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1 Das School Shooting von Emsdetten der letzte Ausweg aus dem Tunnel!? - eine Betrachtung aus Sicht des Leiters der kriminalpolizeilichen Ermittlungen - Vorbemerkung Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf eine kriminalistisch- kriminologische Betrachtung und Beschreibung der Ereignisse des 20.11.2006 aus Sicht des damaligen Ermittlungsleiters. 1 Neben den vielfältigen allgemein zugänglichen Literaturquellen (vgl. auch Literaturverzeichnis), ist zu einem gewissen Teil auch das konkrete polizeiliche Erfahrungswissen aus den Ermittlungen mit in diese Ausführungen eingebracht. In den ersten Reaktionen der Medien und auch der darin zitierten Fachleute, wie zum Beispiel Kriminologen, Psychologen und Ärzten, wurde häufig die Frage nach der Vorhersehbarkeit und damit auch der Vermeidbarkeit dieses konkreten Amoklaufes diskutiert. Es wurden dabei teilweise die Thesen vertreten, dass der Amoklauf des Sebastian B. kein Zufall war, bzw. dass Emsdetten vorhersehbar war (Hoffmann 2006). Der Diplom-Psychologe und Leiter des Instituts für Psychologie und Sicherheit Hoffmann stellt im Januar 2007 fest: “Die schrecklichen Taten stellen den Endpunkt eines Weges zur Gewalt dar, der immer von Warnsignalen begleitet wird“ (Hoffmann, 2007). Im weiteren Verlauf dieses Artikels der Berliner Morgenpost weist Hoffmann darauf hin, dass auch beim Amoklauf in Emsdetten eine Reihe von Warnzeichen gegeben habe (2007). 2 Relevanz hat somit die Frage, welche Ursachen, Bedingungen und Faktoren das konkrete Verhalten eines potenziellen Amoktäters beeinflussen oder gar direkt auslösen. Sind aus einer Fallanalyse konkret wirkende Faktoren für sich alleine oder kumulativ bestimmbar und ggf. auch messbar, so könnten diese Alarmindikatoren als Hilfe zur Prävention von Amoktaten bzw. Amoktätern nützlich sein. Daher ist es nachfolgend auch ein Anliegen, die ermittelten verhaltenskritischen Einflussfaktoren der Amoktat von Emsdetten darzustellen und somit einer wissenschaftlichen Bewertung zugänglich zu machen. Eine Auseinandersetzung und Diskussion mit den Definitionen zu Amok (Adler, 2000 und Weilbach, 2006) und School Shooting (Robertz, 2004) führen in diesem konkreten Fall zu einer Bevorzugung der Umschreibungen des Kriminologen und Sozialpädagogen Robertz. Er definiert School Shoot ings als „ Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten oder zielgerichteten Bezug zur jeweiligen Schule begangen wer den.“ (Robertz, 2004, S. 20). 1 Der damalige Einsatz „Amoklauf an einer Schule in Emsdetten“ wurde zunächst in der planmäßigen Struktur einer besonderen Aufbauorganisation bewältigt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Sicherung und Durchführung von Ermittlungen zunächst nur einige von mehreren parallelen Einsatzaufträgen zur Bewältigung der polizeilichen Einsatzlage darstellten. Nach zwei Tagen wurde am 22.11.2006 diese besondere Aufbauorganisation in eine Ermittlungskommission strukturiert. 2 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das bewusste oder unbewusste Senden von Signalen oder Zeichen durch einen potenziellen Amoktäter auch „Leaking“ genannt wird und somit eine Teilmenge der mutmaßlichen bzw. tatsächlichen Warnsignale für einen Amoklauf darstellt.

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Das School Shooting von Emsdetten – der letzte Ausweg aus dem Tunnel!? - eine Betrachtung aus Sicht des Leiters der kriminalpolizeilichen Ermittlungen - Vorbemerkung Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf eine kriminalistisch-kriminologische Betrachtung und Beschreibung der Ereignisse des 20.11.2006 aus Sicht des damaligen Ermittlungsleiters.1 Neben den vielfältigen allgemein zugänglichen Literaturquellen (vgl. auch Literaturverzeichnis), ist zu einem gewissen Teil auch das konkrete polizeiliche Erfahrungswissen aus den Ermittlungen mit in diese Ausführungen eingebracht. In den ersten Reaktionen der Medien und auch der darin zitierten Fachleute, wie zum Beispiel Kriminologen, Psychologen und Ärzten, wurde häufig die Frage nach der Vorhersehbarkeit und damit auch der Vermeidbarkeit dieses konkreten Amoklaufes diskutiert. Es wurden dabei teilweise die Thesen vertreten, dass der Amoklauf des Sebastian B. kein Zufall war, bzw. dass Emsdetten vorhersehbar war (Hoffmann 2006). Der Diplom-Psychologe und Leiter des Instituts für Psychologie und Sicherheit Hoffmann stellt im Januar 2007 fest: “Die schrecklichen Taten stellen den Endpunkt eines Weges zur Gewalt dar, der immer von Warnsignalen begleitet wird“ (Hoffmann, 2007). Im weiteren Verlauf dieses Artikels der Berliner Morgenpost weist Hoffmann darauf hin, dass auch beim Amoklauf in Emsdetten eine Reihe von Warnzeichen gegeben habe (2007).2 Relevanz hat somit die Frage, welche Ursachen, Bedingungen und Faktoren das konkrete Verhalten eines potenziellen Amoktäters beeinflussen oder gar direkt auslösen. Sind aus einer Fallanalyse konkret wirkende Faktoren für sich alleine oder kumulativ bestimmbar und ggf. auch messbar, so könnten diese Alarmindikatoren als Hilfe zur Prävention von Amoktaten bzw. Amoktätern nützlich sein. Daher ist es nachfolgend auch ein Anliegen, die ermittelten verhaltenskritischen Einflussfaktoren der Amoktat von Emsdetten darzustellen und somit einer wissenschaftlichen Bewertung zugänglich zu machen. Eine Auseinandersetzung und Diskussion mit den Definitionen zu Amok (Adler, 2000 und Weilbach, 2006) und School Shooting (Robertz, 2004) führen in diesem konkreten Fall zu einer Bevorzugung der Umschreibungen des Kriminologen und Sozialpädagogen Robertz. Er definiert School Shootings als „ Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten oder zielgerichteten Bezug zur jeweiligen Schule begangen werden.“ (Robertz, 2004, S. 20).

1 Der damalige Einsatz „Amoklauf an einer Schule in Emsdetten“ wurde zunächst in der planmäßigen Struktur

einer besonderen Aufbauorganisation bewältigt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Sicherung und

Durchführung von Ermittlungen zunächst nur einige von mehreren parallelen Einsatzaufträgen zur Bewältigung

der polizeilichen Einsatzlage darstellten. Nach zwei Tagen wurde am 22.11.2006 diese besondere

Aufbauorganisation in eine Ermittlungskommission strukturiert. 2 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das bewusste oder unbewusste Senden

von Signalen oder Zeichen durch einen potenziellen Amoktäter auch „Leaking“ genannt wird und somit eine

Teilmenge der mutmaßlichen bzw. tatsächlichen Warnsignale für einen Amoklauf darstellt.

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Da sich diese kriminologische Unterscheidung im Bereich der polizeilichen Kommunikation bisher nicht hinreichend durchsetzte, werden nachfolgend beide Begriffe, Amok und School Shooting, synonym verwandt. Die Aktualität der Auseinandersetzung mit der Thematik School Shooting zeigt auch der aktuelle Bezug zum Amoklauf von Blacksburg (Virginia/USA) vom 16.04.2007, mit insgesamt 32 tödlich verletzten Opfern und dem Suizid des südkoreanischen Täters. 1. Tathergang in Emsdetten am 20.11.20063 Am Montag, dem 20.11.2006, gegen 09.30 Uhr, wurde die Polizei durch mehrere Notrufe aus der Schule über einen Amoklauf in der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten informiert. Erste Einsatzkräfte der Polizei waren um 09.34 vor Ort. Spezialkräfte kamen gegen 10:00 Uhr hinzu. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen traf gegen 09:20 Uhr der ehemalige Schüler B. (18 J.) mit dem Fahrzeug seiner Großmutter an der Geschwister Scholl-Realschule ein. Das Fahrzeug hatte er geführt, ohne im Besitz eines Führerscheins zu sein. Die Eintreffzeit des B. überschnitt sich nahezu mit der beginnenden Pausenzeit der großen Pause. Zur Tatzeit hielten sich auf dem Schulhof wegen der großen Pause zahlreiche SchülerInnen und einige LehrerInnen auf. Nachdem B. das Fahrzeug in unmittelbarer Nähe der Schule abgestellt hatte, wurde er dabei beobachtet, wie er mehrere rohrähnliche Gegenstände an seinem Körper befestigte oder unter seiner Kleidung, einem langen dunklen Trenchcoat, verbarg. Anschließend begab er sich auf das Schulgelände, hier zunächst auf den so genannten oberen Schulhof „Empore“. Auf dem Weg zu diesem Schulhofbereich zündete er bereits einen Explosionskörper, eine selbst gebaute Rohrbombe und einen Rauchtopf. Eine der Lehrerinnen folgte ihm, da sie die Ursache der lauten Geräusche feststellen wollte. B. warf daraufhin einen Rauchtopf nach ihr, wodurch die Geschädigte im Gesicht verletzt wurde. Es wurde ermittelt, dass B. anschließend mit einer Schusswaffe in Richtung der Lehrerin schoss, sie aber nicht traf. Anschließend ging B. über den unteren Schulhof in Richtung Haupteingang des Schulgebäudes. Auch auf diesem Weg gab er mehrere Schüsse auf SchülerInnen, die sich auf dem Schulhof befanden, ab. Auf dem Weg zum Haupteingang des Schulgebäudes versuchte der jüngere Bruder des B., diesen aufzuhalten und sprach ihn an, wurde aber unter dem Hinweis, er solle nach Hause gehen, abgewiesen. Unmittelbar darauf gab B. bei Betreten des Gebäudes durch den Haupteingang einen Schuss auf den Hausmeister ab, der dadurch im Bauchbereich schwer verletzt wurde. Aus den Ermittlungen ergaben sich Erkenntnisse, dass B. im Eingangsbereich quasi im Vorbeigehen aus der Hüfte auf den 4 – 5 m entfernt stehenden Hausmeister schoss.

3 Eine ausführliche Darstellung der Tatabläufe und der polizeilichen Intervention sind auch in einer Rede des

Innenministers aus NRW, Dr. Ingo Wolf, vor dem Innenausschuss des Landtages und dem dazu analogen

Sitzungsprotokoll des Innenausschusses vom 14.12.2006 nachzulesen.

WWW: http://www.im.nrw.de/pm/141206_1018.html und

WWW: http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMA14-329.pdf

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B. betrat durch den Haupteingang das Schulgebäude und kam hier in die Aula. Anschließend schwenkte er in der Aula mit einer Schusswaffe hin und her und schoss dabei zunächst gezielt auf mehrere Schüler. Danach erreichte der B. das Treppenhaus zum 2. OG. In diesem Moment begegnete er einer Schülergruppe, die aus dem 2. OG herunterkam. Auch auf diese Schülergruppe wurde geschossen. Es kam zu schweren Verletzungen zweier Schülerinnen. Die aus dem 2. OG flüchtende Schülergruppe konnte über Treppenhäuser die unmittelbare Gefahrenzone verlassen, so dass der Beschuldigte im oberen Flur des Gebäudes keine weiteren Personen antraf. Hier hat er einen Molotowcoctail gezündet, so dass es zu erheblicher Rauchentwicklung im oberen Teil des Gebäudes kam. In diesem Flur beging der 18jährige dann auch mit einer der mitgeführten Waffen Suizid. Durch verschiedene Zeugen wurden zuvor noch weitere Explosionen innerhalb des Schulgebäudes wahrgenommen. Es kam durch den Einsatz der Rauchtöpfe zu einer starken Rauchentwicklung, durch die mehrere Personen verletzt wurden. Um 10.36 Uhr wurde der B. durch Spezialkräfte der Polizei leblos im Flur des 2.OG aufgefunden. An beziehungsweise in der Kleidung des Körpers befanden sich noch diverse Spreng- und Brandvorrichtungen. In der unmittelbaren Nähe des B. wurden zwei Perkussions-4 und eine Kleinkaliberwaffe5 aufgefunden. Weitere Spreng- und Brandvorrichtungen wurden noch an mehren Stellen im Gebäude aufgefunden. In dem vom B. 50 Meter vor der Schule abgestellten Pkw und in seinem Zimmer der elterlichen Wohnung wurden weitere Waffen und Materialien zur Herstellung von Spreng- und Brandvorrichtungen aufgefunden. Nach den polizeilichen Erkenntnissen wurden durch den Amoklauf 21 Personen aus dem Schulumfeld und 16 Polizeibeamte verletzt. Insgesamt sind davon fünf Personen unmittelbar durch Schüsse, teilweise lebensgefährlich, verletzt worden. Die anderen Verletzungen beziehen sich überwiegend auf Schock- und Rauchverletzungen.

2. Polizeiliche Interventionen und dessen Wirkung

Die zuerst eintreffenden Polizeikräfte entwickelten sich unmittelbar in Richtung Täter, der sich im Rahmen seiner Tatausführungen schnell in das zweite Obergeschoss der Schule zurückzog. Zeitgleich erfolgten eingeleitete Räumungsmaßnahmen. Hierdurch gelang es, das Schulgebäude sehr schnell fast vollständig zu evakuieren. Einer Gruppe von Sonderschülern einer benachbarten Schule, die sich, wie noch weitere 12 Schüler, im Haupt- und Nebengebäude des Tatobjektes aufhielten, konnte per Handy Kontakt zur Polizei herstellen. Diese Schüler wurden telefonisch betreut. Im weiteren Tatverlauf setzte der Täter im Gebäude Rauchtöpfe ein, die zu einer starken Verrauchung des Gebäudes führten und das Annähern von Polizeikräften an den Täter erheblich erschwerten.

4 Perkussionswaffen sind so genannte Vorderladerwaffen, die mit Treibladung und Geschoss von außen gestopft

werden müssen. Sie sind in Deutschland ab Volljährigkeit erlaubnisfrei zu erwerben. Für das Führen und Nutzen

dieser Waffen ist jedoch ein Waffenschein erforderlich. 5 Bei der aufgefundenen Kleinkaliberwaffe handelt es sich um eine vom B. an Lauf und Handgriff gekürztes

älteres Kleinkalibergewehr, welchem die Patronen jeweils einzeln zuzuführen sind. Der Erwerb, der Besitz und

das Führen sind Waffenschein erlaubnispflichtig.

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Die gegen 10:00 Uhr an der Schule eingetroffenen Kräfte der Spezialeinheiten durchsuchten das Gebäude vollständig und stießen im 2. Obergeschoss des Schulgebäudes auf einen regungslos am Boden liegenden, offensichtlich leblosen männlichen Körper. Auf Grund der Rauchentwicklung und wegen der ungesicherten Auffindesituation für die Einsatzkräfte wurde anschließend auf das Eintreffen von Entschärfern abgewartet. Das Nordrhein-Westfälische Einsatzkonzept, bei einer Amoklage sofort das weitere Handeln des Täters zu unterbinden beziehungsweise einzuschränken, scheint in Emsdetten zum Erfolg geführt zu haben und wurde in den Medien und der Bevölkerung mit entsprechend gewürdigt. Da ein Teil der nach wenigen Minuten eingetroffen Polizeibeamten akustisch wahrnehmbar zum Tatort fuhren und auch ein Diensthund mit in das Schulgebäude genommen wurde, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass B. das sehr schnelle Eintreffen der Polizeikräfte mitbekommen hat und auch davon überrascht war. Die hohe Zahl der mitgeführten Waffen, Spreng- und Brandvorrichtungen sowie die ermittelten Tatplanungen lassen darauf schließen, dass B. in der Umsetzung seiner Handlungsabsichten frühzeitig unterbrochen wurde und sich schneller als geplant in das 2. OG der Schule zurück ziehen musste. Da die Tatplanung auch einen eigenhändigen Suizid6 vorsah, konnte durch das polizeiliche Vorgehen wahrscheinlich der geplante Tatablauf umgelenkt bzw. verkürzt werden und dadurch eine noch größere Anzahl an Verletzten bzw. Toten verhindert werden. Im Rahmen der polizeilichen Einsatzbewältigung wurde eine hohe Anzahl von Personen (Schüler, Lehrer, Angehörige) in einem von der Feuerwehr eingerichteten Notzelt direkt vor Ort auf dem Gelände einer benachbarten Schule und in den beiden Krankenhäusern betreut. Im weiteren Verlauf wurden durch die Polizei, unter anderem am Tatort, an den Krankenhäusern und am elterlichen Wohnort des Täters, umfangreiche Maßnahmen durchgeführt, um Opfer, Angehörige sowie Polizeibeamte zu betreuen und vor Medienvertretern abzuschirmen. Insgesamt wurden über 60 Personen, teilweise über mehrere Tage, intensiv betreut. In den Stunden und Tagen nach der Tat wurden fast 200 Personen aus dem näheren und weiteren Umfeld von B., überwiegend als Zeugen, vernommen. Es konnten bezüglich der konkreten Tatausführung des School Shootings an der Geschwister-Scholl-Realschule keine Mittäterschaften bzw. Teilnahmen an der Tat oder der konkreten Tatplanung nachgewiesen werden. 3. Verhaltenskritische Einflussfelder im Vorfeld der Tat Aus den konkreten Ermittlungen war erkennbar, dass B. sich spätestens seit Mitte 2004 intensiver mit der Thematik der Planung und Durchführung eines Amoklaufs beschäftigt hat. Dies konnte vor allem aus der Auswertung der umfangreichen Computer-Daten, der Tagebuchaufzeichnungen und einer Analyse des Internetverhaltens geschlossen werden. Erste Foreneinträge, ein erster Entwurf eines Abschiedbriefes und die erste Produktion eines Videofilmes stammen bereits aus dieser Zeit. In sofern ist es von Bedeutung, welche Faktoren vor Mitte 2004 zu dieser gesteigerten Gewaltphantasie eines Amoklaufs, im weiteren Verlauf zu einer konkreten Handlungsplanung und schließlich zur Umsetzung geführt haben.

6 Im Gegensatz dazu planen einige Amokläufer auch einen so genannten „suicide by cop“, also das gewollte

Erschießen durch die Polizei am Ende eines Amoklaufes.

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Welchen Faktoren oder Einflussfeldern kann beeinflussende oder sogar ursächliche Bedeutung zugeschrieben werden und können diese Bewertungs- und Entscheidungsgrundlage für zukünftige Präventionsstrategien und -konzepte sein? Gab es zu einer Vielzahl dieser Einflussfelder noch ein konkret Tat auslösendes Ereignis? Inwieweit Instanzen der informellen Sozialkontrolle für den B. ein sozial halt gebendes Umfeld darstellten oder dem entgegen wirkten, kann für den Bereich der Familie, des Freundes- bzw. Freizeitumfeldes und der Arbeitskollegen anhand der vorliegenden Ermittlungsunterlagen nur gemutmaßt werden, da hierzu die prädeliktischen Äußerungen und Botschaften des B. nur wenig Bezugspunkte aufweisen. Untersuchungswürdig scheint hingegen noch die Fragestellung zu sein, inwieweit aus dem veröffentlichten und bisher nicht veröffentlichtem Video- und Tagebuchmaterial ein psychiatrischer Befund beziehungsweise eine tiefer liegende Persönlichkeitsstörung analysiert werden kann. 3.1 Familie B. wohnte im elterlichen Einfamilienhaus, zusammen mit den Eltern, der Großmutter und zwei Geschwistern (14 und 16 Jahre). Die Ermittlungsergebnisse führen zu der Beschreibung einer unauffälligen kleinstädtischen Familienstruktur, in der B. scheinbar gleichberechtigt eingebunden war. Seine Introvertiertheit wurde akzeptiert und ein Hang zur Waffenliebhaberei wurde als nicht Besorgnis erregend bewertet. Eine häufige und zeitintensive Nutzung von und mit Videospielen war in der Familie bekannt. Der Vater des Täters ist berufstätig und die Mutter Hausfrau. Beide jugendlichen Geschwister sind schulpflichtig. Mit einer zielgerichteten Gewalt an der Schule hat die Familie nicht gerechnet. Zusammenfassend wird B. von seiner Familie, Arbeitskollegen und Bekannten als zurückgezogen und introvertiert, mit einem ausgeprägten Interesse in Bezug auf Waffen, charakterisiert. 3.2 Schule B. war bis zu seinem Realschulabschluss im Jahre 2006 Schüler der Geschwister-Scholl-Schule. Er wiederholte das siebte und achte Schuljahr jeweils einmal. Zum Zeitpunkt des Amoklaufes war B. kein Schüler dieser Schule mehr. Nach Angaben früherer Lehrer und Mitschüler war er ein Einzelgänger, Waffenliebhaber und Gothicanhänger Die seit der Einschulung subjektiv empfundenen vermeintlich negativen Erlebnisse im Umgang mit Schülern und Lehrern sowie teilweise schlechte Leistungen in der Schule, spielten in der Selbstwahrnehmung von B. scheinbar eine zentrale Rolle für das Heranreifen eines Tatplanes zu einer Amoktat.

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So berichtete er in seinen zahlreichen Videobotschaften, Tagebuchaufzeichnungen und Foreneinträgen wiederholt von der Unsinnigkeit des Schulzwanges, im Umfeld der Schule gemachten Gewalterfahrungen7, eigenem Opfererleben aus dem Bereich Mobbing, der mangelnden Anerkennung seiner individuellen Persönlichkeit durch die Lehrer und Mitschüler und einer Respektlosigkeit gegenüber seiner Person und seinem Aussehen. Die sehr umfangreichen Vernehmungen aus dem Bereich der Schülerschaft und der Lehrerschaft spiegelten diese letztgenannten Wahrnehmungen des B. nicht wider. Die wiederholten energisch und teilweise aggressiv vorgetragenen Schuldzuweisungen in den Videobotschaften von B., die ein hohes Potenzial an entstandener Wut und Rachegefühlen erkennen ließen, wechselten sich teilweise mit philosophischen Betrachtungen ab. So stellte B. mehrmals heraus, dass er seit der Einschulung mit 6 Jahren den lebenswerten Teil seines Lebens hinter sich gelassen hatte und von da an nur externen schulischen und politischen Machteinflüssen ausgesetzt war. Durch eine Vielzahl von Kränkungen, Verletzungen und Akzeptanzproblemen, gepaart mit dem zweimaligen Schulversagen in der 7. und 8. Klasse und einer für sich selbst herausgestellten Perspektivlosigkeit für die eigene Zukunft, scheint hier das Einflussfeld Schule eine zentrale Bedeutung erhalten zu haben. In seiner Tatrechtfertigung wies B. ebenfalls vermehrt auf diese langjährigen Negativerfahrungen aus dem schulischen Umfeld hin. 3.3 Beruf Nach Verlassen der Schule arbeitete B. stundenweise als Aushilfskraft bei einem Baumarkt in Emsdetten. Zuvor hatte er sich erfolglos um eine Tätigkeit in Vollzeit beworben, fand jedoch keine Vollanstellung. Auch hier ergaben die Umfeldermittlungen die Persönlichkeitsbeschreibung eines in sich gekehrten und unauffälligen Arbeitskollegen. Intensive Bindungen in die Kollegenschaft konnten nicht festgestellt werden. 3.4 Freizeit Das Freizeitverhalten des B. war überwiegend durch eine intensive Nutzung von Computern geprägt. Dies in den vielfältigsten Variationen, wie später noch genauer dargestellt wird. Ferner hatte das Spielen mit Airsoftwaffen in den Jahren 2005 und 2006 eine wesentliche Bedeutung für ihn. Zunehmend verlagerte sich das Freizeitverhalten in den letzten Monaten vor dem Amoklauf in das eigene Dachgeschoss-Zimmer, welches teilweise schwarz gestrichene Wände und einen insgesamt düster gestalteten Eindruck ausstrahlte. Ein Großteil der Aktivitäten blieb der Wahrnehmung der Familienangehörigen verschlossen, weil B. überwiegend sein Zimmer unter Verschluss hielt. Die Bearbeitung der Videofilme, die Internetaktivitäten und die vielen Handlungsschritte der konkreten Tatplanungen tätigte B. überwiegend aus beziehungsweise in seinem Zimmer. Er hatte einen eigenen DSL-Zugang und mehrere miteinander vernetzte Computer zur Verfügung.

7 Die tatsächlich ermittelten Gewalterfahrungen beschreiben nur wenige Einzelfälle, die teilweise schon über 5

Jahre zurück liegen. Andererseits schildert eine Person aus dem schulischen Umfeld, dass Gewaltphantasien in

einem Einzelfall schon im Grundschulalter von B. dargestellt wurden, indem er von einem angeblich

angeschauten Horrorfilm berichtete.

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3.4.1 Airsoft-Team B. betätige sich intensiv und mit hohem Engagement in Soft-Air-Szene. Er gründete das „Tactical Air Soft Team Emsdetten“ -TASTE-, welches von Mitte 2005 bis Juli 2006 aus ca. 20 männlichen Mitgliedern bestand. Diese „TASTE-Gruppe“ hatte sich selbst eine vereinsähnliche Satzung gegeben. Die Aktivitäten der Soft-Air-Gruppe wurden zum Teil von B. gefilmt. Es handelte sich dabei auch um nachgespielte Kriegs- und Kampfszenen mit Soft-Air-Waffen. Darüber hinaus wurde in der Wohnung des B. eine Filmsequenz, auf der eine Scheinhinrichtung dargestellt wurde, aufgefunden. Beteiligt war hier ein TASTE-Mitglied als Opfer eines Genickschusses. Dieses Video wurde auch im Internet veröffentlicht. Ferner zeigen mehrere Filmsequenzen nachgestellte Szenen des Films „Halloween“, in denen B. zum Schein mit einem Messer auf mehrere Personen einsticht. Teilnehmer eines solchen Films sind teilweise Mitglieder der TASTE-Gruppe, die jedoch keine Kenntnis von der geplanten Verbreitung der Filmsequenzen oder aber einer konkreten Tatplanung eines Amoklaufs durch den B. hatten. B. verfügte über mehrere Airsoftwaffen, die teilweise echten waffenscheinpflichtigen Waffen in einem ersten Eindruck ähnlich sahen. Eine dieser Airsoftwaffen tauschte er bei einem Mitglied der TASTE-Gruppe gesetzeswidrig gegen das Kleinkalibergewehr ein, welches er später bei der Tatausführung des School Shootings nutzte. In einem, auch von B. in das Internet geladenen Abschiedvideo verweist B. darauf, dass „Soft-Air das Beste sei, was ihm je passiert sei“ und der Sinn u. a. auch im Training einer Zielgenauigkeit beim Schießen liege. In diesem Zusammenhang könnte sich dies für den B. subjektiv bereits als Training für den Amoklauf dargestellt haben. 3.4.2 Ego-Shooter Der B. hatte in seinem Zimmer allein und unkontrolliert die Möglichkeit der Nutzung von PC- und Konsolenspielen. Im Zimmer von B. wurden mehrere Computerspiele mit Gewalt bezogenem Inhalt aufgefunden, die mit FSK-Freigabe aber frei verkäuflich sind. Dazu waren noch mehrere CDs vorhanden, auf denen selbst editierte Spielvarianten des Spiels „Counterstrike“ abgespeichert waren. Auf den Computern des B. war im Anwendungsbereich einzig das Computerspiel „Counterstrike“ installiert. Diese Anwendung wurde intensiv genutzt. Die Spielvarianten wurden teilweise durch B. selbst editiert. Zwei dieser so genannten Levels sind realistische dreidimensionale und begehbare Darstellungen des späteren Tatorts, der Geschwister-Scholl-Realschule. Die Level-Karten beinhalten auf einer Karte die Schule von außen und auf einer Karte die Schule von innen. Die Level-Karten können mit dem Computerspiel Counterstrike und dessen Vorläufer Half-Life gespielt werden. Grundsätzlich sind die genannten Levelkarten in so genannten Internet-Sessions oder LAN-Parties, bei denen mehrere Computer zu einem eigenen Netzwerk verbunden sind, spielbar. Technisch möglich war somit, dass die Geschwister-Scholl-Schule Level-Karten privat oder auch im Schulnetzwerk gespielt wurden. Dazu müssten alle Spieler die entsprechende Karte installiert haben.8

8 Im Rahmen der Ermittlungen konnte lediglich in Erfahrung gebracht werden, dass B. einem Lehrer diese Level

mit der Bitte anbot, diese in das Schulnetzwerk einzustellen. Dies wurde von dem angesprochenen Lehrer

abgelehnt.

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Es ist zu vermuten, dass das Spiel (die Schul-Level-Version) einer Vielzahl von Schülern bekannt war, da es unkontrolliert über das Internet weiter verbreitet werden konnte.9 Da die Level-Erstellung eine lange Einarbeitungszeit erfordert, kann davon ausgegangen werden, dass der B. der Erstellung eine lange Zeit gewidmet hat. Robertz und Wickenhäuser (2006) machen auf die Gefahr aufmerksam, die von solchen Ego-Shooter-Spielen ausgeht. Gefährdete Jugendliche können das Spiel als den Status einer Ersatzwelt annehmen und erhalten durch das Töten von Gegnern in dieser Scheinwelt eine Selbstbestätigung. Aus Macht in der Parallelwelt kann so ein Bedürfnis zu einem Gewaltexzess in einer Realwelt entstehen, damit auch hier die Macht und Selbstbestätigung zu erlangen ist. „Es kann bei fortgesetzten Verletzungen und Versagungen im realen Leben in Einzelfällen der Wunsch auftreten, die Spielinhalte im realen Leben umzusetzen“ (Robertz 2006). 3.4.3 Konsum und Erstellung von Gewalt verherrlichenden Videofilmen B. hatte ab Volljährigkeit in einer erheblichen Anzahl Film-DVD mit der Altersfreigabe FSK 16 oder FSK 18 ausgeliehen, die Gewalt bezogenen Inhalt aufwiesen. Es handelte sich um Grusel-, Splatter- oder Kriegsfilme. Ferner hatte er sich bereits seit einigen Jahren mit der Thematik und Berichterstattung von Schulmassakern beschäftigt. B. besaß eine ausführliche Nachrichten-Dokumentation zum Columbine-Massaker in Littleton/USA aus dem Jahre 1999. Das von B. produzierte und im Internet verbreitete Videomaterial bezieht sich hauptsächlich auf selbst gefertigte Filmszenen. Es handelt sich dabei um im Rahmen der Aktivitäten der Soft-Air-Gruppe nachgestellte Kampfszenen, eine inszenierte Scheinhinrichtung sowie nachgespielte Passagen aus dem Horrorfilm „Halloween“. 3.4.4 Gothic Aus dem sozialen Umfeld von B. wurde die Behauptung zur Sprache gebracht, dass dieser eine Nähe zur Gothic-Szene hatte. Die damit verbundenen Thematiken einer düsteren zukunfts- und perspektivlosen Welt, mit einer gewissen Affinität zu okkulten und barbarischen Themen oder dem Ausweg aus der Perspektivlosigkeit durch Suizid, konnten bei B. nicht verlässlich festgestellt werden. Die dunkle Kleidung, insbesondere der schwarze Trenchcoat, das düster gestaltete Zimmer und die schwarz lackierten Fingernägel sowie die Beschäftigung mit dem Suizid könnten zwar einerseits als Szene typisch beschrieben werden, aber andererseits auch Hinweise auf ein Nachahmungsverhalten zu den Tätern des Columbine-Massakers darstellen.10

9 Spielablauf: Bei dem Mehrspielerspiel ist es ausschlaggebend, dass die Level-Karte, auf der gespielt wird, bei

allen Teilnehmern installiert ist, da während eines Netzwerk- bzw. Onlinespiels nur die Bewegungsdaten der

einzelnen Spieler abgeglichen werden. Zu Beginn eines Matches beginnen die Spieler an verschiedenen

Einsatzpunkten. Beim Spiel „Counterstrike“ müssen sich die Spieler zwischen Terroristen oder Anti-Terror-

Einheiten entscheiden und entsprechende Aufträge erfüllen. Wird ein Mitspieler von einem anderen

ausgeschaltet, so verbringt dieser den Rest des Matches im so genannten Geist-Modus. Das heißt, er kann sich

frei schwebend auf der Karte bewegen, Wände durchschreiten und den anderen Mitspielern zuschauen.

10

Die damaligen Täter Eric Harris und Dylan Klebold trugen bei der Tatausführung ebenfalls solche

Trenchcoats und bezeichneten in ihren damaligen Videobotschaften diesen Trenchcoat als Mantel, der die

Werkzeuge der Gerechtigkeit verdeckt. Dieses stellte B. in einem seiner Tagebucheinträge ebenfalls als die

Bedeutung für seinen Trenchcoat heraus: WWW: http://www.stern.de/politik/panorama/577024.html?nv=cb

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Bezüglich der Planung des B. den Amoklauf mit einem Suizid zu beenden, dürfte für B. vielmehr eine Rolle gespielt haben, dass er sich nach einer solchen Tat zum einen eine Rückkehr in die reale Welt nicht mehr vorstellen konnte und er zum anderen den Suizid als Teil seiner Opferbereitschaft zu einer Mythen- bzw. Legendenbildung sah. 3.4.5 Waffen Der B. hatte sich zur Realisierung seiner Tatplanungen eine Vielzahl von Waffen, Spreng- und Brandvorrichtungen gekauft bzw. hergestellt. Die Realisierung des Erwerbs einer Schusswaffe, gleichgültig ob legal oder illegal, hat die Phantasien des B. über mehrere Jahre bestimmt. Sein Ziel war es, ein Waffenarsenal zu besitzen, mit welchem er ein größtmögliches „Massaker“ anrichten wollte. Zunächst war die Phantasie noch von voll- und halbautomatischen Schusswaffen geprägt, deren Besitzbestrebungen er dann aber als nicht realisierbar verwarf. Dennoch fertigte er mehrmals Listen von benötigten Waffen, Spreng- und Brandvorrichtungen an, die er nachfolgend auch erwarb. Darunter waren u.a. zwei erlaubnisfrei zu erwerbende Perkussions- bzw. Vorderladerwaffen, die er ende Oktober 2006 über eine Internet-Auktionsplattform für Waffen legal erwarb. Ferner fertigte er 17 Rohrbomben an und erwarb Rauchtöpfe, Zündschnüre und Pfefferspray-Behältnisse, ebenfalls über die Internet-Auktionsplattform für Waffen. Wie bereits dargestellt tauschte er ferner eine hochwertige Airsoftwaffe gegen ein altes Kleinkalibergewehr. Munition zu diesem Kleinkalibergewehr erwarb B. illegal, wiederum über die Auktionsplattform für Waffen. Wesentliche Bestandteile der selbst hergestellten Sprengsätze, in Form von Rohrbomben, stammen aus dem normalen Sortiment eines Baumarktes.

Diese Waffen, sowie neun selbst gefertigte Molotowcocktails, zwei Wurfsterne, ein Schlagstock und eine Machete führte B. auch bei der Tatausführung mit. Bezüglich der von B. angestrebten hohen Zahl von Opfern, war die Bewaffnung mit Schusswaffen nicht geeignet eine größere Personenzahl mit den Schusswaffen durch Schüsse bzw. Geschosse zu verletzen oder zu töten. Wegen der nur minderwertigen Trägermasse zur Umsetzung der Rohrbomben, waren diese nicht geeignet eine große Personenzahl schlagartig zu schädigen. Die Gefahr ging hier von den explosionsartig weggesprengten Blind- und Endstopfen der Rohrbomben aus. Festzustellen bleibt, dass der Großteil der Waffen und sonstigen Tatmittel von B. erst zeitnah zu der Amoktat erworben wurden.

3.5 Kontakte des B. mit der Polizei und der Justiz Gegen B. wurde 2006 ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das WaffG, Führen einer Waffe, hier einer Gasdruckpistole, auf einer öffentlichen Veranstaltung, eingeleitet. Im Juli 2006 hatte B. die Gasdruckpistole zu, aus seiner Sicht, einer Streitschlichtung am Rande einer öffentlichen Veranstaltung eingesetzt und war noch in der Tatnacht von der Polizei ermittelt und angetroffen worden. Dabei wurde auch die Gasdruckpistole sichergestellt, für die er erste wenige Wochen zuvor den kleinen Waffenschein genehmigt bekommen hatte. Der legale Besitz dieser Gasdruckpistole und der ausgestellte kleine Waffenschein hatten für den Waffenliebhaber B. eine große Bedeutung und Wichtigkeit. Die nun in Aussicht gestellte Widerrufung der Berechtigung des Besitzes des kleinen Waffenscheines und der dauerhafte Verlust der Gasdruckpistole haben in B. ein hohes Maß an Wut und Rachegefühlen ausgelöst.

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Der Verstoß gegen das WaffG und die Widerrufung der Berechtigung des Waffenscheines sollten durch das zuständige Amtsgericht am 21.11.2006, also am Tage nach dem Amoklauf, zur Verhandlung kommen. Weitere Rechtsverstöße von B. sind der Polizei nicht bekannt geworden. 3.6 Die wesentliche Rolle des Internet Bezüglich der Nutzung der Neuen Medien und Techniken ist anzumerken, dass B. Mittel und Zweck der Internet-Möglichkeiten intensiv für seine Tatvorplanungen aber auch eine prädeliktische proaktive Öffentlichkeitsarbeit11 genutzt hat. 3.6.1 Homepages Bereits wenige Stunden nach der Tat war bekannt, dass der B. zwei Webseiten betrieben hatte. Eine Auswertung der Zugriffsstatistiken ergab, dass in den beiden Monaten vor der Tat jeweils ca. 2.000 Seitenzugriffe erfolgten. Die erste Domain für die Internetseite, auf der B. auch seinen Abschiedsbrief und seine Linkliste uploadete, wurde bereits Ende 2004 per Internet durch B. angelegt. Zu früheren Einträgen dieser Internetseite konnten keine hinreichenden Erkenntnisse verifiziert werden. Sicher ist, dass am 20.11.2006, ab ca. 08:00 Uhr, die Dateien hochgeladen wurden, die zum Zeitpunkt der Tat im Internet zu sehen waren. Nach der Eingabe der Internetadresse gelangte man auf die Startseite. Diese bestand nur aus einem Bild und der Aufschrift „SAY GOODBEY HUMANITY“ Die zweite Seite zeigte oben ein Bild von B. mit Sonnenbrille und angelegtem Gewehr. Dann folgten der Abschiedsbrief, sowie ein Bild des B. im Kampfanzug mit einem augenscheinlichen Schnellfeuergewehr im Wald. Weitere Inhalte waren am 20. 11. 2006 auf den Seiten dieser Domain nicht zu sehen. Im Verzeichnis -Dateien- war eine Liste mit Links zu weiteren Internetseiten hochgeladen, die überwiegend auf Video- und Datenportale führten. Ein Teil dieser Links war beim Laden dieser Internetseiten mit einer Kennwortabfrage versehen. Diese zweite Domain wurde durch B. am 7. 6. 2006 angelegt. Die Webseite befasste sich mit Schulmassakern, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Auf einigen Unterseiten fanden sich detaillierte Angaben zu den Amokläufen in Erfurt und Columbine. Zu der Seite gehörte auch ein Board, also ein Forum, in das jedermann eigene Beiträge stellen konnte. Im Ergebnis wurden die positiven Wirkungen von Schulmassakern diskutiert. Es scheint, dass das Columbine School Shooting auf den B. inspirierend gewirkt hat. 3.6.2 Forennutzung B. nutzte für seine Foreneinträge den Namen „ResistantX“. Aus dem englischen übersetzt, dürfte B. sich damit als Widerstand leistenden Unbekannten beschrieben haben wollen. In den Jahren 2004 und 2005 nutzte B. auch die Möglichkeit der Darstellung und Diskussion von Problemen in Beratungsforen.

11

Mit prädeliktischer proaktiver Öffentlichkeitsarbeit ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass B. die

Internetmöglichkeiten schon vor der Tatausführung gezielt dazu genutzt und justiert hat, um in der Phase nach

dem Amoklauf einen sehr hohen Bekanntheitsgrad anstreben und auch realisieren zu können. Er hat

sichergestellt, dass seine Videobotschaften, der Abschiedsbrief, die Tagebuchauszüge, die Daten der

dokumentierten Tatplanungsphase, die gespeicherten Chatprotokolle und die getätigten Foreneinträge die

Nachwelt erreichen. Um einen weltweiten Ruhm zu erreichen und eine weltweite Mythenbildung vorzubereiten,

hat er teilweise in englischer Sprache gesprochen und geschrieben. Dazu gibt B. in Teilen seiner Dokumente

auch an, dass er dies von den Tätern des Columbine-Massakers gelernt habe. Weil Robert Steinhäuser dies bei

seiner Tat 2002 in Erfurt nicht beachtet habe, sei er auch nicht zu dauerhaftem Ruhm gekommen.

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Diese Internetforen sind niedrigschwellige Beratungsnetze. B. öffnete sich im Forum mit seinen Problemen, insbesondere, dass er von ihm nahe stehenden Personen enttäuscht war. Die hier beschriebenen Beiträge des B. ließen erkennen, dass er anscheinend bei den meisten seiner Mitmenschen auf kein Verständnis stieß. Nachfolgend bauten sich Wut und Hass auf seine Mitmenschen, insbesondere Mitschüler und Lehrer, auf.12 Andererseits suchte B. aber auch Foren auf, in denen er sich teilweise vorsichtig zu Themen wie Chemie und den Bau von Sprengkörpern erkundigte. Diese Einträge stammten aus dem Zeitraum 2004 bis 2005 und lassen keine wesentlichen Erkenntnisse oder Schlüsse zu. B. nutzte ferner ein Forum in dem es um die Programmierung von Level-Karten für das Counterstrike-Spiel ging. Das Forum hatte er in der Zeit von 2004 bis 2006 genutzt. Insgesamt leistete B. dort fast 100 Beiträge. 3.6.3 Chat und Instant-Messenger Die Internetkommunikation von B. mit Bekannten aus seinem Umfeld fand häufig über ein so genanntes Instant-Messenger-Programm statt, mittels dessen die Benutzer direkt und unmittelbar kommunizieren können, ohne dass Unbeteiligte zusehen oder zuhören können. Im Gegensatz dazu hätte in einem öffentlichen Chatraum die Gefahr bestanden, dass mehrere Unbeteiligte die Kommunikation mitbekommen oder sich sogar einmischend beteiligen. Auch konnten so Datenanhänge zugesandt und ausgetauscht werden. B. nutzte dieses Medium, um sein Daten-Vermächtnis, bestehend aus dem Tagebuch, Bildern und Filmen sowie der Link-Liste, an einen von ihm ausgewählten Kreis zu verbreiten. Üblicherweise werden die Chatprotokolle, also die Protokolle über die Unterhaltung, nicht gespeichert. Gefunden wurden allerdings einige Kopien der Unterhaltungen, die vom B. selbst gespeichert und dauerhaft abgelegt wurden. Noch am Tatmorgen hatte B. morgens diese Linkliste, teilweise mit Datenanhängen, an eine unbekannte Anzahl von Personen versandt. 3.6.4 Tagebücher B. hatte seit Juni 2004 persönliche Aufzeichnungen in Form von mehreren Tagebüchern geführt. Das letzte Tagebuch wurde am 10.08.2006 begonnen und endete mit einem Eintrag vom Tattage am 20.11.2006. Hieraus wurden von B., noch am Morgen des Amoklaufes, eingescannte Auszüge über einen Instant-Messenger gezielt an mehrere Bekannte geschickt.

12

Ergänzend sei hier angeführt, dass B. am 26.06.2004 folgenden Forumseintrag schrieb:

„Ich habe mich versteckt, seitdem hatte ich Angst. diese Angst schlägt so langsam in Wut um. Ich fresse die

ganze Wut in mich hinein, um sie irgendwann auf einmal rauszulassen, und mich an all den Arschl**hern zu

rächen, die mir mein Leben versaut haben. Ich meine diese „ganz harten“, die meinen sie müssten mit 12 in der

Ecke stehen und sich zuqualmen. Das sind die die immer nur auf die schwächeren gehen können. Für die, die es

noch nicht genau verstanden haben: Ja, es geht hier um Amoklauf!“( WWW: http://www.das-beratungsnetz.de

Forumseintrag jedoch nicht mehr abrufbar)

Vier Teilnehmer des Forums haben B. damals auf dessen Beitrag eine Beratung empfohlen.

Am 04.01.2006, findet sich hierzu ein kommentierender Forumseintrag von B., in dem er angibt, per Google-

Recherche auf den alten Eintrag gestoßen zu sein und ergänzt, dass es ihm jetzt besser gehe. Er sei im 10.

Schuljahr und er denke er schaffe es. Er wolle anschließend ggf. beim Bund eine Ausbildung beginnen. Der alte

„Post“ käme ihm dämlich vor, er habe damals übertrieben und sei für seine damalige Situation selber

verantwortlich gewesen.

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Ferner gelangten Teile dieser Aufzeichnungen in das Internet, von wo eine weitere Verbreitung stattfand.13 Problematisch an der Verbreitung und Veröffentlichung dieses Tagebuches waren insbesondere die von B. gefertigten Todeslisten, die ebenfalls zeitweise im Internet kursierten. Die Namen der Personen darauf beschrieb er mit „Primären Personenzielen“, das Schulgebäude beschrieb er als „Primäres Gebäudeziel“. Dieser militärische Sprachgebrauch beschreibt wahrscheinlich eine Lernerfahrung aus den Airsoft-Trainings. Die Einträge der Tagebücher sind durchweg mit Datumsangaben versehen, beginnen in lockerer Abfolge und verdichten sich zum Ende hin. B. hatte erstmals bereits für Mitte 2005 einen festen Termin für den geplanten Amoklauf gesetzt und später den Halt der Familie als Grund angegeben, warum es nicht zu einer Verwirklichung gekommen war. Es folgten weitere Terminsetzungen für 2005. Parallel dazu waren stetig steigernde Gewaltphantasien erkennbar, insbesondere bezüglich der für einen Amoklauf erforderlichen Waffen. Es kam in diesem Zeitraum aber auch zu weiteren Verletzungen bei B., wie z.B. eine nicht zu Stande gekommen Beziehung zu einem Mädchen, die sich einem anderen Mitschüler zuwandte. Eine polizeiliche Bewertung der Tagebuchaufzeichnungen führt zu den Schlussfolgerungen, dass B. erhebliche Probleme im Verhalten zu anderen Menschen hatte und die Welt beziehungsweise die Menschen extrem negativ sah. Aus all seinen Ausführungen ist nicht erkennbar, dass er Änderungsbedarf in seinem Verhalten gesehen hatte. Seit Juni 2004 befasste er sich nachweislich mit einem von ihm durchzuführenden Amoklauf und der damit verbundenen Tötung von Menschen. Aus den Tagebüchern haben sich aber keine konkreten Hinweise darauf ergeben, dass er aktiv von anderen Personen bei seinen Handlungen und Planungen unterstützt wurde. Seine Wut und sein Hass richteten sich hauptsächlich gegen Schüler und Lehrer der Schule. Darüber hinaus wurde von ihm nahezu die ganze Menschheit als schlecht angesehen. Weiterhin geht aus seinen Aufzeichnungen hervor, dass er selbst irgendwann befürchtete, dass Andere seine Planungen erkannten. Schüler, Lehrer, Eltern und andere Personen dürften wahrscheinlich erkannt haben, dass B. Probleme hatte. Ob jemand das volle Ausmaß der Problem- und Konfliktdimensionen erkannt hatte, dürfte eher bezweifelt werden. 3.6.5 Abschiedsbrief Von ähnlichem Inhalt und Tenor, wie die Tagebuchaufzeichnungen, war der mehrseitige Abschiedbrief des B., den B. am Tattage ab ca. 08:00 Uhr auf seine Internetseite hochgeladen hatte und der mit der Bemerkung „Ich bin weg...“ endete. Darin stellte B. unter anderem die Frustration und Wut heraus, die sich auf die Wegnahme seiner Gasdruckpistole durch die Polizei bezog.

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Zum Beispiel: WWW: http://www.stern.de/politik/panorama/577024.html?nv=cb

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3.6.6 Videoproduktion B. sah sich selbst als Hobbyfilmer, der bereits 2004 damit begann erste Videos zu drehen, die er nach einem Amoklauf der Nachwelt zugänglich machen wollte. Die Videofilme wurden mit einer kleinen Videokamera aufgenommen und später mit Hilfe des Computers digitalisiert. Auf den Computerfestplatten, in diversen Internetvideoportalen und auf CDs wurden sehr umfangreiche von B. produzierte Videomaterialien festgestellt. Die teilweise sich selbst heroisierenden Inszenierungen lassen auf einen übersteigerten Hang zur Selbstdarstellung bzw. zum Narzissmus in einer Parallelwelt schließen, was in einer starken Diskrepanz zu seiner nach außen gelebten Realität stand. Noch am Tattage lud B. einige der Videofilme in ein bekanntes Videoportal hoch, in welchem jeder sich selbst oder andere in Form von Videos darstellen kann. Offensichtlich wollte B. sich und seine Botschaften zusätzlich präsentieren und damit dauerhaft im Internet zugänglich machen. 3.6.7 Linkliste Da B., wie bereits dargestellt, sicherstellen wollte, dass die von ihm gefertigten Aufzeichnungen, Computerspiel-Level, Tagebücher, Chatprotokolle, Video-Botschaften und Bilder auch die Nachwelt erreichen und somit die Chancen zu seiner Legendenbildung steigen, wie auch die Täter aus dem Columbine School Shooting es erfolgreich vorgemacht hatten, erstellte er eine Linkliste mit zahlreichen Hyperlinks zu entsprechenden Fundstellen und Speicherorten im Internet. Diese Linkliste versandte er noch am Tattage an einen Teil seiner Bekannten und lud diese auch auf eine seiner beiden Homepages hoch. Das Ziel, damit seinen Bekanntheitsgrad zu steigern, hat B. mit dieser prädeliktischen proaktiven Öffentlichkeitsarbeit zweifelsfrei erreicht. 3.7. Bewertung im Hinblick auf eine Motivanalyse Im Ergebnis haben ein Bündel an Faktoren, die sich teilweise in Wechselwirkung zueinander befanden beziehungsweise sich gegenseitig verstärkten, die Tatmotivation beeinflusst. Sowohl die von der Polizei ermittelten, als auch die von B. kommunizierten Beweggründe, sowie die Bewertung der soziostrukturellen Rahmenbedingungen, lassen eine vielschichtige Motivlage erkennen. Als Einflussfaktoren könnten folgende Faktoren gesehen werden:

Die problematische und für B. sehr belastende schulische Situation nach dem Wiederholen der Klassen 7 und 8 an der Realschule mit dem mehrmaligen Erleben einer Versagersituation.

Die nachhaltige körperliche und seelische Verletzung durch die negativen schulischen Erfahrungen im Jahre 2001, als B. Opfer einer Körperverletzung von Mitschülern wurde.

Das über mehrere Jahre sich steigernde Empfinden, von der privaten und schulischen Umwelt nicht verstanden, nicht akzeptiert und nicht respektiert zu werden.

Die Identifizierung mit den vermeintlich positiven Aspekten des Schulmassakers aus den USA von 1999, verbunden mit einer Heroisierung der Amokschützen.

Eine negative Beeinflussung durch extensiven Konsum Gewalt verherrlichender Computerspiele, in diesem Fall auch mit der Erfahrung des Trainings konkreter vorgeplanter Handlungsabläufe (Gefahr einer Konditionierung).

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Eine Werte und Hemmschwellen reduzierende Beeinflussung durch Konsum und Erstellung Gewalt verherrlichender Videofilme.

Die von B. geäußerte Abneigung gegen staatliche Normen und moderne Staatsformen.

Die fehlende Früherkennung psychischer Probleme, insbesondere ohne Inanspruchnahme nachhaltiger Hilfsangebote

Keine frühzeitige Intervention von Familie und Schule bei verhaltensauffälligen Ereignissen.

Eine Senkung der Gewalthemmschwelle durch Air-Soft-Spiele und eine Qualifizierung der Handlungsabläufe (durch Konditionierung).

Die freie Verfügbarkeit von Ressourcen im Internet und die daraus konstruierte Option einer auf ausgeprägte Phantasien fußende Parallelwelt in den Foren, Chats und dem Counterstrike-Spiel.

Das gegen B. eingeleitete Strafverfahren wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz mit der Konsequenz der Sicherstellung seiner Gasdruckwaffe und dem anberaumten Gerichtstermin.

Aus den Beteiligungen in den Foren und dem Beginn der Tagebuchaufzeichnungen kann man vermuten, dass B. seit Sommer 2004 begann, seine Phantasien in lose Tatgedanken, Tatvorplanungen und dann konkrete Tatvorbereitungen umzusetzen. Ein letztlicher Auslöser des konkreten Tatenschlusses könnte dann durch einen Kontakt mit der Polizei im Juli 2006 ausgelöst worden sein, als B. einerseits die Gasdruckwaffe vom Staat, der Polizei, weggenommen wurde und er noch die zusätzliche staatliche Regel, zu einer Gerichtsverhandlung zu erscheinen, zu beachten hatte. Das konkrete sich Verschaffen von Waffen und anderen Tatmitteln lag jedenfalls überwiegend im Zeitraum nach diesen belastenden polizeilichen Maßnahmen. Wie dargestellt ergaben die Umfeldermittlungen somit ein breit gestreutes Geflecht von möglichen Faktoren und Situationen aus dem sozialen Umfeld von B., die auf ihn eingewirkt und ihn wahrscheinlich in seiner Einstellung und seinem Verhalten beeinflusst und teilweise nachhaltig geprägt haben dürften. Es bestand dadurch die Möglichkeit, dass weitere negativ wirkende Einflussfaktoren eine die Gewaltphantasien steigernde und wohl auch handlungsleitende Bedeutung bekamen. 4. Wirkungen nach der Tat Schon wenige Stunden nach der Tat waren viele der von B. gesteuerten Informationen im Internet veröffentlicht. Ferner hatte ein enormes Medieninteresse zu einem hohen und detaillierten Informationsbedürfnis geführt. Die Nachfrage nach Informationen und konkreten Einzelheiten zu den Themen: Tatablauf, Täter, Tatmittel, Schule und Mitschülern, Opfern, Ursachen und polizeilichen Maßnahmen, konnte nur durch eine mit der Staatsanwaltschaft abgestimmte intensive Medien- und Öffentlichkeitsarbeit der Polizei aufgefangen werden. Dieses immense Ausmaß der Medienberichterstattung war zwar geeignet die Informationsbedürfnisse der Bevölkerung und der Medien zu befriedigen und auch die polizeiliche Lagebewältigung zu Recht als erfolgreich darzustellen, informierte und motivierte als Kehrseite der Medaille aber in den Folgetagen, Folgewochen und

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auch Folgemonaten eine sehr hohe Zahl von Tätern zu Trittbrett- und in Einzelfällen auch zu Nachahmungstaten.14 Allein in Nordrhein-Westfalen wurden bis Ende März 2007 über 300 Taten und Verdachtsfälle von Trittbrett- und Nachahmungstaten registriert und behördlich verfolgt. Präventiv hilfreich sind vor diesem Hintergrund die thesenhaften Forderungen von Robertz (vgl. 2007), der durch die Beachtung mehrerer Prinzipien zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Medien rät. Die Prinzipien beschreiben die Erfordernisse mit Vermutungen und konkreten Darstellungen zu Motivlagen, Tatabläufen, beteiligten Personen und Täterphantasien zurückhaltender und wenig emotional in der Darstellung der Ereignisse, umzugehen. Eine Eindämmung der Weitergabe und Diskussion von offen gewordenen oder von B. bewusst verbreiteten Informationen und Daten im Internet, lässt sich hingegen momentan kaum aktiv von außen beeinflussen. Selbst polizeirechtlich oder strafprozessual durchgeführte Maßnahmen, wie die vorübergehende Sperrung von Internetseiten oder Foren, laufen wegen der schnellen und schneeballartigen Kopier- und Verbreitungsmechanismen überwiegend ins Leere. Die Kehrseite ist auch hier wieder die Gefahrenkausalität zur Motivation oder Auslösung von Trittbrett- und Nachahmungstaten. Hier scheint noch aktueller Forschungsbedarf auf mehreren Wissenschaftsfeldern zu bestehen, wie zum Beispiel der Medienpädagogik, der Kriminologie oder aber der Rechtspolitik. 5. Ansätze für Prävention Bei der Entwicklung von Präventionsstrategien15 sollten eine Gewalt ächtende gesellschaftliche Werteorientierung, eine Zielgruppen orientierte Prophylaxestrategie und eine auf Einzelfälle bezogene Interventionstaktik jeweils eine eigenständige Bedeutung haben. Dazu ist eine intensive Analyse der jeweiligen Taten notwendig, zu der hier ein nur ein erster Ansatz geliefert werden konnte. 5.1 Indikatoren-Entwicklung Will man die Entwicklung geeigneter Präventionsstrategien und -konzepte nicht nur als polemische Floskel ansehen, so bedarf es zunächst einer abschließenden Erforschung der möglichst messbaren und verlässlichen Anzeichen für eine Amoktat, also der Indikatorenentwicklung als mögliche Alarmindikatoren. Auf dieser Grundlage können dann die privaten und öffentlichen Stellen, an denen solche Alarmindikatoren erkannt werden, von diesen überprüft werden und ggf. zu konkreten Amok vermeidenden Strategien oder Konzepten führen. Die Gefahr der Stigmatisierung einer Person oder gar einer Peer Group ist hinsichtlich der Neigung zu überzogenen oder falschen individuellen Bewertungsmaßstäben und der daran ausgerichteten Präventions- oder Interventionsmaßnahmen dabei zu bedenken.

14

Unter Trittbettfahrern sind Personen zu verstehen, die vor dem Hintergrund herausragender Straftaten

versuchen sich selbst, meist anonym, in den Mittelpunkt öffentlicher Betrachtungen zu bringen. Ein vorheriger

Tatentschluss war in der Regel nicht vorhanden. Unter Nachahmungstätern sind Personen zu verstehen, die sich

vor dem Hintergrund herausragender Straftaten motiviert fühlen, vorher vorgeplante oder neu gefasste eigene

Tatentschlüsse nun in ähnlicher oder gleicher Weise umzusetzen (vgl. Robertz 2006b). 15

In den USA bietet ein aktuell erschienenes 688 Seiten starkes Handbuch in 41 Kapiteln jeweils einen durch

weltweite Studien und Konzeptvaluierungen erforschten Ansatz zur Präventions-, Netzwerk- oder Konzeptarbeit,

mit der Zielrichtung zur Eindämmung der Gewalt an Schulen und dem Ziel der Steigerung einer Sicherheit an

den Schulen (Jimmerson und Furlong 2006, Hrsg).

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5.2 Prävention als eine gemeinsame Sache Da die Zielgruppen, aber auch die Orte, die Inhalte und die Methodiken von Präventionsmaßnahmen oder Präventionskonzepten sehr unterschiedlich sind, ist eine Abstimmung mit mehreren Beteiligten, wie zum Beispiel Ansprechpartnern aus dem Internet, Elternhaus, Schule, Polizei, Jugendhilfe und Peer-Group-Betreuern erforderlich. Denn häufig ist nicht ein Faktor bzw. ein Alarmindikator der Präventions- oder Interventionsanlass, sondern erst eine Bewertung mehrerer der konkret erkannten Indikatoren lässt den Rückschluss hinsichtlich einer Amokgefahr zu. Netzwerkartige Kommunikationsstrukuren oder Kontaktverknüpfungen dieser genannten Beteiligten bieten eine Chance eines abgestimmten und Stigmatisierungen vermeidenden Vorgehens. Ein weiterer Aspekt ist es, eine Kultur des Hinschauens, Wahrnehmens und Handelns durch jedermann zu schaffen und zu ermöglichen. Dort, wo Gewaltexzesse angedroht oder in Aussicht gestellt werden, ist auf niedrigschwelliger Basis ein Zugang zu Behörden sinnvoll, um nicht Hinweise aus der Bevölkerung auf Gewalt- oder Amoktaten durch einen unnötigen Aufwand zu blockieren. Da die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass der weit erhebliche Teile der Trittbrett- und Nachahmungstaten über das Medium Internet kommuniziert wurden, ist ein solch niedrigschwelliges Angebot im Internet unter Umständen hilfreich. In Nordrhein-Westfalen ist mittlerweile ein solches Angebot in Form einer 24-stündig besetzten Internetwache mit wenig Aufwand erreichbar und bedienbar.16 Einer der wichtigsten präventiv wirkenden Schutzfaktoren ist ein elterlicher auf partnerschaftlicher Basis zum Kind geprägter Erziehungsstil mit gemeinsam akzeptierten Werten. Entsprechende Kontrollverluste potenziell gefährdeter Persönlichkeiten könnten so verhindert oder zumindest minimiert werden. Ferner wird dadurch auch die Grundlage für eine frühzeitige Intervention durch die Familie geschaffen. Schließlich geben die Vielzahl der vehaltenskritischen Faktoren aus dem Bereich der Neuen Medien einer Diskussion die Grundlage, dass durch das Erreichen einer Basis an Medienkompetenz bei Kindern und Erziehungsberechtigten, dies im Ergebnis zu einem verantwortungsvollerem Umgang mit den Neuen Medien führen muss. 5.3 Kurzbewertung Bei der Bewertung der Amok verursachenden oder begünstigenden Faktoren und bei der Messung und Bewertung angezeigter Alarmindikatoren, bleibt jeweils die Pflicht der Beteiligten bestehen, sich auch in die unterschiedlichen Rollenbetrachtungen zu begeben. Welche Rolle hat derjenige, der Bewertungen von Alarmindikatoren vorzunehmen hat, welchen verzerrenden Beeinflussungen unterliegt er? In welcher Rolle oder Situation befindet sich der Betrachtete und gibt es hier noch andere auf diesen wirkende Einflussfelder? Der Hinweis auf diese Rollenzuschreibungen ist deshalb wichtig, damit nicht verzerrte subjektive Wahrnehmungen zu falschen Entscheidungen oder Stigmatisierungen führen, aber ein Verdachtsfall im Zweifel auch geprüft werden muss.

16

vgl. auch WWW: http://www.im.nrw.de/pm/040107_1030.html

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6 Politische Maßnahmen nach der Tat Im Nachgang zu dem Amoklauf von Emsdetten haben die politischen Entscheidungsträger des Landes Nordrhein-Westfalen neben der im Januar 2007 eingerichteten Internetwache, auch per Erlass im November 2006 bereits zu noch intensiverer Zusammenarbeit zwischen Polizei und Schulen aufgerufen. Die Umsetzung einzelner Absprachen und Konzepte wurde dabei richtigerweise in der Hand der jeweiligen Polizeibehörden und Schulen belassen. Mittlerweile hat jede Schule in Nordrhein-Westfalen einen persönlichen Ansprechpartner bei der Polizei und es ist eine Sensibilisierung aller Lehrerinnen und Lehrer zur Thematik Amok und Mobbing erfolgt.17 Letztlich fand im Februar 2007 in Nordrhein-Westfalen, auf Einladung des Landesinnenministeriums, eine internationale Amokkonferenz statt, in der die Thematik Amok aus polizeipraktischer Sicht, aus wissenschaftlich-kriminologischer Sicht und aus der Darstellung internationaler Studien polizeiintern diskutiert wurde. 7. Fazit 1. Die hier vorgelegte erste Analyse der Tathandlungen und der Entstehungsgeschichte der Tat kommt nicht zu einer klaren und eindeutig nachvollziehbaren Ursachenkette. Das umfangreiche potenzielle Ursachenbündel bietet jedoch eine breite Grundlage über Gewichtungen und Bedeutungen einzelner Faktoren zu diskutieren und über die mögliche Herausarbeitung von Alarmindikatoren wirksame Präventionsstrategien und -konzepte zu entwickeln. 2. Bisher im Bereich der School Shootings einmalig ist die vielfältige Einbindung der Neuen Medien durch einen Amokläufer. Dazu gehören:

Produktion und Verbreitung von vielen Videos,

über mehr als zwei Jahre andauernde Kommunikation zur Amokthematik in Foren und Chats im Internet,

Fertigung und Verbreitung von Bildern,

Betreiben zweier Internetseiten mit Bezug zur Tatmotivation,

Konkretisierung der Tatplanung mittels Computerunterstützung,

Einscannen bzw. Digitalisieren von Tagebüchern,

Sammeln und Auswerten anderer School Shootings,

Schreiben und Verbreiten eines Abschiedbriefes,

Erwerben der überwiegenden Anzahl der Tatmittel über das Internet,

aktive Ansteuerung außen stehender Personen mit Linklisten,

Spielen von Ego-Shootern,

Konstruieren eigener Spiel-Level,

Konsum von Horror- bzw. Gewaltfilmen und

Zugriff auf mehrere in seinem Zimmer miteinander vernetzter PC.

Dies alles macht ein Ausmaß der Nutzung neuer Medien deutlich, der bisher in Verbindung mit einer Amoktat nicht vorstellbar war. (Engels 2006)

17

vgl. auch: WWW: http://www.im.nrw.de/pm/110407_1092.html

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3. Das schnelle und zielorientierte Vorgehen der zuerst einschreitenden Beamten hat zu einer frühzeitigen Unterbrechung der Handlungsabläufe geführt und den beabsichtigten Suizid zeitlich nach vorne verlagert. 8. Verwendete Literatur Adler, Lothar (2000). Amok. Eine Studie. München: Belleville. Dicke, Wolfgang (2007). Emsdetten und kein Ende. Deutsche Polizei, 56, S.6-10. Engels, Holger (2006). Was hat Amok-Lage Emsdetten mit Neuen Medien zu tun? Polizeiinterner Vortrag an der Hochschule der Deutschen Polizei in Münster am 13.12.2006. Hoffmann, Jens (2006). Emsdetten war vorhersehbar. http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,450050,00.html (07-04-30) Hoffmann, Jens (2007). Ein Amoklauf ist kein Zufall. http://www.morgenpost.de/content/2007/01/17/wissenschaft/877261.html (07-04-30) Jimmerson, Shane R. a. Furlong, Michael J. (2006). (Editors). Handbook of School Violence and Scholl Safety, from Research to Practice. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates Ohne Autor (2006). Sitzungsprotokoll des Innenausschusses des Landtages NRW vom 14.12.2006 vom 14.12.2006 in Düsseldorf. http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMA14-329.pdf (07-04-30) Ohne Autor (2007). Amoktaten - Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext. Öffentlicher Forschungsbericht. Düsseldorf: Kriminalistische Forschungsstelle des LKA NRW. Analyse Nr. 3/2007. Robertz, Frank J. (2004). school shootings. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben (2006a). Vom Computerspieler zum Killer? Deutsche Polizei, 55, S. 29-31 Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben (2006b). Anerkennung für Amokläufer? http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24173/1.html (07-05-01) Robertz, Frank J. (2007). Pressearbeit zur Vermeidung von Nachahmungstaten. Deutsche Polizei, 56, S.10-11. Weilbach, Karl (2004). Aktionsmacht Amok. Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik (35). Münster: Lit Verlag Wolf, Ingo (2006) Rede vor dem Innenausschuss des Landtages NRW zum Polizeieinsatz aus Anlass des Amoklaufes am 20.11.2006 in Emsdetten am 14.12.2006 in Düsseldorf. http://www.im.nrw.de/pm/141206_1018.html (07-05-01)