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69 In der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie sowie in der strukturalen Familienso- ziologie sind die grundlegenden sozialisationstheoretischen Konzepte bis heute stark am Modell der familialen Triade orientiert. Dieser Konstellation – bestehend aus Mutter, Vater und Kind – wird von Sigmund Freud über Talcott Parsons bis Ulrich Oevermann eine fundamentale sozialisatorische Bedeutung zugewiesen. Aus den mit der Triade verbunde- nen ödipalen Konflikten geht diesen Ansätzen zufolge die Ontogenese des Subjekts hervor; die Identitätsbildung des Kindes ist demnach zuvörderst das Produkt des Ausgangs jener Konflikte. Aus der Struktur der Triade und der Dynamik ihrer triangulierten Beziehungen haben die klassischen Sozialisationstheorien nicht nur Prozesse der Individuation und Autonomieentwicklung sowie die Herausbildung von Geschlechtsidentität erklärt. Zugleich galt ihnen die familiale Triade als der Ort, an dem die nachwachsende Generation die Normen der sie umgebenden Gesellschaſt internalisiert und auf die Übernahme gesell- schaſtlicher Rollen vorbereitet wird. Heute scheint unklar zu sein, ob sich die Struktur- eigenschaſten der familialen Triade im Rahmen der auf Freud, Parsons und Oevermann zurückgehenden Sozialisationstheorien so allgemein konzipieren lassen, dass sie auf die verschiedenen, heute existierenden Familienkonstellationen angewendet werden können. Bei dieser Frage beginnt jedenfalls bereits der Dissens zwischen den hier unter dem Stich- wort »Sozialisation und familiale Triade« versammelten Beiträgen.1 Alle Autor_innen stellen indessen den unübersehbaren Umstand in Rechnung, dass Sozialisationsmodelle, die in der Triade ihre Grundfigur erblicken, in den letzten Dekaden in die Kritik geraten sind. Fraglich ist, ob die familiale Triade überhaupt ein taugliches Modell für die pluralen Familien- und Beziehungskonstellationen der Gegenwart sein kann. Hängen dem Konzept nicht gleichsam als Erblast überkommene Normalitätsvorstellungen an, für deren Effekte man nur noch eine sozialisatorische Schadensbilanz aufstellen kann? Ist die Universalität der triadischen Dynamik von Sozialisationsprozessen empirisch wider- legt, oder bleiben die formalen Struktureigenschaſten der Triade auch bei allem Wandel der Kai-Olaf Maiwald, Sarah Mühlbacher, Sarah Speck und Ferdinand Sutterlüty Stichwort: Sozialisation und familiale Triade WestEnd. Neue Zeitschriſt für Sozialforschung, 15. Jg., Heſt 2, 2018: 69–71

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In der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie sowie in der strukturalen Familienso-ziologie sind die grundlegenden sozialisationstheoretischen Konzepte bis heute stark am Modell der familialen Triade orientiert. Dieser Konstellation – bestehend aus Mutter, Vater und Kind – wird von Sigmund Freud über Talcott Parsons bis Ulrich Oevermann eine fundamentale sozialisatorische Bedeutung zugewiesen. Aus den mit der Triade verbunde-nen ödipalen Konflikten geht diesen Ansätzen zufolge die Ontogenese des Subjekts hervor; die Identitätsbildung des Kindes ist demnach zuvörderst das Produkt des Ausgangs jener Konflikte. Aus der Struktur der Triade und der Dynamik ihrer triangulierten Beziehungen haben die klassischen Sozialisationstheorien nicht nur Prozesse der Individuation und Autonomieentwicklung sowie die Herausbildung von Geschlechtsidentität erklärt. Zugleich galt ihnen die familiale Triade als der Ort, an dem die nachwachsende Generation die Normen der sie umgebenden Gesellschaft internalisiert und auf die Übernahme gesell-schaftlicher Rollen vorbereitet wird. Heute scheint unklar zu sein, ob sich die Struktur-eigenschaften der familialen Triade im Rahmen der auf Freud, Parsons und Oevermann zurückgehenden Sozialisationstheorien so allgemein konzipieren lassen, dass sie auf die verschiedenen, heute existierenden Familienkonstellationen angewendet werden können. Bei dieser Frage beginnt jedenfalls bereits der Dissens zwischen den hier unter dem Stich-wort »Sozialisation und familiale Triade« versammelten Beiträgen.1

Alle Autor_innen stellen indessen den unübersehbaren Umstand in Rechnung, dass Sozialisationsmodelle, die in der Triade ihre Grundfigur erblicken, in den letzten Dekaden in die Kritik geraten sind. Fraglich ist, ob die familiale Triade überhaupt ein taugliches Modell für die pluralen Familien- und Beziehungskonstellationen der Gegenwart sein kann. Hängen dem Konzept nicht gleichsam als Erblast überkommene Normalitätsvorstellungen an, für deren Effekte man nur noch eine sozialisatorische Schadensbilanz aufstellen kann? Ist die Universalität der triadischen Dynamik von Sozialisationsprozessen empirisch wider-legt, oder bleiben die formalen Struktureigenschaften der Triade auch bei allem Wandel der

Kai-Olaf Maiwald, Sarah Mühlbacher, Sarah Speck und Ferdinand Sutterlüty

Stichwort: Sozialisation und familiale Triade

WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 15. Jg., Heft 2, 2018: 69–71

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Familienkonstellationen am Grunde des sozialisatorischen Geschehens erhalten? Diesen Fragen kommt aktuell unter anderem in der familienpolitischen Diskussion um kind-gerechte Lebensformen eine hohe Relevanz zu. In der Familien- und in der Geschlechter-forschung werden sie nicht nur angesichts neuer Familienmodelle – etwa Mehreltern-, Fortsetzungs-, Wahl- und sogenannter Regenbogenfamilien – aufgeworfen, sondern auch vor dem Hintergrund neuer Reproduktionstechnologien. Nicht zuletzt ist die Ermittlung von familialen Konstellationen, in denen Kinder gedeihen und zu autonomen Subjekten heranwachsen können, für die Ausgestaltung des Familienrechts und familienergänzender Erziehung von ganz entscheidender Bedeutung.

Die familialen Wandlungsprozesse werden gegenwärtig zumeist interaktionistisch oder praxistheoretisch unter Stichworten wie doing family oder doing kinship theoretisiert, wodurch eine Auseinandersetzung mit grundlegenderen Fragen der Sozialisation umgangen wird. Genau diese Fragen nehmen die folgenden Beiträge in den Blick. Die Antworten hinsicht-lich der Erklärungskraft und normativen Implikationen triadischer Sozialisationsmodelle fallen allerdings denkbar unterschiedlich aus. Das Spektrum der Positionen reicht von einer Verteidigung reformierter Versionen einer grundsätzlich triadischen bzw. triangulierten Struktur von Sozialisation bis hin zu der Auffassung, dass starke triadische Vorannahmen sozialisationstheoretisch ungerechtfertigt, sozial schädlich und daher zu verabschieden sind.

Die kontroverse Debatte eröffnet Kai-Olaf Maiwald, der anhand zentraler Elemente der strukturalen Familiensoziologie nach Parsons und Oevermann das spezifische Beziehungs-gefüge und die Interaktionsdynamik von Familien rekonstruiert. Er identifiziert dabei übergreifende Strukturen, die unterschiedlichen Familienformen gemeinsam sind, und zeigt auf, inwiefern triadisch strukturierte Familien eine innere Dynamik entfalten, die besonders geeignet ist, soziale Handlungsfähigkeit bei den Heranwachsenden hervorzu-bringen. Nicht-triadische Familien müssen seiner Analyse zufolge durch Erziehung kom-pensieren, was die alltägliche Interaktion in der Triade von sich aus leistet. Er warnt deswe-gen davor, die triadische Sozialisationstheorie vorschnell ad acta zu legen und mit ihr zugleich genuin soziologische Erklärungsansprüche aufzugeben.

Vera King geht der Frage nach, welche Bedeutung dem Konzept der Triade in pluralisier-ten Lebens- und Familienformen heute zukommt. Dabei vertritt sie ein Verständnis der Triade, das unabhängig von Familienmodellen die symbolische Repräsentanz des Dritten hervorhebt. Ihre Position fußt auf einer Unterscheidung zwischen der äußeren und inneren Bedeutung der Triade für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Auf diese Weise

1 Sie gehen auf einen Workshop zurück, der im Oktober 2016 im Rahmen des Forschungs-verbunds »Verhandlungsformen normativer Paradoxien« am Institut für Sozialforschung stattgefunden hat. Die Herausgeberinnen und Herausgeber danken der VolkswagenStiftung für die Förderung des Workshops sowie des Forschungsverbunds insgesamt.

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können ihr zufolge Zusammenhänge zwischen sozialen Veränderungsdynamiken in der Familie und psychischen Anforderungen an den Nachwuchs erkundet werden.

Der Beitrag von Sarah Speck rekonstruiert und systematisiert verschiedene Kritiken an Theorien, die mit der familialen Triade operieren. Im Mittelpunkt stehen dabei Ansätze aus der Geschlechtersoziologie, der queeren und der feministischen Theorie. Sie plädiert letzt-lich allerdings dafür, die Figur der Triade aufgrund ihrer Erklärungskraft für Individuations-prozesse sowie für die Entwicklung autonomer Handlungsfähigkeit nicht gänzlich aus der Sozialisationstheorie zu verabschieden, sondern als formalisiertes Modell beizubehalten.

Für Ferdinand Sutterlüty und Sarah Mühlbacher wiegt die Erblast der kulturell sedimentier-ten und rechtlich protektionierten Auffassung, dass eine triadische Familienstruktur für ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern den Idealfall darstellt, zu schwer, um ihre orientie-rende Rolle für die Sozialisationstheorie behalten zu können. Jene Auffassung, für die sie die Bezeichnung »Triadismus« einführen, unterziehen sie einer kritischen Revision. Dabei wollen sie unter anderem vor Augen führen, dass die kulturelle Voreingenommenheit und das rechtliche Präjudiz für die triadische Familie neue Gefährdungslagen für Kinder erzeu-gen.

Unter der Prämisse, dass die Familie ihrer sozialisatorischen Rolle gerecht und zum Wohle der Kinder gestaltet werden sollte, sind wir Herausgeberinnen und Herausgeber sicher, dass der Themenschwerpunkt einige wichtige Argumente im Hinblick darauf frei-legt, ob und inwiefern künftig theoretisch, politisch und rechtlich am Modell der familialen Triade festzuhalten wäre. Welcher der unterschiedlichen Argumentationen man folgen sollte? – Jeder Beitrag macht die Gründe für seine Position transparent.