80
de fabulae – über geschichten Tom Kirchgäßner

De Fabulae

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Ein Buch über die Herkunft und Funktion von guten Geschichten.

Citation preview

Page 1: De Fabulae

de fabulae – über geschichten

Tom Kirchgäßner

Page 2: De Fabulae

4

i n d e xi n h a l t s v e r z e i c h n i s

P r o l o g 6

Na r r a t o l o g i a

D o c t r i n a 1 0

F i n e s f a b u l a r u m

D i e G r e n z e n d e r G e s c h i c h t e 1 5

D i e K a u s a l i t ä t 1 6

D a s E r e i g n i s 1 8

D i e Z e i t 2 2

D r e i B a u s t e i n e 2 5

A g e n t e n u n d P a t i e n t e n 2 6

N a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a e

S e h r k u r z e G e s c h i c h t e n 2 8

D r e i E r e i g n i s s e 3 0

Z w e i E r e i g n i s s e 3 1

E i n E r e i g n i s 3 2

D i e K ö n i g s d i s z i p l i n 3 4

N u n t i u s 3 5

Q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u m 3 9

Page 3: De Fabulae

5

i n d e xi n h a l t s v e r z e i c h n i s

P r o l o g 6

Na r r a t o l o g i a

D o c t r i n a 1 0

F i n e s f a b u l a r u m

D i e G r e n z e n d e r G e s c h i c h t e 1 5

D i e K a u s a l i t ä t 1 6

D a s E r e i g n i s 1 8

D i e Z e i t 2 2

D r e i B a u s t e i n e 2 5

A g e n t e n u n d P a t i e n t e n 2 6

N a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a e

S e h r k u r z e G e s c h i c h t e n 2 8

D r e i E r e i g n i s s e 3 0

Z w e i E r e i g n i s s e 3 1

E i n E r e i g n i s 3 2

D i e K ö n i g s d i s z i p l i n 3 4

N u n t i u s 3 5

Q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u m 3 9

D e u s e x f a b u l a

F a c u l t a t e s f a b u l a e

D i e M ö g l i c h k e i t e n d e r G e s c h i c h t e 4 3

D i e K u n s t 4 5

M a r k e t i n g u n d W e r b u n g 4 6

B i l d u n g u n d E r z i e h u n g 4 9

C o h a e r e n t i a d i f f i c i l i o r 5 0

P a r a b o l a p l a t o n i s 5 1

N a r r a t i o m a t h e m a t i c a 5 6

P e c u n i a n o n o l e t 5 9

E x s t r u c t i o 6 2

F a c u l t a t e s f a b u l a e 6 4

Q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u m 6 5

A m p l i f i c a t u r

R e c e p t i o 6 8

D e p r o b a b i l i t a t e

V o n d e r G l a u b w ü r d i g k e i t 7 0

S h a n n o n - W e a v e r 7 1

D e f i d e

D i e A u s s e t z u n g d e r U n g l ä u b i g k e i t 7 3

D i e Z w e i t s c h ö p f u n g 7 4

Z w i s c h e n b e t r a c h t u n g 7 6

Q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u m 7 7

S u m m a 7 8

Page 4: De Fabulae

6

Die meisten geschriebenen Texte, die wir im Alltag lesen, erzählen

eine Geschichte. Das liegt vor allem daran, dass eine gute Erzählung

mehr Aufmerksamkeit von uns bekommt als eine simple Information.

Das wusste auch Heinrich Hoffmann, als er 1845 seinen »Struwwelpe-

ter« schrieb (Hoffmann, 1999). Die haarsträubende Geschichte eines bis

zur Unkenntlichkeit abmagernden und schließlich qualvoll sterbenden

Jungen ist allemal und nicht nur für Kinder eindrücklicher als der gut

gemeinte Ratschlag »Essen ist wichtig«. Auch wenn diese Geschichte

aus heutiger pädagogischer Sicht eher zweifelhaft ist, demonstriert sie

doch hervorragend die Funktionsweise des Erzählens. Die Empathie-

fähigkeit des Menschen veranlasst ihn, sich in Andere hineinzufühlen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob das Gegenüber ein realer Mensch, ein Tier,

eine leblose Figur oder nur ein abstraktes, ideelles Konstrukt ist, wie die

Hauptfiguren in Büchern, solange wir in ihm bestimme Eigenschaften

unseres Selbst wiedererkennen können. Diese Tatsache machen sich

manche Schriftsteller zunutze und beschreiben die Hauptfiguren ihrer

Werke so gut wie gar nicht, um dem Leser zu ermöglichen, sich selbst

so weit wie möglich in die Geschichte zu projizieren. Das funktioniert

mal mehr oder weniger gut, aber wehren können wir uns gegen diesen

Instinkt nicht.

Das führt zu der manchmal unangenehmen Situation, dass wir mit

Geschichten bombardiert werden. Jeder will heute eine Story zum Bes-

ten geben. Eltern erzählen, warum man nicht auf Herdplatten fassen

sollte; Lehrer, warum der Ortsfaktor für Gravitationsberechnungen an

den Polen größer ist als am Äquator; Ärzte, was passiert, wenn die ent-

zündeten Mandeln nicht enfernt werden. Künstler erzählen manchmal

irrwitzige Geschichten, mit denen wir nichts anzufangen wissen und

p r o l o gü b e r g e s c h i c h t e n

Page 5: De Fabulae

7

manchmal fein gewebte Kunstwerke literarischer Teppichknüpferei, die

uns in fremde Länder oder andere Welten entführen. Sehr beliebt sind

Geschichten auch bei Politikern, die besonders vor Wahlen die Vorzüge

ihrer Politik anhand griffiger Beispiele verdeutlichen und bei ihren na-

türlichen Feinden, den Kabarettisten, die den Spieß umdrehen. Werber

denken sich Geschichten aus, um Produkte an eine breite Masse zu ver-

kaufen, Professoren, um lernmüden Studenten komplizierte Sachverhal-

te einzubläuen. Viele dieser Geschichten sind so platt und uninteressant,

dass wir sie gar nicht wahrnehmen, aber einige verfolgen uns unser Le-

ben lang und wir werden nicht müde, sie wieder und wieder zu hören

oder zu lesen. Aber eines gilt für alle Geschichten: Es ist einfacher, eine

Geschichte erzählt zu bekommen, als sich eine auszudenken.

Ich möchte in diesem Buch nicht nur Geschichten erzählen und

einen Einblick in die faszinierende Mechanik liefern, die hinter dem Er-

zählen steckt, sondern auch gute Gründe nennen, warum es sich lohnt,

Geschichten auszudenken und zu nutzen. Jeder, der in der Situation ist,

einen Sachverhalt erklären zu müssen, sollte ein paar Gedanken an die

uralte Kunst des Geschichtenerzählens verlieren!

p r o l o gü b e r g e s c h i c h t e n

Page 6: De Fabulae

8

Page 7: De Fabulae

9

Page 8: De Fabulae

10

Zunächst muss festgestellt werden, dass jede Geschichte als Text ver-

standen werden kann, auch wenn das im Einzelfall nicht bedeuten muss,

dass sie sich als »Schrift auf Papier« darstellt. Semiotisch ist jeder Text

in einer Sprache verfasst und eine Sprache definiert sich als »geordnetes

System, das als Kommunikationsmittel dient und Zeichen verwendet«

(Lotman, 1993, S. 18). So gesehen ist auch die Kunst, unter die das Kon-

struieren von Geschichten letztendlich fällt, als Sprache zu verstehen.

Auch sie benutzt Zeichen, die vom Empfänger verstanden werden (oder

nicht) und dient somit als Kommunikationsmittel. Auch wenn es im

ersten Moment schwer fällt, Kunst – die in der Vorstellung der meisten

Menschen ein abstraktes, ungreifbares und unverständliches Konstrukt

wirrer Vorstellungen und komplizierter Denkprozesse und deren Ma-

nifestierung in Form von explosionsartigen Farbklecksen auf überdi-

mensionalen Leinwänden ist – als »geordnetes System« zu verstehen. So

gesehen ist aber Kunst eine Sprache und die Kunstwerke Texte in dieser

Sprache1 (Lotman 1993, S. 18). Wenn jede beliebige Botschaft, übermit-

telt durch jedes beliebige Kommunikationsmittel, als Text verstanden

werden kann, dann müssen einige der Strukturen und Gesetzmäßigkei-

ten, die für Texte gelten, auch für Medien gelten, die sich dem Empfän-

ger nicht als Text zeigen (etwa Film oder Fotografie).

Ich werde mich also im Folgenden – auch bedingt durch das hier

gewählte Medium Buch – oft auf Geschichten in ihrer textlichen Form

beziehen, weise aber darauf hin, dass die beschriebenen Mechanismen

auch für jede andere Form der Narration gelten.

d o c t r i n ag e s c h i c h t e u n d e r z ä h l u n g

1 Lotman nutzt diese Definition zu Beginn sei-

ner »Struktur literarischer Texte« um seine fol-

genden, eigentlich literaturwissenschaftlichen

Ausführungen auch semiotisch hinterlegen zu

können. Ich bin jedoch der Meinung, dass die-

ser Teil seiner Arbeit wichtig ist, um die Om-

nimedialität von Geschichten beweisen zu

können. Wenn jede Botschaft in jedem Medium

auf theoretischer Ebene als Text verstanden

werden kann, können theoretisch auch Mechanis-

men, die sich zunächst nur auf die literarische

Narration beziehen, in anderen Medien gelten.

Page 9: De Fabulae

11

Die Frage, die sich nun stellt, ist, welche Medien eine Darstellung als

Erzählung überhaupt erlauben. Dazu müssen die Begrifflichkeiten zu-

erst geklärt werden. Um gleich spitzfindig zu werden: Jede Erzählung ist

eine Geschichte, aber nicht jede Geschichte unbedingt eine Erzählung.

Doch von vorne: Eine Erzählung ist eine Darstellungsform. Eine Infor-

mation kann also in ihrer dargestellten Form als Erzählung auftauchen.

Um bei dem Beispiel von Heinrich Hoffmann zu bleiben: Die nüchter-

ne Information »Für die Entwicklung von Kindern ist eine regelmäßige,

nährstoffreiche Nahrungsaufnahme wichtig« kann genau so oder eben

als Erzählung wie im »Struwwelpeter« formuliert sein. Natürlich gibt es

noch andere Möglichkeiten der Darstellung, die aber hier nicht thema-

tisiert werden sollen. Die Ebene unter der Erzählung ist die Geschichte.

Diese ist noch nicht formuliert oder manifestiert, noch nicht ausgespro-

chen und noch nicht niedergeschrieben. Sie ist eine ideelle Konstruk-

tion aus Figuren, Ereignissen, Kausalitäten und Zeit. Eine Geschichte

existiert also nur als Idee, als Erinnerung oder in Form kulturellen Wis-

sens. Sobald sie formuliert, geordnet und ausgewählt, niedergeschrie-

ben, gemalt, gesprochen, aufgenommen, gezeichnet oder sonstwie darge-

stellt wird, ist sie eine Erzählung2 (Schmid 2005, S. 251 ff.). Der Begriff

Erzählung ist irreführend, da er auf die Anwesenheit eines Erzählers

schließen lässt, was nach heutiger Ansicht nicht mehr unbedingt für die

Darstellung einer Narration (lat. narrare = erzählen) nötig ist. Die Wis-

senschaft, die aus der Untersuchung der Narrativität und ihrer Funkti-

onsweise besteht, ist die Narratologie, die den Literaturwissenschaften

entstammt – eine ob des Alters und der Wichtigkeit dieser Thematik

erstaunlich junge Wissenschaft, die eigentlich erst seit den 70er Jahren

ernst genommen wird.

d o c t r i n ag e s c h i c h t e u n d e r z ä h l u n g

2 Wolf Schmid spricht von den »vier narrativen

Ebenen« Geschehen, Geschichte, Erzählung

und Präsentation der Erzählung. Das Gesche-

hen ist eine Sammlung von Situationen, Figu-

ren und Handlungen, die nicht unbedingt im

Text selbst erwähnt sein müssen. Die Geschich-

te ist bereits eine Auswahl dieser Elementen.

In der Erzählung wird diese Auswahl in eine

syntaktische Reihenfolge gebracht und die Prä-

sentation der Erzählung ist das verbalisierte

und medial umgesetzte Ergebnis dieser Reihe.

Page 10: De Fabulae

12

Page 11: De Fabulae

13

Die klassische Erzähltheorie. Der klassische Begriff von erzählen-

den Texten wurde weitestgehend von Käte Friedemann geprägt. Als

narrativ versteht sie Texte, in denen eine erzählende Instanz den Leser

durch die Geschichte führt. Nach dieser frühen Theorie impliziert eine

Erzählung also einen Erzähler. Wichtig hierbei ist, dass für diesen Nar-

rativitätsbegriff der Inhalt der Geschichte völlig gleich ist, solange sie

von einem Erzähler formuliert wird. Nach dieser Theorie wäre das Wort

König eine Geschichte, solange es von einer Instanz, die zweifelsfrei als

Erzähler identifiziert werden kann, erzählt wird. Es ist offensichtlich,

dass diese Definition einer Erzählung nicht mehr ausreichend ist, da

hier beispielsweise viele Filme, Lyrik und reine Bilddarstellungen aus-

geschlossen werden.

Fabula und Sujet Die später vor allem von russischen Autoren

eingeführte strukturalistische Erzähltheorie, die erstmals auch als Nar-

ratologie bezeichnet wird, ist wesentlich differenzierter. Sie betrachtet

im Gegensatz zur klassischen Erzähltheorie nicht nur die übergeordnete

Ebene des Erzählers, sondern auch die inhaltlichen Strukturen der Nar-

ration. Die Strukturalisten unterscheiden streng zwischen Deskription,

also rein beschreibenden Texten – Protokollen oder wissenschaftlichen

Aufsätze – und Narration, also Texten erzählenden Charakters – den

Dramen Goethes oder einer Folge der US-Serie Sex and the City. Werke

müssen nicht mehr einfach einen Erzähler haben, sondern bestimmte

Grundvoraussetzungen erfüllen, um wirklich als erzählend gelten zu

können. Mithilfe dieser Definition können auch sogenannte »Minimal-

geschichten« geschrieben werden, von denen später noch die Rede sein

wird. Wichtig ist hier, dass die strukturalistische Auffassung von Narra-

tion weitaus offener ist als die klassische. Filme, Bilder, Photographien,

d o c t r i n ag e s c h i c h t e u n d e r z ä h l u n g

Page 12: De Fabulae

14

d o c t r i n ag e s c h i c h t e u n d e r z ä h l u n g

Lyrik, Zeichnungen oder Musik können nach dieser Definition durch-

aus narrativ sein, solange sie die geforderten Strukturen aufweisen –

beispielsweise das Darstellen von Veränderung, das in jeder Geschichte

eine Rolle spielt. Gérard Genette, einer der wichtigsten zeitgenössischen

Narratologen, führte in den 70er Jahren die Begriffe »histoire« und

»discours« in die Diskussion um die Erzählung ein. Damit ist die Un-

terscheidung zwischen dem Inhalt einer Geschichte, der »histoire« und

ihrer Präsentation als Text, dem »discours« gemeint. Russische Forma-

listen hatten eine ähnliche Begrifflichkeit namens Fabula und Sujet, wo-

bei Fabula den chronologischen Ablauf der Geschichte und Sujet den

chronologischen Ablauf der Erzählung meint, was selten das gleiche ist.

In beinahe jeder Erzählung finden Zeitsprünge und Rückblenden statt

(Sklovskij, 1921, in Striedter, 1969, S. 296 ff.). Tarantinos Meisterwerk

Pulp Fiction mit Uma Thurman und John Travolta erzählt drei unter-

schiedliche Handlungen, die in der Geschichte teilweise gleichzeitig ab-

laufen und stellt einen Teil der letzten Filmszene in den Prolog. So wird

es dem Zuschauer zur Aufgabe gemacht, während oder nach dem Film

die Geschichte in eine sinnvolle kausale und chronologische Reihenfol-

ge zu bringen. Ich möchte diese Dualität noch ein wenig weiter öffnen

und behaupten: Der Inhalt der Geschichte und ihre chronologische Ab-

folge von Ereignissen ist die Fabula. Ihre Präsentation in einem beliebi-

gen Medium ist das Sujet.

Page 13: De Fabulae

15

f i n e s fa b u l a r u md i e g r e n z e n d e r g e s c h i c h t e

»Wer bist denn du, der du das Zeichen der Kindlichen Kaiserin

trägst, und nicht weiß, daß Phantásien grenzenlos ist?« (Ende, 1979)

Doch zurück zur Frage: Welche Medien erlauben eine erzählende Dar-

stellung? Das Erzählen in mündlicher Form ist die direkteste und ein-

drücklichste Art der Kommunikation (und mit ein Grund dafür, warum

Unternehmensberater seit jeher die Wichtigkeit der »face-to-face-Kom-

munikation« predigen). Auch geschrieben in Form von Romanen, Es-

says oder Kurzgeschichten ist sie uns hinlänglich bekannt. Aber ist die

Darstellungsform »Narration« beschränkt auf die verbale und textliche

Ebene? Was ist mit Bildern? Kann eine Geschichte mithilfe von Zeich-

nungen erzählt werden? In einer Bilderstrecke? Vielleicht in nur einem

einzigen Photo? Niemand wird leugnen, dass sich in einem neunzig-

minütigem Spielfilm eine Geschichte epischen Ausmaßes erzählen lässt,

ohne dass der Zuschauer ein einziges Wort lesen müsste, ja viele avant-

gardistische oder experimentelle Filme kommen sogar ohne ein einzi-

ges gesprochenes Wort aus, ganz ähnlich zu vielen berühmten Werken

aus der Stummfilmzeit. Narration ist also nicht zwingend an Text oder

Sprache gebunden. Wo sind also die Grenzen der Narration? Hier hilft

die soeben beschriebene Unterscheidung zwischen Inhalts- und Präsen-

tationsebene: Der Fabula sind keine Grenzen gesetzt – alles was der Au-

tor der Geschichte in der Geschichte für möglich hält, ist möglich. Aber

wie verhält es sich beim Sujet? Ist auch jede erdenkliche Form der Prä-

sentation einer Geschichte möglich? In jedem beliebigen Medium? Die

Strukturalisten gehen von in einer Erzählung vorhandenen Strukturen

aus, folglich müsste Narration in jedem Medium möglich sein, das jene

Strukturen darstellen kann.

Page 14: De Fabulae

16

Wir begreifen eine Geschichte erst als solche, wenn Kausalität gegeben

ist. Sie muss nicht offensichtlich sein, vielmehr neigt jeder Mensch dazu,

auf kommunikativer Ebene stets nach Kausalität zu suchen. Kausalität

bedeutet, dass es eine Ursache zu einer Wirkung gibt. Jede Situation,

jedes Ereignis, jeder Zustand in einer Geschichte hat eine Ursache und

eine Wirkung. Sehen wir die Ursache, müssen wir sofort an mögliche

Wirkungen denken. Sehen wir die Wirkungen, versuchen wir die Ursa-

chen zu ergründen.

Kausalität ist allerdings so verankert im menschlichen Denken,

dass sie für gewöhnlich vorausgesetzt wird. Ein interessanter Aspekt ist

die Assoziation. Eine durchgängige, assoziative Kette ist grundsätzlich

nachvollziehbar. Präsentiert man aber nur das erste und das letzte Glied

dieser Kette ist die Kausalität zwischen den Begriffen theoretisch nicht

mehr gegeben. Dennoch wird ein Betrachter versuchen, einen Sinn oder

eine Verknüpfung zu erkennen oder die dazwischenliegende Kette zu

rekonstruieren. Kausalität ist also weniger ein Element der Narration

als ein natürlicher Zustand des menschlichen Denkens, ohne den Zu-

sammenhänge nicht begreifbar sind.

f i n e s fa b u l a r u md i e k a u s a l i t ä t

Page 15: De Fabulae

17

Page 16: De Fabulae

18

Ein Ereignis ist ein nichtalltäglicher und erzählenswerter Zustand der

erzählten Welt oder ihrer Figuren. Nichtalltäglich ist natürlich hochgra-

dig subjektiv. Was in der Fabula als nichtalltäglich gilt, muss uns noch

lange nicht so vorkommen. Wichtig ist zunächst nur, dass es sich mit

anderen Ereignissen zu einem kausalen Zusammenhang verbindet und

schließlich zeitlich eingeordnet wird. Selbstverständlich ist ein Ereignis

immer eine Veränderung, die tatsächlich geschehen muss, um eine Kon-

sequenz zu haben. Jurij Lotman beschreibt in »Die Struktur literarischer

Texte« ein Ereignis als »die Versetzung einer Figur über die Grenze eines

semantischen Feldes« (Lotman, 1972, S. 332) – doch wann gilt eine se-

mantische Grenze als überschritten?

Wenn eine Figur erst eine Grenze überschreiten muss, um ein

Ereignis auszulösen, kann sie zugleich innerhalb der Grenze handeln,

ohne Ereignisse zu provozieren. Es existieren also auch einfache Zu-

standsveränderungen, die noch nicht erzählenswert sind und die auch

bei kausaler und temporaler Verknüpfung noch keine Geschichte bilden.

Es bedarf also weiterer Voraussetzungen, um ein Ereignis als solches

identifizieren zu können. Trotz dieser anscheinend sehr präzisen Vor-

stellungen ist ein Ereignis nicht temporär eingrenzbar. Was ein Ereignis

ist, wieviele Figuren davon betroffen sind oder wie lang es andauert,

kommt vor allem auf die Skalierung der Geschichte an. Der zweite Welt-

krieg kann in einer Erzählung, die beispielsweise die politische Ent-

wicklung Europas behandelt, als ein einziges Ereignis auftreten. Eine

Erzählung kann aber auch den zweiten Weltkrieg als Inhalt haben und

sich in kleinere Ereignisse wie der Überfall Polens und die Landung al-

liierter Truppen in der Normandie aufteilen.

f i n e s fa b u l a r u md a s e r e i g n i s

Page 17: De Fabulae

19

Page 18: De Fabulae

20

Bedeutsamkeit. Je wichtiger und bedeutsamer eine Handlung, ein Ge-

schehen oder ein Moment in der narrativen Welt wahrgenommen wird,

umso sicherer handelt es sich um ein Ereignis. Das erklärt, warum ein

Ereignis in einer Geschichte, würde es uns als Rezipienten in der realen

Welt begegnen, nicht unbedingt als Ereignis vorkommen muss. In Pixars

beliebtem Animationsfilm Findet Nemo (Finding Nemo) ist das zentra-

le Ereignis das Verschwinden des kleinen Clownfisches Nemo. Was in

der realen Welt für den Rezipienten eine Lappalie wäre ist für seinen

besorgten und ängstlichen Vater Martin der Grund, sich auf eine gefähr-

liche Reise durch den Ozean zu machen, um seinen verlorenen Sohn zu

finden.

Unvorhersehbarkeit. Je unvorhersehbarer eine Zustandsver-

änderung ist, desto ereignishafter wird sie. Auf eine erwartete oder so-

gar angekündigte Veränderung können sich Akteure normalerweise so

vorbereiten, dass die Veränderung für sie und damit für die Geschichte

an Bedeutung verliert. Zudem geht der Aspekt verloren, der in vielen

Geschichten für zusätzliche Spannung sorgt, indem nicht nur die han-

delnden Figuren, sondern auch der Rezipient von den Ereignissen über-

rascht werden.

Folgen. Eine Zustandsveränderung ist für eine Geschichte als un-

wesentlich anzusehen, wenn sie keine nennenswerten Folgen hat. Das

Erwachen aus dem Schlaf der Hauptfigur am Morgen ist meist ein zu

alltäglicher Vorgang, um ihm Ereignishaftigkeit zu unterstellen. Dies än-

dert sich, wenn die Veränderung direkte Folgen aufweist. Erwacht etwa

die Hauptfigur etwa zehn Minuten später als sonst und verpasst so den

Zug zu ihrer Arbeitsstelle, ist diese Zustandsveränderung ereignishafter,

weil folgenschwerer geworden. Das lässt sich daran beobachten, dass

f i n e s fa b u l a r u md a s e r e i g n i s

Page 19: De Fabulae

21

(vor allem in langen Geschichten) oft Tage, Wochen oder ganze Jahre

in der Erzählung übersprungen werden, weil nichts Erwähnenswertes

passiert. Dem Rezipienten ist klar, dass die Figuren der Erzählung auch

in dieser Zeit alltägliche Zustandsveränderungen erlebt haben müssen,

die aber für die Handlung der Geschichte keine weiteren Folgen hatten.

Unumkehrbarkeit. Die Möglichkeit, etwas rückgängig zu ma-

chen, nimmt einer Veränderung meist ihr Gewicht. In der von 1986 bis

1996 produzierten Zeichentrickserie Dragon Ball, die auf den Comics

von Akira Toriyama basiert, erlangen die Hauptfiguren irgendwann

die Möglichkeit, durch das Sammeln der sogenannten sieben Dragon-

balls verstorbene Personen wiederzubeleben (vgl. Toriyama, 1984).

In der ganzen Erzählung sterben einige Figuren mehrere Male und

werden daraufhin wiederbelebt. Der Tod, auch der der Hauptfiguren

selber, verliert so allmählich an Ereignishaftigkeit, weil auch der Zu-

schauer lernt, dass diese relativ einfach wiederbelebt werden können.

In den meisten anderen Geschichten hingegen ist der Tod der Hauptfi-

guren eine sehr ereignishafte, weil natürlich unumkehrbare Zustands-

veränderung.

Unwiederholbarkeit. Ähnliches gilt auch für das letzte Merk-

mal, die Unwiederholbarkeit. Sie besagt, dass eine Veränderung, die in

der narrativen Welt oft wiederholt wird, an Ereignishaftigkeit verliert

und umgekehrt eine Veränderung ereignishafter wird, je seltener sie

geschieht.

f i n e s fa b u l a r u md a s e r e i g n i s

Page 20: De Fabulae

22

Was zuerst trivial und offensichtlich wirkt, ist tatsächlich fundamental

für eine Geschichte. Im ersten Moment fällt es schwer, sich irgendetwas

vorzustellen, das ohne den Faktor Zeit auskommt, aber wissenschaft-

liche Fachliteratur oder Autobahnschilder beweisen, dass nicht jeder

Text narrativ ist, weil nicht in jedem Text chronologische Abläufe dar-

gestellt werden. Die in einer Geschichte erzählte Zeit muss, wie bereits

erwähnt, nichts mit der Erzählzeit zu tun haben (Fabula ist getrennt

vom Sujet). Temporalität bedeutet, dass sich in einer Sequenz wenigs-

tens zwei Punkte ausmachen lassen, zwischen denen ein Zeitraum liegt.

Wie bereits erwähnt ist für die Erzählung die chronologische Ordnung

der Ereignisse wichtig. Eine Geschichte besteht zunächst nur aus einer

Sammlung kausal zusammenhängender Ereignisse, bis diese auch zeit-

lich sortiert und präsentiert werden und somit eine Erzählung ausma-

chen.

Die Zeit des Sujets ist also nicht zwingend die gleiche Zeit wie die

der Fabula. Ein Erzähler kann sich bewusst dafür entscheiden, die Chro-

nologie der Geschichte in seiner Erzählung durcheinander zu werfen,

um einen Effekt der Verwirrung zu erreichen.

f i n e s fa b u l a r u md i e z e i t

Page 21: De Fabulae

23

Page 22: De Fabulae

24

Page 23: De Fabulae

25

Diese drei Elemente (Kausalität, Ereignis und Zeit) sind also offen-

sichtlich die fundamentalen Bausteine einer Geschichte. Das lässt sich

leicht nachvollziehen: Es ist unmöglich eine Geschichte zu konstruie-

ren, die eines der Elemente nicht enthält.

Wird auf den zeitlichen Faktor verzichtet, müsste die Geschichte

in einem Augenblick passiert sein, der so kurz ist, dass er keine Zeit

in Anspruch nimmt. Das ist nicht nur auf dem Papier unmöglich. Und

selbst wenn es möglich wäre, bliebe der kausale Zusammenhang zu

einem weiteren Ereignis unmöglich, ohne selbiges zu einem früheren

oder späteren Zeitpunkt geschehen zu lassen.

Der Verzicht auf den kausalen Zusammenhang nimmt der Ge-

schichte die Logik und dem Leser die Möglichkeit, ihr zu folgen. Au-

ßerdem wird jeder bestätigen, der einmal ein Gemälde Salvador Da-

lis betrachtet hat, dass selbst eine Ansammlung von Objekten und

Zuständen, die logisch nichts miteinander zu tun haben, in uns den

Wunsch weckt, sie doch in einen Zusammenhang zu stellen. Wir kön-

nen nicht einfach eine wie Wachs zerfließende Uhr sehen, ohne uns

Gedanken darüber zu machen, wie sie in diesen Zustand gekommen

ist. Kausalität wird immer vom Empfänger vorausgesetzt oder – wo sie

vom Sender vielleicht bewusst nicht gegeben ist – dazu addiert.

Wird letztlich auf ein Ereignis verzichtet, ist die ganze Geschichte

hinfällig, da ihr der Inhalt fehlt und somit der Grund, sie überhaupt zu

erzählen. Ereignis, Kausalität und Zeit bilden also eine unauflösliche

Dreiheit.

f i n e s fa b u l a r u md r e i b a u s t e i n e

Page 24: De Fabulae

26

f i n e s fa b u l a r u ma g e n t e n u n d p a t i e n t e n

Doch es gibt noch ein viertes Element, das jeder Geschichte zu eigen

ist. Es entspringt der Tatsache, dass sich ein Ereignis stets auf jeman-

den oder etwas beziehen muss. Es gibt kein Ereignis, das nicht irgend-

etwas verändert, das gebietet schon die Kausalität mit ihrer Ursache-

Wirkung-Dogmatik. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird

das Ereignis von irgendetwas ausgelöst, ist also Wirkung einer Ursa-

che, in diesem Fall ist das auslösende Element der Agent (lat. agere =

handeln), oder das Ereignis selbst löst irgendetwas aus, ist also Ursache

einer Wirkung, dann ist das durch das Ereignis beeinflusste Element

der Patient (lat. patiens = ertragend). In beiden Fällen steht eine zwei-

te Struktur in Verbindung mit dem Ereignis. Diese zweite Struktur ist

eine Figur, meistens eine Person. Auch dies ist nachvollziehbar beim

Versuch, sich eine Geschichte ohne Menschen auszudenken. Der Ge-

danke, dass in Fabeln oft keine Menschen vorkommen, sondern Tiere

die Hauptfiguren der Geschichte sind, liegt nahe. Aber die Tiere in

Fabeln besitzen menschenähnliche Züge, können beispielsweise spre-

chen oder aufrecht gehen. Es gibt Geschichten aus der Perspektive von

Pflanzen, Steinen oder Häusern, aber sie alle sind menschenähnlich

und wir können uns empathisch in sie hineinversetzen. Es ist absolut

unmöglich, eine Geschichte zu konstruieren, in der keine handelnden

Figuren vorkommen, weil diese dem Ereignis immanent sind.

Page 25: De Fabulae

27

Page 26: De Fabulae

28

n a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a es e h r k u r z e g e s c h i c h t e n

Nun, da sozusagen die »Grundzutaten« für eine Geschichte bereitge-

legt sind, ist es interessant zu wissen, wie viele der jeweiligen Zutaten

für eine Geschichte mindestens nötig sind. Wie wenig Zeit, Kausalität

oder Ereignisse darf eine Geschichte enthalten, um noch als Geschich-

te wahrgenommen zu werden?

Beim Agens Zeit ist diese Frage nicht schwer zu beantwortet:

Temporalität ist entweder gegeben, oder nicht. Sie ist nicht gradati-

onsfähig, also nicht in verschiedenen Mengen einsetzbar. Eine reine

Deskription kommt unter Umständen ohne Temporalität aus, die bino-

mischen Formeln etwa sind in keiner Weise mit einer zeitlichen Ebene

verknüpft. Ebenso verhält es sich mit der Kausalität.

Ein wenig komplexer gestaltet sich die Frage nach den Agenten

und Patienten. Jede Geschichte muss, wie bereits erwähnt, Agenten und

Patienten enthalten, da sie das Ereignis verlangt. Mir ist jedoch keine

Geschichte bekannt, die mit nur einem einzigen Agenten oder Patien-

ten auskommt. Einige Erzählungen versuchen die gezeigte Handlung

auf eine Person zu beschränken, wie etwa Defoes Robinson Crusoe

oder Bölls Ansichten eines Clowns. Doch auch in diesen Geschichten

spielen andere Figuren eine Rolle, sie tauchen entweder irgendwann

auf oder stehen in einer Beziehung zur handelnden Figur. Das heißt

aber nicht, dass eine Geschichte mit nur einem einzigen Agenten oder

Patienten nicht theoretisch formulierbar ist.. Aber wie steht es mit den

Ereignissen? Wie viele Ereignisse sind minimal nötig, um eine Ge-

schichte auszumachen? Geschichten wie Joanne K. Rowlings Harry

Potter enthalten eine tausende von Ereignissen. Die Anzahl in einer

Kurzgeschichte der Nachkriegsliteratur ist schon deutlich geringer. Ly-

rik kommt oft mit noch wesentlich weniger Ereignissen aus. Dieses

Page 27: De Fabulae

29

n a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a es e h r k u r z e g e s c h i c h t e n

Element der Narration ist also sehr gut gradationsfähig und nicht klar

nach unten oder oben definiert. Verschiedene Theoretiker haben sich

Gedanken zu der minimalen Ereignisanzahl in Geschichten gemacht

und sind zu verschiedenen Ergebnissen gekommen. Anders formuliert

könnte die Frage also lauten: Wie wenig Information verträgt eine Bot-

schaft, die narrativ übermittelt werden soll?

Page 28: De Fabulae

30

Gerald Prince beschreibt einen schlüssigen Ansatz, der mit mini-

mal drei Ereignissen auskommt. In seinem Buch Grammar of Stories

schreibt er, welche Bedingungen diese drei Ereignisse erfüllen müssen.

Das erste und letzte Ereignis sind statisch, das zweite ist aktiv

Das dritte Ereignis ist der Kehrwert des ersten

Das erste Ereignis geschieht vor dem zweiten

Das zweite Ereignis geschieht vor dem dritten

Das zweite Ereignis verursacht das dritte 3

Etwas weniger sperrig formuliert könnte man dies so auslegen:

Es gibt drei Ereignisse. Das erste ist die Situation zu Beginn der Ge-

schichte. Das zweite verändert diese Situation und führt somit das

letzte Ereignis, also den Schluss der Geschichte herbei. Die kürzeste

Geschichte nach Prince lautet:

Der König und die Königin lebten. Dann starb der König.

Dann starb die Königin vor Trauer.

3 »A minimal story consists of three conjoined

events. The first and third events are stative,

the second ist active. Furthermore, the third

event is the inverse of the first. Finally, the three

events are conjoined by three conjunctive fea-

tures in such a way that (a) the first event

precedes the second in time and the second

precedes the third, and (b) the second causes

the third.« (Prince 1974, S. 31)

n a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a ed r e i e r e i g n i s s e

Page 29: De Fabulae

31

Edward Morgan Forster, ein englischer Erzähler und Verfasser zahl-

reicher Romane und Kurzgeschichten, veröffentlichte 1927 seine »As-

pects of a Novel«, in dem er seine eigene Auffassung vom Erzählen ver-

tritt. Forster unterscheidet zwischen den Begriffen »story« und »plot«.

Eine Story sei die Verknüpfung von Ereignissen in einer zeitlichen

Abfolge. Ein Plot hingegen sei eine Verknüpfung von Ereignissen in

ihrem kausalen Zusammenhang. Er gibt folgende Beispiele:

»The King died and then the queen died« ist eine Story.

[Der König starb, dann starb die Königin]

»The King died and then the queen died of grief« ist ein Plot.

[Der König starb, dann starb die Königin vor Trauer]

(Forster, 1985)

Ich muss ihm hier ansätzlich widersprechen, da ich, wie bereits

erwähnt, der Meinung bin, dass der Rezipient einer Erzählung stets

von kausalem Zusammenhang ausgeht und diesen gegebenenfalls

selbst erschafft. Allerdings war die Rezeptionsästhetik, eine Disziplin

der Literaturtheorie, die ihr Hauptaugenmerk auf den Empfänger und

seine Interpretation legt, zu Forsters Zeiten noch nicht im Gespräch

und wurde erst später von Autoren wie Roman Ingarden und Umberto

Eco formuliert (Eco, 1998). Aber es soll hier um die Anzahl an Ereig-

nissen gehen und diese legt Forster, obwohl er niemals von »Minimal-

geschichten« sprach, mit seinem Beispiel klar auf zwei fest.

n a r r a t i o n e s b r e v i s s s i m a ez w e i e r e i g n i s s e

Page 30: De Fabulae

32

Der bereits erwähnte Gerard Génette spitzte den Ereignisminimalis-

mus weiter zu und reduzierte ihn auf ein einziges Ereignis, um eine

Geschichte zu erzählen. Er sieht den Kern einer Geschichte in dem

Zustand der Veränderung, der auch dann schon gegeben ist, wenn nur

ein einziges Ereignis existiert.4

»Ich gehe« oder »Napoleon starb« sind deshalb Beispiele für voll-

ständige Geschichten, da sie eine Veränderung beschreiben. Die Tatsa-

che, dass Napoleon starb, setzt voraus, dass er vorher gelebt hat. Das

Wort »gehen« beschreibt schon als Verb eine Zustandveränderung

(meist lokaler Natur). Génettes Ansatz ist deshalb wesentlich näher

am Leser, da diesem zumindest die Fähigkeit zuerkannt wird, ein be-

reits geschehenes Ereignis, auch wenn es nicht explizit erwähnt wird,

durch die Kausalität zu beschrieben Ereignissen zu erkennen. Die

kleinste Geschichte nach Genette lautet also:

Der König ist tot.

4 »Für mich liegt, sobald es auch nur eine einzi-

ge Handlung oder ein einziges Ereignis gibt,

eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits

eine Veränderung, einen Übergang vom Vor-

her zum Nachher.« (Genette 1998, S. 202)

n a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a ee i n e r e i g n i s

Page 31: De Fabulae

33

Page 32: De Fabulae

34

Die Frage nach der minimalen Anzahl an Ereignissen beschäftigt die

Theoretiker also seit jeher und ist bis heute Bestandteil der Diskus-

sion um die Narratologie. Um die drei Ansätze vergleichbar zu machen,

habe ich hier das King-and-Queen-Beispiel, das ursprünglich aus For-

sters Feder stammt, auf die anderen Theorien übertragen.

Der König und die Königin lebten. Dann starb der König.

Dann starb die Königin vor Trauer. (Drei Ereignisse)

Der König starb, dann starb die Königin vor Trauer. (Zwei Ereignisse)

Der König ist tot. (Ein Ereignis)

Welchem der drei Ansätze man Glauben schenkt ist letztendlich

jedem selbst überlassen und schließlich sind sie auch nur auf theore-

tischer Ebene interessant, da niemand, der eine Botschaft narrativ

vermitteln möchte, mit nur einem Ereignis auskommen wird.5 Für die

in Frage stehende Omnimedialität von Narration sind diese Gedan-

kenspiele aber relevant. Wenn ein »Ereignis« ein nichtalltäglicher und

erzählenswerter Zustand ist und die Möglichkeit besteht, aus mini-

mal drei dieser Zustände eine Geschichte zu erzählen, fällt es leicht zu

glauben, dass der Narration medial keine Grenzen gesetzt sind. Die

erste und längste Minimalgeschichte (»Der König und die Königin leb-

ten. Dann starb der König. Dann starb die Königin vor Trauer.«) etwa

passt mit nur 90 Zeichen problemlos in einen Tweet oder eine SMS,

lässt sich also auf allen Medien übermitteln, die sich direkter Textdar-

stellung bedienen, ist sprachlich formulierbar und ebenfalls auf rein

bildlicher Ebene, also auch filmisch darstellbar.

n a r r a t i o n e s b r e v i s s i m a ed i e k ö n i g s d i s z i p l i n

5 Zur Diskussion über die Minimalanforderungen

an eine Geschichte und die Ansätze von Gerard

Genette, E. M. Forster und Gerard Prince sie-

he J. J. A. Mooij – Fictional realities the uses

of literary imagination, S. 59 ff. und Frank Zip-

fel - Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 77 ff.

Page 33: De Fabulae

35

n u n t i u sd e r b o t s c h a f t e r

Eine Nachricht, die überbracht werden muss verlangt immer nach ei-

nem Boten, das ist auch im Falle der Narration nicht anders. Doch wie

kann dieser Bote aussehen? Der Duden erklärt das Wort »Medium«

als »vermittelndes Element« oder »Einrichtung, organisatorischer und

technischer Apparat für die Vermittlung von Meinungen, Informati-

onen, Kulturgütern«. Ein Medium ist also aus kommunikativer Sicht

etwas, das in der Lage ist, Informationen aufzunehmen, zu speichern

und weiter zu geben. Dabei ist nicht festgelegt, wie diese Informati-

onen gespeichert sind oder wie groß der Verlust beim Transport der

Information ist. Als Medium könnte also auch etwas verstanden wer-

den, das die Kommunikation zwischen Computern oder Tieren er-

möglicht (etwa elektrische Signale oder das Meerwasser). Diese Arten

von Medien sind für die Narration und für jede andere Art zwischen-

menschlicher Kommunikation zunächst uninteressant. Wichtig für

ein menschliches Medium ist, dass es von einem Menschen empfangen

und verstanden werden kann. Es ist technisch möglich, Informatio-

nen in Form von Infrarotstrahlung zu versenden. Diese Möglichkeit

wird für den Menschen aber erst dann interessant, wenn er über einen

entsprechenden Apparat verfügt, um die verschlüsselte Information

zu empfangen. Dieses Gerät muss direkt kompatibel mit den Sinnes-

organen des Menschen sein, sonst ist die Information für den Men-

schen unverständlich und somit wertlos. Die Grundanforderungen für

narrative Informationsübermittlung werden also nicht vom Medium,

sondern von den fünf Sinnen des Menschen gestellt. Da jedes Medium

mit einem oder mehreren unserer Sinne wahrnehmbar sein muss, be-

deutet das: Omnimedial ist Narrativität dann, wenn der Mensch in der

Lage ist, mit jedem Sinnesorgan Narration wahrzunehmen.

Page 34: De Fabulae

36

Die menschliche Fähigkeit, eine Information auf visuellem, auditivem,

olfaktorischem, gustatorischem oder taktilem Weg wahrnehmen zu

können, bedingt somit die Grundvoraussetzung für ein Medium. An-

ders formuliert: Der Mensch muss etwas sehen, hören, riechen, schme-

cken oder fühlen können, um es zu verstehen. Wie oben beschrieben

sind die fundamentalen Voraussetzungen für Narrativität das Ereignis,

die Kausalität und die Zeit. Es muss also jeder Sinn auf seine Fähigkeit,

Narrativität wahrzunehmen, geprüft werden.

Bei einigen Sinnen fällt dieser Beweis leicht. Es gibt unzählige

Beispiele für Narration, die auf rein visuellem Weg stattfindet. Selbst-

verständlich Texte aller Art, aber auch Photostrecken und Comics,

Stummfilme oder Photos. Hier stellt sich höchstens die Frage: Kann

ein einziges Bild narrativ sein? Es kann. Nach Génettes Ein-Ereig-

nis-Ansatz müsste ein Bild ein einziges Ereignis zeigen, um uns eine

Geschichte zu erzählen. Davon abgesehen lassen sich in einem Bild

natürlich auch mehrere Ereignisse und sogar ein zeitlicher Ablauf dar-

stellen, wie Duchamps »Akt, eine Treppe herabschreitend. Nr. 2« von

1912 zeigt. Ähnlich ist es bei der rein auditiven Wahrnehmung. Ge-

sprochener Text wie im Radio oder in Hörbüchern ist jederzeit dazu

in der Lage, narrativ zu sein. Auch Musik kann alle Voraussetzungen

erfüllen, die für Narration gefordert sind: das Ereignis in Form von

Rhythmen, Melodien oder Samples, die Kausalität in Form einer ein-

heitlichen Tonart, die Zeit als Dauer und Geschwindigkeit oder Takt.

In manchen Stücken lassen sich sogar Agenten erahnen, wie in den

Kompositionen von Sergei Prokofjew, der für »Peter und der Wolf« je-

der Figur ein eigenes Instrument und eine Melodie zuordnete. Auch

unser Tastsinn ist offensichtlich in der Lage, Narration wahrzuneh-

n u n t i u sd e r b o t s c h a f t e r

Page 35: De Fabulae

37

men. Das einfachste Beispiel hierfür ist die 1825 von Louis Braille

entwickelte Blindenschrift. Aber auch als Nichtsehbehinderter könn-

te man sich vorstellen, auf taktilem Weg eine Geschichte erzählt zu

bekommen. Die meisten Menschen würden, ohne sehen, hören, rie-

chen oder schmecken zu müssen, allein durch das Tastgefühl Objekte

wie Messer, Legosteine, Sand und Computerkeyboards erkennen. Ein

Aneinanderreihen solcher Objekte würde folglich eine Geschichte er-

zählen. Diese Art der Kommunikation ist weniger eindeutig als bei-

spielsweise die visuelle, was die Narration auf diesem Weg wesentlich

interpretierbarer macht. Bestünde aber Konsens über die metaphori-

sche Bedeutung von Objekten, Oberflächen und Formen, ließe sich auf

diese Art eine gelungene Kommunikation erreichen.

Ähnlich verhält es sich beim Geruchs- und Geschmackssinn. Die-

se beiden Sinne sind beim Menschen am wenigsten stark ausgeprägt,

was die Kommunikation über diese Kanäle am schwersten macht und

wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass es hierfür wenig Beispiele

gibt. Ich bin der Meinung, dass Narration auch auf diesen Kanälen

theoretisch möglich ist. Hier wäre wieder eine Sequenz verschiedener

gustatorischer oder olfaktorischer Reize der Schlüssel. Tatsächlich

sind Schmecken und Riechen bei uns stark miteinander verbunden.

Ob uns etwas gut schmeckt, hat zum großen Teil damit zu tun, ob uns

der Geruch angenehm ist. Ein schönes Beispiel bietet die Verkostung

von Wein oder Whiskey. Kenner schmecken bei einem blindverkoste-

tem Single Malt Scotch etwa die Lagerung in einem Sherry- oder ame-

rikanischem Eichenfass. Viele Weinliebhaber können einen Spätbur-

gunder blind von einem Merlot unterscheiden und so beispielsweise

auf das Anbaugebiet oder sogar das Alter schließen. Ähnlich ist es mit

n u n t i u sd e r b o t s c h a f t e r

Page 36: De Fabulae

38

Gerüchen, die bei uns oft sehr starke Assoziationen wecken. So ruft

bei vielen Menschen der Geruch nach Sonnenmilch Erinnerungen

an den Strandurlaub hervor. Eine Geschichte, die speziell für einen

guten Freund funktioniert, ließe sich mit dem Wissen, welche Gerü-

che welche Assoziationen bei besagtem Freund hervorrufen, erzählen.

Ein Sommelier arbeitet auf ähnliche Weise, indem er zum Beispiel den

Wein aussucht, der am besten zu den Aromen des Hauptgerichtes passt.

Das können entweder sehr ähnliche oder sehr unterschiedliche Aro-

men sein, je nachdem welche Spannung erwünscht ist. Beide Sinne er-

füllen jedenfalls die Grundvoraussetzungen: Ereignisse sind in Form

von Gerüchen oder Geschmacksaromen wahrnehmbar, sie werden so-

gar direkt mit Erinnerungen verknüpft. Wir beurteilen kausal, ob auf-

einander folgende Aromen zueinander passen. Aromen reizen die Re-

zeptoren auch unterschiedlich lang. Sehr strenge Gerüche bleiben uns

noch für Stunden in der Nase – der zeitliche Faktor ist auch gegeben.

Walter Moers, ein erfolgreicher deutscher Fantasy-Autor be-

schreibt in seinem Buch Das Labyrinth der träumenden Bücher sogar

ein Konzept für ein Instrument – eine »olfaktorische Orgel« – das in

der Lage ist, eine Theateraufführung um die Ebene der geruchlichen

Narration zu erweitern. (Moers, 2011)

Daraus folgt: Jeder unserer Sinne ist auf seine eigene Art in der

Lage Narrativität wahrzunehmen, obwohl nicht jeder Sinn gleich gut

geeignet ist (wir verlassen uns hauptsächlich auf unser Seh- und Hör-

vermögen). Da es für jeden Sinn entsprechende Medien gibt, die uns

auf diesem Kanal erreichen möchten, ist das Erzählen von Geschich-

ten in jedem beliebigen Medium möglich.

n u n t i u sd e r b o t s c h a f t e r

Page 37: De Fabulae

39

q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u md i e e r k e n n t n i s

Narration ist omnimedial.

Page 38: De Fabulae

40

Page 39: De Fabulae

41

Page 40: De Fabulae

42

Page 41: De Fabulae

43

fa c u l t a t e s fa b u l a ed i e m ö g l i c h k e i t e n d e r g e s c h i c h t e

Wir sind also als Menschen in der Lage, Narration mit all unseren Sin-

nen wahrzunehmen, was auch damit zu tun hat, dass die minimalen

Anforderungen an eine Geschichte nicht sehr hoch sind. Doch die Ge-

schichte »Der König ist tot« ist, obwohl sie die Grundvoraussetzung

der Narrativität erfüllt, nicht besonders gut. Sie ist nicht spannend und

nicht mitreißend, verlangt von uns nur ein Mindestmaß an Emphatie

und ist tatsächlich von der reinen, in ihr verpackten Information nicht

zu unterscheiden. In diesem Kapitel soll es deshalb um den Nutzen

gehen, den die Narration als Darstellungsform hat. Was macht das

Erzählen als kommunikatives Werkzeug wertvoller als beispielsweise

eine nüchterne Infografik? Und was muss eine gute Geschichte leisten,

um positiv aufgenommen zu werden? Dazu beleuchte ich zunächst die

Teilgebiete der Kommunikation, in denen Narration heute eine wich-

tige Rolle spielt.

Die im ersten Kapitel beschriebenen Mechanismen dienen einer

Darstellungsform, die als Werkzeug zu verstehen ist und deshalb kei-

nen Selbstzweck besitzt. So wie eine Schraube nicht durch ihre bloße

Existenz, sondern erst durch ihre Verwendung einen Sinn bekommt.

Die Narration kann für viele Absichten genutzt werden, wobei ich

Absicht mit der Kommunikationsabsicht des Senders gleichsetze, also

der Frage: Was soll meine Botschaft beim Empfänger bewirken? Eine

Geschichte kann zum bloßen Zweck der Unterhaltung erzählt werden,

zur Ablenkung von wahren Tatsachen, zur Selbstdarstellung oder zur

Lehre. Die Situationen, in denen die Methode Storytelling heute zum

Einsatz kommt, sind in folgende Kategorien unterteilt:

Page 42: De Fabulae

44

Page 43: De Fabulae

45

fa c u l t a t e s fa b u l a ed i e k u n s t

Die erste und größte Kategorie ist die Kunst. Hierzu gehört auch jede

Art der Kommunikation, die der bloßen Unterhaltung dient wie Soaps

oder Computerspiele. Die Kunst bedient sich seit jeher der Erzählung,

man kann sogar soweit gehen zu sagen, dass die Kunst nur aus der

Narration und ihrer Abstraktion entstanden ist. Die ältesten, uns be-

kannten Kunstwerke aus Menschenhand sind Höhlenmalereien, die

sich auf der ganzen Welt finden lassen und die oft älter als 15.000 Jah-

re sind. Der größte Teil dieser Gemälde aus Kohlestaub und Eisenoxi-

den ist heute nur schwer zu deuten, besteht aus Ornamenten, Punkten

oder Handabdrücken. Doch einige zeigen deutliche Merkmale der Nar-

ration, stellen etwa Tiere oder Menschen, vielleicht auch Gottheiten

und Geister dar. Jede Kunstepoche gebar eigene Techniken, eigene Sti-

le oder ganz neue Erfindungen, doch immer wollte der Künstler eine

Geschichte erzählen. Der Vielzahl an Definitionen und Diskussionen,

die dem modernen Kunstbegriff zu Grunde liegen, möchte ich meine

eigene Vorstellung der Kunst hinzufügen. Lotman sagt: Kunst ist Text.

Ich sage: Kunst ist Narration. Ich behaupte, dass Kunst (oder Kunst-

werke) nur vom Rezipienten auch als solche wahrgenommen wird,

wenn diesem die Möglichkeit geboten wird, das Werk empathisch zu

erfahren. Diese Möglichkeit bietet nur die Narration.

Hier fällt eine weitere Einteilung schwer. Die klassische Katego-

risierung der Kunst in Bildende Kunst, Musik, Literatur und Darstel-

lende Kunst verliert mit dem Etablieren der neuen Medien an Bedeu-

tung. Das Kombinieren verschiedener Medieninstallationen zu einem

Gesamtkunstwerk ist heute eine beliebte Ausdrucksform in der Kunst.

Besucher der Documenta werden dies bestätigen.

Page 44: De Fabulae

46

fa c u l t a t e s fa b u l a em a r k e t i n g u n d w e r b u n g

»Der Künstler macht was er will, der Designer will, was er macht.« Die-

ses Zitat von Kurt Weidemann beschreibt den Unterschied zwischen

Kunst und Design am besten. Und es beschreibt auch das Wesen der

Werbung. Werbung ist Kunst, die einen Zweck hat. Stets geht es dar-

um, etwas beim Empfänger zu bewirken. Designhochschulen wurden,

bevor der Begriff »Design« auch hierzulande etabliert wurde, Werk-

kunstschulen genannt. Dieses Bewirken ist es, was die Narration in

der Werbung so beliebt macht. Eine Erzählung ist in der Lage, einen

Empfänger in einen sehr aufnahmebereiten Zustand zu versetzen und

noch dazu in jedem Medium möglich (die Werbung interessiert sich

natürlich besonders für Massenmedien). Hier kommt noch eine wei-

tere Komponente mit ins Spiel: Die Emotionalität. Ein empathisches

Einfühlen in die handelnden Figuren der Geschichte ist nur über das

Nachempfinden ihrer Gefühle möglich. Einer Erzählung fällt es also

sehr leicht, einen Menschen emotional anzusprechen – und das ist ein

großer Vorteil für die Werbung, die großen Wert darauf legt, ihre Kun-

den über positive Emotionen zu erreichen. Ein Produkt, eine Marke

oder eine Dienstleistung wird eher angenommen, wenn sie emotional

positiv konnotiert ist.

Die Werbung ist aber, anders als die Kunst, durchaus dazu in der

Lage, nicht narrativ zu sein. Automobilwerbung funktioniert oft nur

über Impressionen, Musik und emotionale Bilder, die weder Ereignisse

noch Kausalität aufweisen. Auch die wöchentlichen »Aldiblättchen«,

die über Angebote und Tiefpreise informieren, erzählen keine Ge-

schichten. Ob Werbung narrativ ist oder nicht hängt vor allem mit dem

Empfänger und der Komplexität der Nachricht zusammen – und nicht

zuletzt vom Gestalter.

Page 45: De Fabulae

47

Page 46: De Fabulae

48

Page 47: De Fabulae

49

fa c u l t a t e s fa b u l a eb i l d u n g u n d e r z i e h u n g

Die Narration entspringt wahrscheinlich einfach dem verbalen Wei-

tergeben von tatsächlich Geschehenem. Auf diese Weise lassen sich

längst vergangene Momente in Erinnerung behalten und – lange vor

der Verwendung von Schrift – über Generationen hinweg weiterge-

ben.6 In manchen Naturvölkern, wie den Aborigines in Australien, ist

das wörtliche Weitergeben von Sagen und Ritualen noch heute von

größerer kultureller Bedeutung als das schriftliche (meist mit der Fol-

ge, dass dem gesprochenen Wort allgemein mehr Bedeutung zuerkannt

wird als in unserem Kulturkreis, in dem meist nur das zählt, was ge-

schrieben steht). Wie bereits in der Einleitung erwähnt ist der Grund

hierfür, dass sich Weisheiten oder Lehren narrativ sehr eindrücklich

übermitteln lassen. Dies wird vor allem im Schulsystem bis zum Äu-

ßersten ausgereizt. Groß- und Kleinbuchstaben, Zahlen, Rechenwege,

historische Daten, biologische Fakten und alles, was durch bloßes Nen-

nen zu »langweilig« ist, um es sich gleich zu merken, wird mit kleinen

Geschichten versehen. Vieles wird auch in Liedern ausgedrückt oder

durch Eselsbrücken in narrativer Reimform: »Mein Vater erklärt mir

jeden Sonntag unseren Nachthimmel« für die Reihenfolge der Plane-

ten in unserem Sonnensystem: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Sa-

turn, Uranus, Neptun. Oder »753 – Rom schlüpft aus dem Ei«. Offen-

sichtlich helfen uns schon minimale Narrationen mit metaphorischem

Charakter beim Memorieren von ungriffigen Zahlen, Sequenzen oder

Fakten.

6 Erst viel später dürfte die Möglichkeit, auch

von nicht tatsächlich stattgefundenen Ereig-

nissen zu erzählen, entdeckt worden sein. Für

den Zuhörer, und später für den Leser, macht

es aber keinen Unterschied, ob die beschriebe-

nen Figuren und Handlungen tatsächlich ein-

mal existiert haben oder nicht. Er verfällt dem

Sog der Erzählung gleichermaßen bei gut er-

zählten historischen, wie auch bei phantasti-

schen Geschichten. Mit diesem Wissen trat viel

später die Science-Fiction-Literatur ihren Sie-

geszug an. In dieser Kategorie der Erzählung ist

dem Rezipienten von Anfang an bewusst, dass

es sich nicht um eine tatsächlich geschehe Ge-

schichte handeln kann. Meist, weil die Science-

Fiction Handlung in ferner Zukunft spielt.

Page 48: De Fabulae

50

c o h a e r e n t i a d i f f i c i l i o rk o m p l e x e s y s t e m e i n n a r r a t i v e r f o r m

Je komplexer ein Zusammenhang ist, umso komplizierter ist es natür-

lich, ihn in narrativer Form zu vermitteln und zusätzlich scheinen Kin-

der und Jugendliche besser auf Narration zu reagieren als erwachsene

Menschen. Das ist der Grund, warum es viele kleine Eselsbrücken für

Jahreszahlen oder Vokabeln gibt, aber keine griffige Story, in der die

Proteinbiosynthese schlüssig erklärt wird.7 Wie komplexe Systeme in

narrativer Form dargestellt werden können, möchte ich im nächsten

Punkt illustrieren.

7 »Die Kompliziertheit einer Struktur befin-

det sich in direkt proportionaler Abhängigkeit

von der Kompliziertheit der zu übermitteln-

den Information« (Lotman, 1972, S. 24)

Page 49: De Fabulae

51

p a r a b o l a p l a t o n i sd a s h ö h l e n g l e i c h n i s

Das sogenannte Höhlengleichnis ist ein Abschnitt des siebten Buches

der Politeia von Platon. Dieser legt es seinem Lehrer Sokrates in den

Mund, es ist also nicht klar, ob das Gleichnis ursprünglich von Sokra-

tes oder Platon stammt, was für den Inhalt der Geschichte aber nicht

entscheidend ist. Das Höhlengleichnis wurde von Philosophen und

Autoren aller Epochen diskutiert. Diese Geschichte lautet so:

In einer Höhle unter der Erde leben Menschen, die an Hals und

Rumpf gefesselt sind, was sie dazu zwingt, immer nur nach vorne zu

blicken und ihren Kopf nicht zu drehen. Sie können ihr ganzes Leben

lang nichts anderes tun, als die Wand vor ihren Augen zu betrachten

und weil sie von Kind auf in der Höhle gefangen sind, kennen sie kei-

ne andere Art der Wahrnehmung. Hinter ihrem Rücken befindet sich

aber eine kleine Mauer, hinter der ein Feuer brennt. Zwischen der

Mauer und dem Feuer gehen Menschen hin und her, die Gegenstände

über ihrem Kopf tragen, deren Schatten durch das Feuer auf die ge-

genüberliegende Wand projiziert werden. Diese Schatten werden also

von den Menschen wahrgenommen, die gefesselt vor der Wand sitzen

und folglich nichts anderes kennen, als die Wand und die Schatten auf

ihr. Was diese armen Seelen als Wahrheit begreifen, kann also nichts

anderes sein als die Schatten auf der Wand, ihre Form, ihre Bewegung,

ihre Reihenfolge und alles was für diese Menschen von Bedeutung ist,

ist die Wissenschaft dieser Schatten. In der Gesellschaft der Gefange-

nen werden Menschen ausgezeichnet, welche die Formen der Schatten

besonders gut beschreiben können und die Reihenfolge vorhersagen

können.

Die Welt besteht aber nicht nur aus dieser Höhle, auch wenn die Ge-

fangenen sich das nicht vorstellen können. Es gibt eine Erdoberfläche,

Page 50: De Fabulae

52

einen Himmel, die Sonne, Wälder, Wiesen, Seen. Eines Tages kommt

ein Mensch von der Erdoberfläche in die Höhle und nimmt einem der

Gefangenen die Fesseln ab. Er zwingt ihn sich herumzudrehen und

reißt den Höhlenbewohner so aus seinem gewohnten Umfeld. Diese

Erfahrung ist für den Gefangenen alles andere als angenehm, wird er

doch gezwungen, in das grell brennende Feuer zu blicken. Er weigert

sich und möchte zurück zu seinen Brüdern und Schwestern, die immer

noch die Schatten der Wand betrachten, was ihm aber nicht gestattet

wird. Langsam gewöhnen sich seine Augen an das grelle Licht und er

erkennt die Mauer, die Menschen dahinter und die Gegenstände, die

sie tragen und in ihnen erkennt er den Ursprung der Schatten auf der

Wand. Doch bei dieser Erkenntnis bleibt es nicht und der Mensch von

der Oberfläche zerrt den eben noch Gefangenen den steilen und be-

schwerlichen Weg zum Höhlenausgang, was für jenen noch unange-

nehmer ist, als der Blick ins Feuer, wird er doch gezwungen, sich zu

bewegen, was er in seinem Leben noch nie tun musste, was ihn wieder

dazu veranlasst, sich heftig zur Wehr zu setzen und zu versuchen, zu-

rück an seinen gewohnten Platz zu kommen. Doch der Mensch von

der Oberfläche lässt nicht locker und schließlich erreichen die beiden

den Höhleneingang. Der Gefangene, der sein Leben lang kein helleres

Licht ertragen musste als das, welches die Wand vor ihm vom Feuer

reflektierte, erblindet zunächst, als er in das Licht der Sonne gebracht

wird. Nur sehr langsam erholen sich seine Augen von dem plötzlichen

Blenden und zunächst ist er nur in der Lage, sie nachts zu öffnen. Doch

bald schon kann er die Schatten von Gegenständen betrachten, was

ihn an seine Heimat erinnert. Dann sieht er die Spiegelungen der Ge-

genstände im Wasser und erst nach langer Zeit ist er in der Lage, sei-

pa r a b o l a p l a t o n i sd a s h ö h l e n g l e i c h n i s

Page 51: De Fabulae

53

nen Blick zum Himmel zu richten, die Sonne zu sehen und die ganze

Wahrheit der Welt zu betrachten. Ab diesem Moment ist es für ihn

unmöglich geworden, in sein früheres Leben zurückzukehren. Die

Schattenwissenschaften, die von seinen Brüdern und Schwestern in

der Höhle betrieben werden, ist für ihn nicht länger interessant, weil

er sie nicht mehr als alleinige Wahrheit akzeptieren kann. Er ist sei-

nem Befreier dankbar, weil er die wahre Schönheit der Welt erfahren

durfte und möchte für immer an der Oberfläche bleiben, aber dennoch

weiß er, dass er in die Höhle zurückkehren muss, um auch den anderen

Gefangenen den Weg hinauf zu zeigen.

Doch als er zurückkehrt an seinen alten Platz und versucht, seine

Freunde zu befreien, bemerkt er, dass diese nichts mehr mit ihm zu

tun haben wollen. Sie wehren sich mit Leibeskräften gegen seine Be-

freiungsversuche und reden weiter über die Schatten an der Wand vor

ihnen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich an seinen Platz zu

setzen und sein Leben der Aufgabe zu widmen, seine Mitgefangenen

ein Stück weiter an das Licht der Sonne zu führen.8

8 Platons »Politeia« ist vollständig als Dialog zwi-

schen Sokrates und wechselnden Gesprächspart-

ner formuliert. So auch diese Geschichte, die

Sokrates beinahe ganz in Form von Fragen an

einen Zuhörer namens Glaukon rich-

tet, der nichts tun kann, als dem Phi-

losophen immer wieder beizustimmen

(frei nach Platon, 2010, S. 327-330)

pa r a b o l a p l a t o n i sd a s h ö h l e n g l e i c h n i s

Page 52: De Fabulae

54

Page 53: De Fabulae

55

Diese Erzählung beschreibt laut Sokrates Deutung, die er direkt im

Anschluss an das Gleichnis gibt, den Aufstieg des Philisophen zur

Wahrheit, in die Welt der Ideen, die den Ursprung aller materiellen

Dinge bilden. Gleichzeitig ist ihr die Verantwortung zu entnehmen, die

ein Philosoph gegenüber seinen Mitmenschen hat. Auch wenn er für

die Wahrheit, die er aufdeckt, geächtet und ausgestoßen wird, so ist es

doch seine Pflicht, sie an sein Umfeld weiterzugeben.9 Die Erzählung

bietet noch eine große Anzahl anderer Interpretationen und Perspek-

tiven, doch hier soll es um ihre Funktionsweise gehen. Die Geschichte

beschreibt eine ganze Reihe von philosophischen Problemen, indem

sie diese metaphorisch verkleidet und so in Probleme verwandelt, die

für jeden nachvollziehbar sind. Die schwierige und oft unangenehme

Suche des Philosophen nach der Erkenntnis und der Wahrheit, bei der

dieser oft Hilfe braucht, wird hier mit der schmerzlichen Erfahrung

beschrieben, die jeder Mensch hat wenn er aus einem dunklen Raum

ins grelle Sonnenlicht tritt. Sie übersetzt so ein komplexes, philosophi-

sches System in eine allgemeinverständliche Geschichte.

9 »[…]wenn sie dann dort oben hinreichend ge-

lebt haben, dann dürfen wir ihnen nicht erlau-

ben, was man ihnen heute erlaubt. […]Daß

sie dort bleiben und nicht wieder zu jenen Ge-

fangenen herabsteigen wollen und teilnehmen

an ihren Mühen und Ehren, an den nichtigen

wie den gewichtigen.« (Platon, 2010, S. 329)

pa r a b o l a p l a t o n i sd a s h ö h l e n g l e i c h n i s

Page 54: De Fabulae

56

n a r r a t i o m a t h e m a t i c ad i e d r e i z i e g e n

John Allen Paulos ist Professor für Mathematik an der Temple Uni-

versity in Philadelphia und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher

Bücher. In dem Essay »Stories vs. Statistics« für die New York Times,

in dem er den Zusammenhang zwischen mathematischen Systemen

und Geschichten behandelt, beschreibt er das mathematische Problem

der »conjunction fallacy« (etwa »Verknüpfungstäuschung« oder »Trug-

schluss des Zusammenhangs«).

Der bekannte Politiker Schmitt ist berüchtigt für seine Affären und

Liquiditätsprobleme. Welches dieser Gerüchte ist wahrscheinlicher:

Schmitt hat Bestechungsgeld von einem Lobbyisten angenommen oder

Schmitt hat Bestechungsgeld von einem Lobbyisten angenommen, hat

auch davor schon Geld von zweifelhaften Quellen bekommen und gibt

es auf verschwenderischen Dienstreisen mit hübschen Praktikantin-

nen aus.10

Obwohl uns das zweite Gerücht schlüssiger aufgrund des Vorwis-

sens erscheint, das wir über Herrn Schmitt haben, ist das erste Ge-

rücht wahrscheinlicher. Genauso verhält es sich auch mit komplexeren

Geschichten: Wir halten die Existenz einer Person, die in einer Erzäh-

lung sehr detailreich beschrieben wird, für wahrscheinlicher als die

Existenz einer Person, die nur mit wenigen Worten erwähnt wird. Al-

lerdings machen mehr Details ein Ereignis aus mathematischer Sicht

unwahrscheinlicher. Anders formuliert: Wenn es drei verschiedene

Ereignisse gibt, ist eines dieser Ereignisse stets wahrscheinlicher als

alle drei zusammen (denn treten alle drei auf einmal auf, so tritt auch

dieses eine auf, aber nicht umgekehrt).

Dieser Text ist nur ein Beispiel für eine ganze Reihe von kleinen

Geschichten, die besonders in der Mathematik beliebt sind, um schwie-

10 »Congressman Smith is known to be cash-strap-

ped and lecherous. Which is more likely? Smith

took a bribe from a lobbyist or Smith took a bri-

be from a lobbyist, has taken money before, and

spends it on luxurious “fact-finding” trips with

various pretty young interns« (Paulos, 2010)

Page 55: De Fabulae

57

Page 56: De Fabulae

58

n a r r a t i o m a t h e m a t i c ad i e d r e i z i e g e n

rige Aufgaben oder komplexe Zusammenhänge zu beschreiben. Weit-

aus bekannter ist das sogenannte »Monty-Hall-« oder »Ziegenproblem«

von Steve Selvin:

Sie nehmen an einer Spielshow teil und können zwischen drei

Türen wählen. Hinter einer der Türen befindet sich ein Auto, ein

Oberklassewagen, den Sie natürlich gewinnen möchten. Hinter den

beiden anderen Türen befinden sich Ziegen, die Sie hinsichtlich ihrer

kleinen Wohnung ohne Garten tunlichst vermeiden wollen! Sie ent-

scheiden sich für eine Tür, teilen dem Moderator ihre Entscheidung

mit und dieser beschließt, das Spiel etwas interessanter zu machen. Er

öffnet eine andere Türe, hinter der eine Ziege steht und fragt Sie, ob Sie

bei ihrer Wahl bleiben möchten oder ob Sie ihre Entscheidung ändern

wollen. Was tun Sie?

Das Paradoxe an der Situation ist, dass die erste von Ihnen ge-

wählte Türe eine Gewinnchance von 1/3 hat, während die Türe für

die sie sich entscheiden könnten, nachdem der Moderator eine Ziege

aufgedeckt hat, eine Chance von 2/3 auf den Hauptgewinn hat. Ihre

Gewinnchance ist also höher, entscheiden Sie sich dafür, von ihrer ur-

sprünglichen Entscheidung abzuweichen. Dieser einfache Sachverhalt

beschreibt tatsächlich also ein hochkompliziertes, statistisches Prob-

lem, das seit seiner Veröffentlichung 1975 bis heute diskutiert wird.

Und das nicht nur von Mathematikprofessoren, sondern von Men-

schen auf der ganzen Welt. Der Grund hierfür ist, dass die Geschichte

eine sehr einfache, leicht zugängliche Situation beschreibt, ohne auf

nicht allgemeinverständliche Formeln oder mathematische Zeichen

zurückgreifen zu müssen. 11

11 Im Internet finden sich zu diesem Problem ei-

ne ganze Reihe von interaktiven Inhalten, in

denen die Situation simuliert wird. Die be-

kannteste Simulation wurde 2008 von der New

York times online gestellt. Gleichgültig, wie lan-

ge man spielt, die Wahrscheinlichkeit zu gewin-

nen ist bei einer Umentscheidung stets höher.

www.nytimes.com/2008/04/08/science/08monty.html

Page 57: De Fabulae

59

p e c u n i a n o n o l e tb i e r u n d p r o f i t

Chin Meyer, seines Zeichens Kabarettist, erzählte 2011 als Gast in der

Talkshow von Markus Lanz (dessen Qualitäten als ernstzunehmende

Quelle seien dahingestellt, aber hier nicht von Bedeutung) eine Ge-

schichte, in der er die Situation der Finanzkrise griffig auf den Punkt

bringt:

Ein Mann sucht in finanziell ungesicherten Zeiten eine sichere Quel-

le für Nebeneinkünfte. Er kommt auf die Idee, eine Kneipe zu eröffnen.

Leider hat er keinerlei gastronomische Vorkenntnisse und beweist bei

der Wahl der Lokalität auch sehr wenig Gespür fürs Schankgewerbe.

Seine kleine Eckkneipe eröffnet er in einem Viertel, das zwar mit bil-

ligen Mieten lockt, jedoch überwiegend von arbeitslosen Alkoholikern

bewohnt wird. Nach einigen Wochen bemerkt er, dass sein Lokal zwar

oft und lang von seiner Kundschaft besucht wird, diese aber so gut

wie nichts trinken, weil sie kein Geld haben. Deshalb beschließt er,

die Gäste anschreiben zu lassen, was diese daraufhin auch fleißig in

Anspruch nehmen. Der frischgebackene Kneipenwirt nimmt zwar im-

mer noch kein Geld ein, sammelt aber die Schulden von arbeitslosen

Alkoholikern. Eines Tages bemerkt der Bankberater des Wirtes, dass

dieser auf dem Papier Gewinne macht. Er fragt den Wirt, wie das mög-

lich sei und bekommt die Geschichte von den anschreibenden Alko-

holikern erzählt. »Ich wünschte nur, die Kneipe würde endlich auch

echtes Geld abwerfen!«, seufzt der Wirt. »Kein Problem!«, antwortet

der kompetente Banker: »Wir machen ein Finanzprodukt!«. Der Wirt,

der nicht nur wenig Ahnung vom Kneipen- sondern noch weniger vom

Finanzwesen hat, vertraut seinem Banker und willigt ein. Er holt die

Schuldscheine der Alkoholiker aus seiner Kneipe, die mittlerweile

auf einen beachtlichen Berg angewachsen sind und übergibt sie sei-

Page 58: De Fabulae

60

p e c u n i a n o n o l e tb i e r u n d p r o f i t

nem Banker. Dieser bündelt die Scheine, beschriftet sie und verkauft

sie weiter, natürlich mit einem geringen Verlust. Wer einen solchen

Schuldschein kauft, erwirbt für nur 70€ eine Schuldenlast von 100€,

kann also 30€ Gewinn erwirtschaften. Der Wirt aber ist sein Risiko

los. Er hat, zumindest einen großen Teil , als bares Geld zurück. Die-

ses Finanzpaket bekommt den Titel »Fuselanleihen«. Dieses Geschäft

läuft einige Monate und bald funktioniert die Methode so gut, dass

eine größere Bank als die des Wirtes auf das Geschäft aufmerksam

wird. Die Banker dieses Institutes unterhalten sich mit dem Berater

des Kneipenwirtes: »Eine großartiges Konzept! Nur sollten wir die Sa-

che ein wenig sicherer gestalten, um auch weniger risikofreudige Leu-

te anzusprechen. Wir bündeln die Schuldscheine der Alkoholiker mit

Abitur und verkaufen sie als sichereres Finanzpaket weiter!« Eine bril-

liante Idee, findet auch der Berater des Wirtes und steigt ein. Der Wirt

wiederum ist nun finanziell noch besser abgesichert und eröffnet eine

zweite Kneipe in einem Bahnhofsviertel, in dem noch mehr arbeitslose

Alkoholiker wohnen. Die Alkoholiker wiederum haben gehört, dass

sie in den beiden neuen Kneipen nichts für ihr Bier bezahlen müssen

und strömen in Scharen an die Bar. Weitere Schulden entstehen, die

der Wirt wieder zu seinem Banker bringt, die dieser an risikofreudige

Unternehmer und an die größere Bank weiterverkauft. Dieses Spiel

läuft einige Jahre, der Wirt hat inzwischen seinen Hauptberuf gekün-

digt und weitere vier Kneipen in anderen Städten eröffnet. Da bemerkt

die Landesbank, dass hier ein Geschäft an ihnen vorbeigeht. Die Top-

manager der Landesbank rufen die größere, beteiligte Bank und den

Bankberater des Wirtes an einen runden Tisch zusammen und lassen

sich das System erklären. »Das ist groß!«, meinen auch sie: »Wir steigen

Page 59: De Fabulae

61

p e c u n i a n o n o l e tb i e r u n d p r o f i t

mit ein! Wir kaufen euch die todsichersten aller Fuselanleihen ab –

die von Alkoholikern mit Abitur, Doktortitel und ohne Leberzirrhose

– und verkaufen sie weiter!«. Die Landesbank merkt jedoch, dass sich

der Profit mit den Fuselanleihen noch steigern ließe. Sie unterhält sich

mit einer großen, amerikanischen Rating-Agentur und bezahlt dieser

eine großzügige Summe. Für das nächste Quartal wird kurz darauf

die Finanzanlage in Fuselanleihen mit der besten Wertung »Triple

A« bewertet. Weitere Kneipen nach dem Prinzip des Anschreibens

werden eröffnet, Aktienanalysten halten das Finanzpaket der Fuse-

lanleihe für da sicherste überhaupt. Staatsanleihen gelten fortan als

zweite Wahl und das Eröffnen einer Eckkneipe als der sicherste Weg

zur ersten Million. Der Wirt, der als der Erfinder des Systems gilt, ist

inzwischen reich und berühmt, sitzt in Aufsichtsräten und kümmert

sich längst nicht mehr um das Tagesgeschäft seiner Kneipen. Alle sind

glücklich. Bis zu dem Tag, an dem ein kleiner Sparkassendirektor die

Fuselanleihen eines Anlegers einlösen möchte und zu diesem Zweck

den Alkoholiker um die 100€ bittet. Und hier beginnt die Krise.12

Die Wirkung dieser Geschichte ist mit den vorhergehenden Beispie-

len vergleichbar. Auch sie beschreibt ein sehr griffiges und zugängli-

ches Szenario, das metaphorisch für ein weitaus komplexeres System

steht. Selbst Experten sind davon überzeugt, dass es keinen Menschen

gibt, der das System der modernen Finanzwelt vollständig durchschau-

en kann. Zu kompliziert sind mittlerweile die Zusammenhänge von

Geldströmen, Schulden und Zinsen. Dennoch macht die Geschichte,

insbesondere in Chin Meyers Erzählung, das Begreifen der grundsätz-

lichen Mechanismen des Marktes einfacher.

12 Meyer adressiert den Moderator der Sendung

direkt und schmückt seine Erzählung mit al-

lerlei publikumswirksamen Gags aus, die ich

hier nicht wörtlich wiedergeben möchte.

Page 60: De Fabulae

62

e x s t r u c t i od e r a u f b a u e i n e r n a r r a t i o n

Aber warum sind wir überhaupt in der Lage, eine Geschichte als das

zu erkennen, was sie wirklich ist? Nämlich ein Bild, eine Metapher,

ein Symbol für etwas ganz anderes. Das bedeutet nicht, dass jede Ge-

schichte metaphorisch zu verstehen sein muss, aber die Rezeption ei-

ner Erzählung verlangt die Fähigkeit, Bedeutungen, die sich implizit

auf nicht auf im Text Enthaltenes beziehen, zu dekodieren. Wenn dem

Rezipienten die Bedeutung einer Struktur oder eines Elements der Ge-

schichte beim Vorgang des Erzählens erklärt wird, kann er den Sinn

leicht erkennen. Geschieht dies nicht, verlässt sich der Erzähler ent-

weder auf das Wissen des Rezipienten um den Sinn der Struktur oder

nimmt in Kauf, dass der Sinn der Geschichte nicht erfasst wird (oder

die Geschichte sehr offen interpretiert wird – auch das kannn ein Ziel

von narrativer Kommunikation sein). Die Semiotik unterscheidet zu

diesem Thema zwei Begriffe:

Die interne Umkodierung. Eine Struktur der Geschichte be-

zieht sich auf eine weitere Struktur, die ebenfalls in der Geschichte

enthalten ist und erzählt wird. Der Rezipient kann so die beiden Ele-

mente kombinieren und einen neuen Sinn aus der Syntax der Elemente

konstruieren. Bei dieser Art der Umkodierung wird dem Rezipienten

wenig abverlangt, weil alle wichtigen Informationen in der Erzählung

enthalten sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser den Sinn erfasst,

ist folglich sehr hoch (Posner und Robering, 2003, S. 3009 - 3011).

Die externe Umkodierung. Hier werden einzelne Strukturen

der Geschichte auf Strukturen bezogen, die nicht in dieser Geschichte

enthalten sind. Der Erzähler geht also von einem kulturellen Vorwis-

sen des Rezipienten aus. Je nachdem, ob dieses Vorwissen vorhanden

ist, kann der Sinn dekodiert werden – was natürlich unwahrscheinli-

Page 61: De Fabulae

63

e x s t r u c t i od e r a u f b a u e i n e r n a r r a t i o n

cher ist als beim Prinzip der internen Umkodierung (Posner und Robe-

ring, 2003, S. 3011 - 3012).

Eine Erzählung baut sich immer vollständig aus diesen beiden

Prinzipien auf. Es gibt Strukturen, die der Geschichte immanent sind,

sich also auf andere Strukturen in der gleichen Geschichte beziehen.

Und es gibt Strukturen, die sich auf andere Strukturen beziehen, wel-

che nicht in der Geschichte enthalten sind, die also vom Rezipienten

selbst gedeutet werden müssen.13 Folglich sind Geschichten, die sehr

viele Strukturen nach dem Prinzip externer Umkodierung enthalten,

weniger eindeutig und offener interpretierbar. Wer jemals ohne spe-

zifisches, theologisches oder historisches Vorwissen die Offenbarung

des Johannes las, wird bestätigen, dass es unmöglich ist, einen eindeu-

tigen Sinn aus den kryptischen Symbolen und Metaphern der Visionen

zu konstruieren. Erst durch das Untersuchen von historischen Struk-

turen, des allgemeinen kulturellen Wissens zur Zeit der Niederschrift

und Auseinandersetzung mit den unzähligen anderen Übersetzungen,

Interpretationen und Auslegungen der Offenbarung kann ein Leser

für sich selbst einen Sinn konstruieren.

13 »Somit baut der literarische Text auf der Basis

zweier Typen von Relationen auf: Auf der Ko-op-

position sich wiederholender äquivalenter Ele-

mente und auf der Ko-opposition benachbarter

(nicht-äquivalenter) Elemente. Die ganze Vie-

falt im Bereich des konstruktiven Aufbaus von

Texten läßt sich auf diese beiden Prinzipien zu-

rückführen« (Lotman, 1993, S. 123). Wie bereits

erwähnt halte ich aber Lotmanns rein textbezo-

genen Analysen für omnimedial übertragbar.

Page 62: De Fabulae

64

Der Empfänger von narrativer Kommunikation ist also in der Lage,

nicht nur auf die Geschichte selbst zu achten, sondern auch zwischen

den Zeilen zu lesen. Er sehnt sich oft sogar danach, einen verborgenen

Sinn, eine Metapher oder ein Symbol zu entdecken, weil diese Meta-

ebene eine Geschichte noch spannender macht. So wird die Brücke

von einer Geschichte über einen Kneipenwirt zum internationalen Fi-

nanzsystem geschlagen oder ein Bild von Menschen vor einer Mauer,

auf der Schatten tanzen, als Spiegel verstanden. Doch was nützen die-

se Prinzipien? Angenommen, einem Rezipienten gelingt es, den Sinn

oder die Konstruktion einer Geschichte zu durchschauen, gleichzeitig

sieht er nach dem Prinzip der externen Umkodierung in der Geschich-

te aber ein Bild für ein komplexeres System, wie das in den obigen

Beispielen der Fall ist. Er hat also den Sinn oder die Konstruktion des

komplexeren Systems begriffen – ohne über die genauen Details oder

wissenschaftlichen Hintergründe belehrt worden zu sein. Die Narra-

tion hilft also, Komplexität verständlicher zu kommunizieren.

fa c u l t a t e s fa b u l a ez w i s c h e n b e t r a c h t u n g

Page 63: De Fabulae

65

q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u md i e e r k e n n t n i s

Komplexe Zusammenhänge werden durch Narrativität leichter begreifbar.

Page 64: De Fabulae

66

Page 65: De Fabulae

67

Page 66: De Fabulae

68

r e c e p t i ow i r k u n g u n d w i r k s a m k e i t

Narration ist also nicht nur omnimedial einsetzbar, sondern hilft auch

beim Erklären von komplizierten Sachverhalten. Doch das Erzählen

hat noch einen weiteren Vorteil: Es ist der Grund, warum sich Men-

schen überhaupt die Zeit nehmen, einer Geschichte zu folgen.

Beinahe völlig außer Acht gelassen wurde bisher die Rolle des Le-

sers, des Zuhörers, des Betrachters, des Empfängers (=Rezipient, vom

lat. recipere = aufnehmen, empfangen) von Narration. Er ist aber tat-

sächlich der wichtigste Teil der narrativen Kommunikation, denn der

Mehraufwand, der für eine narrative Formulierung nötig ist, rechtfer-

tigt sich nur durch eine bessere Erreichbarkeit des Empfängers.

Die Wissenschaft, die sich mit der Wahrnehmung des Empfän-

gers beschäftigt ist die Rezeptionsästhetik (altgr. aísthesis: Wahrneh-

mung) – ein ebenfalls erstaunlich junges Gebiet der Literaturwissen-

schaften, die sich im 19. Jahrhundert überwiegend mit den Absichten

und der Interpretation des Autors beschäftigten. Im 20. Jahrhundert

wurde das Bild gespiegelt. Der Leser und seine Auffassung und Inter-

pretation wurden als entscheidend anerkannt. Wie bereits erwähnt

macht das Prinzip der externen Umkodierung eine Narration seitens

des Empfängers interpretierbar, es handelt sich also nicht um eine

exakte Art der Kommunikation, wie die Deskription. Vielmehr muss

ein Autor, beziehungsweise ein Erzähler, bemüht sein, mehrere Inter-

pretationen zu erlauben – im Idealfall gelingt ihm eine Annäherung

der meisten Rezipienten an seine gewünschte Interpretation. Je nach-

dem wie komplex sich die Geschichte aufbaut, ist diese Annäherung

wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher. Zudem muss auf Grund

der Omnimedialität von Narration bedacht werden, dass nicht nur die

Geschichte selbst, sondern ebenfalls die Präsentation einer Erzählung

Page 67: De Fabulae

69

r e c e p t i ow i r k u n g u n d w i r k s a m k e i t

interpretiert wird. Vor allem die Werbung, die oft händeringend nach

neuen Arten der Präsentation sucht, seien es Projektionen auf Haus-

wänden oder Social-Media-Kampagnen, hat oft mit diesem Problem zu

kämpfen, weil die Reaktionen von Empfängern auf neue Präsentati-

onsformen unvorhersehbar ist. Die Minimalgeschichte »Der König ist

tot.« lässt sich auf unzählige Arten erzählen. Als Facebookpost oder

Tweet, als Linolschnitt wie in diesem Buch, als Text auf Papier, als

gesprochene Worte über eine Telefonverbindung oder in Form einer

MP3-Aufnahme. Die Geschichte hinter diesen Präsentationsformen

ist stets die gleiche, doch die Reaktionen sind fundamental anders. Ein

Rezipient, der den Facebookpost ließt, wird ihn mit dem Absender in

Verbindung setzen und höchstwahrscheinlich – bedingt durch die In-

formationsflut im Sozialen Netzwerk – wenig Aufmerksamkeit schen-

ken. Ganz anders bei der Face-to-Face-Kommunikation, der eine sehr

hohe Bedeutsamkeit beigemessen wird.

Für das Erzählen einer Geschichte ist folglich nicht nur der Auf-

bau der Geschichte wichtig, sondern auch die Auseinandersetzung mit

dem Rezipienten. Zugleich muss einem Erzähler bewusst sein, dass

die Botschaft, die letztendlich beim Empfänger ankommt, eine funda-

mental andere sein kann, als er ursprünglich beabsichtigte. Das ganze

System scheint äußerlich hochgradig willkürlich und unberechenbar.

Wie kommt es aber, dass die Narration dennoch ein so wirksames In-

strument ist, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erlangen?

Page 68: De Fabulae

70

d e p r o b a b i l i t a t ev o n d e r g l a u b w ü r d i g k e i t

Der Grund ist die größere Glaubwürdigkeit, die einer Narration im

Vergleich mit einer deskriptiv oder minimalistisch kodierten Informa-

tion zugestanden wird. Es gibt verschiedene Ansätze, die versuchen,

eine Erklärung für das Vertrauen, das ein Rezipient einem Erzähler

entgegenbringt, zu liefern. Doch als Vorüberlegung ist zunächst das

grundsätzliche Kommunikationsschema nach dem Modell von Shan-

non-Weaver zu betrachten.

Claude Elwood Shannon, ein US-amerikanischer Mathematiker

und Elektroingenieur galt als brillianter Wissenschaftler und Erfin-

der mit Sinn für Humor. Er formulierte 1948 in seinem Artikel »A

Mathematical Theory of Communication« die Mutter aller Kommu-

nikationsmodelle. Allerdings beschrieb er das Konstrukt mit Hilfe

von mathematischen Formeln und statistischen Berechnungen, was

seiner eigenen Vorstellung von störungsfreier Kommunikation alles

andere als zuträglich war. Dennoch wurde das Modell in Fachkreisen

anerkannt und als allgemeingültig akzeptiert, was dazu führte, dass

Shannon sein Modell von Warren Weaver, ebenfalls ein Mathematiker,

etwas populärer formulieren ließ und es in ihrem gemeinsamen Buch

»The Theory of Communication« veröffentlichte. Das nun auch für die

Allgemeinheit verständliche Modell galt als Vorlage für viele weitere,

komplexere und unter Umständen genauere Modelle, wurde aber in

seinen Grundzügen nie angezweifelt.

Page 69: De Fabulae

71

d e p r o b a b i l i t a t es h a n n o n - w e av e r

Ein in sich geschlossenes und allgemeines System der Kommunikation

nach Shannon-Weaver enthält folgende Elemente:

Eine Informationsquelle, die eine Nachricht produziert.

Ein Sender, der die Nachricht in ein übertragbares Signal übersetzt.

Der Kommunikationskanal welcher das Signal transportiert.

Ein Empfänger, der das Singal in eine Nachricht übersetzt.

Ein Ziel, zu welchem die Nachricht letztendlich überstellt wird.

(Shannon-Weaver, 1963, S. 33 ff.)

Zusätzlich gibt es eine Störquelle, die Shannon als »Noise« be-

zeichnet, und die auf den Kommunikationskanal einwirkt. Das kann

zu einer Verzerrung und schlimmstenfalls Zerstörung des Signals füh-

ren, wodurch eine Dekodierung durch den Empfänger schwierig bis

unmöglich wird. Informationsquelle und Sender können, ebenso wie

Empfänger und Ziel, unter bestimmten Vorraussetzungen eine einzige

Person sein (Face-to-face Kommunikation). Überträgt man das Modell

auf die Narration, ergibt sich folgendes Bild:

Die Informationsquelle ist der Erzähler.

Der Sender kodiert die Information in ein Signal narrativer Form.

Der Kommunikationskanal trägt die Narration

Der Empfänger dekodiert die Narration zurück zur Information.

Das Ziel ist letztendlich der Rezipient der Erzählung.

Dieses Modell wurde über die Jahre hinweg immer wieder er-

gänzt und erweitert. Besonders bekannt ist Schulz von Thuns Vier-

Page 70: De Fabulae

72

Seiten-Modell, dass die Interpretierbarkeit von Informationen erklärt,

indem es dem ursprünglichen Sender-Empfänger-Modell eine weitere

Ebene hinzufügt, die aus Beziehungsseite, Apellseite, Selbstkundgabe

und Sachebene besteht. Auf diese Weise entschlüsselt der Empfän-

ger der Nachricht das Signal auf verschiedene Art, je nachdem ob er

sie als Apell, rein sachbezogene Information, als Selbstkundgabe des

Senders oder auf Beziehungsebene interpretiert. Ein aus rezeptions-

ästhetischer Sicht sehr intelligentes Modell, dass sich aber nur schwer

auf Massenmedien und Kommunikation zwischen großen Gruppen

übetragen lässt. Kommunikation, auch die narrative, basiert also auf

der Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger einer Nachricht

und kann unter Umständen gestört werden. Der Empfänger tendiert

dazu, Signalen aus unbekannten oder unverässlichen Quellen keinen

Glauben und wenig Beachtung zu schenken, weil das menschliche

Gehirn von Geburt an darauf trainiert wird, wichtige von unwich-

tigen Informationen zu unterscheiden. Zu den unwichtigen gehören

natürlich auch solche, die aus unverlässlichen Quellen stammen. Die

Qualität einer Nachricht wird nach der Qualität ihres Senders bemes-

sen. Laute und bunte Werbung wird meist auch als das erkannt, was

es ist, nämlich eine Selbstkundgabe des Senders und nicht eine neu-

tral sachbezogene Information. Ganz anders bei der Narration. Hier

scheint der Empfänger, hat er dem Signal erst seine Aufmerksamkeit

geschenkt, dem Sender alles zu glauben. Geschichten über Zwerge und

Geister werden protestfrei akzeptiert und sogar positiv aufgenommen

– während eine falsche Preisangabe in einer Werbeanzeige schon für

Empörung und Beschwerden sorgt. Woher kommt dieses scheinbar un-

erschöpfliche Vertrauen in einen Erzähler?

d e p r o b a b i l i t a t es h a n n o n - w e av e r

Page 71: De Fabulae

73

d e f i d ed i e a u s s e t z u n g d e r u n g l ä u b i g k e i t

Samuel Taylor Coleridge, ein englischer Romantiker, veröffentlichte

bereits 1817 ein Buch, in dem er unter anderem dieser Frage nachging.

In seiner Biographia Literaria schreibt er:

»[…] it was agreed, that my endeavours should be directed to

persons and characters supernatural, or at least romantic, yet so as to

transfer from our inward nature a human interest and a semblance of

truth sufficient to procure for these shadows of imagination that wil-

ling suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic

faith.«14 (Coleridge, 2006, Kapitel XIV)

Coleridge setzt sich also mit dem Wissen des Rezipienten um die

Fiktivität eines Werkes auseinander und stellt sich die Frage: Wie kann

es sein, dass ein Publikum einer offensichtlichen Unwahrheit soviel

Vertrauen und Aufmerksamkeit schenkt? Die Antwort darauf, die er

sich selbst gibt lautet: Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit. Das

Kommunikationssystem der Narrativität bietet also noch mehr, als das

Grundmodell Shannons, nämlich einen unausgesprochenen Vertrag

zwischen Sender und Empfänger.

Der Sender der Narration willigt ein, den Empfänger gut zu unter-

halten und verlangt dafür die Aufmerksamkeit und das Vertrauen des

Empfängers. Der Empfänger der Narration willigt ein, der Geschichte

für die Dauer der Erzählung glauben zu schenken und möchte dafür

unterhalten werden.

14 »[…] es bestand Einigung darüber, dass mei-

ne Bemühungen auf Personen und Charaktere

übernatürlicher oder wenigstens romantischer

Art gerichtet sein sollten, so dass ein inneres,

menschliches Interesse und der Anschein ei-

ner Wahrheit geweckt wird, der ausreicht um

diese Schatten der Einbildungskraft die wil-

lentliche Aussetzung der Ungläubigkeit bei-

zubringen, die poetische Wahrheit erzeugt.«

(Frei nach Coleridge, 2006, Kapitel XIV)

Page 72: De Fabulae

74

Tolkien, der Erschaffer von Mittelerde und all ihren Bewohnern,

schrieb neben Der Herr der Ringe (The Lord of the Rings) und Der

Hobbit (The Hobbit) auch ein Essay, das für sich beansprucht, die erste

Arbeit zu sein, die sich wissenschaftlich mit phantastischer Literatur

beschäftigt. On Fairy-Stories wurde 1947 veröffentlicht und gibt eine

weitere Perspektive zur Frage nach dem Vertrauen des Rezipienten.

Tolkien schreibt:

»That state of mind has been called “willing suspension of disbe-

lief.” But this does not seem to me a good description of what happens.

What really happens is that the story-maker proves a successful “sub-

creator”« 15 (Tolkien, 1964)

Der Begriff »sub-creator« ist nicht leicht zu übersetzen. Ein etwas

esoterisch angehauchter, aber treffender Begriff ist »Zweitschöpfer«.

Was Tolkien damit meint ist, dass ein Autor eine zweite Welt erschafft,

welche ein Leser gedanklich betreten kann. Im Deutschen kursiert für

dieses Handwerk der meines erachtens etwas oberflächliche Begriff

»Weltenbasteln«. Tolkien argumentiert wie folgt: In einer erdachten

Welt, müssen Ereignisse mit den vorher definierten Gesetzmäßigkeiten

übereinstimmen. Ein Rezipient glaubt deshalb an die Wahrheit der be-

schriebenen Ereignisse, weil er sich selbst gedanklich in der beschrie-

benen Welt befindet. Dies gilt aber nur, solange die Handlung auch

konsistent und schlüssig ist. Sobald ein Ereignis aus dem beschriebe-

nen Zusammenhang heraus unlogisch ist oder die Gesetzmäßigkeiten

verletzt, entsteht Ungläubigkeit. Sobald jedoch Ungläubigkeit entsteht,

ist der Zauber gebrochen und der Rezipient zieht sich aus der Welt zu-

15 »Dieser Gemütszustand wurde als “frei-

willige Aussetzung der Ungläubigkeit” be-

zeichnet. Aber das scheint mir keine gute

Beschreibung dessen zu sein, was geschieht.

Was wirklich passiert ist, dass sich der Autor

als erfolgreicher “Zweitschöpfer” herausstellt.«

d e f i d ed i e z w e i t s c h ö p f u n g

Page 73: De Fabulae

75

rück, weil es ihm von nun an nicht mehr gelingt, an die beschriebenen

Ereignisse zu glauben.

Tolkien dreht den Spieß also herum, unterstellt die Aussetzung

der Ungläubigkeit nicht mehr einer Fähigkeit des Rezipienten, son-

dern dem Können des Autors. Ein Beweis für diese Theorie ist der

Erfolg seiner Bücher. Die Welt Mittelerde gilt bist heute als eine der

durchdachtesten und ausgearbeitetsten Fantasiewelten, die jemals

erschaffen wurden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Differenz

zwischen Geschichte und Erzählung so groß ist. Tolkien entwickel-

te eine vollständig funktionierende, eigene Sprache für die Elben in

seiner Geschichte, gab den einzelnen Völkern eigene Charakteristika,

eigene Historien, Märchen und Liedgut. Er schuf nicht nur eine Land-

karte seiner erdachten Welt, sondern füllte sie auch mit einer riesigen

Anzahl von Ereignisträchtigen Orten. In der fertigen Erzählung in

Buchform wird auf diese Geschichten oft nur am Rande oder über-

haupt nicht eingegangen. Dennoch fühlt sich der Leser beim »Herr der

Ringe« als würde er nur einen kurzen Ausschnitt einer eigentlich viel

gewaltigeren Welt gezeigt bekommen.

d e f i d ed i e z w e i t s c h ö p f u n g

Page 74: De Fabulae

76

d e f i d ez w i s c h e n b e t r a c h t u n g

Auch wenn Tolkien in seinem Essay Coleridge entschieden wider-

spricht, schließen sich die beiden Theorien nicht gegenseitig aus. Ein

Empfänger, dem eine Information in narrativer Form übermittelt wird

kann sehr wohl daran interessiert sein, von der Narration unterhal-

ten zu werden. Zugleich ist es natürlich Aufgabe eines kompetenten

Erschaffers von Narration, seine Geschichte konsistent und in sich

so schlüssig aufzubauen, dass er dem Rezipienten keinen Anlass gibt,

sich aus der erzählten Welt zurückzuziehen. Funktionieren beide Sei-

ten, entsteht eine Art der Kommunikation, die in ihrer Effizienz und

Intensivität von keiner anderen Art übertroffen werden kann. Ein

Empfänger, der völlig in eine erzählte Welt eintaucht ist offen für alles,

was in der vom Autor geschaffenen Welt geschieht und verschließt sich

gleichzeitig vor ablenkenden Einflüssen von außen, wird also unempf-

lindlich gegenüber kommunikativen Störfaktoren. Der Autor ist in der

Lage, Informationen oder Emotionen auf direktem, ungefiltertem Weg

an den Rezipienten zu tragen, weil dieser im Moment der Narration

alles zu glauben bereit ist.

Page 75: De Fabulae

77

q u o d e r a t d e m o n s t r a n d u md i e e r k e n n t n i s

Die Aufnahmebereitschaft des Empfängers wird durch Narrativität verstärkt.

Page 76: De Fabulae

78

s u m m as c h l u s s b e t r a c h t u n g

»Why should a man be scorned if, finding himself in prison, he tries to

get out and go home? Or if, when he cannot do so, he thinks and talks

about other topics than jailers and prisonwalls?« 16 (Tolkien, 1938)

Dieses Tolkien-Zitat entsprang einer Debat, die im frühen 20.

Jahrhundert begann, in den 70er Jahren neu entfacht wurde und unser

Verständnis von Literatur, Narrativität und schließlich unsere gesamte

Kommunikation entscheidend prägte. Die phantastische Literatur, die

Tolkien zwar nicht begründete, aber immerhin salonfähig machte, hat-

te von Beginn an mit dem Vorwurf zu kämpfen, sie würde zeitgenössi-

sche Themen bewusst ignorieren und Rezipienten eskapistische Mög-

lichkeiten bieten, die eine Gesellschaft auf Dauer nicht aushalte. Neu

entbrannt durch das einseitige Weltbild der 68er wurde dieser Disput

zwischen Autoren, Lesern, Literaturkritikern und Politikern zur Eska-

pismus-Debatte. Literatur – vor allem die an junge Menschen gewandte

– hatte brennende soziale oder politische Fragen zu behandeln. Alles an-

dere wurde als Fluchtliteratur und somit als wertlich abgestempelt. In

Anbetracht wachsender globaler Bedrohungen durch Raketenarsenale

und Nuklearwaffen durfte jungen Menschen nicht die Möglichkeit geg-

ben werden, in eine phantastische Welt einzutauchen und die Probleme

der realen Welt zu ignorieren

Ich glaube mit den rechtsstehenden Sentenzen, die ich für Narrativität

in der Kommunikation formuliert habe, gute Gründe für diese Darstel-

lungsform gefunden zu haben. Einen Rezipienten durch das Erzählen

in eine andere Welt zu entführen, ist und war seit jeher ein legitimes

Mittel der Kommunikation. Eine gut erzähle Geschichte ist es immer

Wert, gehört zu werden.

16 »Warum sollte man jemanden verachten, der ver-

sucht einem Gefängnis zu entfliehen um nach

Hause zu gelangen? Oder, wenn er dazu nicht

in der Lage ist, über andere Dinge denkt und

spricht als Wächter und Gefängniswände?«

Page 77: De Fabulae

79

Narration ist omnimedial.

Komplexe Zusammenhänge werden durch Narrativität leichter begreifbar.

Die Aufnahmebereitschaft des Empfängers wird durch Narrativität verstärkt.

s u m m as c h l u s s b e t r a c h t u n g

Page 78: De Fabulae

80

Coleridge, Samuel Taylor. Biographia literaria.

Boston, Mass.: IndyPublish.com, 2006.

Eco, Umberto. Lector in fabula:

Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten.

München: Hanser, 1987.

Ende, Michael. Die unendliche Geschichte.

Stuttgart: Thienemann, 2004.

Forster, E. M. Aspects of the Novel.

San Diego: Harcourt Brace Jovanovich, 1985.

Genette, Gérard. Die Erzählung.

München: Fink, 1998.

Hoffmann, Heinrich. Der Struwwelpeter: Lustige Geschichten und

drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren.

Bindlach: Loewe, 1994.

Lotman, Jurij M. Die Struktur Literarischer Texte. 4., unveränd. A.

Stuttgart: UTB, 1993.

Moers, Walter.

Das Labyrinth der träumenden Bücher: Ein Roman aus Zamonien.

München: Knaus, 2011.

Mooij, J. J. A. Fictional realities the uses of literary imagination.

Amsterdam; J. Benjamins, 1993.

f o n t e sq u e l l e n v e r z e i c h n i s

Page 79: De Fabulae

81

Paulos, John. Stories Vs. Statistics. Opinionator. Aufgerufen am 1.12.2012.

http://opinionator.blogs.nytimes.com/2010/10/24/stories-vs-statistics/.

Platon. Der Staat (Politeia). Stuttgart: Reclam, 1988.

Posner, Roland; Robering, Klaus. Semiotik / Semiotics. 3. Teilband.

Berlin: Walter de Gruyter, 2003.

Prince, Gerald. Grammar of Stories: An Introduction.

Berlin: Walter de Gruyter, 1974.

Schmid, Wolf. Elemente der Narratologie.

Berlin; Walter De Gruyter, 2008.

Shannon, Claude E.; Weaver, Warren.

Mathematical Theory of Communication.

University of Illinois Press, 1949.

Striedter, Jurij. Russischer Formalismus:

Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa.

München: Fink, 1994.

Tolkien, J. R. R. Tree and leaf.

London: HarperCollinsPublishers, 2001.

Toriyama, Akira. Das Geheimnis der Drachenkugeln.

Hamburg: Carlsen, 2002.

Zipfel, Frank. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion

in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft.

Erich Schmidt Verlag, 2001.

f o n t e sq u e l l e n v e r z e i c h n i s

Page 80: De Fabulae

de fabulae – über geschichten

Geschrieben und illustriert mit 16 Linolschnitten

von Tom Kirchgäßner

Januar 2013

Erlenbach am Main