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Fachbereich für Geschichts- und Kulturwissenschaften Master-Programm Global History Seminar: 1968 in Global History Leitung: Dr. Christoph Kalter Friedrich Meinecke Institut Sommersemester 2013 Hausarbeit zu dem Thema Die verpasste Chance 1968 ____ Vom Jugoslawischen zum „Kroatischen Frühling“ Verfasser: Janis Westphal Studiengang: MA Global History Anschrift: Emser Straße 23, 12051 Berlin Matrikelnummer: 4424450 Email: [email protected] Fachsemester: 2 Abgabetermin: 20.10.2013

1968 in Jugoslawien (german)

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Fachbereich für Geschichts- und Kulturwissenschaften

Master-Programm Global History

Seminar: 1968 in Global History

Leitung: Dr. Christoph Kalter

Friedrich Meinecke Institut Sommersemester 2013

Hausarbeit zu dem Thema

Die verpasste Chance 1968____

Vom Jugoslawischen zum „Kroatischen Frühling“

Verfasser: Janis Westphal Studiengang: MA Global History

Anschrift: Emser Straße 23, 12051 Berlin Matrikelnummer: 4424450

Email: [email protected] Fachsemester: 2

Abgabetermin: 20.10.2013

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: 1968 in Jugoslawien …................................................................ S. 1

________________________________________________________________

2 Die 'Goldene Ära' im Kontext der globalen 1960er ........................................ S. 3

2.1 Offizielle Positionierung Jugoslawiens im Gefüge des Kalten Krieges .. S. 3

2.2 Innenpolitischer Wandel: Die Reformen von 1961 bis '65 ......................S. 5

2.2 Sozialpolitischer Wandel: Akademischer Ideentransfer und mediale

Bewusstseinsbildung …............................................................................ S. 8

3 Protestziele der Studentenbewegung …………………………................. …. S. 12

3.1 Motivationen, Strukturen und Strategien ………..................................... S. 12

3.2 Der Konflikt mit dem Regime – die Verteidigung der Ideologie ...…..... S. 15

3.3 Konfliktbewältigungsstrategien unter Tito ……………………………... S. 18

4 Konsequenzen der Proteste ………………………………………………..... S. 21

4.1 Das Ende vom Mythos der konfliktfreien Gesellschaft ……………....... S. 21

4.2 Neue Nationalismen? - Der Kroatische Frühling ……………................. S. 23

_________________________________________________________________

5 Fazit: Jugoslawien – Ein artifizieller Staat? ………………............................. S. 26

6 Quellen- und Literaturverzeichnis …………………………………………... S. 28

6.1 Quellen ………………………………………………………………..... S. 28

6.2 Literatur ………………………………………………………………… S. 29

1 Einleitung: 1968 in Jugoslawien

In der Nacht vom 2. zum 3. Juni 1968 kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen von

Studenten und der Polizei am Rande eines Konzertes im Belgrader Neubaustadtvier-

tel Novi Beograd. Aufgebracht über das brutale Vorgehen der Polizei organisierten

sich die Studenten und formierten eine Protestfront. Bereits am Vormittag des 3. Juni

setzten die Sicherheitskräfte Schusswaffen ein, um die Demonstration von tausenden

Studenten und Sympathisanten auf dem Weg in die Innenstadt zu stoppen. Innerhalb

weniger Tage formierte sich nun eine Protestbewegung , die mit einem formulierten

Forderungskatalog und den ersten Massendemonstrationen der jugoslawischen Nach-

kriegsgeschichte das etablierte kommunistische Regime herausfordern sollte.1

Man forderte die „Abschaffung aller Privilegien, Demokratisierung der Informati-

onsmedien sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.“2 Die Studentenpro-

teste kamen nicht unerwartet, zwischen 1964 bis '74 gab es einen gewissen Protest-

zyklus; die Energie und Dynamik der Bewegung überraschte jedoch selbst die Stu-

denten. Bereits am 9. Juni beendete Josip Broz Tito die Proteste, indem er den Stu-

denten gegenüber eigene Fehler und die Vernachlässigung der Jugend einräumte und

ihnen so den Wind aus den Segeln nahm. Die mittelfristigen Folgen der nur sieben

Tage andauernden Demonstrationen sollten das Land jedoch maßgeblich prägen.

Die Proteste von 1968 wurden bisher nur von wenigen (post-)jugoslawischen und in-

ternationalen Wissenschaftlern ausführlich beleuchtet. Dies verwundert, ist doch der

Fall Jugoslawiens gerade für eine globale Perspektive der 1968er-Bewegung3 inter-

essant. Nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 nahm Jugoslawien eine einzigar-

tige Stellung zwischen Ost und West ein. Dies verstärkte sich um so mehr durch die

von Tito initiierte Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten. Auch die Stu-

dentenproteste fanden in diesem besonderen historischen Kontext statt. Dies wurde

dadurch untermauert, dass der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) die

wahrscheinlich einzige regierende Partei der Welt war, die die globalen Studentenbe-

wegungen offiziell in ihren Grundmotiven unterstützte und sich gar in den eigenen

1 Vgl. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 234f.2 Resolution der Studentendemonstration (3. Juni 1968). In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 233f.3'1968er-Bewegungen' soll hier vereinfacht für die globalen Bewegungen der 60er Jahre dienen. '1968' steht explizit für Ereignisse diesen Jahres.

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politischen und ideologischen Fundamenten bestätigt sah.4 Die Forderungen der Stu-

denten in Europa, den USA und anderswo interpretierte die jugoslawische Führung

als Bestätigung ihres Modells des Selbstverwaltungssozialismus. Doch gerade an

diesem Konzept und dem Unterschied zwischen Theorie und Praxis der Arbeiter-

selbstverwaltung sollten die Proteste der Studenten ihre Kritik ansetzen.

Die Studentenproteste von 1968 werden heute oft als Ausdruck nationaler Interessen

gedeutet, die über kurz oder lang zum Auseinanderbrechen des konstruierten Staates

Jugoslawien beigetragenen haben.5 Ziel dieser Arbeit ist es zu klären, ob die Proteste

der jugoslawischen Studentenbewegung zu neuen nationalen Tendenzen führten oder

eher Ausdruck eines globalen antiautoritären Phänomens waren.

Im folgenden Kapitel soll die politische, wirtschaftliche und soziale Situation Jugo-

slawiens am Vorabend der Proteste erläutert werden. Diese Analyse der als beson-

ders liberal und prosperierend geltenden 'Golden Ära' Jugoslawiens steht im globalen

Kontext der 60er Jahre. Der dritte Teil behandelt die Ereignisse des Juni 1968 sowie

die Protestziele und -motivationen der Studenten, wobei zwischen internationalen

Gemeinsamkeiten und jugoslawischen Besonderheiten unterschieden werden soll.

Schlussendlich werden die langfristigen strukturellen Folgen der Proteste umrissen

und konkret versucht, Verbindungen zum 'Kroatischen Frühling' 1971 – einer natio-

nalistisch geprägten Bewegung aus Zagreb – aufzuzeigen. Wegen der bisher gerin-

gen Literatur explizit zu den Studentenprotesten in Jugoslawien stützt sich diese Ar-

beit zu einem großen Teil auf die Dokumente und Gespräche in dem von Boris

Kanzleiter und Krunoslav Stojaković herausgegebenen Band '1968 in Jugoslawien.

Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975'.

4 Vgl. Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kul-turelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 14f.5 So zum Beispiel bei vgl. Jäger, Friedrich: Bosniaken, Kroaten, Serben. Ein Leitfaden ihrer Geschich-te. Frankfurt am Main [u.a.] 2001, S. 374f.

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2 Die 'Goldene Ära' im Kontext der globalen 1960er

Bei einer Historiographie der Volksrepublik Jugoslawien sticht die Phase von 1961

bis '74 besonders heraus. Die 'goldene Ära' – wie sie unter anderem von Marie-Janine

Clevic bezeichnet wird – ist gekennzeichnet von Liberalisierung, Prosperität und ei-

ner aktiven Außenpolitik.6 Um die Besonderheiten der jugoslawischen 68er zu ver-

stehen, ist es unerlässlich, diese Phase vorerst im Kontext der jugoslawischen Nach-

kriegsgeschichte zu umreißen.

2.1 Offizielle Positionierung Jugoslawiens im Gefüge des Kalten Krieges

Bereits in den Kriegsjahren verweigerten die Partisanen unter Tito eine komplette

Unterordnung unter die Anweisungen aus Moskau, was Josef Stalin als Bedrohung

wahrnahm.7 Nach dem Ende des Krieges bestanden die jugoslawischen Kommunis-

ten nun auf ihren 'eigenen Weg zum Sozialismus' und stellten sich damit in direkte

Opposition zum Kommunistischen Informationsbüro (Kominform), der internationa-

len und überstaatlichen durch Stalin dominierten Vereinigung kommunistischer Par-

teien. Ideologisch basierte dieser eigene Weg zentral auf dem Konzept der 'Arbeiter-

selbstverwaltung', welches jedoch erst 1950 ausformuliert wurde. Durch dieses Kon-

zept sollten Gegengewichte zum Gewalt- und Plannungsmonopol des Staates ge-

schaffen werden, die auf der Ebene der Produktion durch Involvierung des Einzelnen

und einer gestaffelten Mitverantwortung eine 'sozialistische Demokratie' erzeugen

sollte.8 Hier wurde die Sowjetunion als 'Vorbild' genommen. Die dort grassierende

Bürokratisierung durch Staat und Partei sollte durch die Einführung von Mechanis-

men direkter Arbeiterkontrolle verhindert werden. So hieß es im Programm des

BdKJ von 1958:

Unter der Führung Stalins gelang es der Kommunistischen Partei derSowjetunion und den sowjetischen Werktätigen, die Errungenschaftender Oktoberrevolution zu bewahren […] Stalin hatte sich jedoch ausobjektiven wie auch subjektiven Gründen den bürokratischen-etatisti-schen Tendenzen nicht widersetzt, die sich aus einer zu starkenMachtkonzentration in den Händen des Staatsapparats […] ergaben.

6 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 227f.7 Vgl. Brunnbauer, Ulf: Politische Entwicklung Südosteuropas von 1945 bis 1989/1991. In: Clewing, Konrad; Schmitt, Oliver Jens (Hg.): Geischichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegen-wart. Regensburg 2011, S. 597-650, hier: S. 611f. 8 Vgl. Trifunovic, Bogdan: Die sozialistische Selbstverwaltung in Jugoslawien. Grundbegriffe. Belgrad 1980, S. 342-350.

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Im Gegenteil, Stalin wurde zum politischen und ideologischen Trägerdieser Tendenzen.9

1948 kam es zu einem irreversiblen Bruch mit der Sowjetunion. Ausschlaggebend

hierfür war der 1947 eingeführte Marshallplan und das wirtschaftspolitische Gegen-

programm der Kominform, dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Diese beidsei-

tige Offensive vereinheitlichte das potenziell vielschichtige politische Modell Euro-

pas sehr erfolgreich und formierte zwei politische und wirtschaftliche Blöcke. Beson-

ders profitierten von dieser Polarisierung jedoch Randstaaten wie Finnland, Öster-

reich oder eben Jugoslawien.10 Nach Othmar Nikola Haberl sei „die entscheidende

außenpolitische Determinante“ nicht der Wunsch der Unabhängigkeit von Moskau,

„sondern die Existenz eines politischen Vakuums zwischen den Blöcken, zu dessen

Bildung die jugoslawischen Kommunisten nur rudimentär beigetragen haben, wenn-

gleich dieser Moment ihre außenpolitischen Überlebenschancen geradezu optimier-

te.“11 Bis dato waren die sowjetischen Interventionen in die jugoslawische Politik

nur rudimentär, mit der Verfestigung der beiden Blöcke wäre eine außenpolitische

Unterordnung unter die Sowjetunion unabdingbar gewesen. Erst durch die Möglich-

keit, sich im Schutz der USA als neutraler Staat zu platzieren, kam es zum Bruch mit

Stalin. Innerhalb kürzester Zeit änderte das US-Außenministerium ihre Jugoslawien-

politik, versprach Wirtschaftshilfen und versicherte militärischen Beistand im Fall

einer sowjetischen Intervention (ab 1953 im Rahmen der NATO).12

Tito verfolgte jedoch eine internationale Politik außerhalb der beiden militärisch-

politischen Blöcke, deren Höhepunkt die Konferenz von Bandung darstellte, eine

1955 aus Initiative von Tito und dem indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Neh-

ru veranstaltete Konferenz. Proklamiertes Ziel der 29 neutralen Teilnehmernationen,

die zusammen die Hälfte der Weltbevölkerung vertraten, war es, ein politisches Ge-

gengewicht zur bipolaren Welt zu formen. Erst hier formulierte sich eine Vorstel-

lung der 'Dritten Welt', welche sich im Kontrast zur Ersten (amerikanisch-westli-

chen) und Zweiten (sowjetisch-östlichen) Welt als neutraler Gegenpart konstruierte.

9 Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 203-207, hier: S. 205.10Vgl. Haberl, Othmar Nikola:: Jugoslawien und die Blöcke in der Nachkriegszeit. In: Evert, Jürgen (Hg.): Der Balkan. Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1997, S. .181-195, hier: S. 184f.11 Ebd., S. 185.12 Ebd.

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Nach der Konferenz von Bandung entwickelten sich viele Begriffe, politische Ideen

und Strömungen, die die Studentenbewegungen der 1960er maßgeblich prägen soll-

ten. Die Rolle Jugoslawiens als Mitglied und Führungskraft der daraus eintehenden

Bewegung der blockfreien Staaten war auch dazu bestimmt, die Belgrader Außen-

politik zu legitimieren und zu zeigen, dass diese auch ohne die Sowjetunion eigen-

ständig und progressiv handlungsfähig sei.13

Auf ideologischer Ebene waren es also drei Elemente, die den Sonderweg Jugosla-

wiens formulierten: Das Konzept der Arbeiterselbstverwaltung, die internationale

Platzierung in der Bewegung der blockfreien Staaten und – was von zentraler Bedeu-

tung war – der 'Volksbefreiungskampf' der Partisanen mit ihrem Übervater Tito, wel-

cher die Nationalitäten Jugoslawiens unter dem Banner des Kommunismus vereini-

gen sollte.14 Neben den Problemen in der Umsetzung der Arbeiterselbstverwaltung

im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung soll diese Ideologie im folgenden Kapi-

tel behandelt werden.

2.2 Innenpolitischer Wandel: Die Reformen von 1961 bis '65

Auf internationaler Ebene bedeutete der Bruch mit Moskau die Abkehr vom sowje-

tisch-sozialistischen Block, innenpolitisch änderte sich jedoch nur wenig. Zwar

wurde die Abkehr vom stalinistisch-repressiven Bürokratie zum öffentlich prokla-

mierten Ziel, doch blieben die Parteifunktionäre dem zentralisierten autoritären Stil

treu. Die Ideologie der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung, die das jugoslawi-

sche am prägnantesten vom sowjetischen Model unterschied, wurde praktisch nicht

umgesetzt. Der Selbstverwaltungssozialismus wurde zunehmend als reine Demago-

gie wahrgenommen.15 Dieser Eindruck verfestigte sich um so mehr mit den wirt-

schaftsliberalen Reformen der frühen 1960er.

Die zentralisierte Wirtschaftspolitik der BdKJ führte in den 50er Jahren zu einem

rapiden Wirtschaftswachstum und einer schnellen Industrialisierung und Urbanisie-

rung in den im europäischen Vergleich landwirtschaftlich geprägten Republiken

Jugoslawiens. Diese zentralistische Wirtschaftspolitik stieß jedoch Ende der 50er an

ihre Grenzen. Eine Rationalisierung des ökonomischen Sektors schien erforderlich.

13 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens. S. 200ff.14 Vgl. Ramet, Sabrina P.: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildung und ihrer Proble-me. München 2011, S. 261ff. 15 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 14f.

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So gab es dutzende 'politischer Fabriken', die zwar Rekordproduktionszahlen ver-

zeichnen konnten, aber keinerlei Profit erbrachten, weil Güter hergestellt wurden, die

keiner benötigte. Andere Märkte wurden gleichzeitig nicht oder nur gering bedient.

Bereits 1961 wurden erste Reformen durchgeführt, die Jugoslawien für den Welt-

markt und ausländische Investitionen öffnete sowie die zentrale Aufsicht über Löhne

lockerte. Die hastig durchgeführten Maßnahmen blieben jedoch hinter den Erwartun-

gen zurück, die Inflation beschleunigte sich sogar und das Wirtschaftswachstum fiel

1962 von 15 auf vier Prozent.16

1964/65 kam es zu weit entscheidenderen Reformen: Ein realistischer Wechselkurs

wurde eingeführt, die Preisverhältnisse wurden an die sich stark verteuerten Roh-

stoffmporte angepasst. Die Republiken erhielten mehr Kompetenzen, denn jede

Republik sollte nun zur Selbsterhaltung in der Lage sein. Außerdem wurde der föde-

rative Investitionsfond abgeschafft – das wichtigste Element der zentralistisch-jugo-

slawischen Wirtschaftspolitik der 1950er – und die Rolle von Banken und Wirt-

schaftsunternehmen vergrößert.17 Die auf der republikanischen Ebene organisierten

Strukturen waren jedoch der Manipulation seitens dieser ausgeliefert, was zu einem

sich verstärkenden Konflikt mit der föderativen Wirtschaftsorganisation führte. Die

Reformen zusammen mit der neuen Verfassung von 1963, die den Republiken mehr

Rechte einräumte, veränderten die staatliche Struktur Jugoslawiens maßgeblich. Vor

1963 war Jugoslawien ein zentralistischer Staat in einer föderativen Fassade. Mit den

Reformen begann ein politischer Wandel, der die Entwicklung dezentraler Institutio-

nen vorantrieb. Bereits 1971 glaubten verschiedene Beobachter, dass Jugoslawien

sich als Konföderation neu konstituieren würde.18

Auf der anderen Seite führten die wirtschaftsliberalen Reformen auch zu sozialen

Problemen: eine steigende Massenarbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen und

erstmals auch gut Qualifizierten sowie eine Verschärfung der Lohndifferenzen.19

1947 betrug beispielsweise der Durchschnittslohn in Slowenien 175 Prozent des

jugoslawischen Durchschnitts, im Kosovo lediglich 53. Die Entwicklungspolitik der

BdKJ versagte hier zunehmend, denn trotz und gerade wegen des rapiden Wirt-

schaftswachstums betrug der Unterschied zum Durchschnitt 1979 179 Prozent in

16 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens. S. 227ff.17 Vgl. Brunnbauer: Entwicklung Südosteuropas, S. 674-679.18 Vgl. Ramet: Die drei Jugoslawien, S. 296f.19 Zwischen 1964 und 68 nahm die Arbeitslosigkeit um 47 Prozent zu. Vgl. Calic: Geschichte Jugosla-wiens, S. 229.

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Slowenien und nur 29 in den traditionell landwirtschaftlichen Regionen des Koso-

vo.20 Auch hatten die Bewohner reicher städtischer Gebiete weit besseren Zugang zu

Konsum und Bildung als auf dem Land.

Diese Probleme setzten die Führung in Belgrad unter Druck und führten zu einem

Machtkampf innerhalb der BdKJ zwischen zentralistisch-traditionellen und föderati-

v-liberalen Kräften, welcher 1966 im Fall des mächtigen Innenministers und Chefs

der Geheimpolizei Aleksander Ranković gipfelte.21 Der dominierende von Tito unter-

stützte liberale Flügel beschleunigte hierauf gar die Reformpolitik. Die anhaltenden

Spannungen blieben jedoch bestehen und dominierten die politische Bühne. Im

Schatten der Reformen und vor allem des politischen Streits entwickelte sich eine Li-

beralisierung des öffentlichen Raumes. Erstmals war eine breite kritische Meinungs-

äußerung in Kunst, Film und Fachzeitschriften möglich.22

Mit der Ideologie der 'Arbeiterselbstverwaltung' und der Abgrenzungen zu den bei-

den politischen Blöcken in Ost und West haben die jugoslawischen Kommunisten

Ideen und Positionen entwickelt, die später ähnlich von der 'Neuen Linken' formu-

liert wurden. Diese neue heterogene intellektuell-ideologische Bewegung formierte

sich in den 60er Jahren als Gegenströmung sowohl zu dem sozialdemokratischen als

auch kommunistisch-orthodoxen auf die Sowjetunion orientierten Modell. Die Neue

Linke trug zum einen stark zur Formulierung der Ideen und Motive der globalen

1968er Bewegungen bei, gewann durch diese jedoch ebenfalls Profil.23 Inwiefern das

jugoslawische Modell im Detail als Inspiration und Vorbild für die neue Strömung

diente, bleibt noch zu prüfen. Im nächsten Kapitel soll jedoch aufgezeigt werden,

dass es sowohl auf einer intellektuell-argumentativen als auch massenmedialen Ebe-

ne Verbindungen der neuen politischen Strömungen einzelner Länder der östlichen

und westlichen politischen Hemisphäre und Jugoslawien gab.24

20Vgl. Singleton, Fred; Carter, Bernhard: The Economie of Yugoslavia. London 1982, S. 220ff.21 Vgl. Calic:: Geschichte Jugoslawiens, S. 231f.22Vgl. Pervan, Ralph: Tito and the Students. The University and the University Students in Self-Mana-ging Yugoslavia. Nedlands 1978, S. 112f.23Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA. München 2001, S. 14ff.24 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 16f.

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2.3 Soziopolitischer Wandel: Akademischer Ideentransfer und

mediale Bewusstseinsbildung

Nach einer klassischen Revolutionsdefinition von Crane Brinton entfalten sich Revo-

lutionen selten in Zeiten der systematischen Unterdrückung, aber in Perioden der Re-

formen und Lockerungen.25 Auch in Jugoslawien verhielt es sich ähnlich. Nach dem

Kriegsende etablierte die neue kommunistische Führung ein Einparteieinregime und

setzte dies mit teils drakonischen Maßnahmen gegen jede Form von Opposition

durch. Zuerst hieß dies vor allem die Verfolgung von ehemaligen tatsächlichen und

vermeintlichen Kriegskollaborateuren, aber auch bürgerlichen, monarchistischen und

nationalistischen Kräften. Dieses Vorgehen wurde von der sowjetischen Führung gut

geheißen.26 Nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 waren es dann Tausende von

Stalin-Anhängern, die verfolgt und inhaftiert wurden. Eine berüchtigte Berkanntheit

erlangte hier die Gefängnisinsel Goli Otok, in der tatsächliche und vermeintliche

Sympathisanten des Kominform unter schwersten Haftbedingungen von der Außen-

welt abgeschottet wurden.27

Bereits seit Beginn der 50er Jahre äußerten sich einzelne junge Intellektuelle und

Künstler – meist Kriegsexilanten oder ehemalige Partisanen – gesellschaftskritisch

gegenüber der dogmatischen Strategie der BdKJ. Zwischen 1952 und 53 folgte die

erste kritische Zeitschrift Pogledi. Diese wurde jedoch nach nur wenigen Ausgaben

und einer Publikation des ehemaligen KZ-Häftlings, Soziologen und zukünftigen

Mitbegründer der Praxis-Philosophie Rudi Supek verboten. Es konnten sich jedoch

schnell neue Foren und Zeitschriften bilden. Aus diesen kritisch intellektuellen Krei-

sen, welche sich anfangs vor allem in Zagreb und Belgrad formierten, bildete sich zu

Beginn der 60er Jahre ein neuer Zirkel von Philosophen und Soziologen, welcher das

politische Bewusstsein der Studenten maßgeblich prägen sollte. Besondere Bedeu-

tung erlangte hier die vierte Sitzung der Jugoslawischen Philosophischen Gesell-

schaft Ende 1960 auf Bled, bei der sich die jüngere kritischere Generation der anwe-

senden Philosophen gegen die sowjetisch-dogmatisch geprägte durchsetzte und den

zukünftigen wissenschaftlichen Diskurs dominierte. 28

25 Vgl. Brinton, Crane: The Anatomy of Revolution. New York 1965, first published 1938, S. 67f.26 Vgl. Olujić, Dragomir: Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch. In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Kru-noslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 43-57, hier: S. 46f.27 Der Bruch mit Stalin zeigte sich hier zweifach. So wurden in Bulgarien, Albanien und Rumänien An-hänger Titos verfolgt. Vgl. Brunnbauer: Entwicklung Südosteuropas, S. 613f.28 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 18f.

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Im Sommer 1963 kam es hiernach auf der Adriainsel Korčula zu einem ersten zentra-

len Treffen kritischer Philosophen und Soziologen, bei dem unter dem Thema 'Ent-

wicklung und Kultur' die Leitlinie der sogenannten „Praxis-Philosophie“ entwickelt

wurde. Knapp ein Jahr später erschien die gleichnamige Zeitschrift. Diese neue

Schule war vergleichbar mit westlichen Strömungen der 60er Jahre, die als 'Befrei-

ungswissenschaft' nicht nur als akademische Lehre, sondern als Modell zum gesell-

schaftlichen Engagement verstanden wurden.29 So fasst Lev Detelea zusammen:

For Supek, induvidualism, solidarity, and communal endeavour weld societyinto a concrete whole, and because of their mutual dependence none of theseelements can be reduced at the expense of any other. […] the most importantconcept for understanding the society is man's praxis, which expresses itselfin two essential forms, work and action.30

Zentraler Betrachtungsgegenstand der jugoslawischen Akademiker bildete das Indi-

viduum, welches im Kontrast zum Dogmatismus des stalinistischen Kollektivver-

ständnisses 'ent-entfremdet' werden sollte. Grundlage, Schlussfolgerung und unab-

dingbares Gegenstück zu Supeks Konzept der Praxis war zum einen das Verständnis

des einzelnen Menschen als Wesen, welches seine Umgebung kritisch und bewusst

wahrnimmt und zum anderen eine Freiheit, die dadurch entsteht. Das Individuum bil-

det somit eine kreative Funktion im kollektiven Sein.31 Dieses Paradigma der Ent-

fremdung, welches sich auf die Frühwerke Karl Marx' bezog, wurde auf alle gesell-

schaftlichen Subsysteme übernommen – im Falle Jugoslawiens vor allem auf den

Gegensatz zwischen der Ideologie einer sozialistischen Demokratie basierend auf der

Arbeiterselbstverwaltung und der politischen Wirklichkeit.32 Hier verband sich die

jugoslawische Philosophie mit den Diskussionen der internationalen Linken. Dies

wird dadurch unterstrichen, dass zum einen ausländische Werke ins Serbokroatische

übersetzt wurden, zum anderen anlehnend an das Treffen von 1963 eine alljährliche

internationale „Sommerschule auf Korčula“ abgehalten wurde, an der einige der be-

kanntesten internationalen Philosophen und Marxisten der Zeit mitdiskutierten – dar-

unter Herbert Marceuse und Erich Fromm. Jugoslawischen Studenten waren sowohl

29 Vgl. ebd. S. 20ff.30 Detela, Lev: The Jugoslav Student Revolt. An Attempt at Interpretation. In: Review of the Study Centre for Jugoslav Affairs 10, 1970, S. 768-788, hier: S. 769.31 Vgl. ebd. S. 769f.32 Vgl. Supek, Rudi: Some Contradictions and Insufficiencies of Yugoslav Self-Managing Socialism. In: Marković, Mihailo; Petrović, Gajo: Praxis. Yugoslav Essays in the Philosophy and Methodology of So-cial Sciences. London/Boston 1979, S. 249-270, hier: 257ff.

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die internationalen Werke als auch die Sommerschule frei zugänglich.33

Dieses international orientierte Gedankengut prägte die Studenten der späten 60er

maßgeblich, doch gab es weitere vor allem künstlerische und massenmediale Ein-

flussfaktoren. Ähnlich wie in Deutschland oder Frankreich wurden Theater, Film und

Literatur zur Projektionsfläche akademischer Ideen. Die Regisseure und Autoren ent-

fernten sich vom in Jugoslawien ohnehin nicht stark ausgeprägten sozialistischen

Realismus und widmeten sich gesellschaftskritischen und undogmatischen Themen

und Darstellungsformen. Ausgehend von einer kritischen Vergangenheitsbewälti-

gung der ersten Nachkriegsjahre widmete man sich zunehmend einem neuen Indivi-

dualismus und der Kritik an der gesellschaftlichen und politischen Doppelmoral.34

Hierbei sei es jedoch „zweitrangig, ob der tatsächliche Einfluss intellektueller Kul-

turschaffender auf die Machtinhaber bedeutend oder eher unbedeutend einzuschätzen

ist. Von Bedeutung ist ihr Beitrag für die Selbstwahrnehmung der Proteste als kultu-

relle Opposition.“35

Angesichts der offiziellen Unterstützung der globalen Protestbewegung verwundert

es nicht, dass die jugoslawischen Medien, welche eigentlich direkter und indirekter

Zensur unterlagen, ausführlich über diese berichteten. So veröffentliche das parteiei-

gene Blatt 'Borba' das berühmte Interview des Philosophen Jean-Paul Sartre durch

den französischen Studentenführer und Radikallinken Daniel Cohn-Bendit. Die Be-

richterstattung umfasste auch den Osten, so die Proteste in Polen, vor allem aber in

der Tschechoslowakei. Die jugoslawische Führung unterstützte die Reformen unter

Alexander Dubček und befürwortete einen eignen von der Sowjetunion emanzipier-

ten Weg des Sozialismus. Dies unterstrich Tito mit einem Besuch der Tschechoslo-

wakei vom 9. bis 11. August 1968. Nur zehn Tage später beendeten sowjetische Pan-

zer Dubčeks Experiment.36

Neben dem Ideen- und Informationstransfer gab es ab Mitte der 60er Jahre auch zu-

nehmende direkt Verbindungen zwischen Jugoslawien und dem westlichen Europa.

In Jugoslawien existierte die Reisefreiheit und als einziges sozialistisches Land war

es den Bürgern gestattet, visafrei in die USA und Westeuropa einzureisen, wovon die

neue wohlhabende Mittelschicht zunehmend Gebrauch machte. Außerdem unterstüt-

33 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 20-23.34Vgl. ebd. S. 22-27.35Ebd. S. 26.36 Vgl. Ebd. S. 15ff.

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ze die jugoslawische Führung Gastarbeit in anderen Länder – vor allem in Deutsch-

land. So vervielfachten sich die Überweisungen von im Ausland arbeitender Jugosla-

wen von 59 Millionen Dollar 1965 auf 789 Millionen 1971. Gleichzeitig stiegen die

Einnahmen aus dem Tourismus von 63 auf 141 Millionen.37

Die jugoslawische Bevölkerung befand sich also am Vorabend des Juni 1968 in bes-

tem Bilde über die globalen Studentenproteste. Gleichzeitig existierte eine akademi-

sche Elite, die im Diskurs mit der internationalen Neuen Linken aktiv Gesellschafts-

kritik an der politischen Doppelmoral zwischen der sozialistischen Ideologie der Ar-

beiterselbstverwaltung auf der einen und der sich durch die wirtschaftlichen Refor-

men davon immer weiter entfernenden politischen Wirklichkeit auf der anderen Seite

betrieb. Inwieweit dies die Studentenproteste von 1968 im Detail beeinflusste, soll

im nächsten Kapitel geprüft werden.

37 Vgl. Singleton, Fred: A Short History of the Yugoslav Peoples. Cambridge 1985, S. 244,

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3 Protestziele der Studentenbewegung

Trotz der kulturellen und philosophischen Ausbrüche der 1960er gab es praktisch

keine Formen oppositioneller politischer Selbstorganisation außerhalb des BdKJ. Je-

doch erlaubte das Klima der erbitterten Machtkämpfe zwischen Liberalen und Kon-

servativen, welches die politische Szene beherrschte, eine wachsende Offenheit. Wie

sich dies auf die Organisation der Studenten untereinander und die Rezeption inter-

nationaler Proteste auswirkte, soll nun genau betrachtet werden.

3.1 Motivationen, Strukturen und Strategien

Der Streik vom Juni 1968 war ohne Zweifel die bedeutendste Demonstration der Stu-

denten Jugoslawiens. Doch gab es einen gewissen Protestzyklus, der sich von der

Mitte der 60er bis in die 70er Jahre erstreckte. Dass die Studenten hierbei eine neue

und besonders wichtige Rolle gespielt haben, muss auch im Kontext der Situation der

jugoslawischen Universitäten gesehen werden. Ähnlich wie in den Staaten Westeuro-

pas kam es auch in Jugoslawien in den 60er Jahren zu einem enormen Anstieg der

Studentenzahlen. Durch die Reformen von 1964 und '65 wurde dieses überproportio-

nale Wachstum zusätzlich befeuert, was zu einer Verdopplung der Anzahl von Stu-

denten bis zum Jahr 1968 führte. Mehr noch als in Frankreich oder Deutschland war

das jugoslawische Bildungssystem mit dem Ansturm neuer Studierender überfor-

dert.38 Hinzu kamen die in Kapitel 2.2 beschriebenen wachsenden Existenzsorgen

auch junger Akademiker in einer Atmosphäre zunehmender Arbeitslosigkeit und Un-

gleichheit.

Diese generelle Unzufriedenheit der Studenten ging einher mit einer zunehmenden

Politisierung abseits der Parteilinie des BdKJ (siehe Kapitel 2.3). Der wohl erste be-

deutende Moment, in dem sich das politische Konfliktpotenzial seitens der Studenten

zeigte, war eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg am 23. Dezember 1966. Die

Aktion wurde langfristig vom offiziellen jugoslawischen Studentenbund geplant und

mit dem BdKJ abgestimmt, welcher sich ebenfalls international gegen den Vietnam-

krieg aussprach. Die Dynamik der Proteste geriet jedoch außer Kontrolle. Studenten

und kritische Intellektuelle fragten danach, warum die jugoslawische Führung den

Krieg in Südostasien verurteilte, in vielen anderen Fragen jedoch mit der USA ko-

operierte. Am 23. Dezember versuchte eine Gruppe Studenten einen Protestmarsch38 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 235.

12

zum nahe gelegenen American Cultural Center und der US-Botschaft. Sie wurden je-

doch von Polizeikräften unter dem Einsatz von Schlagstöcken gestoppt.39

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Proteste international motivierte und von der

Hand des BdKJ gesteuerten Ziele. Vor allem die Ablehnung des Vietnamkrieges,

aber auch antiimperialistische Forderungen für das sozialistische Kuba oder gegen

Interventionen in die jungen Staaten Afrikas spielten die zentrale Rolle. Parallel zur

jugoslawischen Außenpolitik im Rahmen der Blockfreien Staaten und den prakti-

schen Ideen der internationalen Neuen Linken entwickelte sich auch unter den Stu-

denten ein ausgeprägtes Souveränitätsgefühl mit West, Ost und Süd. Ikonen des anti-

imperialistischen Kampfes wie Patrice Lumumba, Che Guevara oder Ho Chi Minh

fanden sich nicht nur auf den Protestplakaten der Studenten in Berlin, Paris und Ber-

keley, sondern auch in Belgrad, Ljubljana und Zagreb.40 Auch wenn es bei den

Demonstrationen bis zu diesem Zeitpunkt gelegentlich zu kleineren Zusammenstö-

ßen mit der Polizei kam – so zum Beispiel 1961 vor der belgischen Botschaft in Bel-

grad – verliefen diese in Abstimmung und unter der Kontrolle des offiziellen Studen-

tenbundes, welcher wiederum direkt von der BdKJ kontrolliert wurde. 1966 änderte

sich dies. Der Studentenbund verlor die Kontrolle und schloss den Hauptorganisator

der Proteste Aleksander Kron aus.41 Dieser Konflikt spaltete jedoch den Studenten-

bund und führte gleichzeitig zu der Herausbildung neuer Strukturen und Netzwerke

außerhalb des offiziellen Rahmens. So wurde es völlig normal, dass sich Studenten

zu Veranstaltungen außerhalb ihrer eigenen Universitätsstädte trafen.42

Laut einer offiziellen Studie im Auftrag des BdKJ gab es unter den Studenten nur

eine kleine Gruppe von Enthusiasten, die das System aktiv in eine andere Richtung

bringen wollten. Eine andere kleine Gruppe – eben jene, die bis zu diesem Zeitpunkt

den Studentenbund kontrollierte – war konform mit der offiziellen Politik. Der mit

Abstand größte Teil der Studierenden war jedoch ambivalent, unentschlossen oder

politisch gleichgültig, im Großen und Ganzen vor allem aber unzufrieden.43 Diese

eher unpolitische Gruppe wurde zunehmend mobilisiert und der offizielle Studenten-

bund wurde als nutzlos und langweilig wahrgenommen. Im Kontext der Reformen

39 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 31f. 40 Vgl. Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 769.41 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 31f. 42 Vgl. Olujić: Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch, S. 47. 43 Vgl. Bročić, Manojlo: Die Beziehung der Studenten zum gesellschaftlich-politischen System (1966). In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kultu-relle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 217.

13

zur Dezentralisierung und Liberalisierung forderten einzelne Studentenführer offen

eine Demokratisierung des Bundes und die Autonomie vom BdKJ. Dieser reformisti-

sche Flügel des Studentenbundes bekam regen Zulauf und drängte diesen zur Reor-

ganisation auf der Grundlage der politischen Selbstverwaltung. Die neuen Kräfte do-

minierten zwar nie die Organisation, boten jedoch Raum für kritische Diskussionen.

Bereits 1967 wurden die Studenten dazu aufgefordert, kritisch zu sein und die 'büro-

kratischen Machtstrukturen' anzugreifen. Zudem bildeten sich an den verschiedener-

lei Universitäten und Fakultäten etliche informelle Gruppen, die untereinander

zunehmend vernetzt waren.44

Wichtigste Transmitter der verschiedenen Studentenbewegungen waren das studenti-

sche Theater und die Studentenzeitschriften. Anlehnend an die Soziologen, Philoso-

phen und Künstler der Praxis-Gruppe veränderte sich das studentische Theater hin zu

einer avantgardistischen Projektionsfläche der politischen Missstände des Hier und

Jetzt. Nicht nur inhaltlich sondern auch ästhetisch setzte sich das neue Theater stark

vom klassischen Stil ab und erzeugte allein schon dadurch Parallelen zur politischen

Realität. Die Struktur des neuen offenen Studententheaters, in dem viele Individuen

gemeinsam an einem Theaterstück wirken, sich jedoch mit ihrer Persönlichkeit und

Kreativität frei einbringen konnten, wurde zum Sinnbild der Wiederentdeckung des

Individualismus.45

Deutlichster Ausdruck des neuen Liberalismus waren jedoch die Studentenzeitungen,

in denen die Kritik nicht abstrahiert, sondern klar und deutlich formuliert wurde. So

veröffentlichte beispielsweise die in der Universität Ljubljana herausgegebene Zeit-

schrift Tribuna 1967 ein Vielfaches mehr an politisch-kritischem Inhalt als noch

1964. 1968 basierte die Zeitschrift vor allem auf internationalen und jugoslawischen

Artikeln der Neuen Linken. So erschienen unter anderem Artikel von Hans Magnus

Enzensberger, Bertrand Russell und Rudi Dutschke – aber auch eine größere Anzahl

von Artikeln tschechoslowakischer Autoren. Jugoslawische Autoren verbanden zu-

nehmend Kritik an den Zuständen in den Universitäten – zu autoritärer Lehrstil, zu

wenig Lehrmittel, desaströse Zustände in den Wohnheimen – mit dem größeren

politischen Kontext und der Forderung nach mehr Mitbestimmung im Rahmen des

44 Vgl. Pervan, Ralph: Tito and the Students. S. 57-65.45 Vgl. Medijmorec, Miro: Studententheater – warum und wie? (1966). In: Kanzleiter, Boris; Stojako-vić, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 324-330, hier: S. 326ff.

14

Selbstverwaltungssozialismus.46

Wie dieses Kapitel gezeigt hat gab es also vor allem drei Motive, an den Protesten

teilzunehmen: die internationale Solidarität mit antiimperialistischen Aktivisten und

den Studentenbewegungen in Ost und West, die Reform der Universitäten und die

Verbesserung der Studienbedingungen sowie ein wachsender innenpolitischer Akti-

vismus auf der Grundlage des Selbstverwaltungssozialismus. Nationalistische Ideen

spielten dagegen keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Viel mehr noch

wuchs die Verknüpfung der Studenten der verschiedenen Republiken untereinander

zwischen 1966 und '68 rapide an.

3.2 Der Konflikt mit dem Regime – die Verteidigung der Ideologie

Für die Führung des BdKJ hätten die Demonstrationen vom Juni 1968 durchaus vor-

hersehbar sein können. Die seit 1966 andauernde Phase des offenen Aktivismus kul-

minierte viel mehr in den Streikaktionen. Hier beginnt jedoch eine neue Phase der

Proteste, in der sich die informellen organisatorischen Netzwerke und Kommunikati-

onsstrukturen zwischen den Gruppen der verschiedenen Städte verfestigten. Nach-

dem der Marsch auf das Stadtzentrum Belgrads am 3. Juni scheiterte, zogen die Akti-

visten zurück zur Universität Belgrad. Ausgehend von der philosophischen Fakultät

wurde das gesamte Gelände der Hochschule besetzt und die „Rote Universität Karl

Marx“ proklamiert. Hierbei handelte es sich offensichtlich um eine Anlehnung an die

Universitätsbesetzung in Frankfurt.47 Auch hier zeigte sich, dass die Demonstratio-

nen in Jugoslawien im internationalen Kontext stattfanden, vor allem in dem Länder-

grenzen überschreitendem Gefühl etwas verändern zu können. Der jugoslawische

Studentenbund stand hier jedoch zwischen Ost und West. So wurde auf der VIII.

Konferenz zur internationalen Politik zum einen zwar der Vietnamkrieg verurteilt

und die Nichteinmischung in nach-koloniale Staaten gefordert, zum anderen wurde

die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und Solidarität mit den Reformisten in der

Tschechoslowakei gefordert.48

So hatte auch das Aktionsprogramm, welches am 5. Juni verabschiedet wurde, die

46 Vgl. Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 772-778.47 Vgl. Olujić: Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch, S. 47f. 48 Vgl. Resolution der VIII. Konferenz des Studentenbundes zur internationalen Politik (Mai 1968). In:Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 221f.

15

tschechoslowakischen Reformforderungen zum Vorbild, richtete sich speziell aber

gegen die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Reformen von 1964/65. Un-

ter anderem wurden Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichheit und Arbeitslo-

sigkeit gefordert, sowie die Umsetzung der Ideologie des Selbstverwaltungssozialis-

mus in die Realität und die Verbesserung des Bildungssystems.49 Besonders ist, dass

sich die Bewegung auf die Werte und Ideologien des BdKJ und somit auf die Identi-

tät des sozialistischen Jugoslawiens selbst stützten – namentlich die Selbstverwaltung

als Sinnbild sozialistischer Demokratie. Dies wird insbesondere in einer Erklärung

der Studenten vom 4. Juni deutlich:

Wir haben kein eigenes Programm. Unser Programm ist das Programm derfortschrittlichen Kräfte unserer Gesellschaft – das Programm des BdKJ undunserer Verfassung. Wir wollen ihre unmittelbare Umsetzung in die Praxis.50

Die Universität Belgrad entwickelte sich zum Zentrum der Protestbewegung. Wäh-

rend Sicherheitskräfte das Gelände abriegelten, sammelten sich Bewohner aus Bel-

grad und anderen Teilen des Landes vor dessen Toren. Künstler, Schauspieler und

Delegationen von Arbeitern drückten ihre Solidarität aus. Die eigentlich staatlich re-

klamierten Medien berichteten auf den Titelseiten von den Unruhen. Innerhalb weni-

ger Tage kam es auch in den anderen Hauptstädten der jugoslawischen Republiken

zu Protesten, so in Lubljana, Zagreb und Sarajevo. Hohe Parteifunktionäre des BdKJ

reagierten geschockt. Im Falle einer Verbrüderung mit den Arbeiterbewegungen des

Landes, wurde der Einsatz vdes Militärs in Erwägung gezogen.51

Gerade in der Konformität mit den Idealen des Systems lag das größte Risiko für das

Regime. Dadurch, dass die Studenten und Intellektuellen pro-jugoslawisch und pro-

sozialistisch argumentierten gewannen sie auch außerhalb der Universitäten breite

Zustimmung und stellten im Grunde nichts Anderes dar als eine aufkommende, vom

Volk und der Ideologie legitimierte, außerparlamentarischen Opposition.52 Wie im

vorhergehenden Kapitel gezeigt, entfernte sich seit 1966 der Fokus der Kritik weg

von international motivierten anti-imperialistischen Forderungen, deren Feindbilder

(die Regierungen in der USA, im Westen sowie in der Sowjetunion) weit entfernt

schienen, hin zu konkreten Missständen in der jugoslawischen Gesellschaft. Zentral49 Vgl. Politisches Aktionsprogramm (5. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 234-237, hier: S. 234ff.50 Zitiert nach: Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 18.51 Vgl. ebd., S. 13ff.52 Vgl. Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 772f.

16

war die Forderung nach mehr Selbstverwaltung, wobei diese nicht nur auf die Ebene

der Produktion beschränkt sein sollte, sondern, wie im Programm des BdKJ selbst

proklamiert, das Individuum aktiv am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaft-

lichen Ganzen teilhaben lassen müsse. So heißt es im Programm:

Wirkliche Demokratie für die volkstümlichen Massen besteht dann, wenn die-se täglich in der Verwaltung der Wirtschaft sowie der staatlichen, politischenund anderen Angelegenheiten teilnehmen. Wirkliche Demokratie besteht dar-in, wenn die volkstümlichen Massen mit dem Sinn für die volle Verantwor-tung für die gemeinschaftlichen Interessen der Gesellschaft frei und mög-lichst direkt ihre Interessen und Bedürfnisse ausdrücken und verteidigen.53

Ein Selbstverwaltungssozialismus sei vielmehr gar nicht möglich ohne diese Demo-

kratisierung, da Individuen keine wirtschaftliche Ressource sind und früher oder spä-

ter aus der wirtschaftlichen Sphäre ausbrechen und Reformen fordern würden, so wie

es die tschechoslowakische Intelligenz getan hat.54 Auch hier berief man sich auf den

BdKJ selbst.

Diese Unterschiede [zwischen Theorie und Praxis] sind Ausdruck der dialek-tischen Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung […], sie sind Aus-druck der schöpferischen Natur der sozialistischen Praxis und des sozialisti-schen Gedankens55

Als effizientes 'Feindbild': der Bewegung diente die Klasse der wohlhabenden Partei-

kader. Diese 'rote Bourgeoisie' – so die Rhetorik – profitierte vom Status Quo und

sei somit hauptverantwortlich für die fehlende Freiheit und die wachsende Ungleich-

heit des Landes. Auch hier knüpfte die Bewegung und das parteieigene Programm

an, in dem grassierender Bürokratismus und Etatismus als großer Fehler der stalinis-

tischen Systeme gilt, in dessen Kontrast Jugoslawien seinen eigenen Weg zum Sozia-

lismus gehen sollte.56 In der politischen Realität spielte diese alt-eingesessene Klasse

von Parteifunktionären jedoch eine immer unbedeutendere Rolle. So folgte auf Ran-

kovićs Sturz ein Führungswechsel innerhalb des BdKJ, welcher 1968 seinen Höhe-

punkt fand – so wurden allein 1968 69 Prozent neue Mitglieder in die Zentralkom-

mission gewählt und etwa 100.000 neue Mitglieder aufgenommen.57

Interessant an diesem Feindbild sind nicht nur die Parallelen zu westlichen anti-auto-

ritären Bewegungen, die sich gegen das etablierte bürgerlich-konservative System53 Programm des BdKJ, S. 206.54 Vgl. Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 771.55 hier: S. 203.56 Vgl. Programm des BdKJ, S. 204f.57 Vgl. Džaja, Srećko M.: Die politische Realität des Jugoslawismus (1918-1991). München 2002, S. 134.

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richteten, sondern auch die zur Kulturrevolution in China. Auch hier wurden Teile

der Jugend zu anti-imperialistischen Protesten motiviert, die sich jedoch vor allem

gegen Intellektuelle und einzelne Parteikader richteten. Die Bewegung geriet aber

außer Kontrolle und forderte das gesamte etablierte Politsystem heraus. Die Füh-

rungsperson Mao Tse-tung, welcher die Bewegung initiierte, der Partei jedoch eben-

falls vorsteht, bleibt von der Kritik direkt unbehelligt.58 Auch wenn die Studentenbe-

wegungen in Jugoslawien nicht vergleichbar mit der chinesischen 'Kulturrevolution'

waren, verhielt es sich bei der Kritik an Tito ähnlich. Dies verdeutlicht nicht nur die

Wichtigkeit der Person Titos als identitätsstiftende Instanz über die Grenzen der Na-

tionalitäten hinaus, sondern auch für die Idee des Selbstverwaltungssozialismus. Hier

verwundert nicht, dass in der Studentenpresse frühe Schriften Titos genutzt wurden,

um zu zeigen, dass dieser nur vom Weg abgekommen sei.59 Auch Parolen wie „Sagt

Tito die Wahrheit“ oder „Gehen wir von Worten zu Taten über – Tito“60 unterstrei-

chen, dass der Führungskult Titos von den Studenten sogar unterstützt wurde.

3.3 Konfliktbewältigungsstrategien unter Tito

Am 9. Juni erkannte Tito die Gefahr, die hinter der Protestbewegung stand. Die „vul-

kanische Explosion der Unzufriedenheit“ zeigte, dass die Parteiführer „von diesen

[ihren] Stühlen fliegen“ könnten.61 Er begegnete dem nur sieben Tage andauernden

Protest mit einer kombinierten Strategie aus Inklusion und Repression. Noch am sel-

ben Abend erklärte er in einer viel beachteten Fernseh- und Radioansprache, dass er

die meisten Forderungen der Studenten unterstützte und bot sogar an, zurückzutreten,

wenn die Probleme nicht gelöst werden würden.62 Gleichzeitig merkte er jedoch an,

dass sich die Frage stellt, ...

ob es da einen politischen Hintergrund gibt, ob jemand dahinter steht, umdie Initiative, die wir eingeleitet haben, uns aus der Hand zu reißen und so-dann daraus politisches Kapital zu schlagen.[...] [Ich gelangte] zur Überzeu-gung, dass die Revolte bei den jungen Leuten, bei den Studenten spontan

58 Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt am Main 2008, S. 35-41.59 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 31f.60 Parolen des Juni 1968: „Nieder mit der roten Bourgeoisie“. In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Kru-noslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 231f, hier: S. 231.61 Tito warnt das Exekutivkomitee vor Machtverlust (9. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 250f. 62 Vgl. Tito-Rede zu den Studentenprotesten in TV und Radio (9. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Sto-jaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen1960 und 1975. Bonn 2008, S. 251-256, hier: S. 251ff.

18

ausbrach […] [es kam aber] zu einer gewissen Infiltrierung uns fremderElemente […], die diese Situation für ihre Ziele ausnutzen wollten.63

Wie das vorherige Kapitel gezeigt hat, spielten solche reaktionären Elemente keine

oder eine nur untergeordnete Rolle. Tito selbst merkte vor der Rede am 9. Juni an,

dass es keine „nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen“ innerhalb der Pro-

testbewegung gegeben habe.64 Auch der Maoismus spielte entgegen den westlichen

Bewegungen der selben Zeit, keine erkennbare Rolle. Vielmehr legt diese Rhetorik

nahe, dass die vermeintlichen 'fremden Elemente' zur Rechtfertigung einer repressi-

ven Kampagne genutzt wurden.

Bereits am 26. Juni beschuldigte Tito öffentlich die Professoren der Praxis-Gruppe,

„Chaos“ an den Universitäten zu verbreiten und die Studenten für ihre Zwecke miss-

braucht zu haben.65 Mehr noch, die Philosophen, Soziologen und akademischen

Künstler, die ihre Arbeit der Überwindung stalinistischer Strukturen gewidmet ha-

ben, wurden nun selbst zu Stalinisten erklärt.66

Nach ihrer Ansicht hätten einige weise Männer, irgendwelche Technokrateneinen Podest besteigen und mit ihrem Stab kommandieren sollen, währendalle anderen eine farblose Masse wären. Der Bund der Kommunisten bedeu-tet für sie nichts. […] solchen Leuten müssen wir das Handwerk legen.67

Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden einzelne Zeitschriften verboten – so das Zagre-

ber Kulturmagazin 'Razlog' – der Repressionskurs verstärkte sich aber signifikant

nach der Militärintervention des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Tito

erkannte an der Wucht der Proteste, dass der Liberalisierungskurs die innere Stabili-

tät Jugoslawiens gefährden konnte. Zudem zeigte die Intervention, dass die Sowjet-

union keine demokratischen Reformen in ihrem Machtbereich duldete. Auch wenn

Jugoslawien nominal weder zum Warschauer Pakt noch zum Ostblock gehörte und

sogar wirtschaftlich und militärisch von der NATO und den USA unterstützt wurde,

blieben Belgrad und Moskau in regem Kontakt. Mehr noch, nach dem Verständnis

der sowjetischen Führung blieb das sozialistische Jugoslawien immer integraler Be-

standteil der Interessensphäre. Dies wurde dadurch unterstrichen, dass Tito, der sich

63 Ebd., S. 252f.64 Tito warnt das Exekutivkomitee , S. 251.65 Vgl. Titos Angriff auf Praxis (26. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 259f.66 Vgl. Džaja: Realität des Jugoslawismus, S. 136.67 Ebd., S. 259.

19

zuvor zugunsten Dubčeks aussprach und die Militärintervention öffentlich verurteil-

te, unmittelbar eine heftige Aburteilung aus Moskau erhielt.68

Der Einmarsch versetzte die Jugoslawische Volksarmee (JNA) in Alarmzustand.

Eine Intervention in Jugoslawien oder in das souveräne Bulgarien schien nun wieder

weit möglicher. Zum einen führte dies zur Re-Dogmatisierung der Innenpolitik, zum

anderen zur Aushebung einer schlagkräftigen Miliz auf republikanischer Ebene, die

nicht der JNA unterstand.69 Diese Milizen sollten beim Zerfall Jugoslawiens eine

zentrale Rolle spielen. Unterdessen wurde die Zeitschrift Praxis mehrfach verboten,

bis deren Druck 1975 schlussendlich und gänzlich eingestellt wurde.

Auch die Studentenpresse und die unabhängigen Aktionsausschüsse, die während

des Streiks gebildet wurden, blieben nicht verschont. Die Zeitschriften Tribuna und

Student unterlagen beispielsweise immer strikterer Zensur, die jedoch bis 1971 über

die Abstraktion politischer Kritik in Form von Gedichten teilweise umgangen wer-

den konnte.70 Trotz des enorm gewachsenen äußeren Drucks, wurden weiterhin In-

itiativen ergriffen, um die Proteste fortzusetzen. Im Juni 1970 ging eine Gruppe Bel-

grader Studenten in den Hungerstreik, um ihre Solidarität mit einem Bergarbeiterpro-

test zu unterstreichen. Kurz nach dessen Ende wurde Vladimir Mijanović, der ge-

wählte Vorsitzende des Studentenbundes an der philosophischen Fakultät Belgrad,

verhaftet. Mijanović, der bereits bei den Anti-Vietnamprotesten von 1966 eine zen-

trale Rolle gespielt hatet und zu den Schlüsselfiguren der Bewegung von 1968 gehör-

te, wurde unter der Vorwurf 'feindlicher Propaganda' angeklagt und zu zwanzig Mo-

naten verschärfter Haft verurteilt. Als Reaktion darauf mobilisierten sich 6.000 Stu-

dierende an drei Fakultäten und gingen in einen zehntägigen Streik, mussten schlus-

sendlich aber aufgeben.71 Ähnlich den Entwicklungen in West-Europa bildeten sich

in den großen Universitätsstädten der Republiken kleine marxistisch-leninistische

Gruppen, die sich als maoistisch oder trotzkistisch verstanden. Maßgebliche Erfolge

konnten jedoch seit 1968 nicht mehr erreicht werden, bis die Ereignisse in Kroatien

1971 die Identität der studentischen Proteste maßgeblich verändern sollte.

68 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 236f.69 Vgl. ebd.70 Vgl. Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 779-782.71 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 33f.

20

4 Konsequenzen der Proteste

Die breite Maßss der Studentenbewegung von 1968 zerbrach schlussendlich an der

Re-Dogmatisierung des Systems und der Instanz Titos, dessen Person die Studenten

nie direkt angriffen. Mittel- und langfristig veränderten die Proteste das strukturelle

Gefüge Jugoslawiens jedoch maßgeblich.

4.1 Das Ende vom Mythos der konfliktfreien Gesellschaft

Nach der Ansicht Srećko Džajas sei Jugoslawien ab Mitte der 60er nicht mehr als

politischer Wert betrachtet worden, sondern nur noch als ein mehr oder weniger pas-

sender Rahmen für die Verwirklichung anders gelagerter Interessen.72 Wie das vor-

herige Kapitel gezeigt hat, trifft dies für die populäre Studentenbewegung nicht zu.

So schreibt auch Džaja, solche „politischen Erscheinungen“ seien „Eigenprodukte

des jugoslawischen politischen Systems“ gewesen, die sich „eher stabilisierend als

destabilisierend auf seinen weiteren Bestand“ auswirkten.73 Auch dies ist zu kurz ge-

griffen. Gerade dadurch, dass die Jugoslawische Studentenbewegung der Neuen Lin-

ken die fundamentalen politischen Werte nicht in Frage stellte, erschütterte sie das

politische System, da die Studenten sich so als Opposition in eben diesem konstruier-

ten. „Sie legte die moralische Leere eines Systems frei, dessen Legitimierungsgrund-

lage aufgrund der eklatanten Widersprüche zwischen ideologischen Ansprüchen und

Alltagsidealen zunehmend erodierte.“74 Und dies geschah ausgerechnet durch die ers-

te Generation, die gänzlich im neuen System aufgewachsen war. Schlussendlich

führte die Re-Dogmatisierung und die Verfolgung der studentischen und akademi-

schen Aktivisten zu einer zunehmenden Enttäuschung unter der jungen Generation,

welche resignierten oder sich anderen politischen Ideen zuwandte.

Zum einen gab es hier einige wenige Unterstützer einer aktiven Demokratisierung

nach westlichen Vorbild (was sich vor allem auf eine kleine Gruppe Exilanten be-

schränkte) sowie die Verfechter einer nationalen Emanzipation. Diese bekamen auf

den republikanischen Ebenen des BdKJ immer mehr Rückenwind.75 Zum einen lag

dies an den dezentralisierenden Reformen zwischen 1963 und '65 – bei denen sich

die Föderalisten übrigens ebenfalls auf den Grundsatz der Selbstverwaltung beriefen

72 Vgl. Džaja: Realität des Jugoslawismus, S. 137.73 Vgl. ebd. 74 Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 36.75 Vgl. Allcock, John B.: Explaining Yugoslavia. London 2000, S. 83ff.

21

– zum anderen an zunehmenden Spannungen zwischen den Republiken, die sich von

der Politik zur Wirtschaftsförderung benachteiligt sahen. So brachten die reicheren

Gebiete des Nordens an, dass sie für die weniger effizienten Wirtschaftssektoren des

Südens bezahlen müssten, andererseits beklagten diese, dass die Wirtschaft des Nor-

dens zu großen Teilen auf den Rohstoffen des Südens basiere und diese Regionen

ausbeuten würde.76

Ein Beispiel für diesen wachsenden Unmut waren die Proteste im Kosovo 1968, die

nur wenige Monate nach den Studentenprotesten im November 1968 ausbrachen.

Der Kosovo bildete den Schnittpunkt der in den 60ern auftretenden Probleme. Es war

die ärmste und am ländlichsten ausgeprägte Region innerhalb des jugoslawischen

Staatsapparates, deren Bürger den schlechtesten Zugang zu Bildung und Konsum

hatten.77 Zwar verbesserten sich die Bedingungen maßgeblich, so stieg die Schulrate

von 30 Prozent vor dem Zweiten Weltkrieg auf immerhin 85 in den 1960er Jahren

und die 1964 begonnenen wirtschaftlichen Reformen spülten vermehrt Investitionen

in das Gebiet, doch blieb der Entwicklungsrückstand eklatant. 1968 gab es beispiels-

weise 60 Prozent weniger Ärzte, 70 Prozent weniger Fernseher und Radios und 75

Prozent weniger privater PKW je 1000 Einwohner.78 Zudem war die Hälfte der Be-

völkerung unter 20 Jahren.

Im Rahmen der dezentralisierenden Reformen versuchte Tito den Kosovo als eigene

Nation innerhalb der Struktur Jugoslawiens zu konstruieren. Dies schlug jedoch fehl,

die Liberalisierung führte mehr noch zu einer Albanisierung der Region, die die

Identität der Bewohner mehr von Belgrad weg in das Nachbarland richtete. Gesteuert

wurden diese Mechanismen vor allem durch Enver Hoxha – dem kommunistischen

Führer Albaniens, welcher eher der maoistischen Ideologie folgte und ein starker

Kritiker Titos war.79 Den national orientierten Albanern im Kosovo gingen die Zuge-

ständnisse seit 1966 nicht weit genug und forderten den offiziellen den Status als Re-

publik – inoffiziell gab es vermehrt Stimmen die sogar den Anschluss an Albanien

forderten. Deshalb kam es im Oktober und November zu gewaltsamen Ausschreitun-

gen, die Tito in der Angst vor einer Sezession niederwerfen ließ.80

76 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 229ff.77 Vgl. Singleton, Carter:Economie of Yugoslavia, S. 222-225.78 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 246f.79 Vgl. Maliqi, Shkëlzen: Kosovo 1968 – eine Gegenbewegung zu Belgrad. In: Kanzleiter, Bloris; Stoja-ković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 73-78, hier: S. 74f.80 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 247.

22

Auch wenn die Motive der Ausschreitungen im Kosovo somit gänzlich andere waren

die der Studentenbewegung, wurden diese dennoch durch die Proteste in Belgrad be-

einflusst. Im Kosovo wurden die Demonstrationen als eine Reaktion auf die Abset-

zung Rankovićs verstanden. Dies wurde dadurch verstärkt, dass der Kosovo von di-

rekter und indirekter Kommunikation mit den Studenten in Belgrad ausgeschlossen

war und aktiv Falschinformationen einer nationalistisch-serbischen Motivation der

Studenten verbreitet wurden.81

4.2 Neue Nationalismen? - Der Kroatische Frühling

Ähnlich wie im Kosovo wurden 1968 auch in Zagreb Falschinformationen über eine

angebliche serbische Nationalbewegung junger Studenten gestreut. Wegen der regen,

direkten Verbindungen zwischen den Aktionsgruppen in Belgrad und Zagreb hielten

sich diese jedoch nicht – mehr noch, Zagreb entwickelte sich zum zweitwichtigsten

Zentrum der pro-jugoslawischen Proteste.82

Angesichts der Ereignisse der frühen 90er wird Kroatien aus heutiger Sicht als Hort

neuer Nationalismen innerhalb Jugoslawiens gesehen – strukturell ist das nicht unbe-

gründet. Während des Zweiten Weltkrieges haben etwa 350.000 Mann nicht mit son-

dern gegen die Partisanen gekämpft – ein großer Teil von diesen kamen aus Kroati-

en. Wie in Kapitel 2.2 gezeigt wurden diese Kollaborateure nach dem Ende des Krie-

ges vom neuen sozialistischen Regime verfolgt. Wenn man deren Familien und

Nachkommen mit einbeziehe, so Calic, ergäbe sich ein beträchtliches Potenzial de-

rer, die sich mit dem neuen System eher arrangierten als identifizierten, mehr noch

innerlich dagegen sogar opponierten.83

Die Streitigkeiten über die Wirtschaftshilfen zwischen den Republiken und über die

Verteilungen der föderativen Entwicklungsinvestitionen spielten auch im reichen in-

dustriellen und am meisten vom Tourismus profitierenden Kroatien eine entscheiden-

de Rolle. Ausschlaggebend für die politischen Spannungen war jedoch, dass republi-

kanische Politiker seit den Reformen von 1964/65 viel mehr die Interessen ihrer Ge-

biete vertraten. Dies wurde 1969 durch ein neues Gesetz weiterhin verstärkt, welches

Funktionären des BdJK verbot, gleichzeitig ein hohes Amt in einer der Republiken

81 Vgl. Shkëlzen: Kosovo 1968, S. 75ff.82 Vgl. Olujić: Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch, S. 47f.83 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 237f.

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und der föderativen Ebene gleichzeitig innezuhaben.84 Neben diesen Faktoren bot die

kroatisch-katholische Kirche ein permanentes Forum zu Fragen zum kroatischen Na-

tionalismus und kroatischer Identität, da diese zu keinem Zeitpunkt kontrolliert wur-

de.85

Während es im Umfeld der Universität Belgrad ab 1970 zu einer zunehmenden Radi-

kalisierung und Zersplitterung der Protestbewegung kam, setzten sich in Zagreb im-

mer mehr nationalistische Zirkel durch, die von regionalen Politikern unterstützt

wurden, doch unterstützten auch viele Intellektuelle die emanzipatorischen Gruppen.

Argumentative Grundlage für diese war eine bereits 1967 im Zagreber 'Telegram'

veröffentlichte 'Deklaration über die Stellung der kroatischen Schriftsprache', in der

angeführt wurde, dass die kroatische Sprachkultur zu wenig Einfluss auf die gemein-

same Schriftsprache habe. Im Klima der Reformen fand diese Diskussion in Belgrad

Gehör und wurde sogar unterstützt, was selbst die beteiligten Autoren überraschte.86

Diese Deklaration wurde während der Ereignisse 1971 ideologisch stark aufgeladen,

hatten die beiden Republiken Serbien und Kroatien doch nahezu identische Sprachen

– anders als zum Beispiel Makedonien oder Slowenien. Weit entscheidender als die-

se kulturelle Komponente, die viel mehr ähnlich den Protesten von 1968 einer Sinn-

gebung als kulturelle Opposition diente, war die Entscheidung der kroatischen Kom-

munisten Anfang 1970 einen von Belgrad unabhängigen Kurs zu beschreiten.87

Einhergehend mit diesem politischen Kurswechsel setzte sich auch der nationalisti-

sche Flügel des Zagreber Studentenbundes durch. Ideale der Neuen Linken fanden

nun keinen Platz mehr und die Ideen des Selbstverwaltungssozialismus wurden nur

noch zu Zielen politischer Dezentralisierung anstatt zu basisdemokratischen Refor-

men genutzt.88

Ende November 1971 eskalierte die Situation. Eine nationalistische Studentenfront,

die sich selbst als 'Maspok' (Massenbewegung) bezeichnete, um sich so konkret von

der Bewegung der Neuen Linken abzuheben,89 forderte mehr Selbstbestimmungs-84 Vgl. Steindorff, Ludwig: Der Kroatische Frühling. Eine soziale Bewegung in einer sozialistischen Ge-sellschaft. In: Evert, Jürgen (Hg.): Der Balkan. Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Ge-genwart. Stuttgart 1997, S. 197-209, hier: S. 198f.85 Vgl. Ramet: Die drei Jugoslawien, S. 417ff.86 Vgl. Puhovski, Žarko: Die Masse geht einher mit einem totalitären Konzept. In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwi-schen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 85-91, hier: S. 85.87 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 251ff.88 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 34.89 Der Begriff 'Kroatischer Frühling' wurde vor allem zur Präsentation der Proteste seitens der Aktivis-

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rechte für Kroatien, Kontrolle über die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus und

einen eigenen Sitz bei den Vereinten Nationen. Das Regime unterdrückte die Protes-

te. Innerhalb weniger Tage wurden mehr als 550 Personen verhaftet und die gesamte

Führung sowie hunderte weitere Mitglieder des kroatischen BdK aus der Partei aus-

geschlossen.90

Dieser nationalistische Protest war nicht nur eine Krise für die jugoslawische Zen-

tralregierung, sondern auch für die Neue Linke. Die nationale Frage überlagerte nun

in allen Republiken die Probleme sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Rechte.

Gleichzeitig prägte ein neuer Autoritarismus das politische Bild, der die Möglichkei-

ten freier Meinungsäußerungen auf das Niveau der 50er Jahre zurück brachte.

Gleichzeitig nahm die Partei unter Tito Forderungen zur Dezentralisierung des 'Kroa-

tischen Frühlings' auf, die in einer neuen Verfassung 1974 niedergeschrieben wur-

den.91 Kanzleiter spricht hier anlehnend an den Soziologen Laslo Sekelj von einer

„Dezentralisierung ohne Demokratisierung“.92 Zwischen 1972 und '75 wurden

schlussendlich Schlüsselfiguren der pro-jugoslawischen Studentenbewegung vor Ge-

richt gestellt und zu Haftstrafen verurteilt. Auf Grundlagen eines extra hierfür einge-

führten Sondergesetzes wurden acht Akademiker der Praxis-Gruppe von der Univer-

sität entfernt. Offene Protestformen waren bis zu Titos Tod nicht mehr realisierbar.

ten nach außen genutzt, um Rezeptionsparallelen zum gut bekannten 'Prager Frühling' zu konstruie-ren. Vgl. Puhovski: Die Masse, S. 86.90 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 34f.91 Vgl. Calic: Geschichte Jugoslawiens, S. 253f.92 Vgl. Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 34.

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5 Fazit: Jugoslawien – Ein artifizieller Staat?

Die Studentenproteste in Jugoslawien, die ihren Höhepunkt im Streik von 1968 fan-

den, sind heute kein zentrales Thema der Politik und Geschichtswissenschaft der ju-

goslawischen Nachfolgestaaten. Wie diese Arbeit gezeigt hat, handelte es sich bei

den Protesten um ein Phänomen der internationalen Neuen Linken, welches sich je-

doch – wie Detela es beschrieb – von der „fantasy“ der globalen anti-imperialisti-

schen Protestziele zu einer „down-to-earth practicality“ entwickelte.93 Es konnte klar

festgestellt werden, dass nationalistische Ideen in der ursprünglichen Studentenbe-

wegung keine Rolle spielten. Dies könnte ein Grund für die bisher geringe Aufarbei-

tung seitens der Politik und Geschichtswissenschaft sein. Wie Kanzleiter und Stoja-

ković es asudrücken:

Der ausgesprochene pro-jugoslawische Charakter der Studentenbewegungvon 1968 bietet in diesem Kontext kein Material für die neuen dominierendenNarrative einer Nationalgeschichte, welche das multinationale Jugoslawienals einen „artifiziellen“ Staat betrachtet, der nur durch Zwang und Gewaltzusammengehalten wurde.94

Grundlegendes Problem des sozialistischen Jugoslawiens war vielmehr, dass keines

der schwerwiegenden politischen Probleme, die das erste Jugoslawien zu Fall brach-

ten, gelöst werden konnte. Mehr noch wurden regionale Disparitäten in den 60er

Jahren sogar verstärkt.95 Diese Arbeit hat gezeigt, dass die Studentenbewegung auf

einem soliden Fundament praktischer Philosophie basierte, die im Grunde nichts

weiter forderte, als die Weiterführung der im Programm des BdKJ von 1958 veran-

kerten Ideale des jugoslawischen Sozialismus. Die Kritik der Studenten richtete sich

gegen Bürokratisierung und sprach sich für die Umsetzung des Selbstverwaltungsso-

zialismus aus und hatte somit weit mehr einen reformierenden als revolutionären

Charakter.

Ob die Ideen der Bewegung die multinationalen Probleme Jugoslawiens hätten lösen

können, ist unwahrscheinlich. Es ergibt sich jedoch die Annahme, und der schlichte

Umfang der spontanen Republiken und Schichten überschreitenden Proteste vom

Juni 1968 unterstützen diese These, dass die identitätsstiftende Funktion der Bewe-

gung durchaus die Kraft gehabt hätte, das föderative Konstrukt Jugoslawiens enger

93 Detele, Lev: Jugoslav Student Revolt, S. 769.94 Kanzleiter, Stojaković: 1968 in Jugoslawien, S. 38.95 Vgl. Džaja: Realität des Jugoslawismus, S. 137.

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zusammen zu schweißen. Mit der Re-Dogmatisierung verschloss sich dieser Weg

und die nationale Emanzipation blieb als einzige einflussreiche oppositionelle Alter-

native übrig. Es kann also festgestellt werden, dass die Proteste indirekt neue Natio-

nalismen unterstützten, obwohl sie gegen diese gerichtet waren. Vor allem war es

aber die Dezentralisierungspolitik und die Konzentration von Macht in den Händen

von Politikern, die ihrer selbst und ihrer Republik weit mehr verpflichtet waren, als

Jugoslawien, die das System destabilsierte. Mit dem Ende der 'Goldenen Ära' noch

mehr als mit dem Tode Titos, schien der jugoslawische Weg zum Sozialismus ge-

scheitert zu sein, weil es nicht gelang, die schiere Kraft der Autorität Titos durch

eine breite föderative Legitimationsgrundlage zu ersetzten.

Abschließend bleibt zu sagen, dass die jugoslawische 68er-Bewegung mehr Auf-

merksamkeit seitens internationaler Wissenschaftler bedarf. Ähnlich wie im Westen

scheiterten die primären Ziele der Proteste zwar, doch prägten sie eine ganze Gene-

ration, die ein kritisches Bewusstsein gegenüber der politischen Welt, in der sie leb-

ten, entwickelten. Die Sonderstellung Jugoslawiens zwischen Ost und West und die

daran anknüpfende Studentenbewegung, die internationale Ideen mit einem philoso-

phisch-pragmatischen Reformwillen verbanden, machen den jugoslawischen Fall

zum idealen Untersuchungsobjekt für globale Verbindungen und Verflechtungen der

1968er-Bewegungen. Hier wäre es besonders interessant, die Auswirkungen der ju-

goslawischen Praxis-Philosophie und die Ideen des Selbstverwaltungssozialismus

auf die internationale Neue Linke zu untersuchen. Stellen doch die jugoslawischen

Ansätze zur Umsetzung eines neuen Weges zum Sozialismus genau das dar, nach-

dem an den politischen Fakultäten Frankfurts, Berkeleys und Paris' geforscht wurde.

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6 Quellen- und Literaturverzeichnis

6.1 Quellen

Bročić, Manojlo: Die Beziehung der Studenten zum gesellschaftlich-politischen Sys-tem (1966). In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 217.

Maliqi, Shkëlzen: Kosovo 1968 – eine Gegenbewegung zu Belgrad. In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 73-78.

Medijmorec, Miro: Studententheater – warum und wie? (1966). In: Kanzleiter, Boris;Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 324-330.

Olujić, Dragomir: Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch. In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 43-57.

Parolen des Juni 1968: „Nieder mit der roten Bourgeoisie“. In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 231f.

Politisches Aktionsprogramm (5. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Kru-noslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwi-schen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 234-23.

Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. In: Kanzleiter, Boris; Stoja-ković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 203-207.

Puhovski, Žarko: Die Masse geht einher mit einem totalitären Konzept. In: Kanzlei-ter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste undkulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 85-91.

Resolution der VIII. Konferenz des Studentenbundes zur internationalen Politik (Mai1968). In: Kanzleiter, Boris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Stu-dentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 221f.

Resolution der Studentendemonstration (3. Juni 1968). In: Kanzleiter, Boris; Stoja-ković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 233f.

Supek, Rudi: Some Contradictions and Insufficiencies of Yugoslav Self-Managing Socialism. In: Marković, Mihailo; Petrović, Gajo: Praxis. Yugoslav Essays in the Philosophy and Methodology of Social Sciences. London/Boston 1979, S. 249-270.

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Tito-Rede zu den Studentenprotesten in TV und Radio (9. Juni 1968). In: Kanzleiter, Bloris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 251-256.

Tito warnt das Exekutivkomitee vor Machtverlust (9. Juni 1968). In: Kanzleiter, Blo-ris; Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kultu-relle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Bonn 2008, S. 250f.

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Trifunovic, Bogdan: Die sozialistische Selbstverwaltung in Jugoslawien. Grundbe-griffe. Belgrad 1980.

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