Universität Erfurt
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft SS 2005
Seminar: Surrealismus in Ost und West. Medien des Unbewussten
Dozentin: Dr. Tanja Zimmermann
Wie beeinflusste Sigmund Freuds Traumanalyse die Kunst und Literatur
der Surrealisten des 20. Jahrhunderts
beziehungsweise wie setzten sie diese um?
4. Semester
Anja Knorr
Matrikelnr. 17182
4. Semester
Literaturwissenschaft (Hauptfach)
Kommunikationswissenschaft (Nebenfach)
Salinenkolonie 1 B
39218 Schönebeck
Tel. 03928/ 401284
E-mail: [email protected]
Abgabe: 20. Juli 2005
Leistungsnachweis: 12 Punkte
2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 3
1. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
1.1. Die Traumanalyse 4
1.2. Das kreative Ich und der psychoanalytische Einfluss auf
den Surrealismus 4
2. Der Surrealismus in der Kunstgeschichte
2.1. Charakteristik des Surrealismus 5
2.2. Der Bildbegriff des Surrealismus 6
3. Der Surrealismus in der Literatur
3.1. Der Einfluss der Psychoanalyse auf das literarische Schreiben 7
3.2. André Bretons „Nadja“ als Ideal
3.2.1. Écriture automatique als Lebensprinzip 8
3.2.2. Wichtige Motive 9
3.3. Eine Krise der Lyrik 12
4. Der Surrealismus in der Malerei
4.1. Der Sprachgebrauch im surrealistischen Werk Joan Mirós 13
4.2. Die sprechenden Bilder René Magrittes 15
4.3. Giorgio de Chiricos bizarre Welten
4.3.1. Die beunruhigten Musen 18
4.3.2. Geheimnis und Melancholie einer Strasse 20
4.4. Kunst und Wahn im Werk Salvador Dalis
4.4.1. Die paranoisch-kritische Methode 22
4.4.2. Soft selfportrait with fried bacon 22
5. Schlusswort 25
6. Bibliographie 26
7. Bildnachweis 27
8. Anhang 28
abstract 29
3
Einleitung
Der Surrealismus entstand zu einer Zeit in der Kunstgeschichte, als gerade in allen
Künsten die gängigen Konventionen über Bord geworfen werden sollten. Die
Surrealisten unterstützten diese Bemühungen mit Nachdruck und wählten dabei
zwar traditionelle Formen, doch in allen Äußerungen zielten sie auf eine
Veränderung der bis dahin akzeptierten künstlerischen sowie kulturellen Normen.
Am Ende des Dadaismus um 1920 spaltete sich die Bewegung in zwei große
Richtungen auf. Die einen Künstler wie George Grosz oder Otto Dix gingen in die
Richtung der Neuen Sachlichkeit, andere wie Max Ernst oder Man Ray scharten
sich in Paris um André Breton und den dort entstehenden Surrealismus. Diese
verkündeten die Allmacht des Unbewussten und propagierten die absolute
Freiheit des Denkens, des Glaubens und der Lebensform. Der Begründer des
Surrealismus, Breton, betont, dass dabei das kritische Denken ausgeschaltet und
der metaphorischen Fähigkeit des Geistes freie Bahn verschafft werden soll. Der
künstlerische Akt soll von seinen bewussten, absichtsvollen und kontrollierten
Elementen zugunsten des Unbewussten, Assoziativen, Intuitiven, Phantastischen
befreit werden. In der Literatur findet man unzählige Hinweise und
Nachschlagwerke, die sich mit dieser Epoche der Kunstgeschichte beschäftigen
sowohl im literarischen als auch im künstlerischen Bereich. Doch da jede
künstlerische Darstellung auf Geschehenem, Empfundenem und alten Vorbildern
beruht, beginne ich zunächst meine Ausführungen mit einem kurzem Einblick auf
die Psychoanalyse Freuds, um die Ansätze und Überlegungen der Surrealisten, die
ich im darauf folgenden Absatz darstelle, besser verstehen zu können.
Anschließend werde ich auf die Literatur des Surrealismus insbesondere Bretons
eingehen, um ihre Bedeutung und auch ihren Einfluss auf die Malerei zu
charakterisieren. Einen Schwerpunkt setze ich dann in der Analyse einiger
surrealistischer Werke von Malern wie Miró, Magritte, de Chirico und Dali. Dabei
ist die Grundlage meiner Analyse ihre Verarbeitung des Themas der Surrealisten,
nämlich wie sie ihre Träume, das Unbewusste, in Szene setzten. Meine
Konzentration auf die Maler erklärt sich daher, dass sich die Stile der Werke
verschiedener Surrealisten immer voneinander unterscheiden, was sehr interessant
für den Betrachter ist und immer eine neue Herausforderung an jede eigene
Interpretation stellt.
4
1. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
1.1. Die Traumanalyse
Die psychoanalytischen Erkenntnisse des Arztes Sigmund Freud gründen auf der
Erfahrung, dass viele unserer Gefühle, Träume und Verhaltensweisen von
bestimmten Faktoren beeinflusst sind, die unserem bewussten Denken nicht
zugänglich sind. Diese unbewussten Kräfte führen manchmal zu inneren
Konflikten in Form deutlicher Symptome wie verschiedenen Angstzuständen,
Depressionen, Zwangshandlungen oder Ŕgedanken. Als Methode wurde die
Psychoanalyse zur Erkundung unbewusster seelischer Vorgänge entwickelt, die
sich individuell als Wünsche, Träume, Charakter und Symptom manifestieren.
Freud beschreibt besonders diese Träume oft als fremd und eigenartig und geht
von der Annahme aus, dass „diese Gedanken wirklich in meinem Seelenleben
vorhanden (seien) und im Besitz einer gewissen psychischen Intensität oder
Energie gewesen, hätten sich aber in einer eigentümlichen psychologischen
Situation befunden, der zufolge sie mir nicht bewusst werden konnten. Ich heiße
diesen besonderen Zustand den der Verdrängung.“1 So entstand nach und nach
die psychoanalytische Lehre vom psychischen Werden des Menschen, von der
Entstehung psychischer Strukturen, vom Wesen der menschlichen Seele und dem
psychischen Konflikt.
1.2. Das kreative Ich und der psychoanalytische Einfluss auf den
Surrealismus
Bereits in den 30er Jahren gab es zur Theorie des künstlerischen Schaffens
besonders von psychoanalytischer Seite einige Beiträge, u. a. einen Aufsatz von
H. Bürger-Prinz über die künstlerischen Arbeiten Schizophrener. Freud selbst
hatte die meisten seiner Aufsätze über Kunst in den 20er Jahren publiziert und in
seinen Schriften sowie in denen von Salvador Dali oder Ernst Kris finden sich die
ersten psychoanalytischen Kunsttheorien, die sich mit der Frage nach dem Grund
des Schöpferischen befassen, lange vor der eigentlichen Kreativitätsforschung der
60er Jahre.
1 Freud, Sigmund: Über den Traum. In: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Hrsg. von
Leopold Löwenfeld und Alfred Kurella. Wiesbaden: J.F. Bergmann. 1901; hier zit. Nach: ders.,
Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u. a.. Bd. 2/3, Die Traumdeutung. Über den Traum.
London: Imago. 1942, S. 671 ff.
5
Freud selbst sah die schöpferische Produktion nicht so sehr als ein Ergebnis
bewusster Anstrengungen als vielmehr vorbewusster oder unbewusster Prozesse,
deren Ergebnis plötzlich im Bewusstsein aufleuchtet, ohne dass ihr
Zustandekommen im einzelnen zu rekonstruieren wäre. Denn, so Freud, bestehe
der „Trauminhalt nicht ausschließlich aus Situationen, sondern schließt auch
unvereinigte Brocken von visuellen Bildern, Reden und selbst Stücke von
unveränderten Gedanken ein.“2 Das Zeitthema überhaupt in der Kunst war daher
das Traumhafte, Unwirkliche mit seinen unbewussten Wünschen. Der Verstand
sollte ausgeschaltet werden um zu einem höheren, das heißt eigenen und aktiven
Bewusstsein zu finden.
2. Der Surrealismus in der Kunstgeschichte
2.1. Charakteristik des Surrealismus
Als sich in den frühen zwanziger Jahren die DadaŔ Bewegung, deren
Hauptanliegen es unter anderem war, jede auf einen „Ismus“ gerichtete Haltung
zu zerstören, sich also gegen alles Etablierte richtete, zersplitterte, versuchten
einige Künstler die Theorie über das Unbewusste auf die Kunst anzuwenden.
Während des künstlerischen Schaffensprozess sollte die sichtbare Wirklichkeit
weitgehend vor der ebenso wirklichen, wenn auch nicht sichtbaren Traumwelt,
der sogenannten „surréalité“ zurücktreten. Gerade weil „die Traumgedanken nicht
in den nüchternen sprachlichen Formen gegeben (sind), deren sich unser Denken
am liebsten bedient, sondern (…) vielmehr in symbolischer Weise durch
Gleichnisse und Metaphern, wie in bilderreicher Dichtersprache, dargestellt
sind.“ Das bedeutet, dass die Traumarbeit dieses „psychische Material“ 3
verdichtet und verschiebt. Deswegen entwickelten die Surrealisten nicht nur
diverse Methoden, um den kontrollierenden Verstand auszuschalten und die
Erlebnisfähigkeit zu erweitern, sondern auch neue Kunstformen, um diese
Verschiebungen, Gleichnisse und Metaphern auch bildhaft darzustellen, was
Bestandteil meiner Analyse sein wird. Die surrealistische Kunstauffassung führte
zu einer Wertschätzung der sogenannten naiven Malerei, insbesondere der von
Henry Rosseau. André Breton sprach explizit von der „Révolution Surréaliste“,
2 ebd., S. 671
3 ebd., S. 671
6
nach der ebenfalls eine Zeitschrift benannt wird, die von 1924-1929 Organ der
Bewegung war, und brachte 1924 „Das Manifest des Surrealismus“ heraus, in
dem bisherige Erfahrungen der surrealistischen Gruppe protokolliert werden
sowie persönliche Bekenntnisse, grundlegende Definitionen und psychologische
Ansätze Bretons dargestellt werden.
2.2. Der Bildbegriff des Surrealismus
Weiterhin werden ihre gedankenlosen Kritzeleien schnell und ohne jedes
Denkdiktat oder Vernunftkontrolle zu Papier gebracht, um die
Traumvorstellungen nicht durch bewusste Gedankentätigkeit zu durchkreuzen.
Diese so genannte automatische Handschrift berücksichtigt keine
kunsthistorischen Regeln, sondern vielmehr die Traditionen und Umwelt. Die
Welt der Surrealisten, in der die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und
leblosem Gegenstand aufgehoben sind, übt somit eine fast magische Wirkung aus.
Dementsprechend werden als Themen sehr gern Protokolle seelischer
Empfindungen wie Traum und Meditation verwendet wie das beispielsweise in
Nadja sehr schön zu sehen ist. Um den Zufall zu nutzen und dem Seelischen
unmittelbar Ausdruck zu geben, werden neue künstlerische Techniken entwickelt.
Hierin geht es darum, auf der Bildoberfläche, in der Assemblage oder der
Skulptur, Dinge auf eine bestimmte Weise zueinander in Beziehung zu setzen
oder interagieren zu lassen, die in der Realität auf diese Weise nicht oder unter nur
sehr unwahrscheinlichen Umständen miteinander vorkommen. Freud umschreibt
dies in seiner Traumdeutung mit den Worten, dass der Traum einen „logischen
Zusammenhang wiedergibt als Annäherung in Zeit und Raum, ähnlich wie der
Maler, der alle Dichter des Parnaß zusammenstellt, die niemals auf einem
Berggipfel beisammen gewesen sind, wohl aber begrifflich eine Gemeinschaft
bilden,“4 was Max Ernst eindrucksvoll auf seinem Gemälde „Das Rendezvous der
Freunde“5 von 1922 darstellte. In den folgenden Absätzen werde ich diese
Abhandlungen noch näher erläutern.
Das wohl bekannteste und treffendste Zitat und Definition des Surrealismus ist
der berühmte Satz des Conte de Lautréamont, Surrealismus sei „das
4 ebd., S.S.672
5 Abb.1: siehe Anhang
7
Zusammentreffen eines Regenschirmes und einer Nähmaschine auf einem
Operationstisch.“6 Auf diese Weise thematisiert der Surrealismus natürlich auch
die Grenzen und Möglichkeiten des Mediums selbst. Er versucht gezielt, diverse
Kombinationen von möglichst heterogenen Elementen herbeizuführen, die in der
außerbildlichen Wirklichkeit so nicht existieren oder vorkommen können. Damit
stärkt der Surrealismus in der Folge die Autonomie des Mediums und die
Autonomie der Kunst.
3. Der Surrealismus in der Literatur
3.1. Der Einfluss der Psychoanalyse auf das literarische Schreiben
Die 1919 von André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault gegründete
Zeitschrift „Littérature“ wurde das Sprachrohr der Surrealisten, in der sie ihren
neuen, antiliterarischen Geist verkündeten.7 Sie publizierten Aufsätze, Dichtungen
oder analytische Kritikschreiben, wobei die Poesie eine Vorrangstellung einnahm,
und die Poeten auch als eine Art Seher oder Propheten angesehen wurden. Vor
allem in der automatischen Schreibweise, und dabei besonders jene
Bewusstseinsinhalte, die unmittelbar vor dem Einsetzen des Schlafs wahrnehmbar
werden, entdeckten die Surrealisten jene befreite Sprache, die für sie die Sprache
des Unbewussten ist. Daher bewährte sich diese Form des Schreibens vor allem
im Medium der Prosa wie man am Beispiel von Bretons phantastischer
Geschichte „Nadja“ nachvollziehen kann. Solche automatischen Texte haben
etwas Traumartiges an sich, die durch viele Metaphern gekennzeichnet sind. Oft
findet man unzählige grelle Bilder, die scheinbar gar nicht zusammen passen und
doch so oft aufeinander prallen. Daher kann man daraus schließen, dass die
automatischen Texte aus freien Wortassoziationen bestehen und die
Eigenbedeutung der Wörter keine allzu große Rolle mehr spielt wie Peter Bürger
so treffend in seinen Studien zur avantgardistischen Literatur formuliert.8 In den
nachfolgenden Absätzen werde ich genauer darauf eingehen, wie sich diese
Schreibweise konkret im Text äußert.
6 Lautréamont: Das Gesamtwerk. Hamburg: Reinbeck. 1988, S. 13
7 siehe Zotz, Volker: André Breton. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. 1990, S.37
8 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur.
Frankfurt/Main: Suhrkamp.1996, S.75-91
8
3.2. André Bretons „Nadja“ als Ideal
3.2.1. Écriture automatique als Lebensprinzip
Zu seiner in Paris wie ein Phantom herumirrenden „Nadja“9 pflegt Breton im
Roman eine kurze, aber sehr intensive und vertraute Freundschaft, die von vielen
seltsamen Ereignissen geprägt ist. Seine faszinierende Romanfigur und
Grenzgängerin Nadja verfügt über erstaunliche Intuitionen und kann sogar
Ereignisse voraussagen, so spricht sie zum Beispiel Gedanken oder Metaphern
aus, die Breton gerade in einem Buch gelesen hat, oder sie treffen sich immer
wieder nur scheinbar zufällig auf anonymen Plätzen, obwohl sie sich doch aus
dem Weg gehen. Somit ist Nadja der „esprit libre“, die Bestätigung für Bretons
surrealistische Weltanschauung, da sie gleichzeitig als seine Muse genau dieses
verkörpert. Dabei thematisiert er die lebendige Erfahrung eines surrealistischen
Bildes: zwei voneinander gewöhnlich getrennte Wirklichkeiten treffen
aufeinander, nämlich die der realen Welt Bretons sowie der Traumwelt Nadjas.
Diese Welten verschmelzen miteinander und gestatten zugleich auch einen Blick
auf die verborgenen Dimensionen des Lebens, denn in der Traumerfahrung sind
die Gesetze von Vernunft und Logik außer Kraft gesetzt. Weiterhin ist Breton und
Nadja gemein, dass sie sich dem Gedanken des Automatismus hingeben, was ja
nichts anderes heißt als ohne vorgefasste Ideen und Plänen außerhalb aller
ästhetischen und moralischen Vorstellungen zu handeln. Breton preist diese Idee
der „écriture automatique“ sogar direkt an in seinem Werk, so zum Beispiel als er
die unheimlichen Séancen der „Schlafepoche“ von Robert Desnos beschreibt:
„Und Desnos sieht weiterhin, was ich nicht sehe… Wer nicht gesehen hat, wie
sein Bleistift ohne das geringste Zögern und mit ungeheurer Schnelligkeit jene
poetischen Gleichungen aufs Papier brachte, wer nicht wie ich, sich vergewissern
konnte, dass sie nicht von langer Hand vorbereitet sein konnten, der kann sich,
auch wenn er ihre technische Perfektion zu würdigen und den wundervollen
Schwung zu beurteilen vermag, keine Vorstellung davon machen, was dies alles
damals eröffnete, welch absoluten Wert als Orakel es bekam.“ (S. 27-29) Diese
Aussage kann als chef d’oeuvre des literarischen Surrealismus gelten, hier betont
er das Ideal dieser Bewegung und die Wichtigkeit der automatischen
Schreibweise, gegen die er sich bereits in seinen Manifesten richtete. Durch das
9 Breton, André: Nadja. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag. 2002. Alle weiteren Seitenangaben
beziehen sich auf diesen Text
9
Unbewusste und Traumhafte scheint sich eine ganz neue Welt zu eröffnen, die
dem unmittelbar Seelischen und Empfundenen Ausdruck verleiht.
In diesem Sinne stellt Nadja ein vollkommenes, nämlich surrealistisches Geschöpf
dar, mit ihr „kommt man … dem Extrem surrealistischen Ehrgeiz nahe, seiner
stärksten Grenzvorstellung.“ (S. 64) Allerdings repräsentiert sie auch die Grenzen
des Surrealismus, wenn sie aufhört eine Person zu sein in ihrer faszinierenden
Überwirklichkeit. So beschreibt sie sich als „l’âme errante“, als die herumirrende
Seele (S. 61) und als „Gedanken über der Badewanne in dem spiegellosen
Zimmer,“ (S. 86) die man nicht erreichen kann. (S. 81) Breton hat Nadja also auch
geschrieben, um die Unabhängigkeit des Surrealismus zu verkünden. Deshalb
kann man den 4. Oktober 1926 ohne weiteres als das symbolische Datum der
Erfindung der surrealistischen Dichtkunst ansehen. Breton glorifiziert in seinem
Werk den Zufall und vermindert den Wert der Arbeit auf den Stand einer
unmoralischen schändlichen Beschränkung: „Während man arbeitet, nützt es
nichts, am Leben zu sein.“ (S. 52) Von einem surrealistischen Standpunkt aus,
nimmt Nadja den Stellenwert eines Manifests ein, das die Leser dafür
empfänglich macht, sich in Frage zu stellen, sich von den Zwängen der
Gewohnheit und Routine zu befreien, und um „die Menschen dazu verleiten, auf
die Strasse zu rennen, nachdem ihm wenn nicht die Nichtigkeit, so doch die
einschneidende Unzulänglichkeit jedes streng berechnendes Nachdenkens über
sich selbst, jeder Handlung, die fortlaufend zu betreiben ist und im voraus zu
planen war, zu Bewusstsein gebracht worden ist.“ (S.51)
3.2.2. Wichtige Motive
Bei der Verarbeitung dieses Themas setzt er auch geschickt die Sprache als Puzzle
mit immer neuen Bezugsmöglichkeiten ein. So wird dies schon bei der ersten
Begegnung der Beiden deutlich, als Breton Nadja fragt wer sie sei, und sie ihm
darauf antwortet, dass sie die wandernde Seele wäre. Ihre wahre Identität wird
also nie wirklich geklärt. Weiterhin stimmt er die Leser durch Dinge, die am
Rande der Wirklichkeit stehen, auf die Geschichte ein, in dem er ihr eine
Erzählung voranstellt, in der er vor dem „Hôtel Maison Rouge“ steht, doch beim
Wegdrehen von diesem, ist dort ein Schild zu sehen, auf dem „Police“
10
geschrieben ist. Schon hier fragt man sich unweigerlich, warum dem so ist. War
das Hotel früher mal eine Polizeiwache? Als weitere phantastische Elemente der
Erzählung sind unbedingt die sich erfüllenden Voraussagen, die im Nachhinein
enthüllten Beziehungen zwischen Personen und Objekten, das zeitliche
Zusammentreffen zweier Ereignisse, die Gedankenübertragung sowie die
unerklärliche Anziehungskraft einzelner Objekte zu nennen: So zeichnet Nadja
zum Beispiel zahlreiche Motive von Bildern aus Bretons Wohnung obwohl sie
noch nie dort gewesen ist. Weiterhin ist die Erzählung in der Ich-Form
geschrieben, womit dem Leser eine gewisse Perspektive aufgezwungen wird und
unmittelbar mit den Erfahrungen der Überwirklichkeit konfrontiert. Allerdings
weist die Tagebuch- beziehungsweise Berichtform auf eine Distanz zum Erlebten
hin, denn das Erlebte wird erst einmal reflektiert, Breton erscheint somit unter
dem Licht des passiven Chronisten. Außerdem wirken die Erlebnisse durch das
Buch mit den Fotographien authentisch und ändern die Perspektive vom
Fiktionalen, denn die 44 Fotos von Gesichtern, Schauplätzen und Raritäten liefern
auch immer dokumentarische Fakten und Beweise. Diese Fotos als eine Art
Illustration weisen auf die Intermedialität des Buchs hin, denn alles was Breton
beschreibt, findet sich wenig später im Text auch in Form von Fotografien oder
Zeichnungen Nadja wieder. Außerdem unterstreichen die Fotos die surrealistische
Grundhaltung des freien Geistes, denn sie sind ähnlich der écriture automatique
zufällige Momentaufnahmen und weder gestellt noch manipuliert. Allerdings
eliminieren Fotos ja auch immer ein wenig die Beschreibungen des Autors und
genau dafür spricht sich Breton aus, wenn er schreibt, dass er sich unterscheidet
„… von all den Kurpfuschern des Romans, die Personen in Szene setzen, die
angeblich anders sind als sie selbst und die sie doch in Aussehen und
Geisteshaltung wie ihresgleichen darstellen… Ich bestehe … auf Bücher…, die
offen sind wie Schwingtüren und deren Schlüssel man nicht zu suchen braucht…
ich bewohne mein Glashaus…, wo mir früher oder später vor Augen treten wird,
mit Diamanten graviert, wer ich bin“ (S. 15) So stellt zum Beispiel sowohl die
Beschreibung als auch das Foto der Szene mit dem blauen Handschuh genau dies
dar. Der Handschuh und das Foto sind beides Objekte, und Breton betont das
Gewicht des Handschuhs und wünscht sich „genau das zu messen, mit welcher
Kraft er etwas drückte, auf das der andere nicht gedrückt hätte.“ (S. 49) Seine
damit einhergehende innere Unruhe erklärt sich sicherlich mit dem Faktor, dass
11
der Handschuh ein Gliedmaß repräsentiert, dass von seinem Körper getrennt
wurde, obwohl es ich es sich nur um einen Handschuh handelt. Hiermit beschreibt
er erfolgreich die optischen Täuschungen der Fotos, womit die Rätselhaftigkeit
der Dinge entsteht und Nadjas Auftritt gewissermaßen einleitet.
Während also die Fotos auf der einen Seite das Faktische im Werk betonen,
repräsentieren auf der anderen Seite die von Nadja gemalten Zeichnungen eine
realitätsferne und mythische Welt, in der sie sich kalligraphisch bzw.
ornamentalisch ausdrückt und viele Symbole verwendet. Sie ist Teil des Werkes,
quasi ein Kalligramm, denn sie verwendet einen Übergang von der Schrift ins
Bild in ihren Zeichnungen, setzt diese miteinander in Beziehung. Damit werden
die Metaphern der Sprachebene auch auf visueller Ebene entfaltet. Auffällig ist
dabei, dass Nadja fast nur als Medium für Bretons Ich-Suche und Offenbarung
des Wunderbaren wirkt; die Wirklichkeit scheint zu einem Kaleidoskop von
Symbolen geworden zu sein, dessen Bedeutung jedoch offen bleibt.
Letztlich verschwindet Nadja aber wieder so plötzlich wie sie aufgetaucht ist und
wird in die Psychiatrie eingeliefert, da sie sich anscheinend „in den Gängen ihres
Hotels Überspanntheiten geleistet“ (S. 116) hat. Nadja verlässt die Welt der
Konventionen, um in einer anderen Wirklichkeit zu leben während Breton einen
gewissen Anteil an der normalen Realität nicht aufgeben will. Damit kommt es zu
einer fast voraussehbaren Distanzierung zwischen den Beiden, weil Nadja so weit
in ihrer Überwirklichkeit geht, dass sie aufhört, eine Person zu sein. Hier kann
man argumentieren, dass somit das Phantastische aufgehoben wird und das
surrealistische Lebensideal als solches nicht lebensfähig ist. Die Begegnung
zwischen den Beiden wirkt jedoch weiterhin wie vorausbestimmt. Nicht
verwunderlich ist daher auch, dass die Psychiater jener Zeit eine strafrechtliche
Verfolgung Bretons sowie ein Verbot des Buches forderten, denn sie sahen darin
eine Verherrlichung des Wahnsinns, weil Breton keine Grenze zwischen dem
Wahnsinn und dem Nicht-Wahnsinn ziehe. Abschließend ist fest zu halten, dass
die surrealistischen Texte wie „Nadja“ höchst subversiv sind, dass heißt sie
schaffen mehr Verwirrung als dass sie auflösen, und sind dementsprechend
schwer zu analysieren. Mit anderen Worten rebelliert hierbei das Werk gegen
seinen Meister wozu Louis Aragon in seinen Abhandlungen über den Stil von
1928 so eindrucksvoll aufruft: „Ich trete die Syntax mit Füßen, weil sie mit Füßen
12
getreten werden muß.“10
Diese Einstellung wird noch deutlicher bei der
surrealistischen Lyrik, worauf ich im Folgenden eingehen werde.
3.3. Eine Krise der Lyrik
Weiterhin scheint Breton an eine neue Form der Poetik zu denken, die die
formalen Absichten des Gedichts zunächst zwar beibehält, doch das poetische
Instrument regelrecht verstimmt. Auch den Reim behält er zum Teil bei, kaschiert
ihn aber, indem er ihn an eine Stelle im Vers verschiebt, an der er nicht mehr
funktional ist. So ist zum Beispiel sein Gedicht „Le Coq de Bruyère“11
aus
zerbrochenen Alexandrinern komponiert. In der Typographie wird der Vers
zertrümmert, wodurch auch der Rhythmus holprig wird. Und wann immer sich
eine Harmonie abzuzeichnen beginnt, wird sie zerbrochen und durch eine
gegenläufige Dynamik zerstört. Sein 1918 geschriebenes Gedicht „Forêt Noire“12
verstärkt jene Tendenz noch. Breton distanziert sich von den traditionellen
Formen der Dichtung, indem er sie vollständig auseinander nimmt. Dieses
Gedicht ist aus unterschiedlichen Materialen komponiert, die eine besondere
Eigendynamik besitzen. Hierbei wird der Reim ganz aufgegeben, da es für die
Surrealisten eine dem Werk vorgegebene Form nicht mehr zu geben scheint. Ihre
neue Poesie wird als reine Kunst der Schöpfung definiert und den unmittelbaren
Gefühlen wird sofort, ohne jedes Beachten literarischer Vorgaben Ausdruck
verliehen. Dabei spielen die subjektive Kontrolle und Auswahl des Dichters
keinerlei bewusste Rolle mehr, was eindeutig auf die intensive Beschäftigung der
Surrealisten mit Freuds Traumanalyse hinweist. So schrieb Breton in seinen
programmangebenden Manifesten, dass er sich „eingehend mit Freud beschäftigte
und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut… und beschloß nun, von
mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so
rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts
in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung
auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre…“ Weiter
heißt es, dass „das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des
10
Aragon, Louis: Essai Traité du style. Fragment. 1928 11
Breton, André: Œuvres complètes tome I et II. Hrsg. von Marguérite Bonnet. Paris:
Bibliothèque de la Pléiade. 1988/92 12
ebd.
13
Redestroms.“13
Die aus dem Unbewussten hervorquellenden Wörter verdichten
sich letztlich zu einem Bild, das jedoch über die Abbildung konventioneller
Wirklichkeit hinausgeht, indem es eine andere Dimension der Realität, das
Unbewusste, offenbart. Somit wird das Ich durch seine Relativierung befreit.
Breton geht noch darüber hinaus und bricht offen mit dem Ideal der reinen,
lyrischen Sprache, indem er mit Wortspielen, Metamorphosen, Doppelsinn und
Gleichklang arbeitet. Durch dieses Gleiten der Bedeutungen erreicht er
gleichzeitig die Entgleitung des Bewusstseins. Weiterhin verwendet er zahlreiche
Verkürzungen und Ellipsen als stilistisches Mittel, die immer wieder zu
Sinnbrüchen führen und nur schwer verständlich sind. Alles im Gedicht ist
zweideutig angehaucht, und er fügt sogar Alltagsgegenstände wie die Melone,
einen Spiegel oder das Kotelett in das Gedicht ein. Somit lässt er das
unvorhergesehene Wirkliche in die Poesie einfließen und verleiht ihm die Ebene
des Traums. Obgleich gesagt werden muss, dass sich Breton auf der Stilebene
immer noch an seine Dichtervorfahren wie Arthur Rimbaud oder Paul Valéry
orientiert. Letzten Endes drückt aber seine Art der Poetik eine neue Form aus, die
die Erwartungen des Lesers immer wieder brüskiert und keine erkennbare Logik
besitzt, was sich in der Anordnung der Wörter und Verse widerspiegelt. Dabei
lösen die Bilder von Bretons Dichtung ihren Gegenstand aus dem Alltäglichen
heraus und verweisen damit auf ein unbestimmtes „Anderes“, diese
Allegorisierung lässt die Bedeutung im Vagen bleiben.
4. Der Surrealismus in der Malerei
4.1. Der Sprachgebrauch im surrealistischen Werk Joan Mirós
Die surrealistischen Maler orientierten sich an jenen Dichtern und übernahmen
begeistert die Aufgaben einer fast revolutionären Bildgestaltung. Allerdings ist
Breton der Meinung, dass „wenn der Surrealismus darauf aus ist, sich eine
Richtung für sein Verhalten zu geben, er nur dieselben Stadien durchlaufen muss,
die Picasso durchlief und noch durchlaufen wird; ich hoffe, dies wird als große
Aufforderung verstanden,“14
wie Volker Zotz in seiner Biographie Breton zitiert.
Denn Picasso mit seiner Entwicklung des Kubismus verließ als Erster und
13
Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus. Hamburg: Reinbeck. 1977, S. 24 f. 14
in Zotz, Volker: André Breton. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. 1990, S.103 f.
14
Konsequentester eingefahrene Gleise, ohne sich jedoch auf eine neu gefundene
Möglichkeit zu fixieren. Durch diese Offenheit gelang es ihm mühelos, sich
immer wieder neu zu definieren, was zum Vorbild für die Surrealisten wurde.
Doch entschieden sich von den surrealistischen Malern nur wenige zu einer
direkten Arbeit an der Sprache wie Joan Mirós, dessen Arbeiten, die zwischen
1924 und 1927 entstanden, ein Beispiel für jene Gedicht-Gemälde sind. Er teilte
die Faszination für die Sprache mit Breton und schrieb an einen Freund: „Du und
alle meine anderen Schriftstellerfreunde haben mir sehr geholfen und mein
Verständnis vieler Dinge vertieft. Ich denke an unsere Unterhaltung, bei der du
erzähltest, wie du mit einem Wort beginnst und dann beobachtest, wohin es dich
führen wird.“15
Das sich rätselhaft über die rechte, untere Bildecke erstreckende Wort „sard“ im
Gemälde „Der Jäger“ lässt vermuten, dass Miró bei der Planung genau mit den
oben genannten Gedanken gespielt hat. Das Gemälde ist beherrscht von einer
Kürzelsprache, die an Hieroglyphen erinnert, jedoch sind einige erkennbare
Motive eingestreut wie ein Ohr, eine Leiter, eine Pfeife und ein Auge. Somit fand
er einen Weg, die Realität zwar in ein Universum von Zeichen und Symbolen zu
verwandeln, das allerdings noch konkrete Parallelen zur wirklichen Welt aufweist.
Abb. 2: Joan Miró: Der Jäger (Katalanische Landschaft), 1923-24. Öl auf Leinwand,
64,8x100,3cm. Museum of Modern Art, New York
Der Jäger oben links besteht aus einem schematisch angedeuteten Körper und
einem dreieckigen Kopf mit nur einem Auge, einem abstehenden Ohr, gewellten
15
Miró, Joan: Brief an Michel Leiris. 10. Aug. 1924. übers. und neu hrsg. in: Roswell, Margitt:
Joan Miró. Selected Writings and Interviews. Boston. 1986, S. 86
15
Harren, einem Schnurrbart sowie einer herausragenden rauchenden Pfeife. Der
Jäger schießt, sein Penis ejakuliert und dies zur gleichen Zeit. Andere Elemente
wie ein vogelartiges Flugzeug, Flaggen und Leitern umgeben ihn. Unten links
befindet sich ein Fisch in Dreiecksform mit Wellenlinien am Hinterteil, was
einige Kunsthistoriker als Sardine deuten und daher das Wort „sard“ für eine
Abkürzung von „sardina“ halten.16
Doch hält Rubin auch eine Verbindung mit
dem katalanischen Wort „sardine“ nicht für ausgeschlossen. Dieses Wortspiel
bedeutet im Katalanischen umgangssprachlich soviel wie „Phallus“ und würde
zum geheimnisvollen, ejakulierenden Jäger passen. Dieses eingefügte Wort löst
fast Erschrecken und Beunruhigung aus, denn das Wort „sard“ spielt im Gemälde
eine entscheidende Rolle. Die Frage nach dem Sinn dieses Sprachgebrauchs ist
schwer zu beantworten. Warum reichen die verwendeten Motive innerhalb der
Landschaft allein nicht aus? Seine Funktion kann man analog zum
Sprachgebrauch primitiver Kulturen sehen. Ähnlich den niedrigen Gesellschaften,
die ihre Vorstellungen immer auf eine Art ausdrücken, wie sie sich für Auge und
Ohren darstellen, versuchte Miró die graphischen und plastischen Details dessen,
was er ausdrücken wollte, in Worte einzufangen.
4.2. Die sprechenden Bilder René Magrittes
Wie ich bereits ausgearbeitet habe, fasst das surrealistische Bild Dinge zusammen,
die konventionell getrennt sind, ohne dass man allerdings einen Gegensatz oder
Widerspruch empfindet. Sie scheinen vielmehr wie ein Fenster zu funktionieren,
gleich einer Ikone in der Ostkirche, und eröffnen somit dem Betrachter den Blick
in eine andere Dimension, die als Surrealität jenes geistigen Standortes aufgefasst
wird, „von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und
Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als
widersprüchlich empfunden werden,“17
wie dies in Bretons Manifesten
nachzulesen ist. Diese Auffassung betonen besonders die formal reduzierten
Sprachbilder des belgischen Surrealisten René Magritte, die in der Kombination
von eigentlich Unvereinbarem die freie Verfügbarkeit über die Dinge in den
Bildern demonstrieren, also die Unfähigkeit von Wort und Bild, das Reale
16
siehe Rubin, William S.: Miró in the Collection of the Museum of Modern Art. New York:
Museum of Modern Art. 1973, S. 25 17
Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus. Hamburg: Reinbeck. 1977, S. 55
16
wiederzugeben. Magritte hat viele solcher Bilder gemalt, um so das Verhältnis
von Bild und Schrift, und dabei besonders die Kollision derer, zu zeigen.
Allerdings darf man nicht vergessen zu erwähnen, dass bei näherer Betrachtung
Magritte das Spontane und Intuitive fehlt, das für den Surrealismus
charakteristisch ist. Seine Werke sind nüchterner, jedoch in physikalisch
unmöglichen und vollkommen absurden Zusammenstellungen gehalten.
Abb. 3: Magritte, René: Der Schlüssel der Träume, 1930. Öl auf Leinwand, 81x60cm. Privatbesitz
In seinem Gemälde „Schlüssel der Träume“ setzt sich Magritte mit dem
Verhältnis von Sprache und Bildern auseinander, indem er einen, im ersten
Augenblick widersprüchlich erscheinenden Begriff unter einen Gegenstand setzt
und ihn damit verneint. Es handelt sich dabei um eine Form von Intermedialität
bei dem Werk, in dem Dinge zusammengebracht werden, die nicht
zusammengehören, und entfremdet werden. Fast scheint er herausfinden zu
wollen, was stärker auf den Betrachtet wirkt, das Abbild oder die Bezeichnung.
Für diese Auffassung spricht auch die Tatsache, dass Magritte dieses Gemälde,
wie viele seiner Werke, im Stil eines Lernplakats gemalt hat, die dem
Erwachsenen quasi zeigen sollen wie die Welt aufgebaut ist, nämlich surreal.
Freud fand, dass die Menschen gewisse Erwartungsvorstellungen von
Wahrnehmungsinhalten gegenüber der Literatur oder Kunst haben, sie ordnen
„ihn schon bei der Wahrnehmung unter der Voraussetzung seiner
Verständlichkeit, (und) läuft dabei Gefahr, ihn zu fälschen, und verfällt in der Tat,
wenn er sich an nichts Bekanntes anreihen lässt, zunächst in die seltsamsten
17
Missverständnisse.“18
Dass heißt am konkreten Beispiel von Magrittes Werk, dass
man sich gewöhnlich durch eine Bildunterschrift bestätigt fühlt; sie beschreibt,
erklärt oder zeigt auf, worum es sich bei dem Dargestellten handelt. Das Bild wird
vom Betrachter durch die eingeschliffenen Rezeptionsweisen als Repräsentation
der Wirklichkeit mit dem Naturobjekt gleichgesetzt. Das heißt, der Betrachter hat
gelernt, keinen Unterschied zwischen dem Abgebildetem und dem Objekt zu
sehen. Allerdings wird hier nun aber unter den Damenschuh „la lune“, der Mond,
geschrieben, und der Melonenhut heißt auf einmal „la neige“, der Schnee, u. s. w.,
wodurch eine Kollision von Schrift und Bild innerhalb des Gemäldes entsteht, da
das Bild nicht das auflöst, was es ursprünglich zeigt. Um es mit den Worten
Michel Foucaults auszudrücken: „Diese Malerei ist mehr als jede andere darauf
bedacht, das Element des Schriftlichen und das Element des Figürlichen
sorgfältig, ja grausam voneinander zu trennen: wenn sie in einem Gemälde (etwa
als Legende und Bild) zusammentreffen, so muß die Aussage die offensichtliche
Identität der Figur und der ihr zustehenden Namen in Abrede stellen.“19
Denn der
dargestellte Damenschuh ist tatsächlich kein Damenschuh, sondern das Abbild
eines Damenschuhs. Daher werden zwei Dinge deutlich: Auf der einen Seite ist
die Sprache nur ein schablonenhafter Raster, denn sie kann die Wirklichkeit nicht
wiedergeben. Auf der anderen Seite sind die Bilder, die wir uns von der Realität
machen, nur Konstruktionen des Denkens. Jeder stellt sich einen Damenschuh
anders vor. Daher zeigt Magrittes Werk auf, dass man theoretisch jeden
geschriebenen Begriff mit jedem Bild eines Gegenstandes kombinieren kann.
Das Auseinanderklaffen von Bildern und Namen weist darauf hin, dass die im
Bild gezeigten Gegenstände nicht mit den Namen identisch sind. Es belegt, dass
Namen und Bilder eigenen Systemen und damit anderen Realitätsebenen als die
selbst Dinge angehören. Die Beweiskraft von Bild und Schrift beziehungsweise
der Sprache, die Wirklichkeit unverfälscht wiederzugeben, wird somit radikal in
Frage gestellt. Um es ganz einfach auszudrücken, kann man zusammenfassend
sagen, dass das was gemalt wurde für die Surrealisten keine Realität ist, sondern
18
Freud, Sigmund: Über den Traum. In: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Hrsg. von
Leopold Löwenfeld und Alfred Kurella. Wiesbaden: J.F. Bergmann. 1901; hier zit. Nach: ders.,
Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u. a.. Bd. 2/3, Die Traumdeutung. Über den Traum.
London: Imago. 1942, S. 673 19
Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René
Magritte. München, Wien: Carl Hauser Verlag. 1997, S.28
18
ein Schuh ist nichts anderes als ein Schuh, ein Hut ein Hut, und ein Bild bleibt
eben nichts als ein Bild.
4.3. Giorgio de Chiricos bizarre Welten
4.3.1 Die beunruhigten Musen
Richtungsweisend für den Surrealismus wirken die kurz vor und während des I.
Weltkriegs entstandenen „metaphysischen“ Bilder des Italieners de Chirico, der in
seinen Gemälden eine unwirkliche Traumwelt darzustellen scheint. Er zeigt die
Hintergründigkeit der Dingwelt, indem er die traditionelle Formensprache
bruchstückhaft oder verzerrt übernimmt und in einen ungewohnten
Zusammenhang bringt. Chirico bildet Einzelheiten teils photogetreu ab, teils
formt er diese seltsam um und fügt sie in einer überraschenden, der sichtbaren
Wirklichkeit widersprechenden Weise zusammen.
Abb. 4: Giorgio de Chirico: Die beunruhigten Musen, 1916. Öl/Holz, 97x66cm. Sammlung Gianni
Mattioli, Mailand
In seinem Gemälde „Die beunruhigten Musen“ wechseln sich visionäre
Landschaften mit deformierten Menschen ab und schaffen eine Ebene der
19
Meditation, der Trance und des Traums. Dabei versinnbildlichen eine
ungewöhnliche und rätselhafte Zusammenstellung von vertrauten und frei
erfundenen Gegenständen sowie von puppenähnlichen regungslosen Figuren die
Abwesenheit des Menschen. Diese seltsamen Gliederpuppen, die sich aus Steinen
und Gerümpel zu einem sich gerade aufblasenden Luftballon zusammensetzen,
wirken auf mich sehr beunruhigend, rätselhaft und fast absurd. Ein logischer
Zusammenhang scheint diesem Bild zu fehlen. Zur Technik des Bildes muss
gesagt werden, dass die Ölmaltechnik in geradezu altmeisterlicher Vollendung
angewendet wird, was ein typisches Zeichen der Surrealisten ist. Allerdings ist für
damalige Verhältnisse sein Bildinhalt und Thema neu und geradezu
revolutionierend: menschenleere Strassen unter düster verfärbtem Himmel
erwecken ein Gefühl der Fremdheit. Nahes verliert sich in unendlicher Ferne, die
antiken Figuren regen sich wie im Traum. In seinem Gemälde scheint die Zeit
stehen geblieben zu sein, ein Gefühl der Einsamkeit und der Schwermut sind
seine Grundstimmung. Bei Chiricos Gemälde wird seine Absicht und die der
Surrealisten besonders deutlich. Sein Misstrauen in die sinnlich wahrnehmbare
Welt führt ihn zur Visualisierung einer anderen, inneren, mentalen Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit entzieht sich natürlich dem unmittelbaren Zugriff des Auges,
gerade weil es nicht real und für andere sichtbar ist. Nach Breton hat Chirico hier
eine jener Gegenden dargestellt, in denen das Objekt nur als Ausdruck eines
symbolischen und rätselhaften Lebens fassbar wird.20
Letztlich hat er nach dem
Prinzip der Surrealisten gemalt, indem er ein geheimnisvolles, nur für seinen
Geist gegenwärtiges Bild, das unvermittelt aus den Tiefen des eigenen
Bewusstseins aufgestiegen ist, auf die Leinwand gebracht hat. Er gibt sich also
gerade nicht mit der Darstellung der platten, realistischen Wirklichkeit ab; er ist
nicht explizit daran interessiert, neue Kunst zu schaffen, sondern vielmehr daran
zu experimentieren und sich dadurch besser selbst kennen zu lernen. Seine
geistige Haltung der Traumdarstellung, die den Surrealisten als Vorbild diente,
stand vor dem stilistischen Ausdruck.
20
Breton, André: Le Surréalisme et la peinture. Hrsg.: Günter Metken: Als die Surrealisten noch
recht hatten. Paris. 1965, S. 408
20
4.3.2. Geheimnis und Melancholie einer Strasse
Außerdem ein gutes Beispiel für Giorgio de Chiricos außergewöhnliche
Verarbeitung der Träume ist sein Gemälde „Geheimnis und Melancholie einer
Strasse“, das 1914 in Paris entstand.
Abb. 5: Chirico, Girgio de: Geheimnis und Melancholie einer Strasse, 1914, Öl auf Leinwand,
88x72cm. Privatsammlung
Es erzählt von der Begegnung eines kleines Mädchen, dass mit einem Reifen
spielt und die Strasse entlangläuft, und der Statue eines scheinbar wichtigen
Mannes. Von ihm ist lediglich ein Schatten zu sehen, und auch das Mädchen
erscheint im Gegenlicht nur als dunkle Silhouette. Ihre Schatten sind hart
umrandet und absolut schwarz ohne Abstufungen. Das Kind läuft auf eine hinter
einer dunklen, mächtigen Hauswand verborgene Lichtquelle zu, und der lange
Schatten der Statue scheint ihm wie ein Heiliger den Weg zu weisen. Indem die
beiden Figuren, das lebendige, sich bewegende Wesen und der stillstehende
Mann, aufeinander zustreben, werden sie einander immer ähnlicher: zwei dunkle,
lange Schatten begegnen sich im Zwielicht einer Abenddämmerung, denn nur bei
solcher Tagezeit werfen Gegenstände oder Dinge solche langen Schatten. Daher
ist das Bild zugleich auch als ein Bild über die Begegnung von Licht und
Finsternis zu sehen. Die beiden Zonen bleiben streng getrennt, links ist der
21
Widerschein des Lichts zu finden, rechts der Bereich der Dunkelheit, und erst
dahinter verbirgt sich die geheime Lichtquelle. Scheinwerfer scheinen die weiße
Mauer mit den dunklen Arkadenöffnungen und den Boden, auf dem das Mädchen
entlangrennt, zu beleuchten. Rechts liegt die Welt der Schatten; das Gebäude auf
dieser Seite ist völlig in Finsternis versunken. In dieser dunklen Zone steht ein
leerer Lastwagen, doch sowohl seine Seitenwand als auch seine Türen sind
rätselhaft hell erleuchtet. Dieses Licht scheint aus dem Nichts zu kommen, es gibt
keine weiteren Hinweise auf seine Quelle. Man fragt sich unweigerlich, ob es sich
dabei nur um eine Reflexion der Hauswände handelt. Ein leichter Abendwind
lässt ein rotes Fähnchen am Ausgang der Arkaden flattern und streift auch das
Haar des Mädchens. Der Horizont ist dunkelgrün, und im Himmel nimmt die
Schwärze nach oben hin zu, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass der Anbruch der
Nacht nicht mehr weit ist. Typischerweise ist dieses Gemälde voller Geheimnisse;
stellt Fragen, ohne sie zu beantworten. So zum Beispiel die Frage nach der
Perspektive, denn die zwei Fluchtpunkte, des Lichts und der Finsternis,
widersprechen sich im Bild. Während alle Linien des Schattenbereichs in dem
Punkt zusammenfallen, in dem das schwarze Wagendach die helle Seitenwand
des Wagens und den Boden berührt, treffen sich die Fluchtlinien des hellen
Gebäudes links oberhalb des Horizonts hinter dem dunklen Gebäude. Warum
kommen sich die beiden Fluchtpunkte nicht näher? Wird das spielende Mädchen
je die wartende Figur erreichen? Dies sind wohl alles Fragen, die den Titel des
Bildes erklären und zugleich auch das Geheimnis des Surrealismus. Seine
Themen liegen im Verborgenen, Geheimen des Unbewussten und erschließen sich
für jeden Betrachter anders und immer wieder neu.
22
4.4. Kunst und Wahn im Werk Salvador Dalis
4.4.1. Die paranoisch-kritische Methode
Um 1930 entwickelte das wohl bekannteste Mitglied der Surrealisten, Salvador
Dali, unter dem Einfluss der Lektüre der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud
und der Schriften von Jacques Lacan seine paranoisch-kritische Methode. Bei
Paranoia handelt es sich um eine Geisteskrankheit, die sich in Wahnvorstellungen,
Halluzinationen, Größen- und Verfolgungswahn äußert. Der Paranoiker sieht und
empfindet alles überdeutlich und damit schärfer als „normal“. Das bedeutet aber
auch, dass er mehr sieht, als normal. Damit bewirkt die Paranoia das, was Dali
anstrebt: die Erweiterung des Bewusstseins über die Grenzen der allzu banalen
Realität hinaus. Das überscharfe Sehen und Denken des Paranoikers ist durchaus
systematisch und zusammenhängend, aber eben krankhaft bedingt. Dass das
Paranoide einen Zugewinn an Erkenntnis bringt, stimmt aber wiederum nur unter
der Voraussetzung, dass diese Bewusstseinserweiterung durch eine Mitwirkung
des hellwachen, kritischen Verstandes unter Kontrolle gehalten wird und für die
künstlerische Darstellung bewusst ausgewertet wird wie das Dali so großartig
verstand. Für ihn scheint der Surrealismus eine Kunst der Träume und des Wahns
zu sein.
4.4.2. Soft selfportrait with fried bacon
In seinem Gemälde „Soft selfportrait with fried bacon“ von 1941 stellt er gezielt
diese unbewussten Vorgänge mittels der Kombinatorik dar, was laut Freud das
Zusammenfügen von an sich Unvereinbarem während des Traums ist, wodurch er
eindrucksvoll die freie Verfügbarkeit über die Dinge in Bildern demonstriert.
Seine Maltechnik erinnert an die alten Meister; auch die die warmen Farben, die
bis ins kleinste Detail verfolgt werden und die eine Atmosphäre der warmherzigen
Gemütlichkeit schaffen, erinnern eher an die Bilder Rembrandts als an einen
modernen Künstler des 20. Jahrhunderts. Doch natürlich handelt es sich hierbei
unverkennbar um einen surrealistischen Meisterstreich. Die raffinierte
Verwendung des Worts „soft“ zur Umschreibung des Porträts kann man vielfältig
übersetzen und ergibt daher zahlreiche Definitionsmöglichkeiten: von weich,
schlaff über leise, gedämpft bis hin zu gutmütig und schwach kann sich Dali
23
damit charakterisieren, was er auch in der Art und Weise seiner Selbstdarstellung
darlegt.
Abb. 6: Dali, Salvador: Soft self portrait with fried bacon, 1941. Öl auf Leinwand, 61x50,8cm.
Privatsammlung
Die einzige Festigkeit des Bildes stellt das Fundament mit der Inschrift des
„sanften Selbstporträt“ dar, auf dem sich eine verwirrende, phantastisch
überspannte Bilderwelt befindet. Das ein an sich fester Gegenstand wie dieses
Gesicht verbogen, ja fast in Auflösung begriffen, gemalt wird, ist ein typischer
Charakterzug der Bilder Dalis. Diese Maske mit den zum Teil sehr weichen
Formen droht vollständig zu zerfließen, wenn die aufgestellten Nägel nicht das
Gesicht halten würden. Die Nase ist schon gar nicht mehr zu erkennen, den Mund
halten gleich zwei Nägel. In den schwarzen Augenhöhlen mit den nicht
vorhandenen Augen steckt sogar ein Nagel tief drinnen; alles deutet daraufhin,
dass sich Dali sehr eingeschränkt fühlte. Freud erklärte, dass „das Studium der
Träume, der Phantasien und Mythen (uns gelehrt hat), dass die Angst um die
Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst
ist…Man findet es begreiflich, dass ein so kostbares Organ wie das Auge von
einer entsprechend großen Angst bewacht wird.“ 21
Weiter heißt es, dass sich im
Traum eine Ersatzbeziehung zwischen dem Auge und dem männlichen Glied
21
Freud, Sigmund: Psychologische Schriften. Band IV. Das Unheimliche. 1919, Neu hrsg. v.
Richards, Angela: Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag. S. 254
24
ergäbe, und auch in den Analysen zahlreicher Neurotiker spiele der
Kastrationskomplex eine entscheidende Rolle. Angesichts Dalis eigener, recht
neurotischer Sexualität, die geprägt war vom Ekel eines jeden Körperkontakts und
ausschließlicher Selbstbefriedigung, erscheint mir jene These von Freud recht
sinnvoll. Dali lässt sogar Ameisen über den Mund klettern und am Augenrand
knabbern, was eine sehr unangenehme, schockierende Vorstellung ist. Es scheint
ein fast irrationaler Traum zu sein, den er da gemalt hat, der unmittelbare Ängste
ausdrückt. Getreu dem surrealistischen Motto steht sein Bild außerhalb aller
ästhetischer oder ethischer Fragestellungen und drückt somit den wirklichen
Ablauf des Denkens aus. Sein Porträt hat er in ungewohntem Zusammenhang
gemalt, wer würde sich schon in einer aus allen Formen fließenden Maske malen?
Dadurch erreicht er eine Verfremdung des Porträts, und es wird zum
Ausdrucksträger für das „Überwirkliche“ für den Betrachter und zwar in einer
recht provozierenden Art und Weise.
25
5. Schlusswort
In mancherlei Hinsicht hatten Freud und die Surrealisten im Unbewussten und im
Wirken der Träume einen gemeinsamen Untersuchungsgegenstand, obwohl Freud
bekanntlich mit Unverständnis auf die surrealistischen Ideen reagierte und seine
Intentionen andere waren. Freud kämpfte oft gegen den Widerstand in den
Ausdrucksmöglichkeiten des Schreibens und Sprechens seiner Patienten an, doch
er räumte ein, dass die Sprache im Aufdecken des Unbewussten eine zentrale
Rolle spielte. Doch sowohl Freud als auch die Surrealisten wollten das
Unbewusste aus den Tiefen des menschlichen Seins hervorlocken.
Sowohl in der Literatur als auch in der Malerei durchbrachen die Vertreter des
Surrealismus die einengenden Genre- und Theoriegrenzen mit dem Ziel, ihre
Praxis so auszuweiten, dass sie jene Begrenzungen noch überschreiten konnten.
Die Analogien zwischen dem Träumen und Wachen sind daher die Fixpunkte des
surrealistischen Universums. Das Wort und Bild gehört dabei zu den deutlichsten
Erweiterungen dieser Art wie man sehr schön bei Breton in seinen Werken oder
bei Miró in seiner Kunst sehen kann. Der Surrealismus hat das Verhältnis zu den
Dingen und zur gegenständlichen Wirklichkeit von Grund auf revolutioniert und
die moderne Kunst sehr stark beeinflusst. Daraus fließt zugleich auch seine
geschichtsphilosophische Bedeutung. Durch seinen systematischen Zweifel an
jener Welt und die neue, fast unerhörte Art und Weise ihrer Deutungen, hat er den
Realismus in der Literatur und der Malerei nachhaltig zerstört. Durch ihn wurde
in den Wundern um uns herum ein neuer Sinn entdeckt. Gerade die Metaphysik
der Innenräume der Werke Chiricos hat die Beziehung des Sichtbaren zum
Imaginären von Grund auf verändert. Doch auch die Wortspiele und vielen
verwendeten Metaphern der surrealistischen Literaten wie Breton beweisen, dass
die Wörter losgelöst von ihrer instrumentellen Funktion, auf eine andere Weise zu
existieren beginnen und führen damit zu einer neuen Sichtweise der Dinge.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass eine klare Linie bei alle Surrealisten in der
Literatur und der Kunst zu erkennen ist, nämlich die Verwendung rätselhafter
Formen und Themen.
26
6. Bibliographie
Aragon, Louis: Essai Traité du style. Fragment. 1928
Breton, André: Nadja. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2002. Alle
Seitenangaben im Textkorpus beziehen sich auf den Primärtext
Breton, André: Œuvres complètes tome I et II. Hrsg. von Marguérite Bonnet.
Paris: Bibliothèque de la Pléiade. 1988/92
Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus. Hamburg: Reinbeck.
1977, S. 24 f., 55
Breton, André: Le Surréalisme et la peinture. Hrsg.: Günter Metken: Als die
Surrealisten noch recht hatten. Paris. 1965, S. 408
Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen
Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp.1996, S.75-91
Freud, Sigmund: Über den Traum. In: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
Hrsg. von Leopold Löwenfeld und Alfred Kurella. Wiesbaden: J.F.
Bergmann. 1901; hier zit. Nach: ders., Gesammelte Werke. Hrsg. von
Anna Freud u. a.. Bd. 2/3, Die Traumdeutung. Über den Traum. London:
Imago. 1942, S. 671 ff.
Freud, Sigmund: Psychologische Schriften. Band IV. Das Unheimliche. 1919,
Neu hrsg. v. Richards, Angela: Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag. S.25
Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen
von René Magritte. München, Wien: Carl Hauser Verlag. 1997, S.28
Lautréamont: Das Gesamtwerk. Hamburg: Reinbeck. 1988, S 13
Miró, Joan: Brief an Michel Leiris. 10. Aug. 1924. neu hrsg. in: Roswell, Margitt:
Joan Miró. Selected Writings and Interviews. Boston. 1986, S. 86
Rubin, William S.: Miró in the Collection of the Museum of Modern Art. New
York: Museum of Modern Art. 1973, S. 25
Zotz, Volker: André Breton. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. 1990, S.37,
103 f.
27
7. Bildnachweis
Abb.4 Chirico, Girgio de: Die beunruhigten Musen, 1916. Öl/Holz, 97x66cm.
Sammlung Gianni Mattioli, Mailand
Abb.5 Chirico, Girgio de: Geheimnis und Melancholie einer Strasse, 1914, Öl auf
Leinwand, 88x72cm. Privatsammlung
Abb.6 Dali, Salvador: Soft self portrait with fried bacon, 1941. Öl auf Leinwand,
61x50,8cm. Privatsammlung
Abb.1 Ernst, Max: Das Rendezvous der Freunde, 1922. Öl auf Leinwand,
Wallraf- Richartz- Museum, Köln
Abb.3 Magritte, René: Der Schlüssel der Träume, 1930. Öl auf Leinwand,
81x60cm.Privatbesitz
Abb. 2 Miró, Joan: Der Jäger (Katalanische Landschaft), 1923-24. Öl auf
Leinwand, 64,8x100,3cm. Museum of Modern Art, New York
28
8. Anhang
Abb.1: Ernst, Max: Das Rendezvous der Freunde, 1922. Öl auf Leinwand, Wallraf- Richartz-
Museum, Köln
29
Universität Erfurt
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft SS 2005
Seminar: Surrealismus in Ost und West. Medien des Unbewussten
Dozentin: Dr. Tanja Zimmermann
„Abstract“ pour la dissertation „Comment l’analyse de Sigmund Freud a-t-
elle influencé l’art et la littérature des surréalistes du vingtième siècle? “
Le sujet central de cette dissertation est la discussion de l’œuvre de Sigmund
Freud qui a fondamentalement changé la conception du „je“ et respectivement du
„moi-même“. Avant tout, et pour mieux comprendre les interprétations suivantes
sur la littérature et l’art surréaliste, j’étudie les idées révolutionnaires du
psychanalyste autrichien sur l’analyse du rêve. Pour cela il est primordial
d’illustrer l’importance et l’influence de l’inconscient, un des sujets principaux
des idées surréalistes. Puisqu’à partir de cette notion ils ont développé différentes
méthodes pour atteindre l’idéal des rêves, des songes, de l’obscurs, de l’hagard,
etc. Ainsi, je me concentre sur la définition du concept de surréalisme, un concept
qui a changé la conception et l’opinion de l’art pour toujours et qui a établi une
base remarquable pour l'art moderne.
D'ailleurs, je veux prouver l’influence de la psychanalyse dans l’écriture des
surréalistes. Au moyen de Nadja et de plusieurs poèmes d’André Breton, qui est
considéré comme le fondateur du mouvement surréaliste, je montre que les poètes
surréalistes nient les vielles idées et anciennes règles et énoncent une nouvelle
façon de s’exprimer: l’écriture automatique. Avec leurs protestations, ils jouent un
rôle significatif pour les artistes des années vingt et ils pavent le chemin pour des
artistes inoubliables comme Joan Miró, René Magritte, Giorgio de Chirico et
Salvador Dali. J'utilise des tableaux sélectionnés de ces artistes pour m’approcher
de l’illumination et souligner leurs acquis principales.
La base de mon analyse est le questionnement sur la façon dont les peintres
surréalistes dirigent, transforment et représentent leurs rêves et l’inconscient. À ce
sujet, il est intéressant de mentionner que leurs quatre styles se distinguent
clairement les uns des autres quoiqu’ils soient tous tout de même d’évidents
artistes surréalistes. Par conséquent, l’interprétation de leurs œuvres, qu’ils soient
poètes ou bien adeptes des arts graphiques de la „Révolution Surréaliste“ a
représenté pour moi un véritable challenge.