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In: Evangelische Kommentare 3 (1993), S. 141-144
Marktwirtschaft reformierenDefizite liberaler Theorie und Praxis
Hans G. Nutzinger
EVKOMM 3193
Der gegenwärtige Triumph des Uberalismus über den totalitären Sozialismuskönnte zum Pyrrhus-Sieg werden, wenn inder Marktwirtschaft nicht stärker Elemente der Produktion, der Gerechtigkeit undder Natur Berücksichtigung finden. Pr0fessor Dr. Hans G. Nutzinger, der an derGesamthochschule Kassel Wirtschaftswissenschaft lehrt, begründet diese These.
Wmit wir uns heute vor allem in Deutschland, aber auchweltweit auseinanderzusetzen haben,ist zumindest vordergründig der Siegdes Liberalismus über den Sozialis-
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mus. Dabei geht es nicht nur um denSieg von konkurrierenden Ideen; seitJahrhunderten schon spielt sich in derRealgeschichte ein Prozeß zunehmender Ökonomisierung fast aller menschlichen Beziehungen und fast aller Lebensbereiche ab. Der Austausch vonWaren trat mehr und mehr an die Stelle eigen- und naturalwirtschaftlicherBeziehungen; gerade auch die historischen Ausnahmen, die sich dieser Tendenz entgegenstellten - vor allemKriegs- und Kommandowirtschaften können heute als anschauliche Belegefür diese These eines säkularen Vordringens marktförmiger und kommerzieller Strukturen gelten.
Bereits Martin Luther mußte sich, alsTheologe und als Seelsorger, mit diesem Umbruchsphänomen auseinandersetzen. Er sah die Unumkehrbarkeit dieses Prozesses ebenso wie dieihm immanenten Gefahren für dieAushöhlung verantwortlicher personaler Beziehungen: »Wucher muß sein,aber wehe den Wucherern!«Eine schrankenlose Kommerzialisierung aller Lebensbereiche erodiert,wie seitdem immer deutlicher wurde,die ethischen Grundlagen jener Marktgesellschaft, die diese Fundamentekaum mehr zu erkennen vermag, aberdoch in einem wesentlichen Sinne aufsie angewiesen bleibt. Karl Marx, derin seinem Hauptwerk »Das Kapital«(1867) den Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften als »eine ungeheure Warensammlung« charakterisierte, wies schon früh in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten«(1844) auf diese Problematik hin:»Du mußt alles, was Dein ist, feil, d. h.nützlich machen. Wenn ich den Nationalökonomen frage: Gehorche ich denökonomischen Gesetzen, wenn ich ausder Preisgebung, Feilbietung meinesKörpers an fremde Wollust Geld ziehe... , oder handle ich nicht nationalökonomisch, wenn ich meinen Freund andie Marokkaner verkaufe ... , so antwortet mir der Nationalökonom: Meinen Gesetzen handelst Du nicht zuwider; aber sieh Dich um, was Frau BaseMoral und Base Religion sagt; meinenationalökonomische Moral und Religion hat nichts angegen Dich einzuwenden, aber - Aber wem soll ich nunmehr glauben, der Nationalökonomieoder der Moral? Die Moral der Nationalökonomie ist der Erwerb, die Arbeit und die Sparsamkeit, die Nüchternheit - aber die Nationalökonomieverspricht mir, meine Bedürfnisse zubefriedigen. - Die Nationalökonomieder Moral ist der Reichtum an gutemGewissen, an Tugend etc., aber wiekann ich tugendhaft sein; wenn ichnicht bin, wie ein gutes Gewissen haben, wenn ich nichts weiß? Es ist diesim Wesen der Entfremdung gegründet, daß jede Sphäre einen andren undentgegeng~setzten Maßstab an michlegt, einen andren die Moral, einenandren die Nationalökonomie, weil jede eine bestimmte Entfremdung desMenschen ist und jede einen besonderen Kreis der entfremdeten Wesenstätigkeit fixiert, jede sich entfremdet zurandren Entfremdung verhält« (MarxEngels Werke, Ergänzungsband 1, S.550f.).450 Jahre nach Martin Luther undhundert Jahre nach Karl Marx feiert
WlRJ'SCHAFT
nun der Liberalismus mit dem Zusammenbruch der östlichen Kommandowirtschaften erneut in Theorie undPraxis einen Triumph, der dem Siegder liberalen Vision von Adam Smithüber feudale und merkantilistischeGesellschaftsvorstellungen vor überzwei Jahrhunderten vergleichbar ist.Smith hatte in seinem »Wohlstand derNationen« (1776) die liberale Vision,das »System der natürlichen Freiheit«,auf ihren Begriff gebracht: Es ist eineGesellschaft, in der nahezu alles warenförmig geworden ist und in der ausdem interessegeleiteten, möglichst unbehinderten Tausch der Individuendurch das Wirken einer »unsichtbarenHand« - gemeint ist der Konkurrenzmechanismus - gesellschaftliche Wohlfahrt entsteht und immer weiterwächst.
AlerdingS, die Stringenz dieser liberalen Vision hat ihrenPreis; er besteht darin, daß wesentliche Elemente realer Gesellschaftenund realer Wirtschaftstätigkeit ausgeblendet werden müsse. Ausgeblendetwird unter anderem die Frage der Gerechtigkeit in einem materialen, überbloße Tauschäquivalenz hinausgehenden Sinne; Smith hat unter diesem fürihn wohl unerwarteten Ergebnis seinerBemühungen sehr gelitten und bis vorseinem Tode gehofft, noch eine systematische Abhandlung von Recht undGerechtigkeit verfassen zu können.Diese Möglichkeit hatte er sich aberdurch seinen glänzenden liberalen GeseIlschaftsentwurf selbst versperrt,denn dieser war nicht mehr hinreichend offen für die systematische Einfügung materialer Aspekte von Gerechtigkeit.Es gibt daher gute Gründe für die Vermutung, daß die von Smith wenige Tage vor seinem Tod betriebene Vernichtung fast aller seiner Manuskripte mitder von ihm selbst erkannten Unmöglichkeit zusammenhängt, einen außerhalb der Ökonomie liegenden Gerechtigkeitsbegriff systematisch zu entfalten. Smith hatte die aristotelische Trias von Ökonomie, Politik und Ethikaufgelöst und damit in einem gewissenSinne auf der Ebene theoretischer Reflexion das vollzogen, was sich auf derEbene realer Entwicklungen - siehedie obigen Anmerkungen zu Lutherund Marx - schon seit Jahrhundertendurchzusetzen begann.Verschwunden ist aus der liberalenGesellschaftsvision auch Natur in einem von der Ökonomie geschiedenen
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Sinne; sie erscheint nur noch als beliebig ausbeutbare, unerschöpfliche Lieferantin für das System Ökonomie.Und auch das zentrale Marxsche Thema - die Produktion und die sozialenBeziehungen der Menschen in der Arbeit - wurden bis in die jüngste Zeitzumindest gedanklich in viele Tauschakte aufgelöst.Die liberale Gesellschaftsvision bezieht also ihre Stringenz aus einer tendenziell imperialistischen Vereinnahmung sämtlicher Lebensbereiche inwarenförmige Tauschakte. Nicht, daßes an liberalen Korrekturen gefehlthätte: Bereits achtzig Jahre späterwird John Stuart Mill in seinen »Principles of Political Economy« (1848)und seinen Überlegungen zu »Utilitarianisrn« (1861) gerade diese Punkteaufnehmen und darauf hinweisen, daßArbeitsbeziehungen nicht bloßeTauschbeziehungen sind und daß dieMenschen gut daran täten, wenn sieaus innerer Einsicht ihr wirtschaftliches Handeln begrenzten, bevor äußere, (.uf der Begrenztheit der Erde beruhende Einschränkungen sie dazuzwingen würden.So berechtigt diese Korrekturen vonJohn Stuart Mill sind, sie mindern natürlich den Glanz der klassisch-liberalen Gesellschaftsvision, und demzufolge werden sie von einem großen Teilder liberalen Ökonomen bis heute alsein »Fremdkörper« in dem doch sonstso konsistenten Gedankengebäude derliberalen Markttheorie gesehen. Gerade in den Vereinigten Staaten erfreutsich ja der Paläo-Liberalismus wiedergroßer (ideologischer) Beliebtheit.
Gl1Indpfeiler unserer sozialen Ordnung
Selbstverständlich ist die Tradition vonJohn Stuart Mill nicht untergegangen;so ist etwa die auch für Mill wichtigeFrage der Gestaltung der sozialen undrechtlichen Beziehungen in den letztenhundert Jahren zu einem tragendenGrundpfeiler unserer sozialen Ordnung geworden; im deutschen Sprachraum stehen dafür vor allem die Namen Walter Eucken und Alfred Müller-Armack. Auch die gegenwärtigenBemühungen um eine Erweiterungder »sozialen Marktwirtschaft« zu einer »Ökologisch-sozialen Marktwirtschaft« sind auf diesem Hintergrundzu sehen. Und nicht zuletzt hatschließlich auch die ökonomischeTheorie mit reichlich hundert JahrenVerspätung die für Marx zentrale Unterscheidung zwischen marktmäßig gehandelter Arbeitskraft und im Produk-
tionsprozeß konkretisierter Arbeitsleistung aufgegriffen und sich damit denZugang zu einer volkswirtschaftlichenTheorie der Unternehmung eröffnet.Daß der britische Ökonom RonaldCoase, der den Unterschied zwischenmarktmäßiger und unternehmensinterner Koordination unter der Rubrik»Transaktionskosten« bereits 1937wiederaufgegriffen hatte, unlängst(1991) mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet wurde, deutetdurchaus auf eine bemerkenswerteNeuorientierung in den Wirtschaftswissenschaften hin.Ebenso unbestreitbar ist allerdingsauch, daß diese »sozialliberalen Korrekturen« in der Tradition von JohnStuart Mill nicht möglich gewesen wären, wenn sich nicht im 19. Jahrhundert sowohl auf der Grundlage realenElends als auch auf dem Hintergrundtheoretischer Defizite in der liberalenWeitsicht die sozialistische Kritik geltend gemacht hätte. Sie verschafftesich auf der Ebene der Politik dadurchGeltung, daß Gewerkschaften und Arbeiterparteien entstanden; sie zeigtesich aber auch in Form von theoretischer Kritik, für die im Guten wie imBösen Karl Marx an prominentesterStelle steht.Ohne diese doppelte sozialistische Kritik hätten sich die marktliberale Theorie und auch die ihr entsprechendepraktische Politik nicht in dem Maßereformieren lassen, wie dies zumindestin den meisten wohlhabenden Ländern dieser Erde geschehen ist. Insofern bedeutet der gegenwärtige Siegdes Liberalismus zugleich eine Gefahr:Der »Stachel im Fleisch«, das sozialistische Korrektiv, scheint jetzt alstheoretische und politische Kraft weitgehend ausgeschaltet. Aber die Erfahrungen der beiden letzten Jahrhunderte und die ökologischen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunftmachen deutlich: Der Liberalismus istauf eben dieses Korrektiv dringend angewiesen, will er nicht selber zur gefährlichen Ideologie verkommen.Man kann also sagen, daß die Stringenz und die Geschlossenheit des liberalen Ansatzes seine Stärke undSchwäche zugleich sind. Der Geschlossenheit innerhalb der Theorieentspricht ihre Abgeschlossenheit gegenüber jenen Elementen der Realität, die nicht in das liberale Weltbildpassen. Zugleich muß aber auch aufeine elementare Schwäche der sozialistischen Theorie hingewiesen werden:Sie bezieht sich stets kritisch auf liberale Theorie und Praxis, ist also nichtselbst schon entwickelte Theorie.
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Marx selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, er betrachte es nicht als seine Aufgabe, »Rezepte für die Garküche der Zukunft« zu entwerfen; esging ihm also nicht um eine positiveTheorie des Sozialismus.So wichtig dieser Hinweis - geradeauch gegenüber voreiligen Beerdigungsversuchen unter Verweis auf denwirtschaftlichen ZusammenbruchOsteuropas - ist, er bezeichnet zugleich eine Schwäche des Marxismlis(und auch anderer sozialistischerTheorierichtungen): Anders als derLiberalismus verfügt der Sozialismusnicht über eine geschlossene theoretische Basis. Ihren hierauf beruhendenstrukturellen Nachteil hat die Linke zumal die Generation der 68er - immer dadurch verdeckt, daß sie - in gutHegelscher Manier - der Auffassunganhing, jede »radikale« Kritik enthalteschon »keimhaft« die Grundlage einerpositiven Theorie.
Demzufolge wurdein jenen Jahren auch heftig kritisiert,und nicht immer waren die von denlinken Kritikern entdeckten »gesellschaftlichen Widersprüche« tatsächlich Konflikte der Realität; nicht selten waren es auch »Widersprüche desKopfes«. Aber auch da, wo auf tatsächliche Konfliktlagen hingewiesenwurde, blieb der strukturelle Nachteil- nämlich das Fehlen einer positivenTheorie des Sozialismus - noch erkennbar.Wie können die von der liberalenTheorie und der ihr entsprechendenwirtschaftlichen und politischen Praxiszumindest anfänglich weitgehend ausgeblendeten Herausforderungen inden Konfliktfeldern Produktion, Gerechtigkeit und Natur produktiv aufgenommen werden? Ich sehe dafür zumindest einen zentralen praktischenAnsatzpunkt, dessen präzise theoretische und sozialethische Reflexion bisher allerdings noch aussteht.Die von der liberalen Theorie und derihr entsprechenden ökonomisch-politischen Praxis zunächst ausgeklammerten Probleme machen sich doch immerwieder in der Realität geltend, etwaals Anspruch von Arbeitnehmern aufMitbestimmung, als Forderung derEntwicklungsländer nach angemessener Beteiligung am weltweiten gesellschaftlichen Reichtum oder als Notwendigkeit einer internationalen Vereinbarung zum Schutz des Erdklimas.Hier müssen sich Wirtschaftstheorieund Wirtschaftspolitik - am besten aus
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Einsicht, notfalls aber unter demZwang der Verhältnisse - der Erkenntnis öffnen, daß auch im ökonomischen Sinne effiziente Lösungen nurerreicht werden können, wenn dieübersteigerte Trennung in Allokation(Stichwort Effizienz) und Distribution(Stichwort Gerechtigkeit) zugunsteneinvernehmlicher Kompromisse modifiziert wird, die den Naturerhalt unddamit das Überleben der Menschheitermöglichen.So wichtig Marktmechanismen auchim Umweltschutz sind, sie alleine werden nicht ausreichen, um die destruktive Selbstläufigkeit des rein Ökonomischen aufzuhalten. Selbst dann,wenn man - korrekterweise - fordert,daß der Naturverbrauch zu angemessenen Preisen bezahlt werden muß,kann man keineswegs gewiß sein, daßder dann immer noch stattfindendeNaturverbrauch mit den Erfordernissen des ökologischen Gleichgewichtsverträglich ist.Verdeutlichen wir uns diese Problematik am Beispiel einer internationalenKlimakonvention gegen den Treibhauseffekt: Diese vermutlich überlebensnotwendige Vereinbarung wirdnur zustande kommen, wenn die Industrienationen den Ländern der »Dritten Welt« die materielle Hilfe leisten,die notwendig ist, damit sich die wirtschaftliche Entwicklung dieser Ländermit wesentlich geringerem Energieverbrauch und wesentlich weniger Emissionen von treibhausrelevanten Gasenvollziehen kann, als dies in den reichen Ländern des Nordens der Fallwar (und großenteils noch heute ist).
Ressourcentransfer aus Eigennutz
Für einen derartigen Transfer vonRessourcen und Geld spricht abernicht nur kluger Eigennutz (die Absicht, die »Dritte Welt« für das Klimabündnis zu gewinnen); auch der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit legt diese Maßnahme nahe und läßt sie nunnicht mehr als einseitige Hilfe oder garWohltat erscheinen, sondern vor allemals eine angemessene Entschädigungund als Ausgleich dafür, daß die Menschen in den Industrieländern - nurknapp ein Fünftel der Erdbevölkerung- gut vier Fünftel der bisherigen klimarelevanten Gase emittiert haben. Istalso die notwendige Unterstützung derEntwicklungsländer wirklich ein einseitiger Transfer von den Industrienatione,n oder nicht vielmehr ein adäquates »Marktentgelt« für die einseitige Übernutzung der Erdatmosphäre
durch die reichen Länder des Nordens?Dieses Beispiel zeigt recht deutlich,wie in den Überlebensfragen derMenschheit traditionelle liberale Rezepte und Methodologien zu kurz greifen. Eine ethische Reflexion dieserProblemsituation könnte sich im Spannungsfeld von Sachgemäßem undMenschengerechtem abspielen, dasArthur Rich in seiner »Wirtschaftsethik (1984. 1991) entwickelt hat. Dievon ihm aufgestellten Kriterien desMenschengerechten und ihre Ausrichtung auf die gesellschaftliche Gerechtigkeit - hier vor allem die Gesichtspunkte der Mitmenschlichkeit, derMitgeschöpflichkeit und der Partizipation - können eine nützliche Grundlage für den notwendigen ethischen Reflexionsprozeß bilden.
Zum Schluß nochein paar Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis. Schonlohn Meynard Keynes wies daraufhin, daß viele Wirtschaftspraktikeroftmals stolz betonten, sie hingen keinen abstrakten Theorien an, sondernstützten sich statt dessen auf ihre praktischen Erfahrungen. Dabei sind sie,ohne es selber zu wissen, meist verkappte Anhänger veralteter Theorien,die sie implizit dazu verwenden, ihreErfahrungen gedanklich zu verarbeiten.Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist aberauch weitaus schwieriger, als es sichdie 68er-Generation vorstellte. Theodor W. Adorno hat kurz vor seinemTode auf die Vorhaltung, daß er nachAuffassung der Frankfurter Studentenzuviel Theorie betreibe und sich zuweaig um die gesellschaftliche Praxiskümmere, zutreffend zurückgefragt:»Ist nicht Theorie eine legitime Formder Praxis?«Der Münsteraner Soziologe HelmutSchelsky hat gleichfalls kurz vor seinem Tode in dem Buch »Die Arbeittun die andern« (1975) scharfe Kritikan der linken Intelligenz erhoben; erhat darin die Linken als eine Art Priesterkaste dargestellt, die vorwiegendIdeologie produziert und die tatsächliche Arbeit, auf die es ankommt, denjenigen überläßt, für die sie zu sprechen vorgibt. Auch wenn damit durchaus ein bedenkenswertes Moment angesprochen ist, handelt es sich hierdoch um eine grobschlächtige Verkürzung, die sich um so problematischerdarstellt, als es hier selbst ein »Priester« ist - wenn auch einer von der
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konservativen Sorte -, der andere»Priester« Priester schimpft.Letztlich gilt der Satz Hegels: »DasTun des einen ist das Tun des andern«:Theorie und Praxis sind vielfältig miteinander verbunden und bedürfen immer wieder ihrer wechselseitigen Korrektur: Praxis braucht ihre theoretische Reflexion; theoretische Reflexionmuß sich auf die Praxis und deren Veränderungen einlassen. Wesentlicheshierzu hat Marx ja bereits in seinen»Thesen über Feuerbach« gesagt.So wie Theorie und Praxis aufeinanderbezogen sind, so sind dies auch Liberalismus und Sozialismus. Der Prozeßder deutschen Einigung vollzieht sichderzeit ganz unter dem Vorzeichen desSieges von »Marktwirtschaft« über»Planwirtschaft«. Der gegenwärtige»Triumph« des Liberalismus in Theorie und Praxis droht allerdings zumPyrrhussieg zu werden. wenn nicht immer die von der sozialistischen Kritikeingeforderten Elemente - Produktion, Gerechtigkeit, Natur - mit bedacht werden, und zwar sowohl aufder Ebene theoretischer Reflexion wieder der politisch-praktischen Gestaltung. Insofern muß das Scheitern desSozialismus zugleich auf die Defiziteliberaler Theorie und 1 ~axis verweisen. Andernfalls droht der Liberalismus von einem nützlichen, wenn auchzu abstrakten Gesellschaftsentwurf zu
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einer bloßen Ideologie zu verkommen,die alle Defizite der liberalen Theorienur noch als Böswilligkeit der Praxisoder gar als Verschwörung linkerKräfte mißzuverstehen vermag. Damitwürde er ebenso dogmatisch wie dergerade gescheiterte Marxismus leninistisch-stalinistischer Prägung.Ich habe bereits den auf lohn StuartMill zurückgehenden sozialliberalenAnsatz als eine brauchbare Methodecharakterisiert, auf die praktischenMängel des liberalen Weltbildes auchtheoretisch einzugehen. Dies geschieht dann meist in der Absicht, zugleich praktische Veränderungen einzuleiten, die aber gerade in einerMarktgesellschaft immer im Kontextinterdependenter Wechselbeziehungen und Folgewirkungen gesehen werden müssen. Insofern empfehle ichden Reformern, denen es um einenvernünftigen Ausgleich zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialenErfordernissen geht, ein dem schwäbischen Pietisten Oetinger zugeschriebenes Gebet, das man auch als Motto fürjede sozialreformerische Bestrebungnehmen kann. Es lautet dem Sinnenach so: »Herr, gib mir den Mut, zuverändern, was zu verändern ist; gibmir die Geduld, hinzunehmen, wasnicht zu verändern ist; und gib mir dieKlughdt, zwischen beidem zu unterscheiden.« •