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Die Ausstellung und der Katalog werden unterstützt durch die Ernst von Siemens Kunststiung Georg-Kolbe-Museum Aneignung des Fremden in der Moderne W E LT E N W I L DE

Die Rezeption "primitiver Kunst" im kunstwissenschaftlichen Diskurs um 1900

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Die Ausstellung und der Katalog werden unterstützt durchdie Ernst von Siemens Kunststi"ung

Georg-Kolbe-Museum

Aneignung des Fremden in der Moderne

WELTENWILDE

Sarah
Text-Box
2010

#

INHALT

STEFANIE WOLTER

UND SONNTAGS NACH SAMOA

Zur Bedeutung der Völkerkundemuseen im beginnenden $%. Jahrhundert

VORWORT

ANHANG

73

109

83

CHRISTIANE WANKEN

4

139

5

25

127

CHRISTOPH OTTERBECK

AUF DER SUCHE NACH EINER ELEMENTAREN ÄSTHETIKVon der Holzbildhauerei der Brücke-Künstler zum Werk Otto Freundlichs

Bibliografie (Auswahl)KünstlerbiografienAbbildungsnachweiseAutoren und Leihgeber

57

SARAH MAUPEU

DIE REZEPTION „PRIMITIVER KUNST“ IM KUNSTWISSENSCHAF TLICHEN DISKURS UM 1900

97

ANJA LAUKÖTTER

KULTUR IN VITRINEN

URSEL BERGER

FREMDE IM ATELIER

Marktgängige Exotik um !&%%

Exotische Künstlermodelle

EINLEITUNG

TAFELN

KATALOG

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SARAH MAUPEU

DIE REZEPTION „PRIMITIVER

KUNST“ IM KUNSTWISSEN-SCHAF TLICHEN

DISKURS UM 1900

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Abb. !

(KAT. !)) Carl EinsteinNegerplastik, !&!*Einband

Abb. $

Carl Einstein auf Ibiza, !&$#s/w-FotografieSammlung Herbert und Barbara Molderings, Köln

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Abb. #

Aby Warburg mit einem Hopi-Indianer, !(&*/&+

Abb. )

Humiskatcina-Tänzer in Oraibi, !(&*/&+

Abb. *

Masken und Gefäße der Kwakiutl in Wolfsform

Abb. +

Darstellung der Farb-Gestaltung eines Ornaments

+

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Mit der Kolonialisierung und der damit verbun- denen Mobilisierung von Menschen und Gütern strömten im 19. Jahrhundert immer mehr Arte- fakte aus der ganzen Welt nach Europa. Um diese unglaublichen Mengen an Masken, Fetischen, Waf-fen, Götter- und Ahnenfiguren zu bewahren und zu erforschen, wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts in großen europäischen Städten wie Berlin, Ham-burg oder Paris Völkerkundemuseen eingerichtet.

Wissenscha"en wie die noch junge Anthropolo-gie und die Ur- und Frühgeschichte erhofften sich, über das Studium der „primitiven“ Kulturen die eigene, europäische Vorgeschichte rekonstruieren zu können. In dieser anthropologischen Sicht spiel-ten ästhetische Qualitäten der „primitiven“ Objekte zunächst kaum eine Rolle, es standen vielmehr die funktionalen Eigenscha"en im Vordergrund. Die Auswahl und Anordnung der Artefakte basierte auf formalen Kriterien und den Veränderungen einzel-ner Formelemente. Die Objekte wurden in evolutio-nären Reihen angeordnet und sollten, gewisser- maßen im Zeitraffer, anhand von Artefakten die Entwicklung des Menschen abbilden.

Die zunehmende Präsenz und Verfügbarkeit der außereuropäischen Artefakte in Europa und die begeisterte Rezeption der fremden Kunst durch die Kunstsammler und die modernen Künstler führten dazu, dass „primitive“ Objekte um 1900 auch in den kunstwissenscha"lichen Diskurs aufgenommen wurden. An den Schri"en von Ernst Grosse, Carl Einstein, Eckart von Sydow, Aby Warburg und Franz Boas soll exemplarisch gezeigt werden, wie unterschiedlich die Rezeption der sogenannten „primitiven Kunst“ sein konnte. Eine Au"eilung in „typisch“ völkerkundliche und „typisch“ kunsthis-torische Konzepte grei" allerdings zu kurz. Viel-mehr war es allen diesen Forschern ein zentrales Anliegen, Methoden und Erkenntnisse beider Dis-ziplinen zusammen zu führen, um endlich die „primitive“ Kunst in ihrem ganzen Umfang erfas-sen zu können.

Die Primitivität der „primitiven Kunst“Das Verständnis dessen, was als „primitive“ Kunst klassifiziert wurde, hat einen starken Bedeutungs-

wandel erfahren. Mitte bis Ende des 19. Jahrhun-derts wurden die romanischen und byzantinischen Künstler sowie die Meister der italienischen Früh-renaissance als „primitiv“ bezeichnet. Der Begriff wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf die sogenann-ten frühen Hochkulturen wie Ägypten, die Maya-Kultur, Indien, Persien, Japan und den Orient übertragen, deren „zivilisierte“ Kunstwerke den europäischen Meisterwerken gegenüber als nahezu gleichrangig galten. Erst Anfang des 20. Jahrhun-derts fokussierte sich die Verwendung des Begriffs „primitive“ Kunst auf die „unzivilisierten“ außer-europäischen Kulturen aus Afrika, Ozeanien, Aus-tralien und Nordamerika. Wurden diese „primiti-ven“ Objekte zu diesem Zeitpunkt überhaupt als Kunst anerkannt, dann konzentrierte sich die Re-zeption nahezu ausschließlich auf die Ornamen-tik.! Die Aufwertung der plastischen Künste außer-europäischer Kulturen wurde dagegen erst von den Künstlern der klassischen Moderne vorangetrieben.

„Primitivität“ wurde bereits vor 1900 gleichge-setzt mit „ursprünglich“, „urtümlich“, „nicht-kulti-viert“ oder als „dem Anfang näher stehend“. Diese Vorstellung eines unverfälschten Ursprungs der Menschheit geht auf die -eorie des kulturellen Evolutionismus zurück, dessen Vertreter eine line-are, teleologische Entwicklung der Menschheit pro-pagierte. Parallel zur Entwicklung des einzelnen Individuums durchlaufe auch jede Kultur notwen-digerweise die verschiedenen Entwicklungsstadien von den primitiven Anfängen zum hochtechnisie-rten Niveau der westlichen Zivilisation. Diese Ent-wicklung sei von inneren Krä"en angetrieben und verlaufe zielgerichtet in Richtung Zivilisation. Be-zugspunkt und Maßstab für diese Bewertung wa-ren die westlichen Gesellscha"en, die als End- und Höhepunkt der menschlichen Entwicklung galten. Den vermeintlich „primitiven“ Kulturen wurde dagegen der (mentale) Entwicklungszustand von Kindern zugeschrieben. Da sich in der -eorie des kulturellen Evolutionismus alle Kulturen entlang dieser Stufenabfolge entwickelten, glaubte man, bei den „Primitiven“ ursprünglichere, reinere und unverfälschtere Zustände der eigenen Kultur wie-derentdecken zu können.

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Der Begriff „primitiv“ war und ist allerdings kei-ne substantielle Kategorie, die die „fremde“ Lebens-weise konkret beschreibt, sondern ist vielmehr relational. Das „Primitive“ wird immer nur in Bezug auf die europäische Zivilisation konstituiert, die als absoluter Maßstab galt,$ und ist damit genau das, was Europa nicht ist: nicht-zivilisiert, nicht-ratio-nal, etc. Obwohl in der Literatur zur modernen Kunst immer wieder behauptet wird, der Begriff sei zunächst wertfrei verwendet worden, schwingen darin doch stets Assoziationen wie „(geistig) wenig entwickelt“ und „minderwertig“ mit.

Primitivismus: Entdeckung der „primitiven“ Plastik durch die Künstler der Moderne

Die ästhetische Rezeption der plastischen Kunst-werke aus Afrika und Ozeanien beginnt um 1900 und wird allgemein den Kunstsammlern – 1896 eröffnete Emîle Hermann in Paris die erste Galerie für „Stammeskunst“ – und den Künstlern der Klas-sischen Moderne zugeschrieben. Insbesondere Paul Gauguin, der 1891 nach Polynesien reiste, aber auch Maurice de Vlaminck, André Derain und Pablo Picasso werden in der Literatur immer wie-der als Entdecker und Pioniere genannt. Diese „Entdeckung“ hat in der Literatur zur außereuro-päischen und modernen Kunst mittlerweile den Status eines Mythos angenommen, der Ähnlich-keiten mit anderen Entdeckergeschichten aufweist: das Eindringen in ein unbekanntes Gebiet (hier das Musée du Trocadéro, das damalige Ethnologi-sche Museum in Paris), das Au"auchen von düste-ren Figuren aus der verstaubten Dunkelheit und schließlich der Erweckungsmoment, wenn der Künstler sein „Offenbarungserlebnis“# hat. Mit seiner Kreativität erweckt der Künstler dann die vergessenen Kunstwerke in seinen eigenen Arbeiten wieder zum Leben.

Konfrontiert mit diesen, dem europäischen Auge völlig fremden Kunstformen, fühlten die Künstler der europäischen Avantgarde die Notwendigkeit, ihre eigene Kunst neu zu denken. Viele Künstler, darunter Georges Braque, Constantin Brancusi oder Henry Moore, legten sich zu Studienzwecken kleine ethnographische Sammlungen an, die sie

bei spezialisierten Kunsthändlern erwarben.) So zeigt das Musée National d’Art Moderne im Centre

Georges Pompidou in Paris die Rekonstruktion einer Wand mit ethnografischen Objekten aus der Sammlung des surrealistischen Dichters und Künstlers André Breton. Dort sind neben außereu-ropäischen Masken auch verschiedene Kulturob-jekte wie Vasen und Schilde zu sehen, die Breton assoziativ angeordnet hatte. Andere Künstler, wie Picasso, sammelten auch ethnografische Fotografi-en als Vorlagenmaterial.*

Durch die Hinwendung zur Kunst der „Primiti-ven“ – und dies umfasste neben prähistorischen Künstlern auch Kunst aus Afrika, Ozeanien und Australien, bayrische oder russische Volkskunst sowie die Kunst von Kindern und Geisteskranken – versuchten die europäischen Künstler, zurück zu den Anfängen der eigenen Geschichte zu gelan-gen. Diese frühen Stadien der Menschheit schienen authentischer, ursprünglicher und reiner zu sein und boten eine Alternative zur eigenen, als deka-dent empfundenen Zivilisation. Dieser Rückgriff auf vermeintlich „primitive“ Kunst zur Revitalisie-rung der zeitgenössischen Kunst wird als Primiti-vismus bezeichnet und ist keinesfalls die Idee ein-zelner Künstler. Es ist vielmehr Ausdruck einer weit verbreiteten gesellscha"lichen Vorstellung, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine Hochphase erlebte.+

Als Fachbegriff für die formale und inhaltliche, auf Material oder Technik fokussierte Rezeption und Imitation „primitiver“ und „archaischer“ Kunst durch die europäischen Künstler der Moder-ne wurde „Primitivismus“ um 1900 in Frankreich etabliert.' Auch wenn sich der Begriff in erster Linie auf eine formale und motivische Inspiration bei anderen Künstlern bezieht – ein Vorgang der in der Kunst seit jeher eine wichtige Rolle spielt – so muss das Konzept des Primitivismus aufgrund seiner teilweise verborgenen eurozentristischen, rassistischen und kolonialistischen Implikationen kritisch hinterfragt werden.(

Obwohl die Rolle der afrikanischen und ozea- nischen Kunst für die Entstehung der Klassischen Moderne stets hervorgehoben wird, lässt sich von

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Seiten der Künstler wie der Kunstkritiker jedoch bis heute eine ambivalente Bewertung beobachten: einerseits wird betont, dass die ‚primitive‘ Kunst einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung der neuen Kunstformen geleistet habe, anderer-seits wird dieser Einfluss herunter gespielt, um die Leistung der europäischen Künstler nicht zu schmälern.

Kunstwissenscha" und „primitive“ KunstDer Großteil der frühen Forschung zur „primi- tiven“ Kunst fand im deutschsprachigen Raum statt.& Mit dem Nationalsozialismus, der die außer-europäische Kunst ablehnte und die Künstler der Klassischen Moderne, die diese „primitive“ Kunst rezipierten, als „entartet“ abwertete, fand diese Forschungsrichtung ein abruptes Ende. Sie wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg im anglo-ameri-kanischen Sprachraum wieder aufgegriffen.

Der Diskurs über „primitive“ Kunst beschränkte sich jedoch nicht auf den Bereich der Kunstge-schichte, sondern entstand gerade im Austausch von Kunstgeschichte und Völkerkunde.!% Wurde die „primitive“ Kunst Ende des 19. Jahrhunderts zunächst von der Völkerkunde rezipiert, war sie von 1900 bis in die 1920er Jahre hinein vor allem Gegenstand der Kunstgeschichte. Seit den 1960er Jahren fand die „primitive“ Kunst wieder das Inter-esse der Ethnologen; dies führte zur Etablierung der Kunstethnologie als eigenständigem Bereich.

Ernst Grosse: Am Anfang anfangenAls einer der ersten Forscher setzte sich Ernst Grosse wissenscha"lich mit „primitiver“ Kunst auseinan -der. Grosse, der in Philosophie promoviert wurde, war ab 1894 in Freiburg als Professor für Philoso-phie und Völkerkunde tätig und beschä"igte sich gleichzeitig intensiv mit ostasiatischer Kunst.!! In seiner Schri" Die Anfänge der Kunst von 1894 verbindet er kunstphilosphische, kunstwissen-scha"liche und kulturanthropologische Ansätze zu einer „sociale[n] Kunstwissenscha"“.!$ Als Ver-treter der Kunstwissenscha", welche die auf die Sammlung individueller historischer Daten kon-zentrierte Vorgehensweise der Kunstgeschichte ab-

lehnte,!# suchte auch Grosse nach quasi naturwis-senscha"lichen Gesetzmäßigkeiten. Sein Ziel war die Erforschung des Wesens und der Ent-wicklung der Kunst unter Einbeziehung des gesell-scha"lichen Kontextes. Dazu müsse die Kunstwis -senscha" jedoch „beim Anfange“, d.h. der Kunst der „primitiven“ Kulturen anfangen.!)

Diesem Ansatz liegt die Vorstellung einer linea-ren, teleologischen Evolution der Menschheit zugrunde. Ähnlich wie die Physische Anthropolo-gie und die Biologie mittels Knochenfunden die Entwicklung einzelner Arten rekonstruierten, sollte anhand der Überreste früherer Kulturen die Geschichte der Menschheit nachgezeichnet wer-den. Die Erforschung der prähistorischen europä-ischen Kulturen steckte jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Artefakte und noch weniger gesicherte Erkenntnis-se über die „primitiven“ Kulturen der europäischen Vorgeschichte standen zur Verfügung. In der Nachfolge des Anthropologen James Lubbock, der 1865 vorschlug, auf „die Hervorbringungen der aktuellen ‚Wilden‘“ zurück zu greifen,!* sah auch Grosse eine Kooperation von Kunstgeschichte und Ethnologie als unumgänglich für die Erforschung der Geschichte der Weltkunst an: „[…] Die Historie vermag uns über diese Anfänge [der Menschheit] keinen Aufschluss zu geben. Die Ethnologie da- gegen ist imstande, uns primitive Völker im Lichte der Gegenwart zu zeigen.“!+ Im Gegensatz zu den prähistorischen europäischen „Primitiven“ bot die Erforschung der zeitgenössischen außereuropä-ischen „Primitiven“ den Vorteil, dass es sich um lebendige Gesellscha"en handelte. Die europä-ischen Wissenscha"ler und Künstler konnten so nicht nur die materielle Kultur studieren, sondern hatten zudem die Möglichkeit, die kulturellen Praktiken und Alltagshandlungen mitzuerleben. Ohne Rücksicht auf zeitliche und kulturelle Unterschiede wurden in diesem „Denkmodell der verordneten Gleichzeitigkeit“!' prähistorische eu-ropäische und zeitgenössische außereuropäische Kulturen gleichermaßen auf einer niedrigen, „primitiven“ Entwicklungsstufe angeordnet.

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Grosse beabsichtigte, eine Stufenabfolge aller Kulturen zu erstellen. Das entscheidende Merkmal für die Zuordnung der einzelnen Völker zu einer Entwicklungsstufe war für ihn die wirtscha"liche Produktionsweise, die wiederum alle anderen kulturellen Bereiche, darunter auch die Kunst, be-einflusse. Die Kunst der Jäger und Sammler, wie die der australischen Aboriginies, die Grosse als die „ursprünglichste“ und damit „primitivste“ aus-machte, unterscheide sich demzufolge maßgeblich von der bereits weiter entwickelten Kunst der Ackerbauern.!( Er verfolgte die -ese, dass die „Zierkunst“, d.h. die Gebrauchskunst – speziell die Körperbemalung –, die ursprünglichste aller Kunstformen sei.!&

Grosse merkt an, dass künstlerische Produkti-onen bei „primitiven“ Kulturen nie aus rein ästhe- tischen Absichten entstehen, sondern stets irgend-einem praktischen, meist religiösen Zweck dienten. Dennoch war er davon überzeugt, dass ihr künstle-rischer Charakter stark genug sei, um von Kunst zu sprechen.$% Damit widerspricht er anderen Evo-lutionstheorien, die eine Existenz von Kunst erst ab späteren Entwicklungsstadien als möglich ansa-hen. Kunst ist nach Grosse eine anthropologische Konstante, die jedoch stets durch die jeweiligen historischen und kulturellen Umstände bedingt sei.$! Mit seiner Schri" leistete er einen sehr frühen Beitrag zur kunstwissenscha"lichen Rezeption „primitiver“ Kunst.

Carl Einstein: Das kubische FormprinzipMit einigen Jahren Verzögerung wurde die außer-europäische Plastik nach den Anthropologen, Kunstsammlern und Künstlern auch von der Kunst-geschichte wahrgenommen. Der Kunsthistoriker und -kritiker Carl Einstein veröffentlichte 1915 mit seinem Buch Negerplastik KAT. !) die erste ästhetische Würdigung der afrikanischen Skulptur. ! und $

Ausgangspunkt für seine Aufwertung der „pri-mitiven“ afrikanischen Kunst war deren Rezeption durch die kubistischen Künstler der Klassischen Moderne. Diese interessierten sich für afrikanische Kunst, weil sie in ihr die kubische Raumgestaltung

in Reinform verkörpert sahen. Einstein paralleli-sierte die Formgebung der afrikanischen Skulptur mit den künstlerischen Prinzipien der Kubisten als zwei ähnliche, aber voneinander unabhängige ästhetische Phänomene. Mit dieser Parallelisierung verfolgte Einstein zwei Ziele: Zunächst war es ihm ein wichtiges Anliegen, die afrikanische Kunst, die bis dahin nur im Kontext der Ethnologie und als minderwertig rezipiert worden war, als der mo-dernen Kunst äquivalente ästhetische Leistung anzuerkennen. Gleichzeitig beabsichtigte er, die bisher verschmähte kubistische Kunst aufzuwer-ten. Seine Begründung: Wenn unabhängig vonein-ander in zwei Kulturen zu unterschiedlichen Zeit-punkten dasselbe ästhetische Prinzip der kubischen Raumgestaltung au"auche, müsse dieses Prinzip eine gewisse Daseinsberechtigung haben. Sich gegenseitig stützend, diente so der Kubismus der afrikanischen Kunst und die afrikanische Kunst dem Kubismus als Legitimation.

Einstein distanziert sich in Negerplastik explizit von einer rein ethnografischen Analyse der afrika-nischen Plastiken. Die zeitgenössische Praxis der Ethnologie betrachtete er als eine Reduktion der Objekte, die den ästhetischen Wert der afrika-nischen Kunst nicht erkannte und damit für die Kunst nicht nutzbar machen konnte.$$ Er plädierte deshalb dafür, die „primitive“ Kunst nicht nur „ethnografisch“, sondern auch kunstwissenscha"-lich zu analysieren. Diesen Anspruch hatten vor Einstein bereits 1912 der Kunstkritiker Guillaume Apollinaire und 1913/14 der Kunstkritiker und Kulturhistoriker Wilhelm Hausenstein formuliert: Eine „lediglich wissenscha"liche Organisation exotischer Kulturdokumente [ist] heute kein zu-reichender Grundsatz mehr“, es sei vielmehr „an der Zeit, daß sie [die ethnografischen Samm-lungen] einer künstlerischen Pflege überantwortet werden“.$#

Einstein war der Ansicht, dass einzig eine for-malistische Analyse, welche die inneren Gesetzmä-ßigkeiten aus den Objekten selbst ableitet, die afri-kanische Kunst wirklich erfassen könne. Damit folgte er der um 1900 dominanten Strömung der Formanalyse. Er grenzte sich jedoch deutlich von

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psychologisierenden Ansätzen ab. Einstein griff auf Riegls Begriff des „Kunstwollens“$) als ein „innewohnende[r] Formtrieb“$* und universales ästhetisches Bedürfnis des Menschen zurück, um die Andersartigkeit der afrikanischen (und der kubischen) Kunst zu erklären. Er konnte so eine „andere“, kubische Kunstform aufwerten, die eben nicht die gleichen Ziele verfolge wie die „male- rische“, d.h. flächenha"e europäische Kunst seit der Renaissance.$+

Obwohl Einstein 1915 den Fokus explizit auf die ästhetische Rezeption der afrikanischen Plastik legte, widmete er dennoch ein ganzes Kapitel der Einordnung der afrikanischen Kunst in ihren sozia-len Kontext.$' Er definierte den religiösen Kontext als übergeordneten Interpretationsrahmen für afrikanische Kunst: „Während das europäische Kunstwerk der gefühlsmäßigen, sogar formalen Deutung unterliegt, insofern der Betrachter zur ak-tiven, optischen Funktion aufgerufen wird, ist das Negerkunstwerk aus mehr als formalen Gründen, nämlich auch religiösen, eindeutig bestimmt.“$(

Kunst konnte es für Einstein außerhalb Europas nur im religiösen Zusammenhang geben und künstlerische Veränderungen waren folglich immer das Ergebnis von Veränderungen der religiösen Gegebenheiten. Diese ethnografische Tendenz lässt sich verstärkt in seiner zweiten Schri" Afrikanische

Plastik von 1921 beobachten. Im Gegensatz zur völlig entkontextualisierten Präsentation der Objekte in der Negerplastik werden hier die Plas- tiken detailliert beschrieben und er geht teilweise sehr ausführlich auf die konkreten sozialen Kon-texte und die religiösen Funktionen der Kunstwer-ke ein.$&

Der ethnografische und der ästhetische Ansatz stehen bei Einstein jedoch fast ohne Berührungs-punkte nebeneinander: Auf der einen Seite be-schä"igt er sich intensiv mit den formalen Ähnlich -keiten der Kunst der verschiedenen afrikanischen Völker und versucht, kulturelle Wanderungen zu rekonstruieren.#% Völlig unabhängig davon ist er auf der anderen Seite von der afrikanischen Mytho-logie fasziniert, die er teilweise über mehrere Sei-ten hinweg wiedergibt.#!

Eckart von Sydow: Mystik und MagieIm selben Jahr wie Einsteins Afrikanische Plastik erschien ein weiteres zentrales Werk zur „primiti-ven Kunst“. Der Kunsthistoriker Eckart von Sydow veröffentlichte 1921 Exotische Kunst. Afrika und

Ozeanien#$. Auch er sieht bei den „primitiven“ Kul-turen einen engen Zusammenhang zwischen Kunst und Kult. Die „primitive“ Kunst sei immer in einem kultisch-religiösen Kontext verortet, wobei Sydow zwei Wurzeln des Kultes unterscheidet: Dämonen-glaube und Ahnenkult.

Diese Bestimmung der „Primitiven“ als mys-tisch-magische Gesellscha"en, die nicht zur Selbst -reflexion in der Lage seien, geht wesentlich auf den französischen Philosophen und Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl zurück, den Sydow mehrfach zi-tiert. Lévy-Bruhl veröffentlichte 1910 mit Les fonc-

tions mentales dans les sociétés inférieures ein Stan-dardwerk zu den sogenannten Naturvölkern.## Deren Denkweise charakterisierte er als „mystisch“ und als strukturell völlig anders als die rationale westliche Denkweise. In dieser animistischen Sicht-weise schrieben die „Primitiven“ auch ihren Arte-fakten magische und mystische Fähigkeiten zu, die sie gegen andere Mächte einsetzten.#)

Besonders angetan ist Sydow von der Vorstel-lung einer Einheit von Kunst und Leben, die bei den „primitiven“ Völkern noch in ihrer ursprüng- lichen Form vorhanden, in der modernen Gesell-scha" jedoch verloren gegangen sei. Sydow stim-mte in diesem Punkt mit den modernen Künstlern überein, die ebenfalls nach einer Verbindung von Kunst und Leben suchten. Für die moderne Kunst sahen der Kunstwissenscha"ler wie die Künstler eine Chance, durch den Bezug auf diese urtüm- lichen Formen wieder zum Unbewussten zurück zu finden, ohne sich jedoch auf das niedrige geistige Niveau der „Primitiven“ herab zu lassen.#*

Sydow beschreibt kaum einmal konkrete Objek-te, sondern spricht sehr allgemein über die Form und Funktion der „primitiven“ Kunst. Diese sei ein-fach und flächenha", aber monumental. Er bevor -zugt eindeutig die ozeanische gegenüber der afri-kanischen Kunst; letztere findet er eher seelenlos. Insbesondere Masken und Totemdarstellungen

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interessieren ihn aufgrund ihres engen Zusammen-hangs mit dem Ahnenkult.

1923 veröffentlichte Sydow mit Die Kunst der Naturvölker und der Vorzeit sein zweites Werk zu „primitiver Kunst“. #+ Er setzt dort seinen Ansatz von 1921 fort, erweitert seine Untersuchungen aber um Kunst aus Australien und Indonesien sowie um lateinamerikanische und prähistorische Werke.

Auch hier betont er wieder die ursprüngliche Einheit von Kunst und Leben. Kunst sei niemals Kunst um ihrer selbst willen, sondern habe immer auch gesellscha"liche Funktionen: „Denn die gan -ze primitive Kunst ist immer einigermaßen mit dem Zweckha"en, mit der Gebrauchsabsicht ver-bunden. Das Atelier und die Samtjacke existieren bei den ‚Wilden‘ ja noch nicht, sondern die gesam-melte Kra" des Lebens wirkt sich ungebrochen in den Kunstdingen aus: nicht luxuriöse Hinweise auf menschlich-subjektive Befähigungen, verein-zelte Funktionen stehen da, sondern Gebilde, die getragen und durchflossen sind von der vielfäl-tigen Kra" auch der anderen menschlichen Trie-be.“#' Diese Verbindung künstlerischer und ritueller Intentionen macht es in Sydows Augen unumgänglich, neben der Kunstwissenscha" auch ethnographische oder religionswissenscha"liche Ansätze für das Studium der „primitiven“ Kunst heranzuziehen.#(

Aby Warburg: Ursprünge der „Pathosformel“Zeitgleich mit Sydows Die Kunst der Naturvölker

und der Vorzeit lässt sich ein regelrechter Boom an Literatur zu „primitiver“ Kunst feststellen. 1923 er-schienen ebenfalls zu diesem -ema Schri"en der Kunsthistoriker Oskar Beyer und Herbert Kühn#& und der Kunsthistoriker Aby Warburg trug am 21. April 1923 seinen Vortrag Bilder aus dem Gebiet der

Pueblo-Indianer vor.)% Warburg Abb. # , der sich auf-grund einer psychischen Erkrankung in einem Sa-natorium in Kreuzlingen befand, präsentierte die-sen Vortrag als Beweis für seine vollständige Genesung. Er wurde 1939 unter dem .tel A Lecture

on Serpent Ritual veröffentlicht und erschien als Schlangenritual. Ein Reisebericht erstmals 1988 in deutscher Sprache.)!

In seinem Vortrag befasst sich Warburg, der sich selbst als Kulturhistoriker bezeichnete, mit den kulturellen Praktiken der Pueblo-Indianer, denen er während seiner Amerikareise 1896 begegnet war. Er stand der klassischen Kunstgeschichte zum damaligen Zeitpunkt sehr kritisch gegenüber. Sein „aufrichtige[r] Ekel“)$ vor den in der Kunstge-schichte dominanten formal-ästhetischen Ansätzen führte ihn zu einer Beschä"igung mit anthropolo-gischen und psychologischen Fragestellungen.)# Nach seiner Ankun" in den USA suchte er bald den Kontakt zu namha"en Ethnologen, darunter auch Franz Boas vom Bureau of American Ethnolo-

gy der Smithsonian Institution.))

Warburg beschreibt im Schlangenritual sehr ausführlich den Ablauf der Maskentänze Abb. ) , er geht dagegen nur vereinzelt auf konkrete Objekte wie Masken, Textilien, Töpfereien oder architekto-nische Elemente ein. Im Gegensatz zu Sydow und vor allem Einstein, die sich mit „primitiver“ Plastik auseinander setzen, beschä"igt sich Warburg haupt-sächlich mit ornamentaler Kunst. Diese Fokussie-rung auf das Ornament, die vor allem in der frühen Phase der Beschä"igung mit „primitiver“ Kunst verbreitet war,)* lässt sich vermutlich dadurch er-klären, dass seine Reise bereits 1896 stattfand, der Vortrag aber erst 27 Jahre später formuliert wurde.

Verstärkt durch seine persönliche Auseinander-setzung mit Angstzuständen, beschä"igte sich Warburg in seinen Forschungen mit den Entste-hungs- und Veränderungsprozessen von „Pathos-formeln“. „Pathosformeln“ sind nach Warburg Bildsymbole der Leidenscha"en und des Leides. In diesen Symbolen manifestiere sich das Ergebnis der menschlichen Angstbewältigung. Mit jeder erfolgreichen Überwindung seiner Ängste gelange der Mensch einen Schritt weiter in Richtung Ratio-nalität. Allerdings könne dieser Prozess jederzeit auch umschlagen.

Kunst ist für Warburg ein „soziales Erinne-rungsorgan“, )+ und die Kunstwerke als materielle Symbole fungieren als eine Art kultureller Spei-cher. Dieser ermögliche es Künstlern und Wissen-scha"lern späterer Zeiten, die Prozesse der Angstüberwindung nachzufühlen und die im

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Objekt gespeicherten Energien zu reaktivieren.)' Als zentrales Symbol, das sich in allen Kulturen wiederfinden lässt, macht Warburg die Schlange aus: „Die Schlange ist eben ein internationales Ant-wortsymbol auf die Frage: Woher kommt elementa-re Zerstörung, Tod und Leid in der Welt?“)(

Dem evolutionistischen Modell zufolge stellten „primitive“ Gesellscha"en kindliche Formen der Menschheit dar, die den Ursprüngen der Mensch-heit näher zu sein schienen; und so erhoffte sich auch Warburg, aus dem Studium der „primitiven“ Indianer Anregungen für seine Renaissance-For-schungen und vor allem für seine Suche nach den Ursprüngen und der Entwicklung der Symbolbil-dung zu erhalten: „Ich fühle mich immer sehr in der Schuld Ihrer Indianer. Ohne das Studium ihrer primitiven Kultur wäre ich nie in der Lage gewesen, eine breitere Basis für die Psychologie der Renais-sance zu finden.“)& Warburg verortete sowohl die zeitgenössischen Pueblo-Indianer als auch die his-torischen Frührenaissance-Menschen auf der Stufe des „symbolisch verknüpfende[n] Mensch[en]“ *% der zwischen den irrationalen „Primitiven“ und den „zivilisierten“ Europäern stehe. Er war der Ansicht, seine Erkenntnisse über die Verhal-tensweisen der Pueblo-Indianer auf die Kultur der Frührenaissance in Italien übertragen zu können.

Warburg griff zwar auf evolutionistische Mo-delle zurück, er stand dem Fortschrittsglauben und der Technologisierung seiner eigenen Gesell-scha" dennoch kritisch gegenüber und sah die „mythische“ Denkweise durch den westlichen Modernismus gefährdet: „Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und das symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksver-knüpfung mordet.“*!

Franz Boas: Universalität der Form, Relativität der Bedeutung

Als letzter Beitrag zur Rezeption „primitiver Kunst“ im frühen 20. Jahrhundert wird an dieser Stelle Primitive Art von Franz Boas vorgestellt.*$

Boas, der in Deutschland Mathematik, Physik und Geografie studiert und als Assistent von Adolf Bas-tian am Berliner Völkerkundemuseum gearbeitet hatte, emigrierte 1896 in die USA. Er gilt als Be-gründer der amerikanischen Cultural Anthropology sowie des Historischen Relativismus in der Ethno-logie und trug wesentlich zur Professionalisierung des Faches Ethnologie bei.*# Er arbeitete lange Jah-re als Kurator am American Museum of Natural His-

tory in New York und kümmerte sich dort um den Erhalt und die Präsentation der materiellen Kultur. Aus Kritik an der evolutionistischen Ausstellungs-praxis des Museums trat er jedoch 1905 von sei-nem Posten zurück.*)

Mit Primitive Art veröffentlichte er 1927 die Er-gebnisse einer Vortragsreihe, die er in den 1920er Jahren am Instituttet for Sammenlignende Kultur-

forskning in Oslo gehalten hatte. Die Schri" ist zu-gleich die Zusammenfassung seiner langjährigen Forschungsarbeit zu „primitiver“ Kunst, die er größtenteils bis 1905 abgeschlossen hatte.** In Primitive Art beschä"igt er sich mit der gesamten außereuropäischen „primitiven“ Kunst, sein Fokus liegt jedoch auf der Kunst der Indianer an der Nordwestküste Amerikas. Boas war einer der ersten Ethnologen seit Grosse, der die außereuropäischen Artefakte nicht nur als Kultobjekte, sondern auch als Kunst untersuchte.

Boas lehnte jegliche universale Entwicklungs-modelle strikt ab und wollte durch seine Studien die Gleichheit aller Menschen beweisen. Er betonte den entscheidenden Einfluss historischer Faktoren auf die kulturelle Entwicklung und relativierte so europäische Bewertungsmaßstäbe für „Fort-schritt“. Kulturelle Unterschiede seien das Ergeb-nis unterschiedlicher Traditionen und nicht einer (rassisch bedingten) Entwicklung.*+ Die Fokussie-rung auf die jeweiligen historischen Entwicklungen einer Gesellscha" und ihre Kunstformen führten dazu, dass er Kulturen als quasi abgeschlossene Entitäten betrachtete und Phänomene wie Kultur-kontakt und -austausch nahezu vernachlässigte.

Eine dichotome Gegenüberstellung von irratio-nalen, mythischen „Primitiven“ und rationalen, wissenscha"lichen Europäern lehnte Boas ab.

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Er setzte stattdessen den rationalen Wert von Ma-gie bzw. Mythos und Naturwissenscha"en als Welt-erklärungen gleich und lehnte die Existenz einer prälogischen Denkweise ab. Scheinbar irrationale Denkweisen wie Tabus, Magie oder Aberglaube seien auch in der europäischen und amerikani-schen Kultur zu finden.*'

Über die Häl"e von Primitive Art besteht aus ethnografischen Daten zur Kunst der Nordwest-küste Nordamerikas, auch in den einzelnen Kapi-teln nehmen die Fallstudien einen großen Raum ein. Die einzelnen Objekte sind detailliert erfasst und werden immer wieder um Abzeichnungen und Schemata ergänzt, anhand derer Boas Struktur-prinzipien der „primitiven“ Kunst aufzeigt Abb. * und + .

Im Gegensatz zu Grosse, Einstein, Sydow und Warburg, die für die europäische Kunst entwick- elte Modelle auf die „primitive“ Kunst übertragen, entwir" Boas seine theoretischen Überlegungen vor allem anhand des empirischen Materials. Aus-gangspunkt für seine Untersuchungen ist die formale Beschaffenheit von Kunst. So beobachtet er, dass in allen „primitiven“ Kulturen formale Gestaltungsprinzipien wie Rhythmus und Symmet-rie zu finden sind, unabhängig vom Medium und der angewandten Technik. Daraus lasse sich ableiten, dass es sich hier um universale Gestal-tungsmittel handle.

Boas interessiert insbesondere der Zusammen-hang von technischem Standard und ästhetischem Empfinden: Die Herstellung von Kunst setze ein gewisses Maß an technischen Fertigkeiten voraus. Boas rezipiert hier die Schri"en des deutschen Architekten und Kunsttheoretikers Gottfried Sem-per, den er mehrfach zitiert. Semper beschä"igte sich mit Ornamentik und entwickelte daran eine Entstehungstheorie der Kunst.*( Nach Semper waren die Ursprünge dekorativer Formen in den existierenden Techniken zu finden, daher rückten Zweck, Material und Technik in den Vordergrund der kunstwissenscha"lichen Untersuchung.*&

Ein ästhetisches Urteil ist folglich die Bewer-tung der Perfektion dieser „technischen Form“. Allerdings macht Boas deutlich, dass diese Bewer-

tung nicht objektiv sei. Schönheitsideale entstün-den meist zufällig und seien stets nur relativ, d.h. in ihrem historischen und kulturellen Kontext gültig. Er grei" hier wie Einstein auf das kunsthis -torische Konzept des „Kunstwollens“ von Alois Riegl zurück, um die kulturell verschiedenen Schönheitsvorstellungen zu erklären.+%

Auch das Verhältnis von Form und Bedeutung denkt Boas neu. In seinen Forschungsarbeiten inte-ressierte er sich für das Verhältnis von Stil und symbolischer Bedeutung. Boas beschä"igte sich in diesem Kontext auch mit zeitgenössischen Aus-druckstheorien (u. a. von Wilhelm Wundt, Max Verworn, Richard -urnwaldt, Yrjö Hirn und Ernst Grosse), die die affektiven und kommunikativen Aspekte von Kunst in den Vordergrund stellten.+!

Formen, denen eine Bedeutung jenseits ihrer Funktion zugeschrieben wird, nennt er Symbole. Er kommt zu dem Schluss, dass der symbolische Gehalt der Form nachträglich zugeschrieben werde und der Zusammenhang von Form und Bedeutung folglich unabhängig und zufällig sei.+$ Kunstwerke sind für ihn deshalb nicht mehr nur unter formal-typologischen bzw. ästhetischen Kriterien interes-sant, sondern in Bezug auf die Bedeutung, die die jeweilige Kultur damit verbindet. Diese Perspektive stellte eine Neuorientierung innerhalb der ethno-grafischen Kunstforschung dar.+#

Vom ethnografischen Objekt zur Weltkunst?Der Vergleich der Schri"en von Ernst Grosse, Carl Einstein, Eckart von Sydow, Aby Warburg und Franz Boas zeigt, wie unterschiedlich die Rezeption soge-nannter „primitiver“ Kunst in der kunstwissen-scha"lichen Forschung um 1900 ausfallen konnte.

Ernst Grosse sieht Kunst als eine anthropolo-gische Konstante. Das künstlerische Prinzip lässt sich auf allen Entwicklungsstufen finden, unter-scheidet sich jedoch in Komplexität und Qualität der Ausführung. Indem er nach Gesetzmäßigkeiten der Kunstproduktion sucht, verfolgt er eine eher naturwissenscha"liche, soziologische Herange-hensweise. Für Eckart von Sydow stellt die „primi-tive“ Kunst das völlig „Andere“, Unbewusste der europäischen Zivilisation dar. Diese mystisch-magi-

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sche Kunst bietet in seinen Augen die Möglichkeit, die eigene Kultur zu erneuern. Carl Einstein klassi-fiziert das kubische Formprinzip der „primitiven“ Kunst als eine gleichwertige Alternative zur „malerischen“ akademischen Kunst. Die Kunst aller Zeiten lässt sich diesen zwei gegensätzlichen Gestaltungsweisen zuordnen, die parallel nebenei-nander existieren können. Aby Warburg, der sich vor allem mit ornamentalen Kunstformen beschäf-tigte, suchte ebenfalls nach einer universalen Erklärung für das Kunstschaffen. Im Gegensatz zu Grosses fortschrittsorientiertem Modell verfolgt Warburg eher ein zyklisches Konzept. Die „primiti-ve“ Kunst war für ihn in erster Linie eine Möglich-keit, die psychologische Seinsweise des zeit- genössischen, modernen Menschen von seinen Ursprüngen her zu verstehen. Franz Boas schließ-lich untersucht die „primitive“ Kunst in ihrer Funk-tion als Kommunikationsmedium. Zwar nimmt die Analyse der formalen Gestaltung eine wichtige Position in seinen Forschungen ein, der Kernpunkt seiner Arbeit ist jedoch gerade der Zusammenhang von Form und Bedeutung und die Relativität der Bedeutungszuschreibung.

Dass die unterschiedlichen historischen Rezep-tionsweisen und Interpretationen „primitiver Kunst“ nach wie vor im Gespräch sind, zeigt sich aktuell in der Diskussion über die Gestaltung des Humboldt-Forums im Kontext des Wiederau/aus des Berliner Stadtschlosses. Wurden die Artefakte bisher im Ethnologischen Museum in Dahlem in erster Linie als ethnografische Objekte präsen-tiert, ist noch unklar, ob die außereuropäischen Artefakte in Zukun" mit den europäischen Samm-lungen als Teil einer universellen Weltkunstge-schichte zusammengeführt oder als „andere“ Kunst der westlichen Kunst gegenübergestellt werden.

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! Zu nennen sind hier beispielha" die kunsthistorischen Schri"en von Gott -fried Semper, Alois Riegl oder Wilhelm Worringer. Vgl. Marlite Halbertsma, -e Many Beginnings and the One End of World Art History in Germany, !&%%–!&##, in: Kitty Zijlmans; Wilfried van Damme (Hg.), World Art Studies. Exploring Concepts and Approaches, Amsterdam $%%(, &!–!%*, &$.

$ Mark Antliff; Patricia Leighten, Primitive, in: Robert Nelson; Richard Shiff (Hg.), Critical Terms for Art History, Chicago $%%#, $!'–$##, $!'.

# Nana Badenberg, Art nègre. Picasso, Einstein und der Primitivismus, in: Alexander Honold; Klaus R. Scherpe (Hg.), Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, Bern; Berlin; Brüssel $%%% (Zeitschri" für Germanistik, Beihe" $), $!&–$)', $$(.

) Sebastian Hackenschmidt, Primitivis-mus, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler-Lexikon Kunstwissenscha". Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart $%%#, $('–$&!, $(&.

* Nana Badenberg $%%% (wie Anm. #), $#!.

+ Ebd., $$%–$$$.' Hackenschmidt $%%#

(wie Anm. )), $('.( Siehe Antliff; Leighten $%%#

(wie Anm. $).& Halbertsma $%%(

(wie Anm. !), &!–!%*, &!f.!% Ulrich Pfisterer weist zudem auf die

Bedeutung der Psychologie für die frü-he Kunstgeschichte hin. Ulrich Pfiste-rer, Origins and Principles of World Art History – !&%% (and $%%%), in: Zijlmans; van Damme $%%( (wie Anm. !), +&–(&, hier '% und '$ff.

!! http://publicus.culture.hu-berlin.de/sammlungen/sammlung/#$'/geschich-te ($'.!%.$%%&).

!$ Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. Br.; Leipzig !(&), !$.

!# Vgl. Pfisterer $%%( (wie Anm. !%), '!.!) Grosse !(&) (wie Anm. !$), !(–$!.!* Gabriele Genge, Von der Statue zum

ethnographischen Objekt. Aspekte zur französischen Skulptur im !&. Jahr-hundert, in: Ekaterini Kepetzis; Stefanie Lieb; Stefan Grohé (Hg.), Kanonisierung, Regelverstoß und Pluralität in der Kunst des !&. Jahrhun-derts, Frankfurt a. M. $%%', *'–'!, *&.

!+ Grosse !(&) (wie Anm. !$), #!.!' Genge $%%' (wie Anm. !*), *&.!( Grosse !(&) (wie Anm. !$), #).!& Ebd., )&.$% Ebd., $&$.$! Ebd., $&)–$&*.$$ Badenberg $%%% (wie Anm. #), $#(.$# Wilhelm Hausenstein, Von ethnogra-

phischen Sammlungen, in: Die weissen Blätter (!&!#/!)), $*$–$**, zitiert nach: Badenberg $%%% (wie Anm. #), $#(.

$) Alois Riegl, Spätrömische Kunstindu-strie nach den Funden in Österreich, Wien !&%!.

$* Julius von Schlosser, zitiert nach: Udo Kultermann, Kleine Geschichte der Kunsttheorie. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Darmstadt !&&(, $!#.

$+ Carl Einstein, Negerplastik, München !&$% ($. Auflage), !!.

$' Siehe: Kapitel ): Religion und afrikanische Kunst, in: Carl Einstein, Negerplastik, Leipzig !&!*.

$( Einstein !&$% (wie Anm. $+), XV.$& Carl Einstein, Afrikanische Plastik,

Berlin !&$$ ($. Auflage), $#.#% Ebd.,!$.#! Vgl. Tafeln )), )* und )+, in: ebd., $(f.#$ Eckart von Sydow, Exotische Kunst.

Afrika und Ozeanien, Leipzig !&$!.## Lucien Lévy-Bruhl, Les fonctions

mentales dans les sociétés inférieures, Paris !&!%.

#) Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, Wien !&$+, $+.

#* von Sydow !&$! (wie Anm. #$), ( und !!.

#+ Eckart von Sydow, Die Kunst der Naturvölker und der Vorzeit, Berlin !&$#, )#.

#' Ebd.#( Ebd., !).#& Oskar Beyer, Welt-Kunst. Von der

Umwertung der Kunstgeschichte, Dresden !&$#; Herbert Kühn, Die Kunst der Primitiven, München !&$#.

)% Aby Warburg, Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. Vortrag gehalten in der Heilanstalt Bellevue, Kreuzlingen, am $!. April !&$#, in: Ulrich Raulff (Hg.), Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin !&((, &–*&.

)! Aby Warburg: A Lecture on Serpent Ritual, in: Journal of the Warburg Institute $/) (April !&#&), $''–$&$ und Raulff !&(( (wie Anm. )%), (.

)$ Aby Warburg, zitiert nach: Raulff !&(( (wie Anm. )%), +*.

)# Georges Didi-Huberman, -e Surviving Image. Aby Warburg and Tylorian Anthropology, in: Oxford Art Journal $* / ! ($%%$), *&–'%, +!.

)) Raulff !&(( (wie Anm. )%), +*–+'.)* Halbertsma $%%( (wie Anm. !), &$f.)+ Ernst H. Gombrich, Aby Warburg.

Eine intellektuelle Biografie, Hamburg $%%+, #$+.

)' Ebd., ##).)( Warburg !&(( (wie Anm. )%), **.)& Aby Warburg and James Mooney, !&%',

zitiert nach: Benedetta Cestelli Guidi, Aby Warburgs Reise nach Amerika in Photographien, in: Benedetta Cestelli Guidi; Nicholas Mann (Hg.), Grenzer-weiterungen. Aby Warburg in Amerika !(&*–!(&+, Hamburg; München !&&&, $(–)+, )*.

*% Warburg !&(( (wie Anm. )%), $*.*! Ebd., *&.

*$ Erich Kasten, Franz Boas. Ein engagier-ter Wissenscha"ler in der Auseinander -setzung mit seiner Zeit, in: Ausst. Kat., Franz Boas. Ethnologe – Anthropologe – Sprachwissenscha"ler. Ein Wegberei-ter der modernen Wissenscha" vom Menschen, Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, Wiesbaden !&&$, +–#', $#f.

*# Douglas Cole, Franz Boas. -e Early Years !(*(–!&%+, Vancouver; Seattle; London !&&&, !.

*) Franz Boas, Primitive Art. Oslo; Paris; London u.a. !&$'.

** Christian F. Feest, Franz Boas, Primitive Art, and the Anthropology of Art, in: European Review of Native American Studies Jg. !(/ ! ($%%)), *–(, +.

*+ Aldona Jonaitis, A Wealth of -ought. Franz Boas on Native American Art, Seattle !&&*, '.

*' Boas !&$' (wie Anm. *)), $f.*( Jörg Trempler, Ornament / Ornamental,

in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart; Weimar $%%+, $(+–$((, $('.

*& Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Ästhetik, Frankfurt a. M. !(+%–+#, zitiert nach: Aldona Jonaitis, A Wealth of -ought. Franz Boas on Native American Art, Seattle !&&*, !+.

+% Boas !&$' (wie Anm. *)), !%f.+! Ebd., !#–!+.+$ Jonaitis !&&* (wie Anm. *+), !$ und !'.+# Kasten !&&$ (wie Anm. *$), ($ und &#.