Einsatz von Archivverfahren zur Bewältigung von Problemen der Informationsverwaltung und des Wis-sensmanagements in unterschiedlichen Konstellationen von ›Archiv‹ und ›Fiktionen‹ im langen 19. Jahrhundert: erstens die vielfältigen Institutionen und deren archivalische Verfahren, die in der Literatur thematisiert und problematisiert oder im philologischen Umgang mit Literatur angewendet und modifiziert werden; zweitens die selbstreflexive Inszenierung literarischer Erzählverfahren als archivalische Verfahren der Verwaltung von Doku-menten in Gestalt von Archivfiktionen; drittens die mediale Selbstinszenie-rung von Zeitschriften als Archiven und serielle Verfahren des Archivierens und der interdiskursiven Vernetzung von Literatur und Wissen im Rahmen diskursiver Wissensgenerierung; und viertens den Zusammenhang zwischen den Antworten dieser historischen Archivverfahren auf das Problem der In-formations- und Wissensexplosion und unseren eigenen digital unterstütz-ten Analysen der durch sie entstandenen Textarchive.

I. Institutionen

Die erste Sektion differenziert also die verschiedenen Institutionen und die mit ihnen verbundenen Archivverfahren, die in Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts thematisiert und problematisiert werden. Archive im engeren Sinne dienen dabei der (zunächst einmal nichtöffentlichen) Auf-bewahrung von kirchlichen oder staatlichen Urkunden bzw. juristischen

25 Vgl. dazu auch die medienspezifische Verwendung des Dispositivbegriffs bei Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort, S. 187 und S. 198, und die historische Lesart dessel-ben bei Anja Horstmann/Vanina Kopp (Hg.): Archiv, Macht, Wissen, S. 10.

26 Gustav Frank: Was der Fall ist [im Druck].