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INSTITUTUM HISTORICUM FRATRUM PRAEDICATORUM - ROMAE ARCHIVUM FRATRUM PRAEDICATORUM VOLUMEN LV 1985 ISTITUTO STORICO DOMENICANO, ROMA DIREZIONE: LARGO ANGELICUM. I - 00184 ROMA AMMINISTRAZIONE: CONVENTO S. SABINA, AVENTINO - 00153 ROMA

Die Physik des Albertus Magnus

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INSTITUTUM HISTORICUM FRATRUM PRAEDICATORUM - ROMAE

ARCHIVUM FRATRUM P R A E D I C A T O R U M

VOLUMEN LV

1985

ISTITUTO STORICO DOMENICANO, ROMA DIREZIONE: LARGO ANGELICUM. I - 00184 ROMA

AMMINISTRAZIONE: CONVENTO S. SABINA, AVENTINO - 00153 ROMA

DIE PHYSIK DES ALBERTUS MAGNUS (Teil I, die Bücher 1-4)

QUELLEN UND CHARAKTER

VON

PAUL HOSSFELD

Von Alberts Physik l, die als paraphrasierender Kommentar zur Physik des Aristoteles wie diese eine naturphilosophisch-natunvissen- schaftliche Schrift ist, gibt es noch fast zwei vollständige Schlußtrak- tate der insgesamt 8 Bücher im Autograph 2. An Hand des Schluß- kapitels habe ich aus rund 40 Handschriften 3, die das Werk Alberts vollständig oder fast vollständig enthalten, sechs ausgewählt4, um zunächst einmal die ersten vier Bücher kritisch zu edieren, d.h. einen verläßlichen Text zu erstellen. Denn die bisher im Druck vorliegen- den und meist benutzten Ausgaben der Physik, also vor allem die oft herangezogene Pariser Ausgabe aus dem vorigen Jahrhundert von

' Borgnet (1890) und die Lyoner Ausgabe aus dem 17. Jahrhundert I von Iammy (1651) enthalten zu viele Sachfehler; darüber hinaus bie-

1

ten sie keine halbwegs kritische Edition der von Albert benutzten griechisch-lateinischen Ubersetzung der aristotelischen Physik, noch ' einen ausführlichen Sachapparat, noch umfangreiche Indices, die das

I A Werk wesentlich leichter erschließen. Allein in den ersten vier Büchern l l i , ": von Alberts Physik lassen sich bei den alten Druckausgaben von Borg- $! , J; net, Iammy und dem Frühdruck Venedig 1517, wohl die Grundlage 8 von Iammy und Borgnet, über 1100 ( I ) schwere Sachfchler feststellen; ..t ich bin mir bewußt, daß die Bezeichnung ' schwere Sachfehler ' etwas %f .. .

,;

, uber Abfassungszeit, Stellung innerhalb der naturphilosophisch-naturwis-

aenschaftlichen Schriftenreihe Alberts und Echtheit siehe Editio Coloniensis Band -.-+ '.!t$:b, 5,l S. V und Band 5,z S. V-VI. ' Wien, Österreichische Nationalbibliothek 273 (Philos. 4 2 1 ) ~ ff. 65'-7zv.

Siehe W. F a U s e r SJ, Die Werke des Albertus Magnus in ihrer hand- schriftlichen uberlieferung, Teil I : Die echten Werke, SS. 25-32.

Roma, Bibl. Apostolica Vaticana: Borghes. 307; Palat. lat. 976; Urb. lat. 192. Paris, Bibl. Nationale lat. 6509. Budapest, Szkchknyi lat. 61. Zwettl, Stifts-

Subjektives an sich hat, aber ich bin beim Zählen der Fehler zugunsten der alten Drucke vorgegangen. Von diesen über i ioo schweren Sach- fehlern stellen etwa I O O sogenannte Homoioteleuta dar von über zwei Wörtern bis zu drei Zeilen Länge. Die viel benutzte Ausgabe von Borg- net weist gegenüber dem Frühdruck oder gegenüber dem Frühdruck und der Ausgabe von Iammy 49 weitere Fehler auf wie einmal ein permissum statt permixtum oder Samositanus statt Paroon (B. 4 Tr. 3 K. 14), wie es nach der aristotelischen Vorlage richtig heißen muß (222 b 18); Borgnet sah die Unmöglichkeit ein, in demselben Satz P~thagoras und Paro (statt Paron) lesen zu müssen, wie Iammy bietet, und da er nicht wußte, daß statt Pythagoras Pythagoricus zu lesen war, ließ er frei erfunden Samositanus drucken.

Zum Schluß meiner Ausführung über die alten Drucke der Phy- sik Alberts möchte ich eine Reihe von ins Auge springenden Fehlern dieser Drucke anführen: iterum statt in terminum; ulterius statt Avi- cenna; manifestorum statt monstrorum; vanitas statt vacuitas; mate- riam statt nervum; nunc statt vivit; dictum statt divinum; calescit statt tale sit; physicum statt prohibitum; activis statt tactivis; talis statt caeli; actione statt acceptione; imitatur statt mutatur; circa statt terminus; per tempus statt percipere; viribus statt vicibus; motus statt tempus; sine statt situs; Uno statt numero; mobile statt immobile; accidens statt actus.

Ich bin bewußt derartig ausführlich auf die alten Drucke von Al- berts Physik eingegangen, weil ein Editor der Werke Alberts leider immer wieder einmal auf Mediaevisten, also auf Fachleute, stößt, die selbst dann, wenn sie über Albertus Magnus schreiben, die Aus- gaben von Iammy oder Borgnet benutzen, obwohl das entsprechende Werk Alberts seit Jahren in der kritischen Edition vorliegt. Hier fragt man sich als Editor mit Recht, warum habe ich mir die Mühe gemacht ? Denn das Edieren ist nur ein gelehrtes Dienstlei~tungs~eschäft, das derjenige ungern auf sich nimmt, der lieber sogleich zur Sache kom- men möchte, um mit der von ilzm erarbeiteten gropen Erkenfztnis an die wissenschaftliche Öffentlichkeit zu treten.

Albert benutzt als aristotelische Grundlage seiner Paraphrase eine alte griechisch-lateinische Übersetzung, die sogenannte Translatio ve-

tus. An Hand von 5 Handschriften habe ich versucht, einen ' halb-

Nürnberg, Stadtbibl. Cent. V 59. Paris, Bibl. Nationale lat.: 6325; 14386. Erfurt, Wissenschaftliche Allgemeinbibl. CA 20: Fol. 29; Fol. 31. Alle 13. Jahr- hundert.

Die Physik des Albertus Magnus 5 1

Wegs kritischen Text dieser ubersetzung zu erstellen, hier mit Blick auf den griechischen Text der Bekker-Ausgabe, dort in Hinblick auf den Alberttext; er wird der kritischen Ausgabe von Alberts Physik 'unter dem Strich ' beigegeben. Albert, der sich fast immer bemüht,

. möglichst viele Interpretationshilferi heranzuziehen, um den meist dichten ' Aristotelestext treffend auszudeuten, benutzt, wie schon bei

der kritischen Edition von De caelo et mundo und De generatione et corruptione festgestellt wurde 6, insgesamt gesehen oft Interlinear- ' varianten ' der Übersetzungshandschriften. Von welcher bestimmten Handschrift der ubersetzung Albert diese Varianten oder Kommen- brstücke übernommen hat, ist mir unbekannt, aber die Fülle der Pa- rallelen zwischen Interlinear ' varianten ' und Alberttext ist m.E. nicht zufällig, und Albert ist es, der stets nach ' gelehrter Unterstützung ' Ausschau hält.

In einem geringeren Maß zieht Albert die arabisch-lateinische Obersetzung heran, die abschnittsweise dem Kommentar des Averroes zur Physik des Aristoteles beigegeben ist und die dem Michael Scotus zugeschrieben wird 7. Nicht selten entnimmt Albert dieser arabisch- lateinischen Ubersetzung Zweitformulierungen zu Worten der grie- chisch-lateinischen Ubersetzung wie (onerosa - vanus) onerosus ... vanus (Albert), (multa - plura) plura ... multa, (excellentia et defectus - additio et diminutio) excellentiam et defectum per additionem et dimi- nutionem, (cerebrum - medulla) cerebrum ... et medulla, (status -

etis) status sive quietis - oder Worte, die ihm besser zu passen einen wie formam lecti statt speciem lecti, laborare (labor) statt

olere (ponein!), Sex modi statt einfach Sex, secundum artem aedifi- ativam statt secundum aedificativam - oder mehr oder minder be- anglose Formulierungshilfen wie ita est statt sic se habet, videntes tiam statt videntes, tale (quicquid est tale) statt huiusmodi, igitur tatt quare, desiruit id quod est statt destruit.

Aber auch die alte griechisch-lateinische Ubersetzung, die soge- nannte Translatio Vaticana s, hat Albert beeinflußt, wenn auch in einem geringen Maß. So schreibt er 2.B. in ihrem Sinn accidit statt contingit der Translatio vetus; unum, statt es fehlen zu lassen; (utrumque) simul statt cum (utroque) der Translatio vetus und

Siehe den Apparat zu den Texten der Ubersetzung in der Editio Colo- niensis Bände 5,i und 5 , ~ .

' Aristoteles Latinus, Pars Prior, Roma 1939, S. 104 n. (105). Aristoteles Latinus VII, 2, Physica, Translatio Vaticana (ed. Aug. M a n -

8 i o n ), Bruges-Paris 1957.

<2 P. Hossfeld

per ambo der Ubersetzung des Michael Scotus 9. Wo die Translatio Vaticana passa sunt liest, schreibt Albert patiuntur statt sustinent; wo sie statt defectum dubitationem hat, bringt Albert zusätzlich du- bitationis, während Michael Scotus dubium bietet; wo die Translatio vetus separabile, Michael Scotus separatum schreiben, übersetzt sie inseparabile, und Albert kombiniert separabile ... aut ... inseparabile; wo bei der Translatio vetus sanari, in der Translatio Michaelis Scoti recipiens sanitatem steht, hat sie sanatum und Albert beide Lesarten verbindend sanari ... sanatus 1°.

Bei der Arbeit am Manuskript der kritischen Edition von Alberts Physik war ich bisweilen erstaunt, wie auf einer einzigen Manuskript- seite ein ' schlankes Gerüst ' unterschlängelter Worte - um dem ' Setzer ' den Kursivdruck für Worte aus der Ubersetzun~ anzuzei- gen - langsam zu einem ' guten Polster ' anwuchs, waren erst einmal die zusätzlichen Sprachbrocken kenntlich gemacht, die der Uberset- zung des Michael Scotus oder den Interlinear ' varianten ' entstamm- ten, insbesondere wenn ich noch den durch Häkchen verdeutlichten Einfluß des Averroeskommentars zur Physik des Aristoteles mitberück- sichtigte; doch davon etwas später.

Neben der aristotelischen Vorlage in zwei, bisweilen sogar drei Lesarten und den zahlreichen Kommentarbrocken zwischen den Zei- len der Translatio vetus, also der Hauptvorlage, zog Albert zur Ver- deutlichung und Weiterführung der Gedanken der aristotelischen Physik anderes Gedankengut des Aristoteles heran. Besonders stark ist der Einfluß von De caelo et mundo, von De generatione et cor- ruptione, der Meteora, vor allen auch der Metaphysik des Aristoteles zu verspüren, dem der von De anima etwas nachsteht. Die logischen Schriften, wiederum stärker benutzt, die Nikomachische Ethik, De historia und De generatione und De partibus animalium, sowie etwas aus den Parva naturalia runden das Bild ab.

Abgesehen von diesem zusätzlichen aristotelischen Einfluß verdankt Alberts Physik dem Kommentar des Averroes viel, bisweilen sehr viel. Das hindert Albert nicht, schon mal mit Averroes hart ins Gericht zu gehen; dann ist es nach Albert Averroes, der von einer Sache nichts versteht l1 oder der sich gleichsam als Kritikaster oder Besserwisser

@ Translatio Vaticana, a.a.O., S. 3,4; 5,7; z i , ~ . 'O Translatio Vaticana, a.a.O., S. 3,18; 6,26; 8,18; 23,zo. " B. 4 Tr. 3 K. 13. Siehe auch Alb., De caelo et mundo, Ed. Colon. Band

5 - 1 S. lo,g3 f., S. i60,96-98.

Die Physik des Albertus Magnus 5 3

aufspielt12. Nur aus wenigen Kommentarstücken des Averroes hat Albert überhaupt nichts entnommen, andererseits andere fast wie eine Zitrone ausgequetscht 13. 14 mal hat Albert seine eigene Erwahnung des Aristoteles dem Kommentar des Averroes entnommen wie 8 mal die des Plato. Die Namen und Gedanken des Alexander von Aphro- disias (9 mal) und des Themistius (8 mal) stammen zum großen Teil oder fast ganz aus dem Kommentar des Averroes, und wenn Albert Avempace 6 mal zu Wort kommen läßt, bedient er sich des Averroes- kommentars zur Physik des Aristoteles. Wo Albert den Alfarabius rnmentlich erwahnt, geht das 4 mal auf den Kommentar des Averroes

ferner 2 mal bei der Nennung des Iohannes Grammaticus, je 3 mal bei Galienus und Anaxagoras, 2 mal bei Empedocles, i mal bei Pythagoras, i mal bei Pythagorici, 2 mal bei Platonici. Selbst Avicenna, dessen Sufficientia Albert oft genug benutzt, wird 2 mal dem Icommen- b r des Averroes entnommen wie einmal ein Brisso mit einer geome- trischen Figur. Aber damit noch nicht genug! 6 mal lassen sich qui- darn, 2 mal adversarius, 2 mal alii und 2 mal aliquis, daneben antiqui, multi, illi, isti und philosophi auf den Einfluß des Averroes zurück- führen. Verweise wie ' in fine octavi libri declarabimus ', ' sicut de- clarabitur in libro peri geneseos ', ' in sexto huius scientiae ', ' quae

t in prima philosophia considerare ', ' declaraverit Aristoteles in libro motibus localibus animalium ', ' quae dicuntnr in fine VII et VIII ' ysicorum) lassen sich dem Kommentar des Averroes entnehmen 14. Nach dem aristotelischen Gedan1;eiigut und dem Kommentar des erroes ist Avicennas Schrift Sufficientia, viel weniger dessen Meta- ysik oder Philosophia prima, am tragenden Gerüst in den ersten

er Büchern von Alberts Physik beteiligt, wenn auch weniger (?) als Kommentar des Averroes. Albert führt 42 mal den Namen des

cenna an und 37 mal bezieht er sich hierbei auf die Sufficientia Avicenna. Alberts Abhandlung über die Namen der ersten Ma-

terie l5 oder seine paraphrasierende Kommentierung der Themen Ur-

B. 2 Tr. 1 K. 10.

l8 Z.B. Averroes, Physica B. 4 comm. 43; 71. l4 Siehe dazu auch: P. H o ß f e 1 d , Die Arbeitsweise des Albertus Mag-

nus in seinen naturphilosophischen Schriften; in: Albertus Magnus - Doctor universalis, i28o/ig80 (herausg. von G. M e y e r und A. Z i m m e r m a n n ), besonders: CS. 200-201.

15 Siehe auch P. H o ß f e 1 d , Erste Materie oder Materie im allgemeinen

in den Werken des Albertus Magnus; in: Albertus Magnus, Doctor universalis. a.a.O., SS. 205 ff.

<4 P. Hossfeld Die Physik des Albertus Magnus 5 5

Sache, Geschick und Zufall oder der Themen Bewegung, Raum, Va- kuum und Zeit sind zum Teil sehr stark von den Gedanken des Avi- cenna beeinflußt, bisweilen bis in den Gebrauch charakteristischer Worte der Übersetzung, 2.B. inane für vacuum, lectitas, momenta temporis, diffinitio circularis im Zusammenhang mit der Meinung von ' aliquis ' (ex discipulis), den Albert mit Averroes als Themistius iden- tifiziert 16. Albert übernimmt streckenweise die Gedanken des Avicenna als Gerüst seiner eigenen Darlegung wortwörtlich oder fast wortwört- lich. In der Bestimmung des Wesens der Zeit stellt er sich ganz bewußt auf die Seite der Araber, nämlich Avicennas und des Averroes, um über die Zeitbestimmung des Aristoteles Klarheit zu gewinnen, wobei er sich gegen die Ausdeutung von ' multi Latinorum ' stellt I'. Dort, wo sich Albert mit der Lehre des Avempace und des Avicenna über das Vakuum auseinandersetzt ls, die er für Avempace dem Kommen- tar des Averroes entnommen hat, verknüpft er die hleinung des einen mit der des anderen, ohne durchgehend zu verdeutlichen, daß Avicenna nur in einer bestimmten Hinsicht mit Avempace übereinstimmt; das heißt, Albert macht es sich hier zu leicht, wenn er Avicenna und Avempace zu eng in Verbindung bringt und auch dem Avicenna zu- schreibt, was er im Kommentar des Averroes nur als Meinung des Avempace vorgefunden hat19. Bei strittigen Fragen folgt Albert mal der Ansicht des Avicenna, mal widerspricht er ihr oder schränkt sie einz0, aber mir ist bis jetzt noch keine Äußerung Alberts begegnet, in der er Avicenna so schroff abkanzelt wie bisweilen den Averroes 21, vielmehr erhält Avicenna bisweilen ein Lob 22.

Bedeutend weniger und doch bemerkenswert oft bezieht sich Al- bert auf Schriften des Boethius, nämlich 14 mal, bzw. es lassen sich Einflüsse von dort nachweisen, über 20 mal. Wo Albert den Begriff der Natur darlegt 23, hat er ein längeres Textstück aus der Schrift Contra Eytychen et Nestorium des Boethius (?) fast Wort für Wort abgeschrie-

l6 B. 4 Tr. 3 I<. 5 (Schluß des Kapitels). l7 B. 4 Tr. 3 K. 6 + 7. lB B. 4 Tr. 2 K. 7. l9 Averroes, Physica 1. 4 comm. 71. 20 Siehe dazu die ins Deutsche übersetzte Textauswahl in P. H o ß f e 1 d ,

Albertus Magnus als Naturphilosoph und Naturwissenschaftler, Hauptteil 11, Albertus-Magnus-Institut 1983.

" Siehe oben die Fußnoten i i und iz . 2.B. B. i Tr. 3 K. 18: , bene dicit Avicenna ... '; nach den Handschriften.

2a B. 2 TI. I K. 1. B. 2 TI. 2 K. i g : , Noster (!) autem Boethius ... dicit '.

ben, ebenso beim Thema Fatum aus De consolatione philosophiae. Bei den Themen Glück/Unglück, Vorsehung und Geschick benutzt er De consolatione philosophiae; die Blindheit und das Rad (rota) der schwarz/weiß bemalten Glücks/UnglÜ~ksgöttin2~ könnten von dorther stammen neben der ubernahme von rota oder der Anregung zu die- sem Wort aus dem 4. Buch der Obersetzung der aristotelischen Physik von hlichael Scotus. Stark ist der Einfluß von De consolatione philo- sophiae auf Alberts Schlußtraktat des vierten Buchs seiner Physik mit dem Titel De aeternitate. Da Albert bei Aristoteles und den Peripa- tetikern nur unvollkommen über das Wesen der Ewigkeit unterrichtet wird, er verweist auf das achte Buch der Physik, und Avicenna und Averroes bringen ' irgendwo ' zu wenig oder Ungenügendes, mußte er sich anderswo umsehen, er, dem als Professor christlicher Theologie mehr als etwas an dem Thema Ewigkeit gelegen sein mußte. Isaac Israeli mit dem Liber de definicionibus, ~ i l b e r t Porretanus mit seinem .Kommentar zu De trinitate des Boethius, Augustinus und eben Boe- thius mit De trinitate und De consolatione philosophiae sind seine Hauptquellen, denen sich Pseudo-Dionysius mit De divinis nominibus zugesellt. Vieles, was Albert in diesem Anhangstraktat zum aristote-

- lischen Thema ' Ober die Zeit ' bringt, hatte er in dieser oder jener Form bereits in seinen Schriften De IV coaequaevis und Super Dio- nysium De divinis nominibus gebracht, teils mit den auch hier in der Physik erwähnten Quellen, 2.B. der Schrift De consolatione philoso- phiae des Boethius. Zu den arithmetischen Angaben Alberts lassen sich Parallelen in De institutione arithmetica des Boethius finden. Min-

. destens 2 mal hat sich Albert auf das Boethius-Werk In Peri herme- neias gestützt, mindestens i mal auf In Isagogen Porphyrii.

Euklid wird von Albert 9 mal zitiert, mindestens 7 mal ist sein Einfluß ohne Namensangabe belegbar. Die Elementa des Euklid sind die Hauptquelle für geometrische Angaben Alberts, sofern sie sich nicht aus der aristotelischen Ubersetzung oder dem Kommentar des Averroes ergeben; so findet man die Figur eines von einem Kreis umspannten Quadrats, die von einem Geometer Brisso stammen soll, im Kommentar des Averroes wieder. Albert benutzt die Elemente des Euklid in der tibersetzung des Adelhard von Bath, von der es meh- rere Versionen gab 25. Da Albert später selbst einen Kommentar ZU

. . B. 2 Tr. 2 K. 11. .".'

Angaben in P.M.J.E. T U m m e r s , Albertus (Magnus) , Commentaar op Euclides' Elementen der Geometrie, Deel 11% Nijmegen 1 ~ 8 4 , S. 364 n. I .

56 P. Hossfeld

den Elementen des Euklid schreibt oder sehr wahrscheinlich diktierend verfaßt 26, SO daß er in seiner Metaphysik auf dieses Werk verweisen kann 27, machen Hinweise des Editors der Physik auf Alberts Geome- trie nur Parallelen in einem späteren Werk Alberts deutlich.

Werke von Ptolemaeus und die Naturales quaestiones des Seneca werden in den ersten vier Büchern von Alberts Physik nur wenig her- angezogen, während in De caelo et mundo Ptolemaeus öfter zur Sprache kommt - und wenn über den entsprechenden Kommentar des Aver- roes oder über die Schrift De motibus celorum des al-Bitrfiji -, in den drei ersten Büchern der Meteora Alberts das Werk von Seneca nach der aristotelischen Vorlage die Hauptquelle bildet 29.

Auch die pseudo-aristotelischen Schriften De causis proprietatum elementorum (oder: De proprietatibus elementorum) und Liber de causis, die eine etwas phantastisch, die andere neuplatonisch, üben einen geringen Einfluß aus. Iohannes Damascenus mit seiner Schrift De fide orthodoxa als Autorität für gewisse Denker, die über das Im- Raum-sein philosophieren 30, eine Schrift, die dann Albert in den Meteora für eine Bemerkung über die abzulehnende These von der Erschaffung eines Kometen durch Gott allein heranzieht 31, spielt eine ebenso kurze Gastrolle in der Physik wie Firmicius Maternus mit seiner Mathesis.

Auch den anderen altgriechischen Philosophen, dem Albert in sei- ner Metaphysik neben Aristoteles Vorbildcharakter zuschreibt 3" was ihn nicht hindert, diesen deutlich zu kritisieren, wo es ihm im Geist des Aristoteles angebracht e r ~ c h e i n t ~ ~ , nämlich Plato (oder:Platon), erwähnt er 6 mal mit dessen Timaeus; und wie schon angemerkt über- nimmt er 8 mal den Namen des Plato mit dessen tatsächlicher oder

P. H o ß f e 1 d , Zum Euklidkommentar des Albertus Magnus; in: Ar- chivum Fratrum Praedicatoruin 52 (1982)~ SS. i 15-133.

'' Alb., Metaphysica. Ed. Colon. t. 16 S. 27,74; ii8,37-38; z56,69-70. Buch I bereits ediert von P.M.J.E. T u m m e r s , a.a.0. SS. 1-102.

'' Siehe P. H o ß f e 1 d , Senecas Naturales quaestiones als Quelle der Nie- teora des Albertus Magnus; in AFP L (1980) 63-64.

80 B. 4 Tr. i K. I.

Alb., Meteora B. i Tr. 3 K. 6. P. H o ß f e 1 d , Die Lehre des Albertus Magnus von den Kometen, Angelicum 57 (1980) 533-541.

32 Alb., Metaph. Ed. Colon. t. 16 p. 89 V. 85-87. 83 Siehe den Index rerum et vocabulorum der Bände 5,z und 16 der Editio

Coloniensis mit den Werken De generatione et corruptione und Metaphysica unter dem Stichwort Plato.

Die Physik des Albertus Magnus 57 i i

: vermeintlicher Meinung aus dem Kommentar des Averroes, im übri- gen noch einige Male aus anderen Schriften. Der Einfluß des Chal- cidius als Icommentator von Platos Timaeus kann ebenfalls 4 mal vermerkt werden. Männer wie Costa ben Luca mit seiner Schrift De differentia animae et spiritus, Moses Maimonides mit seinem Dux neutrorum, Algazel mit seiner Metaphysik, Petrus Hispanus mit De fallaciis, Phorphyrius mit der Isagoge, Eustratius mit seinem Kom- mentar In Ethicam Nicomacheam, Asclepius des PS.-Apuleius, De rnundo von Apuleius, die Remedia amoris des Ovid und die Ilias des Simon Aurea Capra haben nur einen punktuellen Einfluß. Anders verhält es sich mit dem Werk Fons vitae des Avicebron (Avencebrol), dessen Gedanken 13 mal nachgewiesen werden können, sei es daß Albert den Avicebron namentlich erwähnt, sei es als stille Quelle. Das Problem, ob es im sublunaren Bereich und im Bereich der Himmel nur die eine Materie gibt, das für Albert eng mit dem Namen des Avi- cebron verbunden ist, verfolgt er bis in die Metaphysik; sucht er in der Physik der Lehrmeinung des Avicebron etwas abzugewinnen, so lehnt er sie und ihn in der Metaphysik scharf ab 34.

Obwolil Albert allein schon durch seine aristotelischen Vorlagen eng mit der griechischen Geschichte und Kultur verbunden ist, muß

, man immer wieder einmal feststellen, da13 eine gediegene Kenntnis der X griechischen Geschichte und des Griechentums, aber auch der römi-

schen Geschichte fehlt. In den h'Ieteora macht er im Anschluss an einen

;: mißverstandenen Satz aus den Naturales quaestiones des Seneca die

tf, beiden Städte Pompeji und Herculaneum zu zwei Philosophen na-

C mens Pompeius und Herculaneus; der Anfang des Buchs, in dem bei " &'& +. Seneca der mißverstandene Satz vorkommt, hätte übrigens Albert be-

$ lehren können, daß zumindest Pompeji eine Stadt war 35. In De tau- f 8is proprietatum elementorum verlegt Albert mit seiner pseudo-aristo- jdt a telischen Vorlage die Lebenszeit des Sokrates in die Zeit Philipps 11.

,$d

: ~d von Mazedonien, des Vaters Alexanders des Großen, und somit zu- !-gleich in die Zeit des Philosophen Aristoteles, dessen Werke Albert

$$ &!

a4 Siehe dazu: P. H o ß f e 1 d , Erste Materie oder Materie im allgemeinen in den Werken des Albertus Magnus; in: Albertus Magnus, Doctor universalis a.a.O., SS. 216; 226-227.

Siehe dazu: P. H o ß f e l d , Der Gebrauch der aristotelischen ijber- setzung in den Meteora des Albertus Magnus; in: Mediaeval Studies XLII (1980) 405; ders., Senecas Naturales quaestionfs als Quelle der Meteora des Albertus Magnus; in: AFP L (1980) 82.

5 8 P. Hossfeld

kommentiert und der über Platon der Schüler des Schülers des So- krates war 36. Mit etwas Geschichtskenntnis hätte Albert den Pseudo- Charakter von De proprietatibus elementorum (= De causis proprieta- turn elementorum) erkennen können. Aber Albert denkt wie die Ge- lehrten seiner Zeit in dem Sinn grundlegend ~n~eschichtlich, daß er wie Platon und Aristoteles nach der statischen, der ewigen allgemeinen Wahrheit sucht. Die Geschichte mit ihren konkreten einmaligen Vor- gängen steht dieser Suche radikal entgegen. Daß der Mensch philo- sophisch nur unter Berücksichtigung der Geschichte zu einer umfas- senden Klärung der Frage ' Was ist der Mensch? ' kommen könnte, erst recht das Hegelsche ' Die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst '37, ausgesprochen auf dem Hintergrund eines pantheisti- schen Gottes, der sich entwickelt, sind noch keine erwägenswerten Themen.

Bei diesem Mangel an gediegener geschichtlicher Kenntnis des Griechentums verwundert es nicht, daß Albert von einem Minocen- taurus spricht. In den alten Drucken von Alberts Physik wurde Mino- centaurus prompt in Minotaurus verändert 38, aber der handschriftli- che Befund an den beiden Stellen, wo von diesem Mythen- oder Fa- belwesen gesprochen wird, lautet anders: die Handschriften HPlY und die Korrektur (!) der Handschrift P lesen als Akkusativ minocentau- rum; P las ursprünglich etwa tnocentaurum, und eine Handschrift F hat rn nocentaurum; die beiden Handschriften SUr, die öfter Kor- rekturen bieten, lesen minotaurum und minotarium - so der Befund an der ersten Stelle. An der zweiten Stelle, einige Manuskriptseiten der kritischen Edition später, haben die Handschriften HPPlSUr mi- nocentaurus, und die Handschrift Y liest nimocentaurus; auf die von mir sonst nicht benutzte Handschrift F habe ich verzichtet, weil der Befund klar genug ist. Zieht man zur endgültigen Klärung die Meta- morphosen Ovids zu Rate (Buch 8, 152-153) wird einem die Lesart Minocentaurus als ein Mißverständnis Alberts oder seines ' Zwischen- trägers ' zur Gewißheit: ' Vota Iovi Minos taurorum Corpora centum solvit '; und Ovid gehörte anders als Vergil im Mittelalter zur Schul- lektüre 39. Oder aber: Bei Albert fließen die griechischen Mythen vom

Se Ed. Colon. Band 5 , ~ S. 95 2. 2 1 f. ; 66 f. " G.W.F. H e g e 1 , Phänomenologie des Geistes 1 9 4 9 ~ , S. 40.

B. 2 Tr. 3 K. 1 und K. 3 (Ed. Paris. t. 3 S. 163 b und S. 169 a). Siehe dazu P. S i m o n , Albertus Magnus und die Dichter; in: Xenia

Medii Aevi Historiam Illustrantia oblata Thomae Kaeppeli O.P., Roms 1978.

Die Physik des Albertus Magnus 5 9

Minotauros und vom Kentauros (Centaurus) zum Minocentaurus zu- sammen.

Uber den Charakter der Physik Alberts: Die Physik Alberts, Beginn und Grundlage des von Albert paraphrasierend kommentierten natur- philosophisch-naturwissenschaftlichen Corpus Aristotelicum, ist wie die Physik des Aristoteles nicht streng systematisch aufgebaut; man be- trachte 2.B. den gedanklichen Sprung vom i . zum 2. Buch. Aber diese beiden Physiken bieten ein System der wirklichen Welt unter dem Leitsatz: Der eine, ruhende, unbewegte, unteilbare und größenlose Beweger und die sich ruhelos bewegende und sich verändernde eine, aber vielgestaltige Welt. Der unbewegte Beweger jenseits der obersten oder letzten oder äußersten Himmelskugelschale hält die endliche, runde und vielförmige Welt in Bewegung, indem er sich, wie die spätere Metaphysik lehrt, in seiner Vollkommenheit ersehnen und, wie De generatione et corruptione ausführlich dartun wird, auf eine letztlich unvollkommene Weise nachahmen läßt. Diese un- vollkommene Weise ist die Bewegung im Gegensatz zum vollkommenen, d.h. ganz erfüllten Insichruhen; und diese Bewegung, die neben der örtlichen Bewegung oder Raumbewegung jede Veränderung mitein- schließt, ist eigentlich das Hauptthema der aristotelischen und somit der albertschen Physik. Denn nach dem vollkommenen, unbewegten, ' einfachen ' Beweger folgt eine abgestufte Hierarchie von Bewegung und Veränderung, angefangen von der Bewegung des obersten Him- mels - wobei es eine Schwierigkeit bei der Bestimmung der Zahl der Himmel~ku~elschalen gibt, wie sich in Alberts De caelo et mundo herausstellen wird 40 - bis zur untersten Himmelsbewegung des Mon- des als den vollkommenen, immerwährenden Kreisbewegungen und von dort zur Geradeau~bewegun~, zu einer jeden Veränderung und zur Scheidung von natürlicher und gestörter Bewegung im Unter- mondbereich. Da es Leugner der Bewegung gibt, die vertreten, jede Bewegung sei Schein, und die logisch zu beweisen suchen, daß es in der Tat keine Bewegung geben kann, wie Zenon behauptet und dar- zulegen unternimmt, muß man sich mit ihnen auseinandersetzen. Und da es Menschen gibt, die die Existenz einer vielgestaltigen Welt mit Bewegung und Veränderung ablehnen, muß auch diese grundsätzliche Frage gegen Melissus und Parmenides geklärt werden. Und da es Ge- lehrte gibt, die zwar ein Materialprinzip kennen, aber kein Formal- und Finalprinzip, ist es nötig, auch zu dieser Frage Stellung zu neh-

'O Alb., De caelo et rnundo. Editio Colon. Band 5, i SS. 166-167.

60 P. Hossfeld

men. Materie, Form und Beraubung (privatio) oder Entbindung oder Loslösung oder Befreiung von Form oder Gestaltlosigkeit bilden die Grundlage der Bewegung in Gestalt der Veränderung. Die Natur einer Sache mit ihrem natürlichen Drang nach einem Ziel oder die Ursa- chenreihe Stoffursache, Formursache, Wirkursache (oder: woher die Bewegung) und Zielursache (bzw. Zweck) sind so oder so die ursich- lichen Prinzipien der Bewegungen und Veränderungen der körperli- chen Welt, mit denen sich auch das Glück, das Unglück, das Geschick und das aus dem Rahmen des Natürlichen Herausfallende wie die Monstren erklären bzw. miterklären lassen. Bewegung ist der Akt dessen, was in Potenz ist, insofern es in Potenz ist, oder eine Verwirlr- lichung, die nie ganz aus dem Stadium des Vermögens oder der Anlage herauskommt; ist unvollkommene Vollendung und ähnlich dem Weg zu jenen Seinsaussagen (Praedicamenten), die eine durch Bewegung zu erreichende Form beinhalten41. Bewegung als Weg oder auch als Fluß steht in Beziehung zur Dimension, so folgere ich, und als mög- liche Bewegung von oben nach unten, von unter nach oben, von links nach rechts und umgekehrt, von vorne nach hinten und von hinten nach vorne, nicht zuletzt als Bewegung im Kreis, in Beziehung zum Raum. Man muß sich also mit dem Raum beschäftigen, hat man sich denkend mit der Bewegung eingelassen. Vom Raum wird man zur Frage nach der Existenz eines Vacuum oder der Leere gedrängt; in De generatione et corruptione wird diese Frage im Zusammenhang mit der Bewegung noch einmal behandelt 42. Aber nur der Raum oder der Ort verbinden Bewegung und Zeit. Wenn die Sonne in ihrer täg- lichen Bewegung die Erde umkreist, also räumlich vorgeht, folgt die Zeit der Bewegung, ist die Zeit die Zahl der Bewegung; die Bewegung folgt aber auch der Zeit, denn bisweilen zählen wir die Zeit durch Bewegung. Erst mit der Ewigkeit steht ' man ' jenseits der Bewegung und der Zeit. Da Albert bei Aristoteles und bei den Peripatetikern nur unbefriedigend über die Ewigkeit belehrt wird, ihm als einem Christen die Zeit mit der Ewigkeit kontrapunktisch verbunden ist, schiebt er zwischen seiner Kommentierung der aristotelischen Vorlage über die Zeit und seiner Kommentierung der aristotelischen Vorlage über die Arten der Bewegung einen Traktat über die Ewigkeit. Ubri- gens folgt bei der Kommentierung der Bücher 5-8 ein zweiter Ein-

'"' Alb., Physica B. 3 Tr. i K. 5 und K. 3. " Siehe Alb., De generatione et corruptione. Editio Colon. Band 5 ,2 , Index

rerum et vocabulorum, Stichwort: vacuum.

Die Physik des Albertus Magnus 61

Alberts. Am Ende des 6. Buches schiebt er die pseudo-aristo- telische Schrift De lineis indivisibilibus zur Kommentierung ein; bei Albert heißt es dazu ' in libello parvo Aristotelis, qui De lineis indi- visibilibus appellatur '. Auch dieser Einschub hat einen Bezug zum . .

Hauptthema der Physik, zur Bewegung. $, s8 Albert hat so wenig wie Aristoteles seine naturphilosophisch-natur-

wissenschaftlichen Aussagen mit Experimenten untermauert, schon gar 6. * " ' -* nicht mit Experimenten, bei denen ernsthaft gemessen, gezählt und

+ gewogen wird. Bei Albert kommt 4 mal das Wort experimentum vor; 2 mal bezieht es sich auf Erfahrung, die viel Zeit benötigt, z mal auf

% *

Experimente anderer, früherer, schon von Aristoteles erwähnter Män- i ,I*, ner. Meist sind es einige, nicht allzu viele Beobachtungen aus dem

:; Alltag, die das Gesagte konkretisieren: ein Krug mit Wasser, cin klei- k' nes Gefäß mit Wein, ein Fahrzeug im Fluß, ein geworfener Stein,

'g $3 ein Bett, eine Säule, eine Statue aus Erz usw. Bisweilen sind es geo- metrische Figuren oder ein Punkt und eine Linie, die das Gemeinte verdeutlichen oder beweisen helfen. Proportionen, die angeführt wer-

, den, sind fast durchweg rein qualitativ verstanden. Man könnte schwer- ,' lich behaupten, daß hier die Grundlagen zu einer mathematisierten

naturwissenschaftlichen Physik geboten werden. Albert kommentiert nicht nur, sondern er bezieht auch in Ich-

> oder Wirform persönlich Stellung. Das geschieht so, daß er sich für ' .eine Meinung gegen eine andere Meinung oder gegen andere Meinun-

gen entscheidet oder daß er sich betont für eine bestimmte Meinung einsetzt. Nicht selten bemüht er sich, die Auffassung des Aristoteles ' irgendwie ' zu retten, wenn sie umstritten ist. Jedenfalls entwickelt

, flbert keine eigene Meinung, die gegen alle herkömmlichen Auffas- '8ungen stünde. Auch zieht er nirgends eine Summe oder ein Fazit

. seiner eigenen Stellungnahmen, um zu prüfen, wieweit er insgesamt gesehen seine aristotelische Vorlage verlassen bzw. weiterentwickelt

: hat. Er fühlt und weiß sich zu sehr gebunden, um etwa ' auf eigene Faust ' ein Problem zu durchdenken 44.

Welche Themen Alberts trifft man in einer heutigen, in einer na- turwissenschaftlichen Physik bezeichnenderweise nicht an und bilden SO

i. einen charakteristischen Unterschied zwischen heute und früher?

" B. 3 Tr. 2 K. 3 . '' Siehe dazu auch Hauptteil I und 11 von: P. H o 5 f e 1 d , Albertus Mag-

nus als Naturphilosoph und Naturwissenschaftler, Albertus-Magnus-Institut,

Weder vom unbewegten Beweger noch von einer immerwährenden Kreisbewegung, die alle übrigen Bewegungen und Veränderungen be- stimmt oder mitbestimmt, kann man auch nur etwas in einem natur- wissenschaftlichen Physikbuch oder in einer physikalisch-astronomi- schen Kosmologie lesen. Der naturwissenschaftliche Physiker oder Kosmologe kennt keine Möherbewertung der Kreisbewegung gegenüber der geraden Bewegung oder gegenüber einer Spiralbewegung oder gegenüber einer gestörten Bewegung, und ob der Urknall, der wahr- scheinlich unserer Weltbildung vorausging, letztlich auf Gott als Schöp- fer der Welt oder auf eine Gottheit als ' Anstoß ' für die Bewegung einer irgendwie schon vorhandenen Materie zurückgeht, liegt außerhalb der Aussagemöglichkeit eines Naturwissenschaftlers, es sei denn, er betätigt sich wie Aristoteles und Albert als ein spekulierender Natur- philosoph oder als ein Theologe. Selbstverständlich fehlt in einer na- turwissenschaftlichen Physik Alberts Traktat über die Ewigkeit, und selbst der Naturwissenschaftler, der über seine Kausalforschung im Sinne der Causa efficiens hinaus glaubt, daß es im organischen Bereich und bei der Abstammungslehre letztlich irgendetwas wie Zwecktä- tigkeit statt einer scheinhaften Zweckmäßigkeit gibt, wird es ableh- nen, den ganzen leblosen Kosmos zweckgesteuert aufzufassen; er findet einfach keine nachweisbaren Ansätze dazu. Bei Aristoteles und Albert ist auch die unbelebte Natur durch und durch zweckgetränkt; der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit wurde überspannt! Natürlich gehören Fragen um Glück und Unglück und über das Geschick nicht in eine naturwissenschaftliche Physik, auch nicht Ausführungen über Monstren 45. Erörterungen über Zufälle und statistische Gesetzmäßig- keit, von letzterer ist natürlich bei Aristoteles und Albert nie die Rede, gehören wohl eher in den Bereich der Wissenschaftstheorie. Denkt man an Kernphysik, scheint die moderne Physik grundsätzlich die von Aristoteles/Albert bekämpfte naturphilosophische Atomspekulation von Leukipp und Demokrit zum Sieg verholfen zu haben; hat doch mitt- lerweile das Elektronenmikroskop Atome sichtbar gemacht, mögen sich auch Atome spaltbar erwiesen haben. Ich wüßte nicht, wo eine naturphilosophische Spekulation der aristotelischen Physik derart von der modernen Physik bewahrheitet worden wäre! Und würde es etwas besagen, wenn man einwürfe, echte naturphilosophische Prinzipien könnten nur denkend erfaßt, nie direkt gesehen werden?

B. 2 Tr. 3 K. 3.

Die Physik des Alberizrs fifagnzrs 63

Wer in ein modernes Lehrbuch der Physik schaut, stößt immer wieder auf Gesetze und Gleichungen (Differentialgleichungen), in die bei einer konkreten Anwendung entsprechende Zahlenwerte eingesetzt werden. Betrachtet man zwei von der Schulzeit her bekannte physi- kalische Gleichungen wie die des Freien Falls und die der Gravita- tionskraft, s=g/2 . t2 und K=f . m1 . m2/r2, so wird einem hier gesagt, wie der Freie Fall verläuft, nämlich die Fallstrecke in Abhängigkeit vom Quadrat der Zeit, dort, wie sich bei der Gravitationskraft die be- teiligten Massen im Vergleich zur Entfernung verhalten. Was der Freie Fall seinem Wesen nach ist, was die Gravitationskraft als Kraft ihrem Wesen nach ist, wird nicht gesagt. Wir kommen hiermit zu dem charakteristischen Unterschied der alten Physik des Aristoteles

, und des Albert zur modernen naturwissenschaftlichen Physik: bei der alten Physik wird in erster Linie nach dem statischen Was gefragt, bei der modernen Physik in erster Linie nach dcm dynamischen Wie: wie geht es vor sich?, wie verhält es sich? Fragen wie: Was ist Bewe- gung, was Raum, was Zeit, was Gravitation, was Magnetismus ? wer- den - und keineswegs immer - in einer kurzen Definition oder Um- schreibung festgelegt. Das Wichtigste wird durch Gleichungen ausge- drückt, sofern der Forschungsstand schon soweit gediehen ist. Die Beantwortung der Was-Fragen spielt demgegenüber in einer Natur- philosophie, auch einer von Heute, eine große Rolle, im letzteren Fall allerdings unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Erkenntnis der naturwissenschaftlichen Forschung, die zwar keine Naturphilosophie ersetzen, aber doch bisweilen Merkpfähle für die naturphilosophische Spekulation aufstellen kann, die man als Naturphilosoph berücksichti- gen muß, will man sich nicht in Denkkonstruktionen ohne Realitäts- bezug verlieren !

SO fallt an der naturphilosophisch-naturwissenschaftlichen Physik des Aristoteles und Alberts auf, daß zwar ein enges Verhältnis, gar Wechselverhältnis von Bewegung und Zeit, von Zeit und Bewegung herausgestellt wird, daß aber die Beziehung von Raum und Zeit sehr locker erscheint. In der modernen Physik spricht man aber seit Min- kowski von einer vierdimensionalen Raum-Zeit = Einheit, bei der man nicht verrechnen kann, was auf das Konto des Raums und was auf das Konto der Zeit geht. Da mag man im Geist Alberts erwidern kön- nen, Minkowski sei halt ' nur ' ein Mathematiker und kein Naturphi- losoph/~aturwissenschaftler. Doch auch ein Naturphilosoph, nämlich N. Hartmann, der eine enge Fühlung zur Naturwissenschaft pflegte, Zeigt sich von dieser Raum-Zeit = Einheit beeindruckt, läßt darüber

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hinaus den realen Raum nur als das Gefüge von drei Dimensionen gelten, in denen etwas Ausdehnung und Größe haben kann46 fern von einer mehr vordergründigen Raumlichkeitserwägung, ob es einen unendlichen (Newton) 47 oder einen endlichen Raum gibt (so Aristo- teleslAlbert). Und wie, wenn wir in Bezug auf den Raum noch viel zu stark ' anschaulich denken ', statt mit n-Dimensionen im Sinn von mehr als 3 Raumdimensionen denkend ernst zu machen, wie es der Mathematiker Riemann nahelegte ? Auch er ' nur ' ein Mathematiker ? Siehe demgegenüber sein Einfluß auf die Bildung der Allgemeinen Relativitätstheorie der modernen Physik.

Kosmologisch gesehen müßte die Lehre von Aristoteles/Albert über den Raum entsprechend dem heute wahrscheinlicheren Universums- m0de11~~ dahin geändert werden, daß der kosmische Raum nicht end- lich und statisch ist, sondern dynamisch ' endlich ' aufgefaßt werden muß, sofern man sich nicht auf die Position von N. Hartmann zu- rückziehen will, eine Position, die jedoch auch eine Korrektur der alten Raumauffassung bedeuten würde.

Bei der Zeitkategorie kann man ähnlich argumentieren. Nach N. Hartmann ist die Zeit, deren Hauptrnerkmal das unumkehrbare ein- dimensionale Fließen des Jetzt ist 49, keine Zahl oder Quantitätsangabe, nämlich der grundlegenden Bewegung der oberen Hiinmelssphäre. Zeit ist gegenüber der eher vordergründigen Zeitlichkeit mit irgend- einer direkten oder indirekten Quantitätsangabe eine Kategorie, die in ihrer unumkehrbaren Eindimensionalität nur die Möglichkeit zur Quantifizierung bezeichnet. Unter dynamisch kosmischem Blickwinkel könnte es sogar sein, daß Zeit nicht immer dieselbe Zeit ist; es gibt gedehnte und gedrängte Zeit, und entsprechend ist die Zeit ' umrech- nung von ' heute ' auf ' früher ', also auf die Zeit vor etlichen Milliarden Jahren schwierig. Auch an diesem Punkt könnte es sein, daß eine Korrektur der alten Zeitauffassung von Aristoteles und Albert nötig ist.

Bei Aristoteles und Albert ist die Materie Potenz oder das Ver- mögen für eine immer neue Formung. Seitdem die Umwandlung von

Die Physik des Albertus Magnus 65

;i . ,.; Materie in Energie und von Energie in Materie 50 bekannt ist, muß '>,'.

:!;;5, .,". man Materie als potentielle Energie oder als Energie im Ruhezustand .,: i,,' ansehen, die man schwerlich mit einer Formbereitschaft im Ruhe- ; gleichsetzen kann; denn dafür ist die Materie nach Aristote-

les/Albert zu passiv, die energiefähige Materie eher gleich einer ge- " , spannten Metallfelder, die darauf wartet, losschießen zu können. Aber

ist sie nicht dank einer Form energiefiihig oder wie eine gespannte Feder? Die Antwort muß lauten: nein! Also auch in dieser Frage kann man wohl nicht mehr unbedacht und unkorrigiert so sprechen wie zu Zeiten des Aristoteles und Alberts - dank gewisser ' Merkpfähle ', die naturwissenschaftliche Forscher der Neuzeit aufgestellt haben 51.

Siehe dazu: P. H o D f e 1 d , Erste Materie oder Materie im allgemeinen in den Werken des Albertus Magnus; in: Albertus Magnus, Doctor universalis, iz80/1980 (herausgegeben von G. M e y e r OP und A. Z i m m e r m a n n );

Mainz 1980; SS. 205-234. H a r r i s o n , a.a.O., S. 67. " Es wäre noch die Raum-Zeit-Krümmung durch die Materie zu bedenken

(allgemeine Relativitätstheorie) als eine gewisse Raum-Zeit-Materie = Einheit. Siehe Harrison, a.a.O., SS. 267-268; einschränkend: S. 282.

Nachtrag; zu Averroes: W. Montgomery Watt und Michael Marmura, Der Ialam; 11. Stuttgart 1985, S. 392: ' Er war ein Philosoph der Philosophen und ein Kritiker par excellence ...'.

zu Augustinus: Nach Albert versteht er die Natur der Zeit nicht recht: B. 4 Tr . 3 K. 4.

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'"Siehe E.R. H a r r i s o n , Kosmologie; Darmstadt 1983, SS. 208-209; 282. N. H a r t m a n n , Philosophie der Natur; Berlin 1950, SS. 95; 98 -Raum und Räumlichkeit: H a r t m a n n , a.a.O., S. ioo f.

'' H a r r i s o n , a.a.0. SS. 438-439. H a r r i s o n , a.a.O., S. 545. N. H a r t m a n n , a.a.O., S. 145.