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Q49 // Alexander Graeff // Kebehsenuf // Erzählungen

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Kebehsenuf Z 9

In Prag Z 27

Urlauber Z 53

Schlaf mich weg Z 77

Kleines Tonstück mit Fernando und

Heinrich in Griechenland Z 87

Dialog in einem Zug nach Warschau Z 101

Nachwort Z 115

Kebehsenuf

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Adam Kardamom war tot. Die Todesanzeige wurde auf einer

ganzen Zeitungsseite ausgebreitet. Aller Öffentlichkeit zum Trotz: Er

verabschiedete sich von den offenbarten Göttern seiner Profession.

Sie befand sich im Wohnzimmer. Zusammen mit ihren Eltern. Die

Wandregale waren gefüllt mit den Sachbüchern des Vaters: Astronomie,

Sammelhefte für Gartenbau, VHS-Kassetten. Im mütterlichen Regal-

abschnitt: Rilke, Morgenstern, Mann.

Adam Kardamom war tot. Von nun an keine Männer mehr, denn

seit exakt zwei Stunden und dreißig, nein, einunddreißig Minuten war

er unter der Erde. Der Mann, der Bruder. Kebehsenuf. Oder: das, was von

ihm übrig war. Stoff, Gas, Nichts.

Die Mutter war immer noch vulkanisch. Innen brodelte es, außen

war sie Basalt. Der Vater hatte gerötete Augen, starrte durchs Fenster

auf die Petunien im Garten. Er war unter der Erde. Der Mann, der Sohn.

Kebehsenuf. Oder: der Mann an sich.

Am Kaffeetisch reichte ihr die Mutter ein weiteres, ungewolltes Stück

Blechkuchen. Mit Streusel. Ihr Vater bekam auch eins auf den Teller

geworfen. Ihr Vater. Ganz Mann, war auch seine Zeit abgelaufen. Dann

der Blick hinüber zur Mutter. Ihre Mutter, die bald schon in Vergessen-

heit geraten sollte. Sie war so wenig Frau und schlief nachts mit dem

Gesicht nach unten. Zuletzt sie selbst. Wer ist sie denn? Ein Kind, wie

er eins war. Nur eben anders. Und jetzt, jetzt musste sie Geschicklich-

keit entwickeln für den Umgang mit einem Leben, das sie nur aus den

Geschichten kannte, die ihr Bruder im weltmännischem Gestus, wie

es seine Art war, jedes Jahr an Weihnachten der Familie präsentierte.

Sie und ihr Bruder. Zwei Existenzen wurden nebeneinander gestellt —

ohne Berührung.

Adam Kardamom war tot. Mit seinem Tod kamen andere zum Zuge.

Die Frau. Lili, sie war diese Frau.

Die Mutter sah sie an. Mit Augen wie Wasserbetten. Ihr Blick ver-

unsicherte sie. Zu häufi g machte Lili äußere Vorkommnisse für ihre

Unsicherheit verantwortlich. Sie gab dieser Unsicherheit den Namen:

12 Z Kebehsenuf

Lust. Weibliche Lust, vor der man Angst bekommen konnte. Sie äußerte

sich in einem unbestimmten Verlangen nach — ja, nach was eigentlich?

Hingabe, Wärme, Sex? Ihre Lust war nicht mehr ganz. Und der Tod

ihres Bruders schien damit zu tun zu haben.

Jetzt stiegen wieder diese Erinnerungen aus einer porösen Kindheit

in ihr auf. Ein Beziehungsfetzen: Sie und ihr Bruder. Frühe Berührungen,

die schon bald Berührungslosigkeit werden sollten. Adams Kinder-

zimmer. Ihre Schritte über den warmen Teppich und die zärtlichen

Stoffwülste zwischen ihren Zehen. Adams Lächeln beim Erblicken

der Schwester im Flur. Die Eltern ein Stockwerk tiefer, sicher von den

Kindern getrennt.

Nach Kaffee und Kuchen zu Ehren der Toten, stieg sie die Treppe

hinauf. Die Eltern ließ sie im Wohnzimmer zurück. Das Haus war groß,

sie konnte sich darin verstecken. Der Vater legte Wert auf Raum und

Fläche, auf bleibende Werte, auf geerbte Illusion. Am Türrahmen die

Kerbe. Ein bleibender Wert aus der Kindheit. Guter Erinnerungsanlass:

Sie sieht Adam, wie er mit seinem Taschenmesser den Rahmen bear-

beitet. Aus Wut, weil er zu Hause bleiben musste während die Eltern

zum Skifahren fuhren. Sie hatte immer noch Adams Wutgesicht vor

Augen. Die Züge eines rachsüchtigen Kanopengottes.

Sie trat ins Kinderzimmer. Nichts hier sah mehr nach Kindheit

aus. Heute war der Vater auch in dieses Zimmer gezogen. Hatte sich in

ihrer Kindheit breitgemacht. Vor dem Fenster ein Computermonster.

An den Wänden keine Bilder, keine Fotos, nur ein großes Poster vom

Mond. Darauf alle Gräben, Gebirge, Dome, Krater. Mösting, Grimaldi,

Alphonsus…

Sie stand in der Mittelachsenaura des mondgrauen Zimmers und

erinnerte eine lose Bodenfl iese. Sie zögerte zuerst, da sie annahm, die

Fliese sei längst vom Vater bemerkt worden. Doch dem war nicht so.

Sie war auch heute noch lose. Ehrfürchtig ging sie vor, denn Jahre

lagen zwischen Heute und der Beisetzung der Inhalte. Sie fühlte

sich wie Howard Carter kurz vor der Begegnung mit Tut-ench-Amun;

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ehrfürchtig also hob sie mit Hilfe eines Briefkantenmessers die Fliese

an. Sie gab nach und offenbarte das Geheimnis.

Adam Kardamom war tot. Schöner Mann, sagten alle. Kebehsenuf.

Schon als Kind war er schön gewesen. Oder: als Kind, das Mann werden

sollte, dann nochmal anders: Der Mann, der Kind blieb, weil er dazu

berufen war, das Neue immerzu aus sich selbst heraus zu schaffen.

Das Neue. Er war ein Narr, der Leib gewordene Sohn des Himmels und

einer Pilzkoralle.

Jetzt blätterte sie in wachspapiernen Seitensammlungen und ihr

wurde bewusst: Adams Schädel-Hirn-Trauma war existenzbegründet.

Seit seiner Geburt war er abseitig, daneben, verrückt. So nennt man

das wohl. Sie fand Tagebücher und Briefe. Vorsichtig zog sie einen der

beigefarbenen Briefumschläge aus der Sammlung heraus. Das war

kein Zeugnis aus der Kindheit. Adams Bücher und Briefe wurden regel-

mäßig und akribisch ergänzt, wie die Sammelhefte des Vaters. All die

Jahre über zu Weihnachten ein Teil seines Lebens hier versteckt, Brief

um Brief aufgeschichtet. Der erste Umschlag: ihre Adresse, Gedenk-

briefmarke, nie abgeschickt. Sie musste das Kuvert nicht aufreißen, es

stand geradezu ordinär offen.

Liebe Lili,

über unser Wiedersehen letztes Wochenende habe ich mich sehr gefreut.

Man stelle sich das vor, so lange haben wir uns nicht gesehen! Mein Aufent-

halt in Prag war ja ein eher spontanes Vorhaben. Unser Zusammentreffen dort

stand im wahrsten Sinne des Wortes unter einem silbernen Stern. Wer hätte

gedacht, dass Du das selbe Restaurant aufsuchen wirst wie ich?

Deine überstürzte Abreise stimmte mich traurig. Viel hätten wir uns noch

zu erzählen gehabt — nach der langen Zeit. Nun bin ich selbst wieder zu Hause

angekommen. Wie geht es den Eltern? Wie viele Weihnachtsfeste habe ich

ausgesetzt?

Du warst überrascht nach dem kurzen Blick auf mein Leben seit ich vor

über zehn Jahren nach Berlin gegangen war. Deine Frage brachte mich zum

In Prag

29

»Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen.«

antonin artaud

I.

Der Kellner im s chwarzen Gesellschaftsanzug beugte

sich weit nach vorne, stützte sich mit der rechten Hand an der

Rückenlehne eines Stuhls ab und bellte ins Séparée: »Es ist niemand

hier!«

»Nie war irgendjemand hier«, gab sie zurück und betrat das Séparée.

Man hatte sich immer erzählt, dass es eine Sprache geben würde,

die es ermögliche, in diesem Etablissement einander zu verstehen.

Und noch mehr: Dass es eine Sprache geben würde für diese Stadt. —

Doch das ist nicht so! Das Verstehen ist wie der Gang Eugen Lehmanns:

behäbig, langsam, unbeholfen.

Sie war vor zwei Monaten hergekommen. Keiner sprach ihr Mut

zu, keiner hatte Bemerkenswertes beizutragen. Alle betonten nur,

wie überaus aufregend ihr Vorhaben sei. Sie klammerten sich an einen

Mythos ohne Lebensmöglichkeit.

Und wie einst Rilke das Schnapsglas wachsen sah, so sah man nun

sie, Adrina, auf doppelte Größe heranwachsen. Der Kellner stöhnte.

»Meine Liebe«, holte er süffi sant aus, »warum blasen Sie sich so

auf?«

Mit solcher Provokation hatte sich Pavel gegenüber Frauen immer

durchzusetzen gewusst. Den Rücken gebeugt, zwei pulsierende blaue

Adern in der Wade — er sprach mit einer Fremden, Freunde waren

längst vergrault.

Alle lachten sie! Adrina schüttelte den Kopf, blieb verständnisvoll.

Auch Pavel lachte, zugleich dachte er aber daran, wie traurig sie doch

war — so ganz ohne Verstehen. Wenn es ums Verstehen ging, musste

Adrina an Herrn Lehmann, an Eugen Lehmann, denken. Er verstand.

30 Z In Prag

»Wir fi nden diese Sprache. Es wird gehen: das Verstehen«, beharrte sie.

Kopfschütteln bei den anderen.

»Sie bleiben nicht beim Wesentlichen. Zurück zum Ereignis, bitte!«,

setzte Adrina nach.

Das Ereignis war im Lachen untergegangen. Sie wuchs und wuchs,

sie wurde eine große Frau. Wollte noch diese Stadt mit ihren Signa-

turen prägen, harmonisch schwingen. Nichts weiter. Doch in dieser

Stadt, die alle literarisch nannten, fand sie bisher nur Sternenreifen,

vorgezeigt von jungfräulichen Händen auf sepiafarbenen Werbe-

plakaten. Wo war die Sprache?

Von Vorne.

Nach dem Studium zweier guter Bücher — sie geizte nicht mit

Unterstreichungen —, war Adrina in der Lage, ihr philosophisches

Bewusstsein auszubilden. Das ist eine Eigenart, die man literarischen

Figuren heute nicht unbedingt mehr zuschreiben würde. Noch so

angenehme Kunstgriffe führen bei ständiger Wiederholung zu Wund-

heit. Und eben wund gescheuert im Denken studierte sie eine Stadt,

die alle literarisch nannten. Wieder wurden Köpfe geschüttelt. Wieder

wurde gelacht. Das Gelächter fl og durch die Luft, verstopfte die

Kanäle. Blasse Schemen — alles war nur heiße Luft. Keine Sprache,

kein Verstehen, bloß Mythos ohne Lebensmöglichkeit.

Pavel, der nicht in der Lage war, zu wachsen, kam zu ihrem Tisch,

rückte das Schildchen aus Plastik — Werbung für ein Gulaschsonder-

angebot — zurecht und forderte sie heraus: »Sie wiederholen sich«,

und wieder, »meine Liebe, es langweilt mich.«

Er nahm sie nicht ernst, er konnte sie nicht ernst nehmen. Was

hätte es ihr auch genutzt, ernstgenommen zu werden. Sie lachte

längst über sich selbst.

»Prag ist nicht mehr ganz. Nicht mehr Herz und Atem, nur eine

Perle aus Glas. Das wissen Sie«, schleuderte sie dem Kellner entgegen.

Damit fühlte sich Pavel provoziert. Die anderen, die es gehört

31

hatten, auch. Der Kellner lachte doch bloß über eine Studentin, eine

verkrachte Intellektuelle, über eine alleinstehende Frau. Und sie, sie

griff nach seiner verwinkelten Kohlestiftwelt, nach seiner Mutter.

Mit spitzen Handgriffen zückte Adrina das Zigarettenpapier und

füllte den Bogen mit Lust. Genüsslich inhalierte sie den Rauch, und

ihren Sieg. Eine siedende Schwade Eifer stieg auf.

»Wie reden Sie daher?«, Pavels Süffi sanz verschwand mit einem

Mal, »Was wollen Sie uns, den Menschen dieser Stadt, erzählen?«

»Ich spreche verzwickt, gewiss, aber Sie sehen bloß Trugwerke. Ich

gehe doch Kompromisse ein, verbinde wenigstens die Themen, die

die Menschen bewegen, mit dem Atem, der durch diese Straßen weht.

Ich zeige keine sentimentalen Sternenreifen.«

»Woher wollen Sie wissen, was uns bewegt?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann es nur ahnen. Das ist mein Kompromiss.

Aber ich scheue nicht, es zu tun. Es ist Zeit! Die Stadt ist reif. Die Jugend

ist vorbei.«

Sie rauchte die Lust und ruhte sich im Denken aus. Pavel war

überfordert. Er ging wieder gebeugt, war doch Kellner. Adrina trium-

phierte. Doch dann wandte man sich von ihr ab.

Elf Uhr, die Touristen kommen.

II.

Oft irrte sie durch die Straßen, ließ sich von einer Farbspindel aus

Kirchtürmen und Baukränen einsaugen. Dieses Drehen, mehr ein

Zerren, war ihr ein wichtiger Eindruck.

Eine Sache gab es noch zu tun in Prag: Irgendwer musste ihr die

Astronomische Uhr am alten Rathaus erklären. Dazu war bisher nie-

mand imstande gewesen. Die Menschen gehen täglich vier, fünf Mal

an der Uhr vorbei, aber sie wissen nicht, was da vor sich geht zu jeder

vollen Stunde. Zu Hundertschaften stehen sie davor und klatschen,

wenn der Sensenmann mit dem Kopf wackelt, aber keiner scheint zu

begreifen, was die Uhr genau anzeigt. Vielleicht irrte sie sich aber

auch, und jeder wusste, wie das Ding funktioniert, es erklärte ihr nur

keiner.

Die Uhr war ihr zum Symbol geworden: ihrer Suche. Solange sie

nichts über die Bedeutungen der Zeiger und Ziffern dieser Uhr wusste,

würde ihr auch die ersehnte Sprache verborgen bleiben. Dachte sie.

Eine Gruppe Italiener johlte. Spitze Schreie und nervöse Wehen

umgaben den Menschenkloß. Ein langsamer Mann strauchelte, doch

alle Augen waren nach oben gerichtet. Er fi el auf die Knie. Kirschrot

wurden seine Hosen. Er stand schnell auf, es war ihm peinlich.

Adrina eilte herbei, schob an irgendeiner runden Stelle ihre Hand

unter und half dem langsamen Mann auf.

»Dankeschön.«

»Die glotzen nur. Blöde Touristen!«, wetterte Adrina, »Es würde

sich gehören, zu helfen«, sagte sie bestimmt.

»Lassen Sie.«

Unausgesprochen teilten sie ihren Weg in Richtung Moldau. Bald

schon sahen sie Brücken.

»Und Sie? Was tun Sie? Sie sind nicht wie diese Italiener«, brach der

langsame Mann das Schweigen.

Ihr war stets wichtig gewesen, nicht für eine Touristin gehalten

zu werden. Aber wahrscheinlich war das nur eine ihrer Selbst-

täuschungen.

»Ich lebe hier. Ich habe die Gassen der Gegend zu schätzen gelernt«,

antwortete sie.

»Durch die Gassen muss man morgens spazieren, dann sieht man

Prag atmen«, sagte ihr Begleiter.

Adrina war überrascht. Nicht mehr Herz und Atem.

»Das ist mir bereits aufgefallen. Dennoch fühle ich mich nicht

angekommen«, gestand sie.

32 Z In Prag

33

»Ich kann leider nicht beurteilen, wie es ist, woanders zu leben. Ich

habe Prag nie verlassen. Bin hier geboren und werde hier sterben.«

»Ich meine, ich wohne hier zwar, aber ich lebe hier nicht«.

»Sie sind in Prag, allein das zählt«. Der langsame Mann lächelte.

»Wohnen Sie in diesem Stadtteil?«, fragte Adrina.

»Ja, schon sehr lange.«

»Weshalb sprechen Sie so gut Deutsch?«

Abrupt blieb er stehen, nahm seine Mütze ab und hob an: »Ich

möchte mich Ihnen vorstellen: Eugen Lehmann.«

Irgendetwas an diesem langsamen Mann vermochte in Adrina ein

Gefühl der Traurigkeit so wachzurufen, dass sie es in den eigenen

Organen spüren konnte.

»Ich bin Adrina«, sagte sie schnell und kalt. Dann bemerkte sie

ihre brüske Art und lächelte. Sie ließ los, wuchs, hielt an, und dann —

wurde ihr warm.

Am Wasser trennten sie sich für diesen Tag. Von jetzt an änderte

sich Adrinas Weg. Der langsame Mann hatte sie gelotst, brachte sein

Ziel mit ihrem in Abgleich, danach konnte sie eigene Wege einschlagen.

Eugen Lehmann zeigte ihr mit wenigen behäbigen Sätzen, dass es gar

nicht so sehr darauf ankommt, irgendwo angekommen zu sein, wenn

man sich seiner selbst gewiss ist. Er hatte das gelernt. Lange Zeit war

auch er ein Wesen zwischen Wort und Bewegung unfertig hin- und

hergerissen. Nach mehr als hundert Jahren wurde er aber frei. End-

lich der Name, der ihn vollständig machte und ihn von seiner Bürde,

den Bedrängten helfen zu müssen, befreite. Anderen helfen tut er bis

heute. Es ist ihm aber keine Last mehr. Sprache war sein Metier. Ein

Wort verantwortlich für seine Präsenz. Das ärgerte Adrina.

Schlaf mich weg

79

Ich habe einen Entschluss gefasst. Ab heute werde ich jede

Nacht eine Stunde länger schlafen als in der Nacht zuvor.

Ich schlafe in der Regel sieben Stunden pro Nacht. Jeden Abend gehe

ich gegen vierundzwanzig Uhr ins Bett und stehe morgens um sieben

auf. In der kommenden Nacht sollen es acht Stunden sein, die ich

schlafen werde. Ich werde meinen Wecker auf acht Uhr morgens stellen,

übermorgen dann auf neun, am darauf folgenden Tag auf zehn. Und

so immerfort.

Ich bin mir sicher, dass ich mich an das viele Schlafen gewöhnen

kann. Immerhin, das muss ich bedenken, werde ich nach so viel Schlaf

ziemlich ausgeschlafen sein. Gegen vorzeitiges Wachwerden wird

mich das allmähliche Schlafenüben wappnen. Bald werde ich immer

weniger Tag haben und irgendwann nur noch Nacht.

Z

Zweiter Tag. Mein Experiment funktioniert. Ich habe acht Stunden

Schlaf hinter mir. Ich fühle mich ausgeruht, frisch. Als heute Morgen

um acht der Wecker schellte, stellte ich fest, dass es draußen bereits

viel heller war als um sieben. Menschen waren unterwegs. Ich hörte

Gerumpel über mir und unter mir. Geschirr durch die Rohre und

Absatzschuhe im Treppenhaus.

Z

Ich träumte. Ich träume sonst nie. Ich träumte von einem Haus, in

das sie einzogen: Alte, Junge, Kinder, Widermenschen. Viel Lärm. Viel

Gepäck. Motorengeräusche im Hof. Sie kommen mit Lkw und laden

Möbel, Kisten und Klaviere aus. Als sie ihre neuen Wohnungen bezie-

hen wollen, müssen sie feststellen, dass dort bereits andere wohnen.

Um neun schellte der Wecker und ich begann den dritten Tag meines

Experiments. Ich fühle mich etwas verrenkt. Mein Rücken tut weh.

Z

Vierter Tag. Warum nenne ich das ein Experiment?

Ich schlief heute bis neun Uhr dreißig. Wachte eine halbe Stunde

vor dem Weckerläuten auf. Das ist so nicht geplant! Ich will hoffen,

dass mir mein Schlafenüben unvorhergesehene Abweichungen von

meinem Plan in Zukunft ersparen wird. Ich träumte wieder. Irgendwas

mit Insekten, diesmal kann ich mich nicht erinnern. Im Rücken immer

noch die Schmerzen. Ich komme mir vor wie eine Gliederpuppe unter

Beschuss: Kanonensalven aus Decken, Kissen und zu langem Liegen

auf zu weichen Matratzen.

Z

Fünfter Tag. Es ist kein Experiment. Es ist ein Entschluss. Elf Stunden

Schlaf. Einwandfreier Schlaf. Keine Träume, kein früheres Wachwerden,

keine Unterbrechungen, keine Abweichungen. Auch die Geräusche im

Treppenhaus haben mich nicht gestört. Ich schlief elf Stunden am

Stück. So schläft man nur im Nährwasser, wenn man noch nicht gebo-

ren wurde. Ich starre mit offenem Mund an die weiße Decke. Ein Bild

fl ackert auf. Von diesem Uterus aus kann ich meine Gedanken sehen:

als rauchende Schnüre.

In der Wohnung nebenan sind neue Mieter eingezogen. Zwei Männer

um die vierzig. Haben sich heute Abend vorgestellt, während ich unten

die Post holte. Sie schafften Möbel und Kisten nach oben. Oliver und Klaus.

Z

Sechster Tag. Zwölf Stunden Schlaf. Ich werde träge vom vielen

Schlafen. Mein Rücken hat kapituliert. Ich bewältige meinen kürzer

werdenden Tag. Abends liege ich auf dem Bett, schaue fern. Das hilft

mir beim Einschlafen.

80 Z Schlaf mich weg

81

Vorhin habe ich mich eine Stunde lang im Spiegel betrachtet. Meine

Augen sind rot wie reifer Klatschmohn. An den Rändern sind sie ange-

schwollen, meine Wimpern verklebt. Murmeln in den Venen. Summen

im Ohr.

Z

Ich trank eine Flasche Tempranillo. Vor den dreizehn Stunden

Schlaf: Rausch. Wohin führt mich das? Ich träumte wieder. Abermals

das Haus. Abermals die Menschen. Es ziehen noch mehr ein. Dieser

Widersinn. Mit heißen Schwüren auf den Lippen lungern sie im Treppen-

haus, sind darauf bedacht, die orangefarbene Feuerlanze zu erhaschen,

die nach unten schießt, wenn sich eine Wohnungstür in den oberen

Stockwerken öffnet. Ich höre Flügelschlagen, dann wache ich auf.

Z

Geteilter Schlaf. Ich wurde mittendrin wach. Kann nicht genau

sagen, ob es vollendete vierzehn Stunden waren. Ich zitterte, als ich

da lag, in meinem Bett. Nackt und wach. In der Wand hörte ich ihr

Kichern. Glucksen im Unterleib. Das machte mich nervös, ließ mich

schließlich auffahren und trennte mich vom Bild an der Decke, von

den Rauchschnüren. Jetzt sind sie in meinem Kopf.

Z

Mein Wecker ist ein Traditionswecker, den ich zu Hause und auf

Reisen in einer Schatulle aufbewahre. Direkt neben dem Revolver.

Nachts starrt sein Ziffernblatt in die Dunkelheit.

Z