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Morphemik - Russisch

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Morphemik - Russisch - GUTE BEISPIELE!

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Page 1: Morphemik - Russisch

KAPITEL 10

MORPHEMIK

1 Allomorphe und Morpheme.......................................................................................................... 1

2 Morphonologische Alternationen ................................................................................................. 3

3 Morphemarten................................................................................................................................. 4 3.1 Grundtypen................................................................................................................................ 4 3.2 Grammatische und lexikalische Funktion ............................................................................... 6 3.3 Interfixe und Null-Affixe ......................................................................................................... 7 3.4 Segmentierung der Wortform .................................................................................................. 8

4 Stämme und Stammalternationen................................................................................................ 9

Anhang: Aus der Literatur............................................................................................................. 10

Erwähnte Literatur.......................................................................................................................... 11 In der Morphemik werden, wie in den anderen Disziplinen auch, die Kombinatorik und die Kategorien beschrieben, hier bezogen auf die kleinsten Bedeutung tragenden Bestandteile der Sprache, die Morpheme. Mit der morphematischen Kombinatorik werden die Veränderungen untersucht, die sich bei der Verwendung der Morpheme in Kombination mit anderen Morphemen ergeben. Als Bestandteil des Inventars werden die Morpheme unter mehreren Gesichtspunkten klassifiziert. Auf der morphematischen Ebene geschieht dies, ebenso wie die Beschreibung der Kombinatorik, weitgehend unabhängig davon, ob die Morpheme dem Bereich der Lexik oder der Grammatik angehören.

1 Allomorphe und Morpheme Mit den Begriffen der Morphemik kann die Frage beantwortet werden, wie man den formalen Zusammenhang zwischen den formal ähnlichen und in der Bedeutung gleichen Bestandteilen in molod(oj) und molož(e) beschreiben kann. Derartige Beziehungen zwischen Phonemen, wie hier /d/ und /ʒ/, sind nicht auf phonetische Umgebungen zurückzuführen, sondern auf die morphematische Umgebung, daher sind nicht entsprechende phonetische Gesetze zu formulieren. Die Varianzen beruhen auf

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2 Volkmar Lehmann: Linguistik des Russischen historischen Lautgesetzen, die seit längerem nicht mehr gelten. Die Modellierung der Regularitäten erlaubt die Ermittlung von Form-Funktions-Einheiten, den Morphemen.

Die kleinste Konstituente der Wortform, die eine Bedeutung trägt, ist ein Allomorph (russ. meist morf1, aber auch allomórf). Vgl. zu ostanovilas’:

/ο s t a n o v’ i/, /l/, /a/, /s’/

Die Modelle, die auf der Basis von Allomorphen konstruiert werden, sind Morpheme. Z.B. sind die verschiedenen Phonemketten /s’a/ und /s’/ (vgl. čitalsja und čitalas’), /ot’ec/ und /otc-/ (zu otec, otca) oder /ruk-/ und /rut ‡∫-/ (zu ruka, rukoj gegenüber ručka, ručki) oder /-∫t‡∫ik/ und /-t‡∫ik/ (in kranovščík, perevódčik) Varianten ein und desselben Morphems. Allomorphe sind so gesehen Morphemvarianten eines Morphems.

Allomorphe bzw. Morpheme können aus einer Silbe bestehen, vgl. /dom-/ ‘Haus’, oder aus mehreren, vgl. /fakul’t’et-/, /p’er’e-/. Eine Wortform kann aus einem Allomorph (pal’to ‘Mantel’, v ‚in’) oder mehreren Allomorphen bestehen (sad-ik ‘Gärtchen’, sad-ov-yj ‘Garten-’).

In Entsprechung zum Allomorph ist das Morphem (morféma) die kleinste Modell-Einheit im Sprachsystem, die Bedeutung trägt. Es b e s i t z t Bedeutung, während mit dem Phonem Bedeutungen u n t e r s c h i e d e n werden. Folglich ist das Morphem nicht weiter in bedeutungstragende Einheiten zerlegbar. Ein Morphem ist, genauso wie ein Phonem, das Ergebnis linguistischer Hypothesenbildung. Mit Hilfe bestimmter Verfahren und Prinzipien wird von den aktuellen Vorkommen von Allophonkombinationen mit bestimmter Funktion auf ein Morphem als Typus, z.B. das Morphem {sad’-, sad-}, geschlossen.

Die Morphemdarstellung und -analyse orientiert sich heute bei Grammatiken des beschreibenden Typs (im Unterschied z.B. zu manchen sprachpraktischen Lehrbüchern) an der phonologischen lautlichen Form der Wortformen. Genau können Morphemgrenzen meist nur in phonologisch transkribierter Form dargestellt werden, vgl. als Beispiel /kraj-a/, /kraj-am/ usw. für краям usw., analog /t ‡∫itaj-u/ für читаю. Auch die Allomorphe /rod’-/ und /rod-/, zu rodit’, roditeli, rodina einerseits und rod, rodnoj, narod andererseits, bleiben bei kyrillischer oder transliterierter Schreibung verdeckt.

1 Die einzelnen Morpheme und Allomorphe der russischen Standardsprache sind Konstruktionen, die auf der Basis langjähriger Forschung diskutiert werden. Sollen diese Einheiten z.B. für ein substandardliches Idiom oder aktuelle Sprachmischungen auf der Basis von Tonaufnahmen beschrieben werden, müssen zunächst einmal rohe morphematische Einheiten ermittelt werden, um dann auf dieser Grundlage Morpheme und Allomorphe zu konstruieren. Die noch nicht als Morpheme und Allomorphe klassifizierten Rohdaten werden Morphe genannt (nicht identisch mit dem russischen Terminus morf im Sinne von Allomorph, s. Akademiegrammatik 1980: 124).

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Allomorphe werden zu einem Morphem zusammengefasst. Meist werden dabei die Bedingungen zu Grunde gelegt, dass sie 1. die gleiche Bedeutung besitzen, 2. formal ähnlich sind, d.h. im Phonembestand teilweise übereinstimmen und 3. nicht in der gleichen morphematischen Umgebung auftreten, d.h., wenn sie

komplementär distribuiert sind. Die 2. Bedingung ist unscharf und wird oft sehr weit ausgelegt oder ignoriert2. Die 3. Bedingung ist leicht zu erkennen an /-s’a/ und /-s’/, ebenso an /-∫t‡∫ik/ und /-t‡∫ik/ insofern, als /-t‡∫ik/ nur nach den Konsonanten /t/ und /d/ auftritt und /-∫t‡∫ik/ nach den anderen Konsonanten (s. Akademiegrammatik 1970: § 50). Diese Bedingung ist eine Analogie zur Bestimmung der Beziehung zwischen Phonem und kombinatorischen Phonemvarianten. Allomorphe, die alle drei Bedingungen erfüllen, werden als kombinatorische Varianten eines Morphems bezeichnet.

Wenn für Phonemketten der Punkt 3. nicht gilt, sie also bei gleicher Bedeutung auch in gleicher Umgebung auftreten können, z.B. der Komparativ krasivee für die standardsprachliche und krasivej für die umgangssprachliche Form des Komparativs, dann handelt es sich um freie (fakultative) Varianten desselben Morphems; es sind meist, wie im gegebenen Beispiel, stilistische Varianten. Die Allomorphe / Varianten eines Morphems werden in der Schreibung in geschweiften Klammern zu einem Morphem zusammengefasst, z.B. {ruk-, ruk’-, rut‡∫-} bzw. nur {ruk-} (mit allen oder einer der Varianten als Repräsentanten für alle Varianten des Morphems).

2 Morphonologische Alternationen Der Varianz der Morpheme liegen meist morphonologische Alternationen zugrunde (auch genannt: historische Alternationen, historischer Lautwechsel; morphonologíčeskoe / istoríčeskoe čeredovánie). Dies sind zu allgemeinen Regeln zusammengefasste Varianzen der Phoneme in den Wortformen, wie z.B.:

s - ∫ p’isat’ - p’i∫u ‘schreiben’ - ‘(ich) schreibe’ x - ∫ strax - stra∫nij ‘Angst’ - ‘schrecklich’ z - ʒ n’izkij - n’iʒe ‘niedrig’ - ‘niedriger’ g - ʒ mogu - moʒe∫ ‘kann’ - ‘kannst’ g - ʒ - z drug - druʒnij - druz’ja ‘Freund’ - ‘freundschaftlich’ - ‘Freunde’

2 Die Ähnlichkeit der phonologischen Form wird z.B. ignoriert, wenn Flexionsaffixe mit gleicher Funktion, z.B. für den Genitiv Plural der Substantive oder die grammatischen Präfixe für den pf. Aspekt, zu einem Morphem zusammengefasst werden sollen. Statt hier systematisch die einzelnen Morpheme zu behandeln, wird für die Beschreibung der grammatischen Affixe meist folgender Weg gewählt: Beschrieben werden die Formen-Paradigmen einerseits (1.-3. Deklination) und darauf bezogen die die Funktionskategorien (Kasusfunktionen, Numerusfunktionen) andererseits, s. Kap. 12 "Grammatische Kategorien der Wortform".

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4 Volkmar Lehmann: Linguistik des Russischen

d - ʒ s’id’et’- s’iʒu ‘sitzen’ - ‘(ich) sitze’ k - t‡∫ vostok - vostot‡∫nij ‘Osten’ - ‘östlich’ t - t‡∫ xot’et’ - xot‡∫u ‘wollen’ - ‘(ich) will’ st - ∫t‡∫ prostoj - pro∫t‡∫e ‘einfach’ - ‘einfacher’ b’ - bl’ l’ub’it’- l’ubl’u ‘lieben’ - ‘(ich) liebe’ v’ - vl’ gotov’it’- gotovl’u ‘zu bereiten’ - ‘(ich) bereite zu’ m’ - ml’ korm’it’- korml’u ‘nähren’ - ‘(ich) nähre’ ...

Neben diesen konsonantischen gibt es auch vokalische Alternationen, z.B. in /p’er’egovor’it’- p’er’egovar’ivat’/ ‘sich unterhalten (pf. - ipf.)’, /l’et‡∫ - l’og/ ‘sich legen’ - ‘legte sich’; den Wechsel mit Null, geschrieben Ø, auch flüchtiger Vokal genannt: /d’en’ - dØn’a/ ‘Tag’ - ‘Tages’, /okØno - okon/ ‘Fenster’ - ‘der Fenster’.

Der Wechsel von Phonemen in der morphonologischen Alternation ist strikt zu unterscheiden von den phonetischen Lautveränderungen, wie sie bei der phonetischen Assimilation (vgl. [potp’isát’] zu podpisat’) oder dem Verlust der Stimmhaftigkeit im Auslaut (sogen. Auslautverhärtung, s. Kap. 9 „Phonetik und Phonologie“), vgl. [l’ot] zu lёd, auftreten. Während die letztgenannten Veränderungen die Folge heute gültiger phonetischer Gesetzmäßigkeiten sind, haben wir es bei den morphonologischen Alternationen mit dem Reflex (Überrest) von früher einmal geltenden Gesetzmäßigkeiten zu tun (daher auch die synonyme Bezeichnung „historische Alternation“). Heute ist die Bedingung ihres Auftretens nicht die phonetische, sondern die m o r p h o l o g i s c h e Umgebung. Vgl. dazu die Umgebungen der oben genannten Allomorphe. Z.B. erscheint das Allomorph, also die Variante, /l’ubl’/ des Morphems {l’ub’, l’ubl’, l’ub} ‘lieb’, in folgender Umgebung: nachfolgendes /u/ für 1. Person Singular. Eine phonetische Gesetzmäßigkeit, dass anstelle eines [b’u] immer ein [bl’u] verlangen würde, gibt es im heutigen Russisch nicht, wie u.a. die Wörter bjudžet ‘Budget’, bjuro ‘Büro’, bjust ‘Büste’ zeigen. Der morphonologischen Alternation (= dem historischen Phonemwechsel) entspricht meist auch ein Wechsel in der Schreibung.

3 Morphemarten

3.1 Grundtypen Im Inventar der Morpheme (und damit der Allomorphe) sind zunächst gebundene und ungebundene (auch genannt: freie) Morpheme zu unterscheiden. Die g e b u n d e n e n Morpheme treten nur in Kombination mit bestimmten anderen Morphemen innerhalb von Wortformen auf (sten-a, vy-pis-yva-l-a), die ungebundenen nicht (tut, segodnja, ili, ved’, pal’to). Die gebundenen Morpheme werden eingeteilt in Wurzeln (Wurzel-morpheme; koren’ / kornevája morfema) und Affixe (áffiks).

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Die W u r z e l ist das Morphem eines Wortes mit mehreren Morphemen, das essenziell für die Bedeutung eines Wortes ist, d.h., dass alle anderen Morpheme des Wortes von der Existenz der Wurzel abhängen. Weiterhin haben die Wurzeln in aller Regel sehr viel spezifischere Bedeutungen, als die anderen Morpheme, sie sind das wichtigste Mittel zur Bezeichnung von Objekten, Eigenschaften und Situationen. Beispiele, vgl. zur Wurzel {sad-} ‘Garten’: sad, sadik, sadovnik, sadovyj ‘Garten’, ‘Gärtchen’, ‘Gärtner’, ‘Garten-’.3

Affixe sind jene Morpheme, die in einem Wort-Ausdruck - von hinten oder von vorn - abgetrennt werden können und die mit gleicher Funktion in mehreren Wörtern vorkommen. Unter dem Aspekt der Synthese von Wortformen betrachtet, sind also Wurzeln diejenigen Morpheme, welche das Ausgangsmorphem bei der Kombination von Morphemen bilden, und Affixe diejenigen, die hinzugefügt werden können. Affixe treten in einer Wortform folglich immer mit einer Wurzel auf und sind insofern direkt oder indirekt von einer Wurzel abhängig.4

Als Grundtypen der Affixe sind zu nennen (Beispiele graphematisch): • Präfix: steht vor der Wurzel, z.B. {na-} bei na-(pisat’); • Suffix: steht hinter der Wurzel und ggf. vor einer Endung, z.B. {-ik-} bei

(učen)-ik-(a), {-eni-} bei (uč)-eni-(e); • Endung: markiert eine Funktion der folgenden grammatischen Kategorien:

Kasus, Numerus, Genus oder Person; z.B. markiert die Endung in (piš)-u 1. Person Singular Präsens, die in (sten)-u Akkusativ Singular Femininum;

• Postfix: steht in Wortformen mit Flexionsaffix nach diesem, z.B. {-s’a} bei (čital)-sja.

Morpheme

gebundene nicht gebundene / freie Affixe Wurzeln

Prä- und Suffixe, Postfixe

Endungen

{dom-} {p’isa-, ...}

{-ik’}, {na-}, {-l-},

{-t’el’-}

{-i}, {-a1}, {-a2}

{tut} {s’evod’n’a}

Tabelle: Morphemarten (zu domiki, napisala, pisatelja, tut, segodnja)

Unter dem Gesichtspunkt der Rekonstruktion von Morphemkombinationen wird in Fortführung der Termini für die Morphemarten von folgenden Verfahren gesprochen: der Affigierung, dem Anfügen eines Morphems, mit den speziellen Verfahren der 3 Synchron gesehen haben sadit’ / sa�at’, rassada ‘anpflanzen’, ‘Setzpflanze’ nicht diese Wurzel, weil deren Wurzel heute eine andere Funktion hat (‘pflanzen’). 4 Anders gesagt: Die Affixe sind Operatoren, die Wurzel ist das Operandum, und die Operation, nämlich die Kombination eines Operators oder mehrerer mit dem Operandum, ergibt eine neue Einheit mit eigener Bedeutung.

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6 Volkmar Lehmann: Linguistik des Russischen Präfigierung (Anfügen eines Morphems vor der Wurzel), der Suffigierung (Anfügen eines Morphems hinter der Wurzel bzw. den Wurzeln und vor einer Flexion, wenn vorhanden), der Postfigierung (Anfügen eines Postfixes), der Infigierung (Einfügen eines Morphems zwischen zwei Wurzeln, s.u.).

Zur Terminologie: Mit den Ausdrücken Wurzel, Affix, Suffix, Präfix, Endung usw. können

Morpheme oder Allomorphe gemeint sein, wenn nötig kann genauer von Wurzelmorphem oder Wurzelallomorph usw. gesprochen werden.

„Flexion“ hat zwei Bedeutungen: 1. ‘Flexionsallomorph’ bzw. ‘-morphem’ (fle´ksija), 2. das ganze Paradigma der Flexionsmorpheme einer Wortart.

In vielen Philologien werden Affixe nach ihrer Position in der Wortform nur in Präfixe und Suffixe unterschieden. Affixe, die vor dem Ableitungsstamm stehen, sind Präfixe (préfiks / pristávka), z.B.: nasadit’, rassada; Affixe, die dahinter stehen, Suffixe. In der russischen Tradition werden jedoch Flexionen und Postfixe meist von den Suffixen ausgenommen.

3.2 Grammatische und lexikalische Funktion Die Endungen haben immer grammatischen Status, die anderen Affixe können grammatischen oder lexikalischen Status haben. Die Funktion eines Affixes ist g r a m m a t i s c h , wenn seine Anfügung für ein beliebiges Wort der Wortart voraussagbar, d.h. notwendig oder möglich ist. Z.B. ist der Kasus bei Substantiven oder Adjektiven oder der Aspekt bei Verben voraussagbar. Bei l e x i k a l i s c h e n Funktionen ist das nicht der Fall.

Beispiele: Die Bildung von Deminutiva ist nicht für ein beliebiges Substantiv voraussagbar, für ein beliebiges Substantiv weder notwendig noch möglich, vgl. student > *studentik. (Ausführlich zum grammatischen und lexikalischen Status von Affixen im Anhang A1 des Kap. „Grammatische Kategorien der Wortform“). Affixe mit grammatischer Funktion können in Substantiven, Adjektiven, Verben und Adverbien sowie Auxiliaren enthalten sein, z.B. für die Komparation, sil’n-ee, für den Aspekt, na-pisat’, für die Bildung von Adverbialpartizipien, napisav, usw. (alle Kategorien im Kap. 12 „Grammatische Kategorien der Wortform“ und 13 „Wortarten“). Manche Affixe können einmal eine lexikalische, einmal eine grammatische Funktion haben, z.B. hat {na-} in napisat’ ’schreiben’ grammatische, in napisat’ ’aufzeichnen’ lexikalische Funktion.

Bei den grammatischen Affixen sind Flexionsaffixe und Derivationsaffixe zu unterscheiden. Sie werden im Kapitel „Grammatische Kategorien der Wortform“ eingehender behandelt. Zu den Flexionsaffixen zählen alle Endungen sowie das Suffix {-l-} für das Präteritum, z.B. in pisa-l-a, sowie das Suffix {-t’} für den Infinitiv. Die Flexionsaffixe sind – unter formalen Gesichtspunkten – von anderen Affixen dadurch zu unterscheiden, dass sie nicht angefügt werden, wie die grammatischen Derivationsaffixe, sondern dass sie die einzelnen grammatischen Funktionen durch den Austausch der Affix-Form markieren. Z.B. werden Singular und Plural der Substantive, also die Funktionen des Numerus, durch Endungsmorphe wie in stola – stolov, stolu – stolam, stolom – stolami markiert, und diese Morphe sind gegenseitig austauschbar. Das Gleiche gilt für Singular und Plural bei den Verben, vgl. pišu – pišem, pišet – pišut usw. Flexionsaffixe haben meistens mehrere grammatische Bedeutungen. Vgl.:

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• bei Substantiven: BEISPIEL KASUS NUMERUS stol-am Dativ Plural

• bei Adjektiven: BEISPIEL KASUS NUMERUS GENUS molod-ogo Genitiv Singular maskulin

• bei Verben: BEISPIEL PERSON NUMERUS TEMPUS GENUS piš-u 1. Person Singular Präsens – čita-l-a – Singular {-a} Präteritum {-l-} feminin {-a} bud-et napisan-o 3. Person Singular Futur –

Im Russischen wird für Endung auch fléksija (Flexion2) gesagt. Dies stimmt mit dem Ausdruck Flexionsaffix überein, abgesehen von den Suffixen für das Präteritum {-l-} und den Infinitiv {-t’}, die zu Flexionasaffixen, aber nicht zu den Endungen / fleksii gerechnet werden.

Während Flexionsaffixe immer grammatischen Status haben, können Derivationsaffixe grammatisch oder lexikalisch sein. (Manche Autoren gehen davon aus, dass Derivation nur ein Prozess der lexikalischen Wortbildung sei; dies ist aus verschiedenen Gründen unangemessen.) Die grammatischen Derivationsaffixe werden im Kap. „Grammatische Kategorien der Wortform“, die lexikalischen im Kapitel „Lexikalische Wortbildung“ behandelt.

Als allgemeine Morphemstruktur russischer Inhaltswörter kann festgehalten werden: Die Morpheme der Wortformen von Inhaltswörtern gruppieren sich um einen lexikalischen Pol, die Wurzel, genauer das Wurzelallomorph, und einen grammatischen Pol, das Flexionsallomorph.

3.3 Interfixe und Null-Affixe In einigen Fällen kommen bei der Kombination von Morphemen bestimmte Affixe hinzu, die nicht als Bestandteil der betreffenden Varianten der beteiligten Morpheme angesehen werden können, bezeichnet als Interfixe. Da diese Morpheme keine semantische oder pragmatische Funktion haben, liegt hier eine kombinatorische Funktion vor. (Der Terminus „Interfix“ / interfíks ist etwas umstritten. Wenn er abgelehnt wird, dann wird von soedinítelnaja glásnaja oder soedinítel’nyj áffiks gesprochen.) Beispiele sind: • Interfixe, die bei Komposita zwischen zwei Wurzelmorphemen stehen, z.B.:

samolёt ‘Flugzeug’, jazykoznanie ‘Sprachwissenschaft’, polugodie ‘Halbjahr’; • Interfixe, die zwischen Präfix und Wurzel stehen, z.B. protivotankovyj

‘Panzerabwehr-’. Es kann vorkommen, dass die Abwesenheit von Phonemen eine bestimmte Bedeutung signalisiert. Das geschieht z.B. beim Genitiv Plural der Deklination vom Typ žena oder beim Nominativ Singular vom Typ stol. In diesen Fällen steht jeweils dem Fehlen einer Endungs-Form das Vorhandensein verschiedener Formen erstens in derselben systematischen Reihe (in einem Paradigma) und zweitens in anderen Paradigmen für dieselbe Bedeutung gegenüber (vgl. /-a/ und /-o/ für den Nominativ Singular Maskulinum, /-of/ und /-ej/ für den Genitiv Plural). Man spricht in diesem

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8 Volkmar Lehmann: Linguistik des Russischen Zusammenhang von Null-Endungen bzw. Null-Affixen (nulevóe okončánie, nulevój áffiks; geschrieben /ʒon-Ø/, /stol-Ø/).

Teilweise wird von Null-Affigierung auch in der lexikalischen Wortbildung gesprochen, z.B. in raba, vychod, razgovor, rabota, peredača ‘Sklavin, Ausgang, Gespräch, Arbeit, Sendung’. In diesen Fällen tritt an den Stamm statt des gegebenen Paradigmas, vgl. rab-Ø, rab-a, rab-u, ... ein anderes Paradigma: rab-a, rab-y, rab-e, ..., wobei ein Femininum von einem Maskulinum abgeleitet wird. Die Ableitung ist hier nicht durch ein spezielles Morphem markiert. Wenn wir sagen, dass diese Wortbildungsfunktion von dem neu hinzugekommenen Endungsparadigma wahrgenommen wird, das nicht nur eine grammatische, sondern auch eine Wortbildungsfunktion hat, dann können wir hier auf den Begriff des Nullsuffixes verzichten. Man spricht in diesem Fall von paradigmatischer Wortbildung (s. dazu Waszakowa 1993 und Anhang A1 im Kap. „Grammatische Kategorien der Wortform“).

Es kann sein, dass ein gebundenes Morphem in nur einem Wort vorkommt. Ein solches Morphem bleibt übrig, nachdem man in dem Wort die anderen Morpheme abgestrichen hat, z.B. Brom- oder Him- in Brombeere, Himbeere, russ. -el- in koz-el ‘Ziegenbock’, mit der Wurzel koz- z.B. in koza ‘Ziege’ (weitere Beispiele bei Tichonov 1985/I: 13, der diese Fälle als „unikal’nye časti slova“ bezeichnet). Solche Morpheme werden als „blockierte“ Morpheme (unikal’naja morfe´ma) bezeichnet.

3.4 Segmentierung der Wortform Für die Segmentierung der Phonemkette einer Wortform in die Phonemketten der Allomorphe, z.B. /ut‡∫-i-l-a/, können folgende Hinweise gegeben werden: Sie wird günstigerweise von hinten (von rechts nach links) vorgenommen, bei učila also ausgehend von -a. Wenn keine Morphem-Inventare genutzt werden können, wie sie etwa in großen russischen Grammatiken abgedruckt sind, und man zu entscheiden hat, ob z.B. das Vorkommens-Segment -i- in učila ein eigenes Allomorph /i/ bildet oder zu einer Stammvariante /ut ‡∫i/ gehört, dann muss man sich erstens fragen, welche Funktion denn das Segment haben könnte und ob es phonologisch gleiche bzw. ähnliche Phonemketten mit gleicher Funktion in anderen Wörtern gibt. (Das gilt natürlich auch für die Fälle, dass die Phonemkette nur aus einem Phonem besteht.) Das als Beispiel genommene Morphem /-i-/ kommt mit der Funktion ‘markiert Verursachung (Kausativität)’ in sehr vielen Verben vor, vgl. belit’, krasit’, ... und wird daher als eigenes Morphem geführt. Natürlich reichen diese Überlegungen nicht aus, um zu einer annehmbaren Hypothese über das Morpheminventar des Russischen zu gelangen. Dazu sind mehrere Durchläufe mit Korrekturen der Hypothesen notwendig.

Beispiele:

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Präfix Wurzel/n Suffix/e Endung Postfix nov’ ej∫ emu gorod sk’ ie

vi xod’ i-l Ø p’er’e sad k u

p’is a-l’ i p’i∫ ut p’is a-t’el’, -n’it‡s e

p’er’e not ‡∫ uj u vi xod a sam-(o)-l’ot ami kak omu -l’ibo

Beispiele für die morphematische Segmentierung russischer Wortformen (Wurzeln und Flexionsaffixe sind fett gedruckt, s. 3.2)

4 Stämme und Stammalternationen Stämme sind das Resultat des Abstreichens von Allomorphen aus Wortformen. Das am weitesten verbreitete, traditionelle Verständnis von „Stamm” (osnóva) ist ‘Wortform minus Endung’, und wenn in der Morphologie von „Stamm“ ohne weitere Ergänzung gesprochen wird, ist daher meist dies gemeint.

Beim Abstreichen der Affix-Allomorphe in den Wortformen eines Verbs können sich verschiedene Varianten des Verbstammes ergeben. Vgl.:

/p’er’ep’is-iva-l-a/ ‘sie schrieb’ /p’er’ep’is-ivaj-ut/ ‘sie schreiben’

Da es sich bei /-ivaj-/ und /-iva-/ um e i n Morphem handelt (mit ihm wird das ipf. Partnerverb vom pf. Verb abgeleitet), kann diese Varianz auch als morphonologische Alternation /j/ : /Ø/ (in /-ivaj -/ und /-ivaØ-/) angesehen werden. Diese Art der Alternationen ist aber insofern etwas Besonderes, als sie für die Bildung verschiedener Stämme ein und desselben Verbs verantwortlich sind (daher „Stammalternation“). Mit ihnen werden jeweils die Affixe für bestimmte “Kreise“ grammatischer Funktionen kombiniert: • die Affixe des Infinitivs, Präteritums, der präteritalen Partizipien und des

Adverbialpartizips mit {-v-} werden an die „Infinitiv-Stämme“ angefügt, • die Affixe für die anderen grammatischen Funktionen des Verbs an die

„Präsensstämme“. Die Morpheme der Stammalternationen markieren die Wortart Verb und einige zugleich den pf. bzw. ipf. Aspekt. Vgl. die wichtigsten (unterstrichen ist jeweils der Infinitiv- bzw. Präsensstamm):

(organ’iz)-ova-(l-) : (organ’iz)-uj-(ut), (bel’)-e-(l-) : (bel’)-ej-(ut), (spor’)-i-(l-) : (spor’)-Ø-(at), (max)-nu-(l-) : (max)-n-(ut) (markiert den pf. Aspekt),

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(pr’ikaz)-iva-(l-) : (pr’ikaz)-ivaj-(ut) (markiert den ipf. Aspekt). Die in 2.2 erwähnten morphonologischen Alternationen erscheinen aber auch innerhalb eines Stammkreises, vgl. /mogu – moʒe∫/, die beide zum Präsensstamm von moč’ gehören, in der Wortbildung, vgl. /strax : stra∫nij/ oder in der grammatischen Derivation, vgl. /n’izkij - n’iže/.

Der Ausdruck Stamm kann auch ganz allgemein im Sinne einer Morphem-kombination bzw. eines Morphems gebraucht werden, an das Affixe angefügt werden können. Dann wird dazu auch „Basis” gesagt. Die Wortform perepisyvajuščiesja ‚korrespondierenden’ hat in diesem Sinne folgende Basen (Stämme2):

/p’er’e-p’is-ivaj-u∫t‡∫- ... -s’a/ /p’er’e-p’is-ivaj- u∫t‡∫- ... -.../ /p’er’e-p’is-ivaj-...- ... -.../ /p’er’e-p’is-...-...- ... -.../ /...-p’is-...-...- ... -.../

Der letztgenannte Stamm ist identisch mit der Wurzel des Wortes. Je nachdem, welche Art von Morphemen abgestrichen werden bzw., umgekehrt betrachtet, welche mit dem Stamm kombiniert werden können, gibt es weitere Arten von Stämmen. Einen Stamm ohne grammatische Affixe bezeichnen wir als l e x i k a l i s c h e n S t a m m , einen Stamm ohne Flexionsaffix als g r a m m a t i s c h e n S t a m m . Die Begriffe Infinitiv- und Präsensstamm sind wichtig für die formbezogene Beschreibung, die Begriffe lexikalischer und grammatischer Stamm sind wichtig für die funktionsbezogene Beschreibung der Wortform (s. Kap. 12 „Grammatische Kategorien der Wortform“).

Wir können die zuletzt genannten Stamm-Begriffe in folgenden Gleichungen zusammenfassen: • Wortform minus Flexionsaffixe = grammatischer Stamm • Grammatischer Stamm minus grammatische Affixe = lexikalischer Stamm • Lexikalischer Stamm minus Affixe = Wurzel

Anhang: Aus der Literatur Akademiegrammatik 1970: 30f: “Minimal´naä znaçimaä çast´ slovoformy, naimen´‚aä edinica plana

выражения, kotoruü можно sootnesti s planom soderжaniä, nazyvaetsä

morfom. Morfami v russkom äzyke priznaütsä tol´ko nepreryvnye

posledovatel´nosti fonem.“

“Morfemika – uçenie o znaçimyx çastäx slov (slovoform): morfax i

morfemax (...). Qti znaçimye çasti mogut izuçat´sä s raznyx toçek zreniä.

Stroenie morfov i formal´nye zakonomernosti, xarakterizuüwie

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Morphemik 11

soçetaemost´ morfov v slovoforme, ävläütsä predmetom morfonologii;

funkcionirovanie morfem – predmet slovoobrazovaniä i slovoizmeneniä.“

Erwähnte Literatur Akademiegrammatik 1970 = Švedova N.Ju. (Hg.) Grammatika sovremennogo russkogo

literaturnogo jazyka. Moskva. Akademiegrammatik 1980 = Švedova N.Ju. (Hg.) Russkaja grammatika. Tom I.

Moskva. Plungian V.A. 2000. Obščaja morfologija: Vvedenie v problematiku. Moskva. Waszakowa K. 1993. Słowotwórstwo współczesnego języka polskiego. Rzecowniki z

formantami paradygmatycznymi. Warszawa. Zemskaja E.A. 1973. Sovremennyj russkij jazyk: Slovoobrazovanie. Moskva.