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 ENTROPIE UND DISSONANZ tim eisenhardt Das Referat, das dieser V erschriftlichung vorangegangen ist, bestand zu einem wesentlichen Teil aus einer heuristi- schen Annäherung an den Begriff der Entropie, da dieser verstanden sein musste, um die Ergebnisse von Hinrich- sen  [4] zu interpretieren. Um nun die Verbindung zur Neurowissenschaft noch stärker herauszustellen, ist das Thema der vorliegenden Arbeit stark erweitert worden; es wurde klar, dass der Begriff der Dissonanz im Zentrum eines großen Themenkomplexes steht, welcher Teile der Physik (insbesondere Psychoakustik), Informationstheo- rie und natürlich der Neurowissenschaften berührt. Auch eine Verknüpfung zur Musik ist inhärent stets gegeben – hier muss aber die Grenze gezogen werden: Es soll im Folgenden um einen vorbewussten,  sensorischen Begriff von Dissonanz gehen. Über die Konsequenzen für die Entwick- lung neuer Musiken und das Verständnis des traditionellen westlichen Tonsystems hat William Sethares ein sehr in- teressantes Buch geschrieben. [ 10] Dieser (gemeinfreie) Text ist eine Verschriftlichung zu einem Referat, das im Seminar »Musik und Neurokognition« bei Frau Dr. habil. Christiane Neuhaus (WS  2013) gehalten wurde.  Matrikel-Nr.:  6246867 1

Entropie und Dissonanz

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  • E N T R O P I E U N D D I S S O N A N Z

    tim eisenhardt

    Das Referat, das dieser Verschriftlichung vorangegangenist, bestand zu einem wesentlichen Teil aus einer heuristi-schen Annherung an den Begriff der Entropie, da dieserverstanden sein musste, um die Ergebnisse von Hinrich-sen [4] zu interpretieren. Um nun die Verbindung zurNeurowissenschaft noch strker herauszustellen, ist dasThema der vorliegenden Arbeit stark erweitert worden; eswurde klar, dass der Begriff der Dissonanz im Zentrumeines groen Themenkomplexes steht, welcher Teile derPhysik (insbesondere Psychoakustik), Informationstheo-rie und natrlich der Neurowissenschaften berhrt. Aucheine Verknpfung zur Musik ist inhrent stets gegeben hier muss aber die Grenze gezogen werden: Es soll imFolgenden um einen vorbewussten, sensorischen Begriff vonDissonanz gehen. ber die Konsequenzen fr die Entwick-lung neuer Musiken und das Verstndnis des traditionellenwestlichen Tonsystems hat William Sethares ein sehr in-teressantes Buch geschrieben. [10]

    Dieser (gemeinfreie) Text ist eine Verschriftlichung zu einemReferat, das im Seminar Musik und Neurokognition bei FrauDr. habil. Christiane Neuhaus (WS 2013) gehalten wurde.

    [email protected]

    Matrikel-Nr.: 6246867

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  • 1 einleitung

    Das menschliche Hirn weist eine herausragende Fhigkeit auf, kom-plexe Klangeindrcke zu analysieren und einzelne Gerusche zuisolieren. In der Tat scheint es die wichtigste Funktion des Hrens zusein, Klangquellen zu identifizieren und zu lokalisieren Sprache undMusik sind dagegen eher Randerscheinungen. [13]

    Dem Hirn stehen fr diese Aufgabe im Wesentlichen zweierlei Hin-weise zur Verfgung: Temporale und spektrale. Ein temporaler Hinweiswre zum Beispiel, dass zwei Teilklnge genau zur selben Zeit an-fangen und enden; dies fhrt zu dem Eindruck, es handle sich umeine einzelne Klangquelle. Ebenso werden auf der spektralen SeiteFrequenzen gruppiert (und als ein Klang wahrgenommen), die etwaganzzahlige Vielfache voneinander sind. Viele Klnge, die fr Men-schen und Tiere wichtig sind, haben nmlich solche harmonischenoder quasi-harmonischen Obertne. Diese Klnge als eigenstndigidentifizieren und die wichtige Information (Zeit und geschtzter Ort)von der unwichtigen (klangliche Details, also Timbre) trennen zu kn-nen, bedeutet einen erheblichen Vorteil im alltglichen Kampf umsberleben. [6]

    Es hat also einfache evolutionre Grnde, dass Menschen harmoni-sche Klnge von anharmonischen unterscheiden knnen. Konsonanzund Dissonanz sind in diesem Sinne Begriffe, die aus der Notwen-digkeit erwachsen, komplexe Klangsituationen schnell einzuordnen.Unklar bleibt, warum manche Klnge, die vom einfachen harmoni-schen Fall besonders stark abweichen, von Menschen jedes kulturellenHintergrundes bereinstimmend als besonders unangenehm emp-funden werden. Um genauer zu verstehen, was Dissonanz ist, wrees praktisch, ein einfaches Modell zu haben, mit dem vorausgesagtwerden kann, wie dissonant ein Klang typischerweise auf einen Men-schen wirken wird. Hier hat es in den letzten Jahren einige interessanteEntwicklungen gegeben, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

    2 welche klnge sind dissonant, welche konsonant?

    Ein weit verbreiteter Irrglaube ist seit Galilei, dass das Hirn bestimmteKombinationen von Tnen bevorzugt und als konsonant einstuft,deren Frequenzen in einem einfachen, ganzzahligen Verhltnis zueinander stehen. Diese Kombinationen stellen die wichtigsten musika-lischen Intervalle dar, auf welchen wiederum das westliche Tonsystemmit seinen zwlf quidistanten Stufen basiert. Nach dieser Denkweisewre das Frequenzverhltnis der reinen Quinte, 3:2, besonders ange-nehm, whrend allerdings das nur wenig verstimmte Intervall 301:200eine mathematische Folter fr das Hirn darstellen wrde.

    Dass das nur die halbe Wahrheit ist, zeigt Abb. 1. Es wuren jeweilszwei pure Sinustne verschiedener Frequenz kombiniert. Das Ergebnisspiegelt in keinster Weise das wider, was man aus musikalischer Sichterwarten wrde: Insgesamt ist die Kurve sehr glatt, Spitzen bei denwichtigen musikalischen Intervallen fehlen. Das Unisono wird alssehr konsonant empfunden, nur leicht voneinander abweichende Tnesind am dissonantesten. Etwa ab der kleinen Terz ist alles mehr oder

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  • Abbildung 1: Konsonanzempfinden bei Superposition reiner Sinus-tne. Entnommen aus Roederer, nach Plomp & Levelt,1965

    weniger konsonant; so wurde z.B. ein Tritonus in dieser Konstellationkonsonanter empfunden als eine reine Quinte.

    Diese Verteilung ist in der Praxis aber von eher geringer Bedeu-tung, denn alle Klnge, die die Welt bereithlt, haben Obertne, diein den meisten Fllen ungefhr ganzzahlige Vielfache einer Grund-frequenz sind. Kombiniert man zwei solche komplexe Tne, wobeidann alle Harmonischen miteinander interagieren, wie es in Abb. 1dargestellt ist, erkennt man deutlich die prominente Rolle der reinenmusikalischen Intervalle (siehe Abb. 2).

    Der Fall, dass die Harmonischen genau ganzzahlige Vielfache derGrundfrequenz sind, gilt nur fr perfekt lineare Oszillatoren, also z.B.ideale Saiten oder ideale Luftsulen. Reale Saiten haben einen gewis-sen Grad an Steifheit, sind also eigentlich Stbe; reale Blasinstrumentehaben Austrittsffnungen, in denen der Druck abfllt. Beides fhrt zuanharmonischen Effekten im Obertonspektrum, die allerdings nichtunbedingt strend wirken. Ganz im Gegenteil: Ein synthethischer Kla-vierton wurde von Testpersonen als natrlicher und wrmer bewertet,wenn die Obertne leicht anharmonisch verstimmt waren. [5]

    Da der Grad der Dissonanz wesentlich von der Position und Ampli-tude der Obertne abhngt (wie wir im Vergleich von Abb. 1 und 2sehen konnten), beeinflusst diese Anharmonizitt auch die Lage derIntervalle grter Konsonanz. Darum mssen die Oktaven bei einemKlavier gespreizt werden eine mathematisch reine Frequenzverdopp-lung wrde unangenehm klingen, weil die (wegen der Saitensteifheitetwas zu hohen) Obertne dicht nebeneinander lgen und dadurchSchwebungen erzeugten. [4, 10, 9]

    Viele Perkussionsinstrumente wie z.B. Glocken, Gongs, Trommelfel-le, auch Klanghlzer oder -steine von Marimbas etc., haben ein vlliganders geartetes Obertonspektrum. Das hat physikalische Grnde: DieSchwingungsmoden einer Metallplatte sind nicht einfache Vielfachevoneinander, wie es bei einer Saite der Fall ist. Diese Intrumente imnormalen diatonischen Tonsystem zu verwenden, ist daher immer

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  • Abbildung 2: Berechnete Konsonanz fr zwei komplexe Tne (je sechsHarmonische). Der untere Ton ist bei 250 Hz fixiert, derobere variiert entsprechend der x-Skala. Nach Plomp &Levelt, entnommen aus [10, S. 94].

    mit gewissen Einschrnkungen verbunden. Ist die Ausklingzeit kurzgenug, fllt der Defekt i.A. nicht weiter auf. Eine Marimba hat Resona-toren, um die angenehmen Frequenzen hervorzuheben. Glockenspieleklingen tatschlich einfach sehr matschig, obwohl Glockengieersich grte Mhe geben, die unteren Moden an die diatonische Skalaanzupassen. 1[10]

    Eine Mglichkeit, konstruktiv mit den Eigenarten dieser Klngeumzugehen, ist, die Skala entsprechend anzupassen, sodass die promi-nenten konsonanten Intervalle dem Timbre der Instrumente gerechtwerden. Bei einem temperierten Klavier wird mit der Oktavspreizungim Prinzip genau das gemacht, allerdings sind die Korrekturen sehrklein. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die sog. Gamelan-Musik,welche traditionell auf Java und Bali praktiziert wird und Interval-le enthlt, die der abendlndischen Musik gnzlich unbekannt sind.Mehr zu diesem Thema, insbesondere auch aufschlussreiche Tonbei-spiele, bietet das Buch von Sethares [10].

    3 was passiert im hirn?

    Die Vermessung des menschlichen Hrvermgens ist noch nicht abge-schlossen. Insbesondere betrifft dies die Sortierung des Spektrums inFrequenzen, die zum selben Klangerzeuger gehren (spektrale Segre-gation), whrend die zeitliche Auflsung schnell aufeinanderfolgenderReize vergleichsweise gut erforscht ist. [9] Im Folgenden wird unsvor allem die spektrale Segregation interessieren, denn dort liegt dieUrsache fr das Empfinden von Konsonanz und Dissonanz.

    1Bis vor kurzem hie das meistens: kleine Terz, Quinte, Oktave usw., mittlerweilesind auch Durterzen mglich.

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  • Abbildung 3: Orte im Hirn, an denen Audiosignale verarbeitet wer-den. From bottom to top: outer and middle ear, cochlea, andauditory nerve (AN); cochlear nucleus (CN) and superiorolivary complex (SOC) in the brainstem; inferior colliculus(IC) in the midbrain; medial geniculate body in the thalamus;primary and secondary auditory cortex (AC). Aus [11]

    Das auditorische System von Sugetieren ist ein Hochhaus, sieheAbb. 3. Es bleibt eine Herausforderung, zu erklren, inwiefern dieZustnde an den verschiedenen Ebenen mit dem letztendlichen H-reindruck zusammenhngen (oder nicht). Erschwerend kommt hinzu,dass zwischen den Bereichen beidseitige Verbindungen existieren, d.h.das Gehrte beeinflusst, worauf im Folgenden die Aufmerksamkeitgelenkt wird. Auch Hirnareale auerhalb des auditorischen Systemsknnten auf diese Weise eine Rolle spielen.

    Ein insbesondere durch die Arbeiten von Zatorre et alii [17, 18,15, 16] sowie Sinex et alii [13, 14, 12] gesicherter Fakt ist, dass imPrimren Auditorischen Cortex (AC) eine Arbeitsteilung zwischenlinker und rechter Hirnhlfte stattfindet: Bei 97% aller Menschen istder linke Primre AC auf eine hohe Zeitauflsung spezialisiert unddamit essentiell fr das Sprachverstndnis; der rechte Primre AC istdafr genauer im Erkennen kleiner Frequenzunterschiede.

    Unser Fokus liegt also auf dem rechten AC. Spektrale Segregationund Identifizierung von Klangquellen geschieht vorbewusst (obwohlauch abstraktere Hirnareale einen Einfluss auf die Arbeitsweise desauditorischen Systems haben knnen, s.o.), ebenso ist der erste Ein-druck von Konsonanz oder Dissonanz nicht bewusst steuerbar. [3] Andieser Stelle mssen wir uns abgrenzen von abstrakteren Konzeptenvon Dissonanz, z.B. von Melodien oder Akkordfolgen, die schon eine

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  • auditorische Erinnerung voraussetzen.2 Es geht im Folgenden stetsum unmittelbare, sensorische Dissonanz eines einzelnen Klangs wieeine przise Definition dessen lauten knnte, ist eine der Fragen, diesich dabei stellt.

    4 kann man dissonanz messen?

    4.1 Entropie in Physik und Informatik

    Der Begriff der Entropie wurde ursprnglich im Rahmen der Thermo-dynamik geprgt. Neue technische Errungenschaften, die schlielichzur industriellen Revolution fhren sollten, erforderten eine quantitati-ve Auseinandersetzung mit Prozessen, in denen Energie umgewandeltwird. Entropie ist in diesem Kontext eines der sog. thermodynamischenPotentiale mit der prominenten Eigenschaft, stets grer zu werden(bei irreversiblen Prozessen) oder gleichzubleiben (bei reversiblenProzessen).

    Die Verbindung zur Informationstheorie wurde erst sehr viel spterherausgestellt. Heute kennt man nicht nur das statistische Fundamentder Thermodynamik, man wei auch, dass zum Schreiben einer Infor-mation (z.B ein Bit in einem Computer) eine gewisse Mindestenergienotwendig ist. Aufgrund dieses Zusammenhangs knnen tatschlichdie aus der Informatik bekannten Bits in energetische Einheiten umge-rechnet werden:

    1Bit = (ln 2) kB

    (kB = 1, 4 1023J/K ist die Boltzmann-Konstante.) Darauf genauereinzugehen, wrden den Rahmen dieser Arbeit sprengen, darumsei der Begriff an dieser Stelle nur heuristisch eingefhrt: Entropieist ein Ma fr Unordnung, hohe Entropie heit viel Information,geringe Bestimmtheit, und bedeutet in Verbindung mit dem Begriffder Tonalitt (s.u.) einen komplexen, atonalen Klangeindruck.

    4.2 Harmonische Entropie

    Das menschliche Ohr tendiert, wie schon erwhnt, dazu, die gehrtenFrequenzen in eine harmonische Serie einzuordnen, auch wenn dieFundamentale dieser Serie nicht vorhanden oder maskiert ist. DieLeichtigkeit, mit der diese Einordnung geschehen kann, heit Tonalitt,ihr Inverses ist nach Erlich die Harmonische Entropie. [10, S. 90ff]

    Die harmonische Entropie eines komplexen Klanges kann paarweisefr je zwei harmonische Tne berechnet werden. Um zu entscheiden,ob diese beiden Tne (quasi-)harmonisch zu einer gemeinsamen Fun-damentalen gehren, kann man jedem Teilterm der Farey-Reihe Fn,die alle Quotienten natrlicher Zahlen in immer dichter werdender Rei-hung enthlt, eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zugewiesen werden.Man hat also zu einem gegebenen Intervall i eine Wahrscheinlichkeitpj(i), ob i als j-tes Intervall der Fn interpretiert wird. Je nher dieseFrequenzen beieinander liegen, desto hher ist diese Wahrscheinlich-

    2Vgl. dazu die Arbeiten von Blood et alii [1]

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  • Abbildung 4: Harmonische Entropie fr Dreiklnge mit varia-blem oberen (diagonal nach rechts aufgetragen) undunteren (vertikal aufgetragen) Intervall im Bereichvon 2 bis 5 Halbtnen. Nach Paul Erlich, Quelle:http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Triadic_harmonic_entropy.png

    keit. Die Harmonische Entropie des Intervalls i wird dann wie folgtdefiniert:

    HE(e) = jpj(i) log(pj(i))

    Wenn i nahe an einem einfach Vielfachen der Reihe liegt, wird dieSumme einen groen Term enthalten und viele verschwindend kleine,die Harmonische Entropie wre in diesem Fall also niedrig.

    Die Strke dieses Konzepts demonstriert Abb. 4: Fr ein gegebenesTimbre, in diesem Fall herkmmliche ganzzahlige Moden, kann manzu jeder Dreierkombination solcher Tne die dazugehrige Tonalittvorhersagen. Es ergeben sich klar erkennbare Peaks bei den Kombina-tionen, die auch in der abendlndischen Musik eine Rolle spielen, z.B.bei 4:5:6 (Dur-Dreiklang).

    4.3 Entropie als Fehlerfunktion fr Klavierstimmungen

    Klaviere werden in einem aufwendigen Prozess mit einer wohltemperier-ten Stimmung versehen. Diese Stimmung stellt einen Kompromiss dar,um einerseits alle Tne und Intervalle mglichst gleich zu behandelnund andererseits die Unzulnglichkeiten des Instruments der demTonsystem inhrente Fehler, das sog. Komma, und die Inharmonizittder Saiten so gut es geht auszugleichen. Eine wohltemperierte Stim-mung kann bislang nur von professionellen Klavierstimmern erreichtwerden und weist dann eine (reproduzierbare!) Unregelmigkeit auf,die sich von Instrument zu Instrument leicht unterscheidet.

    Einen vielversprechenden Ansatz, die Natur dieser Stimmung, wel-che ja ein klanglich optimaler Kompromiss fr das menschliche Hirnist, analytisch zu erklren, fand unlngst Haye Hinrichsen. [4] Er

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  • Abbildung 5: Typisches Resultat des entropiebasierten Stimmverfah-rens nach Hinrichsen (rote Kurve) im Vergleich zueiner professionellen Stimmung nach Gehr (schwarzeKurve). Entnommen aus [4]

    benutzte Aufnahmen von allen Tnen eines (verstimmten) Klaviersund implementierte einen Algorithmus, der die Tne virtuell um-stimmte, bis die Shannon-Entropie des Obertonspektrums minimalwar. Dieser Zustand minimaler Entropie war berraschend nah ander temperierten Stimmung, die ein Klavierstimmer fr eben diesesKlavier fand (siehe Abb. 5).

    Die Shannon-Entropie eines Spektrums ist wie folgt definiert:

    H =

    p( f ) ln p( f )d f

    Dabei ist p der Schalldruck. Da die Berechnung mit tatschlichenMesswerten auf einem Computer stattfand, wurde eine diskretisierteForm verwendet, die damit eine beachtliche hnlichkeit zu ErlichsHarmonischer Entropie aufweist.3 Die Prmisse, dass ganzzahligeVielfache eine mit steigender Komlexitt abnehmende Rolle spielensollen, die sich in der Summierung ber die Terme der Farey-Reiheniedergeschlagen hatte, wird bei Hinrichsen durch die natrlicher-weise abnehmenden Amplituden der Oberschwingungen einer rea-len Klaviersaite ersetzt. Qualitativ werden beide Herangehensweisensicherlich zu hnlichen Ergebnissen gelangen, sodass es durchausinteressant zu wissen wre, ob man auch die jeweils andere Formelfr die hier aufgefhrten Anwendungsbeispiele verwenden knnte.

    Der Erfolg dieser Methode, die ohne Bercksichtigung psychoakus-tischer Besonderheiten nur die Shannon-Entropie als Fehlerfunktionzur Beurteilung einer Klavierstimmung verwendet, bietet interessantePerspektiven auf dem Weg zu einem tieferen Verstndnis des mensch-lichen Hrens, speziell auch der Wahrnehmung von Musik. Sollte das

    3Es sei allerdings noch einmal darauf hingewiesen, dass der Buchstabe p bei Erlichfr eine Wahrscheinlichkeit steht, bei Hinrichsen jedoch fr den Schalldruck.

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  • Empfinden von Konsonanz und Dissonanz auf derart einfachen Prinzi-pien fuen? Die Prominenz ganzzahliger Schwingungsverhltnisse hatletztendlich rein physikalische Grnde, die, wie z.B. bei der Gamelan-Musik, auch fehlen knnen. Wer der elegantesten Theorie den Vorzuggewren will, sollte Hinrichsens Idee weiterverfolgen, denn sie fhrtmit minimalen Annahmen (und bislang ohne psychoakustische Kor-rekturen) zu beachtlichen Ergebnissen.

    Davon abgesehen werden in der Folge vielleicht auch Klavierstim-mer langfristig ihre Arbeitsweise verndern. Professionelle Stimmge-rte knnen bislang nur die korrekte Oktavspreizung berechnen, dieeigentliche Temperierung der Mitteloktave erfolgt einfach quidistant.Die Ergebnisse der Methode von Hinrichsen liegen nher an dem, wasauch ein Klavierstimmer als optimal empfinden wrde.

    literatur

    [1] Blood, Anne J. ; Zatorre, Robert J. ; Bermudez, Patrick ; Evans,Alan C.: Emotional responses to pleasant and unpleasant musiccorrelate with activity in paralimbic brain regions. In: Natureneuroscience 2 (1999), Nr. 4, S. 382387

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    [5] Jrvelinen, Hanna ; Vlimki, Vesa ; Karjalainen, Matti:Audibility of the timbral effects of inharmonicity in stringedinstrument tones. In: Acoustics Research Letters Online 2 (2001), Nr.3, S. 7984

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  • [9] Roederer, Juan G.: The Physics and Psychophysics of Music: AnIntroduction. (2008)

    [10] Sethares, William A.: Tuning, timbre, spectrum, scale. Bd. 2. Sprin-ger, 2005

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    [12] Sinex, Donal G.: Spectral processing and sound source determi-nation. In: International review of neurobiology 70 (2005), S. 371

    [13] Sinex, Donal G. ; Guzik, Heidi ; Li, Hongzhe ; Henderson Sabes,Jennifer: Responses of auditory nerve fibers to harmonic andmistuned complex tones. In: Hearing research 182 (2003), Nr. 1, S.130139

    [14] Sinex, Donal G. ; Li, Hongzhe ; Velenovsky, David S.: Prevalenceof stereotypical responses to mistuned complex tones in theinferior colliculus. In: Journal of neurophysiology 94 (2005), Nr. 5, S.3523

    [15] Zatorre, Robert J. ; Belin, Pascal: Spectral and temporal proces-sing in human auditory cortex. In: Cerebral Cortex 11 (2001), Nr.10, S. 946953

    [16] Zatorre, Robert J. ; Belin, Pascal ; Penhune, Virginia B.: Struc-ture and function of auditory cortex: music and speech. In: Trendsin cognitive sciences 6 (2002), Nr. 1, S. 3746

    [17] Zatorre, Robert J. ; Evans, Alan C. ; Meyer, Ernst: Neuralmechanisms underlying melodic perception and memory forpitch. In: The Journal of Neuroscience 14 (1994), Nr. 4, S. 19081919

    [18] Zatorre, Robert J. ; Halpern, Andrea R. ; Perry, David W. ;Meyer, Ernst ; Evans, Alan C.: Hearing in the minds ear: A PETinvestigation of musical imagery and perception. In: Journal ofCognitive Neuroscience 8 (1996), Nr. 1, S. 2946

    erklrung

    Hiermit erklre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbstndigund nur unter Verwendung der angegebenen Quellen und Hilfsmittelangefertigt habe.

    Oldenburg, den 1.5.2014

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    1 Einleitung2 Welche Klnge sind dissonant, welche konsonant?3 Was passiert im Hirn?4 Kann man Dissonanz messen?4.1 Entropie in Physik und Informatik4.2 Harmonische Entropie4.3 Entropie als Fehlerfunktion fr Klavierstimmungen