Probearbeit in der Allgemeinen Staatslehre
Rousseau zu Freiheit & Staat
Eine philosophische Abhandlung über das Freiheits- & Staatsverständnis von Rousseau
vorgelegt von:
Etienne Petitjean
Im Roggenacker 25 CH-4102 Binningen [email protected]
BLaw, 8. Semester
Studentennummer: 02-205-169
bei Prof. Dr. Thomas Fleiner
Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg i.Ue Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht
Probearbeit begonnen am 16. August 2006
Probearbeit eingereicht am 30. August 2006
I
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis.......................................................................................................................................................................... I Literaturverzeichnis ..................................................................................................................................................................... II Abkürzungsverzeichnis ..............................................................................................................................................................V I. Einleitung...................................................................................................................... 1 II. Rousseau als Mensch – ein Kennenlernen ............................................................... 2
1. Biographischer Überblick ......................................................................................... 2
2. Rousseaus Menschenbild......................................................................................... 4 III. Das Freiheitsverständnis von Rousseau – ein Überblick........................................ 5
1. Die natürliche Freiheit (Freiheit durch Unabhängigkeit) ....................................... 6
2. Die bürgerliche Freiheit ............................................................................................. 6
a) Sittliche Freiheit.................................................................................................. 6
b) Politische Freiheit............................................................................................... 7 IV. Von der natürlichen zur bürgerlichen Freiheit – Rousseaus These ...................... 8
1. Der Gesellschaftsvertrag als Ausgangspunkt des Freiheitsver- ständnisses .................................................................................................................. 8
2. Die Fragestellung des Gesellschaftsvertrages ................................................... 9
3. Der Mensch im Naturzustand................................................................................. 10
4. Das Ende des Naturzustandes .............................................................................. 12
5. Der Gesellschaftsvertrag als Grundlage bürgerlicher Freiheit ..................... 13
6. Ist die Freiheit veräusserbar? ................................................................................ 14
7. Die Errichtung der Republik................................................................................... 15
8. Der Gemeinwille als einzige Legitimationsgrundlage ..................................... 17
9. Das Volk als Souverän des Staates...................................................................... 18 V. Rousseau und der gute Mensch – eine kritische Würdigung ............................... 19 VI. Schlussbemerkung.................................................................................................... 22
II
Literaturverzeichnis
Zitierweise: Die angeführten Autoren/Autorinnen werden, wo nicht anders angegeben, mit ihrem Nachnamen und der Seitenzahl oder sonstigen Fundstellen zitiert. Die Werke von J.-J. Rousseau werden zusätzlich mit dem Teil resp. mit Buch und Kapitel aufgeführt, um ein Nachlesen in den diversen Ausgaben zu erleichtern.
Auflage (*): Die mit einem * markierten Werke liegen bereits in Neuauflagen
vor, konnten von mir (E.P.) jedoch aus Zeitgründen nicht eingesehen werden.
BRANDT REINHARD Rousseaus Philosophie der Geschichte, Stutt-
gart 1973.
CASPAR JOHANNES Wille und Norm – Die zivilisationskritische Rechts- und Staatskonzeption J.-J. Rousseaus, Baden-Baden 1993.
EDMÜLLER ANDREAS Rousseaus politische Gerechtigkeitskonzeption, in: Zeitschrift für politische Forschung, Bd. 56, Heft 3, 2002.
FETSCHER IRING Rousseaus Freiheitsvorstellung, in: Fetscher Iring, Herrschaft und Emanzipation – Zur Philo-sophie des Bürgertums, München 1976, S. 117-134 (zit. FETSCHER, Freiheitsvorstellung).
DERSELBE Jean-Jacques Rousseau, in: Fetscher Iring/ Münkler Herfried, Pipers Handbuch der politi-schen Ideen, Bd. 3, München/Zürich 1985,S. 477-493 (zit. FETSCHER, Rousseau).
DERSELBE Rousseaus politische Philosophie – Zur Ge-schichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1975 (zit. FETSCHER, politische Philosophie).*
FLEINER THOMAS/BASTA FLEINER LIDIJA R.
Allgemeine Staatslehre – Über die konstitutio-nelle Demokratie in einer multikulturellen globa-lisierten Welt, 3. vollst. überarb. u. erw. Aufl., Berlin u.a. 2004.
III
HERB KARLFRIEDRICH Paradoxien der Freiheit – Zur Problematik der Menschen- und Bürgerrechte bei Rousseau, in: Lang Peter, Schriften zur Humanitäts- und Glücksforschung, Frankfurt am Main 2001,S. 319-330 (zit. HERB, Freiheit).
DERSELBE Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft, Würz-burg 1989 (zit. HERB, Herrschaft).
HOBBES THOMAS Leviathan, Stuttgart 2005.
HOERSTER NORBERT (Hrsg.) Klassische Texte der Staatsphilosophie, 10. Aufl., München 1999.*
IMBODEN MAX Rousseau und die Demokratie, in: Recht und Staat, Heft 267, Tübingen 1963.
KERSTING WOLFGANG Die Vertragsidee des Contrat Social und die Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus, in: Brandt Reinhard/Herb Karlfriedrich (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseaus – Vom Gesellschafts-vertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000, S. 45-66.
LOCKE JOHN Zwei Abhandlungen über die Regierung, Euchner Walter (Hrsg.), Frankfurt am Main 1977.
ROUSSEAU JEAN-JACQUES Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitte beigetragen habe, in: Sozialphilosophi-sche und Politische Schriften, München 1981, S. 5-35 (zit. ROUSSEAU, 1. Diskurs).
DERSELBE Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, Edition Meier, 5. Aufl., Paderborn/ München/Wien/Zürich 2001 (zit. ROUSSEAU, 2. Diskurs).
DERSELBE Du Contrat social ou principes du droit politique, Ed. Folon Jean-Michel, La Flèche 1992 (zit. ROUSSEAU, Contrat Social).
DERSELBE Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, Frankfurt am Main/Leipzig 1996 (zit. ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag).
IV
RUFFING REINER Einführung in die Geschichte der Philosophie, Paderborn 2004.
STRAUSS LEO Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1953.
WEBER-FAS RUDOLF Staatsdenker der Moderne – Klassikertexte von Machiavelli bis Max Weber, Tübingen 2003.
TROUSSON RAYMOND Jean-Jacques Rousseau – Bonheur et liberté, Nancy 1992.
ZERB PETER Zur Semantik gesellschaftlicher Freiheit, Frank-furt am Main 1987.
V
Abkürzungsverzeichnis Anm. Anmerkung Aufl. Auflage bzw. beziehungsweise Bd. Band d.h. das heisst Ed. Edition erw. erweitert f. folgende ff. fortfolgende Fn. Fussnote Hrsg. Herausgeber insb. insbesondere Jhd. Jahrhundert Kap. Kapitel resp. respektive S. Seite u. und u.a. und andere überarb. überarbeitet usw. und so weiter vgl. vergleiche vollst. vollständig z.B. zum Beispiel zit. zitiert z.T. zum Teil
1
Alle liefen auf ihre Ketten zu, im Glauben, ihre Freiheit zu sichern; denn sie hatten zwar genügend Vernunft, um die Vorteile einer politischen Einrichtung zu ahnen, aber nicht genügend Erfahrung, um deren Gefahren vorherzusehen.1
I. Einleitung
Jean-Jacques Rousseau war ein Denker seiner Zeit, ein Kritiker der
Gesellschaft und ein grenzenloser Idealist, wenn es um den Ursprung des
Menschen ging. Dies brachte er in einem Satz zum Ausdruck – einem Satz,
der bis heute an seiner Aktualität nichts eingebüsst hat: „Der Mensch ist frei
geboren, und überall befindet er sich in Ketten.“2
Wie kam er zu dieser Aussage? Was ist Freiheit? Und warum liegt der
Mensch in Ketten? Das sind die Fragen, die in der vorliegenden Arbeit aus
der Sicht Rousseaus beantwortet werden sollen. In einer ersten Phase
befassen wir uns mit dessen Freiheitsverständnis. In groben Zügen wird der
Versuch unternommen aufzuzeigen, welche Begriffe Rousseau mit Freiheit
verbindet. Dies als Einführung mit dem Ziel, dem Leser das Verständnis der
anschliessend folgenden Ausführungen über die Vorstellung Rousseaus von
Freiheit in der Gemeinschaft zu erleichtern. Was Rousseau hierzu meint,
wird in einer zweiten Phase in der Form abgehandelt, dass wir – ausgehend
vom Werk des Gesellschaftsvertrages – den Weg des Menschen in den
bürgerlichen Zustand verfolgen und uns der Frage widmen, wie der Einzelne
durch den Zusammenschluss mit andern eine natürliche Form der Freiheit
bewahren kann. Die Ausführungen zu Rousseaus Freiheitsverständnis
werden mit einer Würdigung abgeschlossen, welche die Problematik dieser
„ach so perfekten“ Vorstellung aufzeigt und auf den utopischen Ursprung
hinweist, aber gleichzeitig den wahren Kern und die davon ausgehende
Gesellschaftskritik lobt. Bevor wir uns explizit mit der rousseauschen Freiheit
befassen, führt uns ein kurzer Exkurs durch das Leben von Rousseau, einem
Mann dem bewusst war, dass die Freiheit alle angeht. 1 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 219. 2 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 1. Kap., S. 10.
2
II. Rousseau als Mensch – ein Kennenlernen
1. Biographischer Überblick
„Ich bin als Bürger einer freien Stadt und daher als Mitglied einer freien
Gesellschaft geboren.“3 – Jean-Jacques Rousseau, im Sommer 1712 in der
Altstadt von Genf als Sohn eines Uhrmachers zur Welt gekommen, verliert
seine Mutter schon wenige Tage nach seiner Geburt. So wächst er bis zu
seinem elften Lebensjahr beim Vater auf, der ihm schon früh Zugang zur
Weltliteratur und den grossen Denkern jener Zeit eröffnet. Gleichwohl verläuft
Rousseaus Ausbildung systemlos. Im Alter von elf Jahren wird er in die
Obhut eines Geistlichen abgeschoben, mit sechzehn flüchtet er aus seiner
Heimatstadt und beginnt eine ruhelose Wanderschaft, die ein Leben lang
andauern soll.4
Prägend in diesen jungen Jahren ist für Rousseau die Bekanntschaft mit
Madame de Warens, einer vornehmen, wohltätigen Dame, die ihn in
liebenswürdiger Weise bei sich aufnimmt, eine Art mütterliche Freundin und
später auch Geliebte wird. Wegen ihr tritt Rousseau zum katholischen
Glauben über, um einige Jahre danach wieder zum Calvinismus zurückzu-
konvertieren. Alles in allem verbringt Rousseau eine wenig geglückte
Jugendzeit, die von der Suche nach sich selbst und einer Geborgenheit in
der Welt geprägt ist. Und so zieht es ihn in die Ferne und er beginnt einen
Steifzug durch Europa: von Genf über Turin, durch Frankreich nach Paris,
zurück nach Genf, Lyon, Paris, Venedig und endlich erneut nach Paris, wo er
zum ersten Mal auf Diderot und d’Alembert trifft, die ihn in ihren Kreis
aufnehmen.5 1745 lernt Rousseau Thérèse Levasseur (ein völlig unge-
bildetes Mädchen, das weder zu schreiben noch zu lesen weiss) kennen und
heiratet sie. Zusammen bekommen sie fünf Kinder, die allesamt in ein
Waisenheim gesteckt werden.6
3 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, S. 9. 4 THOUSSON, S. 8 f.; WEBER-FAS, S. 153. 5 WEBER-FAS, S. 154. 6 RUFFING, S. 170.
3
Im Jahre 1749 hat Rousseau eine Eingebung (oder doch eher eine Einsicht)
als er erkennt, dass die Preisfrage der Akademie von Dijon Si le progrès des
sciences et des arts a contribué à corrompre ou à épurer les moeurs – Ob
der Fortschritt in den Wissenschaften und Künsten dazu beigetragen habe,
die Sitten zu verbessern oder zu verderben?7 negativ zu beantworten ist,
was er in seinem Discours sur les sciences et les arts ausführt, den Wett-
bewerb gewinnt und so über Nacht einen weit reichenden Bekanntheitsgrad
erlangt. „Die Wissenschaften sind unnütz durch das, was sie erstreben und
noch gefährlicher durch ihre Wirkungen, die sie hervorbringen. Luxus,
Zügellosigkeit und Knechtschaft waren zu allen Zeiten die Strafe für jene
hochmütigen Anstrengungen, die wir gemachte haben, um aus der glück-
lichen Unwissenheit herauszukommen, in die uns die göttliche Weisheit
versetzt hatte.“8 Damit trägt Rousseau zum ersten Mal andeutungsweise
seine Vorstellung, dass die Menschheit durch den Zivilisationsprozess (hier
in Form von Wissenschaft und Kunst) ihren Ursprung verloren und sich dem
Naturzustand (unumkehrbar) abgewendet hat, in die Öffentlichkeit. Schliess-
lich habe die Vergesellschaftlichung die Sitte und mit ihr die Freiheit des Ein-
zelnen verdorben und zu Neid, Misstrauen sowie sozialer Eigenliebe
geführt.9
Doch trotz des Erfolges mit seinem ersten Diskurs verläuft Rousseaus Leben
„weiterhin im Zeichen von Armut, Eigensinn (eine vom König angebotene
Pension lehnt er ab), Ruhelosigkeit und wachsendem Verfolgungswahn“10.
1755 folgt Rousseaus zweiter Diskurs, ein Discours sur l’origine et les
fondements de l’inégalité parmi les hommes, mit welchem er seine Zivili-
sationskritik fortsetzt. Im selben Jahr entscheidet sich Rousseau dafür, dass
„er sich – um seine Lebensführung seinen philosophischen Überzeugungen
anzupassen – seines Degens, seiner seidenen Hemden und seiner
7 RUFFING, S. 170. 8 zitiert nach WEBER-FAS, S. 155; siehe auch ROUSSEAU, 1. Diskurs, S. 22 f.; THOUSSON, S. 21 ff. 9 RUFFING, S. 170 10 WEBER-FAS; 155.
4
Kavalierskleidung entledigt, um künftig kleinbürgerliche Kleidung zu tragen
und von seiner Hände Arbeit (…) zu leben“11.
1762 folgt mit dem Contrat Social Rousseaus meist beachtetes Werk, in
welchem er sich mit der Frage nach der legitimen und somit gerechten
Staatsstruktur auseinandersetzt. Sechzehn Jahre später stirbt Rousseau im
Sommer 1778 in der Nähe von Paris.
2. Rousseaus Menschenbild
Am Ende seines zweiten Diskurses schreibt Rousseau – was für seine immer
wiederkehrende Wahrnehmung einer ungerechten, illegitimen Ungleichheit
innerhalb des Menschengeschlechts typisch ist – von seinem Unverständnis
darüber, „dass eine Handvoll Leute überfüllt ist mit Überflüssigem, während
die ausgehungerte Menge am Notwendigsten Mangel leidet.“12 Rousseau
war ein Beobachter seiner Zeit, dessen denkerischer Anknüpfungspunkt die
Natur war. Sein Menschenbild ist geprägt von einer Art geschichtlicher
Entwicklung des in seiner Urform (dem Naturzustand) anders denn heute (im
Gesellschaftszustand) auftretenden und wirkenden Menschen. Rousseaus
Gesellschaftskritik basiert (ausgehenden vom Standpunkt des Kleinbürger-
tums) auf seiner Beobachtung der „société“ sowie der daraus resultierenden
Abscheu vor der etablierten Kultur und Gesellschaft seiner Zeit, welche er als
schlecht, untugendhaft und eitel qualifiziert.13
„Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt
den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut.“14
Gemäss Rousseau ist der Mensch von Grund auf gut, doch (wegen seiner
natürlichen Ungeselligkeit) in der Gemeinschaft „schlecht“ geworden. War
der Mensch im Naturzustand isoliert und weder dem Drang nach sozialer
Bindung noch moralischem Urteilen von gut und böse unterlegen, gibt er
11 FETSCHER, Rousseau, S. 478. 12 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 273 f. 13 Wikipedia, Quelle im Internet, abrufbar unter: <http://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Jacques_
Rousseau#Leben> (besucht am 26. August 2006). 14 ROUSSEAU, 2. Diskurs, Anm. IX, S. 301 f.
5
diese Tugend im Vorstadium der Vergesellschaftlichung auf, was zur
Brüchigkeit der natürlichen Gesetze sowie dem ihnen inhärenten Frieden
führt und den Menschen zum Eingehen eines gesellschaftliches Verhältnis
treibt.15
„Dieser Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Stand bewirkt im
Menschen einen sehr bemerkenswerten Wechsel, indem er die Gerechtigkeit
anstelle des Instinktes in sein Verhalten setzt und seinen Handlungen die
Sittlichkeit aufprägt, die ihnen zuvor gefehlt hatte.“16 Der Mensch, der unter-
dessen als „vernünftiges“ Wesen auftritt, hat nunmehr die Möglichkeit, frei
über sein Tun zu entscheiden. Und so hört er „den Ruf der Natur“ auch
weiterhin, doch ist es ihm möglich geworden, diesem auszuweichen und
diesen zu überhören.17 Weiter beginnt der Mensch ausserhalb des Natur-
zustandes zu werten und zu vergleichen und da er sich – aufgrund seines
ursprünglichen Seins – selbst als Mittelpunkt des irdischen Lebens wahr-
nimmt, entsteht eine Disharmonie unter den Individuen der Gesellschaft. Auf
diese Art und Weise versuchte Rousseau anhand seiner geschichtsphilo-
sophischen Abhandlung des zweiten Diskurses zu erklären, weshalb der
Mensch, der von Natur aus doch gut ist, durch die Vergesellschaftlichung
diese Tugend ablegen konnte und so geworden ist, wie man ihn heute sieht.
III. Das Freiheitsverständnis von Rousseau – ein Überblick
Der Mensch ist ein Mensch der Freiheit. Einer Freiheit, die ihn kennzeichnet
und ihm von Natur aus unabdingbar zusteht. Daran gibt es für Rousseau
keinen Zweifel. Doch die Gesellschaft sieht (zumindest in Rousseaus Wahr-
nehmung18) anders aus. Sie zeigt einen Menschen – wohin man auch
schaut –, der in Ketten liegt und unfrei ist. Damit will Rousseau sich nicht
abfinden. Er beginnt in seiner gesellschaftskritischen Art und Weise einen
15 HOERSTER, S. 158. 16 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 8. Kap., S. 30. 17 ROUSSEAU, 2. Diskurs, S. 101 ff. 18 siehe dazu auch Kap. II, 2, Rousseaus Menschenbild, S. 4 f.
6
Streifzug durch die Zeit – vom freien „Wilden“ der Urzeit hin zum potenziell
freien Bürger der Gegenwart.
1. Die natürliche Freiheit (Freiheit durch Unabhängigkeit)
Der in der Natur lebende Mensch ist absolut frei, lebt in Isolation und stützt
sich weder auf andere, noch unterliegt er einem externen Zwang. Ein solches
Leben ist im Urzustand richtig, da sich das Verlangen und die Befriedigung
des Einzelnen auf das zur Existenz (also zur Selbsterhaltung) nötigen
beschränkt. Der Mensch ist deshalb frei, weil es für ihn im Urzustand keine
Abhängigkeit gibt und er mit der Natur in Einklang steht.19
Rousseau entwirft dieses Bild der Freiheit aus Unabhängigkeit in seinem
zweiten Diskurs ohne historisch belegten Hintergrund. Er entnimmt es seiner
Vorstellung auf eine Weise, in der er seine Zeitgenossen von allem Gesell-
schaftsbedingten entblösst und ihn sich in vernünftiger Manier denkt. Dieser
Freiheitszustand hält so lang an, bis die Bedürfnisse des Menschen der-
massen angestiegen sind, dass der Einzelne zur selbstständigen Befriedi-
gung ausserstande ist.
2. Die bürgerliche Freiheit
Durch das Verlassen des Naturzustandes und den Übergang in den gesell-
schaftlichen, wandelt sich das Freiheitsverständnis. An die Stelle der denke-
rischen Vorstellung vom freien Menschen tritt die Suche nach einer legitimen
Form der Gesellschaftlichkeit. Denn jeder muss (gemäss Rousseaus) auch
im Staat genau so frei bleiben, wie er es immer schon gewesen ist.20
a) Sittliche Freiheit
Mit dem Verlassen des Urzustandes lässt sich nicht mehr verhindern, dass
die Freiheit eine neue Gestalt annimmt. Und so entsteht durch den Zusam-
menschluss der Einzelnen eine gegenseitige Abhängigkeit, die aber mit dem
Wesenscharakter der Menschen und deren Vernunft in Einklang steht,
19 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 124 f. 20 HERB, Freiheit, S. 324.
7
handelt es sich doch bei dieser Vereinigung nicht um eine Unterwerfung
unter fremde Willkür, sondern vielmehr um ein sittliches Sich-Unterstellen
unter miterlassene Gesetze, welche den Einzelnen und die Gesellschaft
verbinden.21 Und so wählt ein jeder selbst die Freiheit, nämlich eine sittliche
Freiheit, die von der Vernunft (und nicht mehr dem blinden Gefühl des
Naturmenschen) begrüsst und gewollt wird. Hat der Urmensch noch auf die
Stimme der Natur gehört, richtet sich der Bürger nun (bewusst) nach
Gewissen und Verstand, um Recht und Pflicht zum individuellen und
gemeinschaftlichen Wohl zu erfüllen.22
b) Politische Freiheit
Wäre der Mensch nicht gut und ein Leben in der Gemeinschaft durch
Vernunft nicht möglich, wäre der „hobbessche Leviathan“23 wohl unvermeid-
bar, um den ewigen Kampf der Menschen zu vermeiden. In der Vorstellung
Rousseaus ist ein solch friedliches Zusammenleben indes möglich und die
Menschen kommen in sittlicher Übereinstimmung zusammen und schaffen
ein vollkommenes Bündnis durch die „rückhaltlose Entäusserung“ ihrerselbst
zum Wohl der Gemeinschaft und der eigenen Freiheit. Geschieht dies durch
alle, werden alle gleich – gleich und frei. Der Mensch wird durch den
Zusammenschluss in der rousseauschen Republik Teil des Staatskörpers
und damit „Herrscher“ über alle und „Untertan“ von allen. Der Einzelne bleibt
unabhängig von individueller Tyrannei oder Oligarchie und verharrt dadurch
in politischer Freiheit.
21 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 8. Kap., S. 31. 22 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 126. 23 vlg. Fn 56.
8
IV. Von der natürlichen zur bürgerlichen Freiheit – Rousseaus These
1. Der Gesellschaftsvertrag als Ausgangspunkt des Freiheitsver-ständnisses
Rousseaus Freiheitsverständnis ist geprägt von einer kritischen Auseinan-
dersetzung mit den politischen und historisch gewachsenen Verhältnissen
seiner Zeit, dem Beobachten der Natur und einem moralphilosophischen
Gedankengut, welches sich auf drei zentrale (der philosophischen Über-
prüfung entzogene) Bausteine – namentlich die Freiheit, die Existenz Gottes
sowie die Unsterblichkeit der Seele – gründet.24
Wer sich mit der Freiheit von Rousseau auseinandersetzt will, kann dies
(mindestens) aus drei Richtungen angehen: Er kann dies aufbauend auf den
ersten Diskurs (über die Wissenschaften und Künste) tun und so das
Freiheitsverständnis aufgrund Rousseaus Skepsis gegenüber der Entwick-
lung der modernen Gesellschaft und der daraus resultierenden „Verun-
sittlichung“ eruieren;25 er kann dies gestützt auf den zweiten Diskurs (über
die Ungleichheit) tun, in welchem Rousseau die (in die Gesellschaft zu
transferierende) Freiheit mit einer geschichtsphilosophischen Abhandlung
beschreibt und damit das Geschichtliche den politischen Ideen überordnet;26
oder er kann einen Ansatz wählen, nach dem er seine Überlegungen auf die
politische Theorie des Gesellschaftsvertrages stützt.27
In den Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stellen wir Rousseaus
Gesellschaftsvertrag und bauen unsere Erörterung darauf auf, um zwischen-
durch ungeniert in das geschichtliche Ideenkonstrukt des zweiten Diskurses
abzudriften. Der erste Diskurs wird weitgehend ausser Acht gelassen.
„Der Mensch ist frei geboren, und überall befindet er sich in Ketten“28,
schreibt Rousseau zu Beginn seines Werkes Du contrat social – ou principes
du droit politique. Der Mensch ist also (von Natur aus) frei gewesen, hat
24 CASPAR, S. 108. 25 so getan von Leo Strauss; vgl. dazu: STRAUSS, S. 263-307. 26 z.B. Iring Fetscher in: FETSCHER, politische Philosophie. 27 z.B. Peter Zerb in: ZERB; S. 73-101. 28 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 1. Kap., S. 10.
9
diese Freiheit jedoch aufgegeben oder verloren. Diese beiden Feststellungen
– von der Freiheit zur Kette – sollen die Eckpfeiler dieser Arbeit bilden.
In einer ersten Phase wird erörtert werden, welches Ziel Rousseau mit
seinem Gesellschaftsvertrag verfolgt, was der Grund des Verfassens ist und
was das daraus resultierende Ergebnis beinhaltet (Kap. 2). Dies soll den
Einstieg bilden. Alsdann gelangen wir – Schritt für Schritt – zum Freiheits-
verständnis von Rousseau. Dafür wird es in einer zweiten Phase nötig sein,
sich mit dem Menschen des Naturzustandes zu beschäftigen, um die Freiheit
in ihrer ursprünglichen Form zu verstehen (Kap. 3-4). In einer dritten Phase
wird anschliessend zu zeigen sein, unter welchen Voraussetzungen und
aufgrund welcher Umstände dem Menschen die Tür zur bürgerlichen Freiheit
im rousseauschen Sinne offen steht (Kap. 5-9).
2. Die Fragestellung des Gesellschaftsvertrages
Bereits an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass Rousseau – in seiner Art
wohl konservativ, aber dennoch Realist – bewusst gewesen ist, dass er mit
seinem Gesellschaftsvertrag keine Konzeption zur reellen Umsetzung eines
Staatssystems entwirft. Vielmehr ist es ihm ein Anliegen gewesen, eine (aus
der Natur des Menschen ausfliessende) Idealvorstellung zu erkennen und
diese als „Schablone“ auf bestehende sowie künftige Staats- und Regie-
rungskonstrukte zu legen, um so deren (natürliche) Legitimation zu hinter-
fragen.29
„Ich möchte herausfinden, ob es in der gesellschaftlichen Ordnung30 irgend-
eine rechtmässige und vertrauenswürdige Verwaltungsregel geben kann,
wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie
sein können: Ich werde mich (…) bemühen, stets zu verbinden, was das
Recht gestattet und was das Interesse vorschreibt, damit Gerechtigkeit und
Nützlichkeit sich auf keinen Fall getrennt finden.“31 Rousseau geht dabei
29 FETSCHER, politische Philosophie, S. 480 f. 30 Je nach Übersetzung wird an dieser Stelle von gesellschaftlicher oder auch bürgerlicher Ordnung
gesprochen. Diese beiden Begriffe können in der Folge als Synonyme verwendet werden. Im Originaltext schreibt Rousseau von der ordre civil.
31 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, S. 9 (Hervorhebungen von mir, E.P).
10
(nach den Worten Edmüllers) davon aus, dass der Mensch ein zur freien
Entscheidung befähigtes „Lebewesen ist, dessen wesentliche Eigenschaft
die Freiheit und dessen oberste Handlungsmotiv die Selbsterhaltung (…)
ist.“32 Weiter impliziert Rousseau dem Menschen den Willen, Nutzen und
Gerechtigkeit verbinden zu wollen, also stets eine für alle optimale Lösung
anzustreben.
Rousseau stellt seinen Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag dabei die
Maxime voraus, dass der Mensch beim Eintritt in die Gesellschaft genau so
frei bleiben muss, wie er es im Naturzustand gewesen ist. Als Frage formu-
liert heisst dies: „Wie lässt sich eine Form des Zusammenlebens finden, die
mit aller gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes Teilhabers
verteidigt und schützt, und durch die ein jeder, der sich allen anderen
anschliesst, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie
zuvor?“33
Wie aber kann sich der (nach Nutzen und Gerechtigkeit strebende) Mensch
in einer Gemeinschaft finden, ohne dabei die Freiheit und Selbstbestimmung
aufzugeben? Und wie kann eine Freiheit entstehen, die als Ausfluss der
Natürlichkeit in den Staat transferiert wird und diesen in der Folge nicht
lediglich zum Garanten der Freiheit ernennt, sondern zu dieser selbst werden
lässt? Um dies zu verstehen, versetzen wir uns an den Anfang der
(rousseauschen) Geschichte zurück und beschäftigen uns kurz mit dem
Menschen des Naturzustandes.
3. Der Mensch im Naturzustand
Als Naturzustand bezeichnet Rousseau jenen Zustand, in dem der Mensch
isoliert von seinesgleichen, also noch ausserhalb einer Gesellschaft, lebt und
so in umfassender Weise von der Natur bestimmt und ihr ausgesetzt ist –
sich folglich in einer natürlichen Wechselwirkung von Natur einerseits und
Individuum anderseits befindet.34 Um ihn sich vorstellen zu können,
32 EDMÜLLER, S. 368. 33 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 24. 34 ZERB, S. 75; ROUSSEAU, 2. Diskurs, 1. Teil, S. 77-171.
11
„entkleidet“ Rousseau den Menschen der Gegenwart von all jenem, was
diesem erst durch und in der Gesellschaft zukommt.35 In seinem Diskurs
über die Ungleichheit entwickelt Rousseau eine philosophische Geschichte in
drei Akten: beginnend beim ursprünglichen Zustand des Naturmenschen,
über dessen Loslösung, dem Beginn der Vergesellschaftlichung und dem
Wandel weg vom „Guten“, hin zur dritten Phase der staatlichen Ordnung, mit
welcher wir in der Gegenwart angekommen wären.
Der Mensch, zu Beginn von seiner Umgebung getrennt, unterscheidet sich in
Rousseaus Vorstellung in physischer Hinsicht nur marginal vom Menschen
unserer Zeit. Im Verhältnis zum Tier zieht Rousseau indes eine klare Grenze
und schreibt: „Ich sehe in jedem Tier nur eine kunstvolle Maschine, der die
Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder aufzuziehen und sich bis zu
einem gewissen Grade vor allem zu bewahren, was darauf hinzielt, sie zu
zerstören oder in Unordnung zu bringen. Präzise dieselben Dinge stelle ich in
der menschlichen Maschine fest, mit dem Unterschied, dass bei den Opera-
tionen des Tieres die Natur allein alles tut, wohingegen der Mensch bei den
seinen als ein frei Handelnder mitwirkt. Jenes wählt oder verwirft aus Instinkt
und dieser durch den Akt der Freiheit.“36 Der Hauptunterschied zwischen Tier
und Mensch liegt mit anderen Worten darin, dass der Mensch über einen
freien Entscheidungswillen verfügt, während ein solcher dem Tier fremd ist.
Dies hat zur Konsequenz, dass der Mensch zwar mit der Natur weithin
verbunden und von ihr geführt ist, sich jedoch der Stimme der Natur ent-
ziehen kann.37 Dies bedeutet für den Menschen Freiheit, da es ihm im Natur-
zustand möglich ist, seine „bescheidenen“ Bedürfnisse autonom zu befrie-
digen, von einer Relation zur natürlichen Umgebung losgelöst zu existieren
und gleichwohl selbst bestimmend zu handeln. Der Ursprung der Freiheit des
Naturmenschen liegt folglich in der „materiellen und seelischen Autarkie“38,
also in der Unabhängigkeit, welche so lang Bestand hat, wie der Mensch zur
35 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 1. Teil, S. 79. 36 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 1. Teil, S. 99 (Hervorhebung von mir, E.P). 37 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 1. Teil, S. 101; siehe auch: FETSCHER, politische Philosophie, S. 30 f. 38 FETSCHER, politische Philosophie, S. 33; an gleicher Stelle findet sich auch eine gute, kurze
Übersicht zu den Merkmalen des Menschen im Naturzustand ganz allgemein.
12
Selbsterhaltung und Befriedigung seiner (stets individuellen) Interessen fähig
ist.39
4. Das Ende des Naturzustandes
„L’homme est né libre, et partout il est dans les fers. (…) Comment ce
changement s’est-il fait? Je l’ignore“40 – ich weiss es nicht, schreibt
Rousseau zu Beginn seines Gesellschaftsvertrages. Mit diesen Worten
scheinbarer Unwissenheit schiebt er die Frage nach einer Ursache für das
Verlassen des Naturzustand beiseite und dies, obwohl er Jahre zuvor noch
eine Antwort bereit hatte: „Der erste, der ein Stück Land eingezäumt hatte
und es sich einfallen liess zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die
einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürger-
lichen Gesellschaft.“41
Dass einst ein Mensch damit begonnen hat, etwas als sein Eigentum zu
benennen, das über das Bedürfnis der natürlichen Existenz hinausgeht, führt
dazu, dass sich zwischen den Einzelnen eine spezielle Relation einrichtet.
Diese hat in ihrer Dynamik zur Folge, dass der Naturzustand des Menschen
zu einer nimmer wiederkehrenden und bald vergessenen Ordnung wird.
Aufgrund des Untergangs dieses Zustandes und dem Aufkommen erster
Abhängigkeit der Individuen voneinander, ist der „rousseausche Sündenfall“
perfekt.
Durch den Zusammenschluss Einzelner zu einer Gruppe, verliert der Mensch
also die Möglichkeit allein zu leben, eignet sich im Gegenzug aber Fähig-
keiten an, die er für das Sein in der Gesellschaft benötigt (wie z.B. die
Sprache) und entdeckt neue Bedürfnisse, die jenes Quantum übersteigen,
welches die Natur für das (autonome) Individuum zur Verfügung stellt. Und
so wird „der Mensch, der früher frei und unabhängig war, jetzt durch die
Vielzahl neuer Bedürfnisse sozusagen der ganzen Natur untertan und vor
39 FETSCHER, Rousseau, S. 124. 40 ROUSSEAU, Contrat Social, 1er Chapitre, S. 15 (Hervorhebung von mir, E.P). 41 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 173 (Hervorhebung im Originaltext).
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allem seinen Mitmenschen“42. Da der Mensch seine natürliche Freiheit nicht
kampflos aufgeben will, aber gleichwohl auf eine Befriedigung sämtlicher
Bedürfnisse aus ist, entsteht durch das (jetzige) Angewiesensein auf andere
eine Abhängigkeit, welche bei der individuellen Suche nach der bereits
verlorenen Freiheit zu Unterdrückung und Krieg führt.43 Dies zwingt den
Menschen zu einer Reaktion, da das oberste Prinzip der Selbsterhaltung (wie
es Rousseau proklamiert) gefährdet ist.44 – An dieser Stelle kehren wir,
nachdem wir gesehen haben, wie der Mensch seine natürliche Freiheit
aufgegeben hat, zurück zu unserem Ausgangspunkt und der Suche nach der
Möglichkeit einer Koppelung von individueller Freiheit mit Gemeinschaft.
5. Der Gesellschaftsvertrag als Grundlage bürgerlicher Freiheit
Nachdem der Mensch den Naturzustand verlassen hat, stellt sich die Frage
nach einer individuellen Reorganisation und einer Art des Umganges mit der
neuen Situation des Miteinanders. Hier setzt auch die Abhandlung des
Gesellschaftsvertrages ein.
Rousseau geht davon aus, dass der Mensch den Scheidepunkt endgültig
überschritten hat und an ein Fortleben im Naturzustand nicht mehr zu
denken ist. Somit drängt sich die Frage nach einer legitimen Form des
Zusammenschlusses auf, deren Antwort Rousseau in der Notwendigkeit
einer Gesellschaftsgründung sieht.45 Den Ursprung und die Grundlage zur
Rechtfertigung findet er in der Natur – namentlich in der Familie. Sie sei die
älteste sowie einzige natürliche Gesellschaft und daher das Grundmodell
einer politischen Gemeinschaft. „Das Staatsoberhaupt entspricht [dabei] dem
Bild eines Vaters und das Volk dem der Kinder, alle sind gleich und frei
geboren und entäussern ihre Freiheit nur, wo es ihnen Nutzen bringt.“46 Hier
sind wir an einem Punkt angekommen, an dem Rousseau scheinbar wider-
sprüchlich argumentiert, denn einerseits attestiert er dem Menschen die 42 ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 207. 43 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 124. 44 ROUSSEAU, 2. Diskurs, Vorwort, S. 57, 2. Teil, S. 211 ff. 45 Rousseau schliesst dabei die Möglichkeit einer Ordnung gemäss dem „Recht des Stärkeren“ von
vornherein als unnatürlich, schlecht und in jedem Falle illegitim aus; vgl. dazu auch ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 3. Kap., S. 14.
46 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 2. Kap., S. 11.
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Freiheit als Wesensmerkmal, anderseits verlangt er eine Veräusserung der
Freiheit an den „Vater“. Wie kann dies verstanden werden?
6. Ist die Freiheit veräusserbar?
In den bisherigen Erörterungen haben wir gesehen, dass der Mensch ein
selbstständiges und zum freien Handeln befähigtes Individuum ist, dem es
offen steht, auf äussere Reiz zu reagieren oder nicht. Diese Entscheidungs-
freiheit ist Teil des Menschseins und gehört für Rousseau zu einem
menschengerechten Leben.47 Auf dieses Wesensmerkmal kann nicht ver-
zichtet werden, denn „auf seine Freiheit zu verzichten bedeutet, die mensch-
lichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar -pflichten aufzugeben.
(…) Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar; und
wer alle Freiheit seines Willens nimmt, nimmt seinen Handlungen jede
Sittlichkeit.“48 Logische Konsequenz dieser Aussage ist, dass die individuelle
Entscheidungsfreiheit beim Übergang in den Staat und in diesem drin
erhalten werden muss. Gleichwohl wird – wie wir noch sehen werden – vom
Einzelnen erwartet, sich dem Staat zu veräussern. Wie kann nun diese
paradox wirkende Situation interpretiert werden?
Rousseau legt seine Argumentation auch hier wieder am Beispiel der Familie
an: Die Kinder übertragen ihre Freiheit für bestimmte Zeit auf den Vater,
nämlich solange, bis sie selber erwachsen sind und die (familiäre) Verbun-
denheit zum eigenen Wohl nicht mehr vonnöten ist. Es handelt sich somit um
eine gerechte Veräusserung zum Nutzen aller Kinder.49 Dieses Szenario
überträgt er auf die Gesellschaftsgründung: Ein jeder veräussert seine
Freiheit, um einen Nutzen daraus zu erlangen, und da dies alle gleichzeitig
tun, wird nicht nur eine nützliche, sondern auch eine gerechte Lösung für alle
resultieren. Denn wenn „ein jeder sich mit seiner ganzen Person gibt, besteht
für alle die gleiche Bedingung, und weil sie für alle gleich ist, hat keiner
Interesse daran, sie für die anderen belastend zu machen. Da schliesslich
ein jeder sich allen gibt, gibt keiner sich irgendwem, und da man über jedes
47 EDMÜLLER, S. 372. 48 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 4. Kap., S. 17. 49 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 2. Kap., S. 11 f.
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Mitglied dasselbe Recht erwirbt, das man auch allen über sich einräumt,
gewinnt man dabei ebensoviel, wie man abtritt, und dazu noch ein mehr an
Kraft, um zu bewahren, was man hat.“50 Somit ist der (ideologische) Weg zur
Gesellschaftsgründung geebnet.
7. Die Errichtung der Republik
Die einzige gerechte Art der Gesellschaftsgründung legitimiert sich für
Rousseau in einem freiwilligen Zusammenschluss aller zukünftigen Bürger.51
Diese Gesellschaftsgründung wird notwendig, sobald sich die ersten
Menschen in einer Gruppierung vereinigt haben, denn ab diesem Zeitpunkt
wird es dem Einzelnen nicht mehr möglich sein, die Autonomie gegenüber
den andern zu behaupten. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der (erste)
Gesellschaftsvertrag zum Grund seiner selbst wird.52 Jedoch handelt es sich
dabei nicht um eine unnatürliche Pression, sondern um eine sittliche
Verpflichtung, welche dann als innerer Zwang verstanden werden kann,
wenn der Mensch mit Eintritt in den bürgerlichen Stand Instinkt durch
Gerechtigkeit, Trieb durch Pflicht und sein Begehren durch Recht ersetzt und
seinem Handeln die Sittlichkeit vorgeschoben hat. Davon geht Rousseau
aus.53 Damit ist aber der Weg zur legitimen Gesellschaftsform noch nicht
geebnet. Rufen wir uns deshalb noch einmal Rousseaus Grundfrage für die
zu kreierende Gesellschaft in Erinnerung: „Wie lässt sich eine Form des
Zusammenlebens finden, die mit aller gemeinsamen Kraft die Person und die
Güter jedes Teilhabers verteidigt und schützt, und durch die ein jeder, der
sich allen anderen anschliesst, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso
frei bleibt wie zuvor?“54
50 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 25. 51 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 23 f. Für diesen Entscheid des
Zusammenschlusses bedarf es gemäss Rousseau zumindest dieses eine Mal Einstimmigkeit; siehe dazu: ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 5. Kap., S. 23.
52 vgl. dazu z.B. auch: ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 219. Bei Rousseaus Gesellschaftsvertrag handelt es sich somit um einen Konstruktionsakt, da im Moment der Bildung des Gemeinwillens (oder gerade dadurch) der Staat gegründet wird. Gesellschaftsvertrag und Staatsgründung fallen somit zusammen. KERSTING, S. 50; ZERB, S. 83.
53 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 8. Kap., S. 30 f. 54 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 24.
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Rousseau fordert von den Menschen einen Zusammenschluss, bei dem der
Einzelne frei und selbst bestimmend bleibt. Damit stellt er sich gegen andere
Gesellschaftsvertragstheorien, wie beispielsweise diejenigen von Locke55
oder Hobbes56, die eine Übertragung der individuellen Rechte auf eine Mehr-
heit respektive auf einen „Leviathan“ vorsehen,57 und plädiert anstelle einer
Verpflichtung gegenüber dem Herrscher (oder der Gruppe) für Gehorsamkeit
gegenüber der zu schaffenden Gemeinschaft. Er erwartet dabei eine „völlige
Entäusserung“ an das Gemeinwesen, was im rousseauschen Verständnis
zur Folge hat, dass zwischen den einzelnen Menschen eine (normative)
Gleichheit entsteht, da alle alles geben und alle alles bekommen, was in
seinem Ergebnis für jeden gerecht und nützlich ist und eine vollkommene
Gemeinschaft wachsen lässt.58 Um einen solchen Schritt aber überhaupt
gehen zu können, muss der Einzelne in moralischer, d.h. sittlicher und damit
menschlicher Art und Weise handeln können, denn nur so wird er der
Gemeinschaft dienlich sein und nur dann hilft er dem allgemeinen Wohl und
wird zum freien Bürger.59 Rousseau formuliert diese Idealvorstellung wie
folgt: „Jeder von uns stellt gemeinsam seine Person und ganze Kraft unter
die oberste Richtlinie des allgemeinen Willens; und wir nehmen in die
Gemeinschaft jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“60
Rousseaus Gesellschaftsvertrag entspricht somit einer Bündelung vieler
Einzelwillen, die in ihrer Gesamtheit zu dem führen, was Rousseau in der
Folge als Republik bezeichnen wird und den Zweck verfolgt,
55 LOCKE, 2. Abh., 8. Kap., § 95, S. 260: „Wenn eine Anzahl von Menschen darin eingewilligt hat,
eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, so haben sie sich ihr damit gleichzeitig einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten.“ (Hervorhebung im Originaltext).
56 HOBBES, 2. Teil, 17. Kap., S. 155: „Jeder muss alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen, wodurch der Wille aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird, so dass dieser eine Mensch oder diese eine Gesellschaft eines jeden einzelnen Stellvertreter werden und ein jeder die Handlungen jener so betrachte, als habe er sie selbst getan, weil sie sich dem Willen und Urteil jener freiwillig unterworfen haben.“
57 FLEINER/BASTA FLEINER, S. 99. 58 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 24 f. 59 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 117 f. 60 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kap., S. 25 (Hervorhebung von mir, E.P).
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unter den Bürgern Freiheit und Gleichheit zu schaffen sowie alle in gleichem
Masse zu verpflichten und mit Rechten auszustatten.61, 62
8. Der Gemeinwille als einzige Legitimationsgrundlage
Mit dem Zusammenschluss der Einzelnen wächst aus dem Gesellschafts-
vertrag ein neuer geistiger Körper, ein gemeinschaftliches, sittliches „Ich“,
dessen Stimme der Chor der Bürger und oberstes Ziel die Erhaltung aller
Vertragsschliessenden ist.63 Jeder verzichtet auf seinen Einzelwillen zu
Gunsten der Gemeinschaft, die als Folge davon entsteht. Nun hat der
Mensch die natürliche Freiheit (deren einzige Grenze die Fähigkeit des
Individuums selbst gewesen ist) verloren, doch seine bürgerliche (die im
allgemeinen Willen ihre Begrenzung findet) gewonnen.64 Der Einzelne ist zu
einem Untertan des Gemeinwillens geworden, einem Willen, von dem er als
Bürger jedoch selber Teil ist. Wie aber – mag man sich fragen – kommt es zu
diesem Gemeinwillen, der für Recht, Gleichheit und Freiheit sorgen wird?
Wie wir in den vorgängigen Ausführungen gesehen haben, ist in Rousseaus
Vorstellung die Freiheit oberste Maxime des menschlichen Seins, eine
Eigenschaft mit Wesenscharakter, ein unveräußerliches Ding, ein
Repräsentant von Menschlichkeit. Durch den Übergang in den Gesell-
schaftszustand hat sich die Freiheit wohl verändert, doch dies in gerechter,
nützlicher Weise. Nebst der Freiheit hat sich indes auch der Mensch
verändert. Sittlichkeit und mit ihr der Sinn für Gerechtigkeit (Recht und
Pflicht) sind ihm eigen geworden65 und ermöglichen, zukünftig
61 IMBODEN, S. 9 f.; ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, II. Buch, 4. Kap., S. 45. 62 Am Ende des ersten Buches erläutert Rousseau noch einmal zusammenfassend den Grund für den
Gesellschaftsvertrag. Denn „anstatt die natürliche Gleichheit zu zerstören, setzt dieser grundlegende Vertrag im Gegenteil eine sittliche und gesetzmässige Gleichheit an die Stelle dessen, was die Natur an dinglicher Ungleichheit zwischen die Menschen gelegt hat, und wo diese an Kräften oder Begabung ungleich sein können, werden sie durch Übereinkunft und Recht alle gleiche.“ ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 9. Kap., S. 35.
63 FLEINER/BASTA FLEINER, S. 116, FETSCHER, Rousseau, S. 485. 64 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 8. Kap., S. 30 f. 65 siehe die Ausführungen auf Seite 13 f. sowie ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 8. Kap., S.
30 f.
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Entscheidungen zum Wohl aller zu treffen. Rousseau versteht den Gemein-
willen (die „volonté générale“) als gemeinsamen Nenner aller Einzelwillen, in
welchem sich der Wille des Staates äussert66 und die Möglichkeit zur bürger-
lichen Freiheit liegt.67 Und da ein jeder nach Sicherheit und Selbsterhaltung
strebt, ist es „das Selbstinteresse (…), welches den Einzelwillen zur Berück-
sichtigung der anderen im eigenen Handeln führt, zum Interesse an der
Bildung des Gemeinwesens nach den Prinzipien der Freiheit, zum Gesell-
schaftsvertrag und zum staatlichen Leben.“68 Damit und weil sich (aus
gleichem Grunde) ein jeder an die von ihm im Gemeinwillen miterlassenen
Gesetze hält, ist der Weg für ein Leben in bürgerlicher Freiheit offen.69 Der
Weg zu einer Freiheit, die sich in der Art und Weise von derjenigen des
Naturzustandes unterscheidet, in ihrem Ergebnis aber doch zum Gleichen
führt: einer dem Menschen würdigen Freiheit.
9. Das Volk als Souverän des Staates
Wenn sich Rousseau in seiner Abhandlung zum Gesellschaftsvertrag die
Frage nach der rechtmässigen Form der bürgerlichen Ordnung stellt, so
begibt er sich damit gleichzeitig auf die Suche nach einer akzeptablen
Verbindung von Freiheit und Herrschaft. Die gestellte Frage beantwortet er,
indem er eine Gesellschaft einzig als legitim bezeichnet, wenn sich die
Einzelnen freiwillig zum Vorteil aller in einem Pakt zusammen getan haben.
Folglich muss sich auch die Frage nach Freiheit und Herrschaft durch diese
Verbindung klären.
Wie wir gesehen haben, findet sich die (politische) Einheit der Menschen im
Gemeinwillen, welcher dadurch zur Grundlage aller Gesetze und des fried-
lichen Zusammenlebens wird. Also verpflichtet man sich eigentlich nicht
primär gegenüber den andern, sondern vor allem gegenüber den Gesetzen,
66 „Il y a souvent bien de la différence entre la volonté de tous et la volonté générale; celle-ci ne
regarde qu’à l’intérêt commun, l’autre regarde à l’intérêt privé, et n’est qu’une somme de volontés particulières: mais ôtez de ces mêmes volontés les plus et les moins qui s’entre-détruisent, reste pour somme des différences la volonté générale.“ ROUSSEAU, Contrat social, S. 45 f.
67 FLEINER/BASTA FLEINER, S. 116 f. 68 ZERB, S. 95. 69 Rousseau geht dabei keineswegs davon aus, dass der Gemeinwille niemandem schaden kann, die
volonté générale will es vielmehr nicht. Siehe auch BRANDT, S. 84.
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was nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch nicht von Menschen,
sondern von Gesetzen "beherrscht" wird.70 Dies entspricht Rousseaus
Vorstellung der Republik – also einer Staatsform, in der der Einzelne als
Glied der Gesellschaft sowie als Teil des Souveräns in die Verantwortung
gegenüber dem Ganzen (d.h. dem Staat, der Gesellschaft und dem
Individuum) tritt. Rousseau verbindet Freiheit mit Herrschaft dadurch, dass er
den Einzelnen an der Herrschaft beteiligt. Gleichzeitig entzieht er – anderes
als Hobbes71 – der „physischen Gewalt“ (als Rechtfertigung für Herrschaft)
jegliche Legitimation, da dies den Menschen in eine unnatürliche Abhängig-
keit und Unfreiheit führen würde. Deshalb kann die Souveränität auch nicht
vertreten, sondern muss sie vom ganzen Volk wahrgenommen werden.72
Dies entspricht dem Demokratieverständnis von Rousseau – einem
Verständnis, das ihn wohl zu Recht als „Vater der Volkssouveränität“ in die
Geschichte eingehen liess.
V. Rousseau und der gute Mensch – eine kritische Würdigung
Rousseau ist ein Mensch, der vielleicht wie kein anderer zwei scheinbare
Gegensätze in sich vereint. Ist er auf der einen Seite ein Idealist, der sich
den von Grund auf guten Menschen in einem für alle optimalen Staatsgefüge
wünscht, bleibt er auf der anderen Seite Realist und weiss er, dass der
Mensch der Gegenwart dem Ideal in vielem nachsteht. Ein Gegensatz der
sich auch in Rousseaus Werken zeigt. Der Mensch des zweiten Diskurses
(aus geschichtsphilosophischer Sicht) geht den Pakt der Gemeinschaft
aufgrund eines von vornherein ungerechten Übereinkommens ein,73 der
(politischphilosophische) Mensch des Gesellschaftsvertrages trifft aber eine
freiwillige Übereinkunft zum Nutzen aller. 70 ZERB, S. 83 f.; HERB, Herrschaft, S. 181 f. 71 Siehe dazu S. 16 und insb. Fn. 56. 72 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, III. Buch, 15. Kap., S. 127; vgl. zur Unveräusserlichkeit des
Willens auch BRANDT, S. 99 ff. sowie HERB, Herrschaft, S. 165 ff. 73 Rousseaus erzählt den historischen Prozess so, dass sich in einem ersten Schritt die „Reichen“
zusammengetan hätten, um ihre Habe gemeinsam zu schützen, während in einem zweiten Schritt auch die Besitzlosen aufgenommen worden seien, um sie zum (scheinbaren) Wohle aller unter einer einzigen Gewalt zu vereinen. Dies sei gelungen und „war (…) der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze (…), die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben.“ ROUSSEAU, 2. Diskurs, 2. Teil, S. 219.
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Rousseau bietet in seinem Gesellschaftsvertrag eine ideale Staatskonzeption
an. Deren Umsetzung in die Wirklichkeit ist jedoch nur schwerlich zu prakti-
zieren. Dessen war sich auch (der Realist) Rousseau bewusst.
Eine erste Hürde stellt sich auf der Suche nach dem Gesellschaftsideal.
Denn Rousseau geht dabei von einer kleinbürgerlichen Gemeinschaft aus, in
welcher sich alle Familien in der mehr oder weniger gleichen wirtschaftlichen
Situation befinden und bereit sind, sich gemeinsam unter ein einheitliches,
allgemeingültiges Gesetz zu stellen.74 Diese Gesellschaftskonstellation
(welche in etwa dem Genf des 18. Jhd. entsprechen dürfte) sieht Rousseau
nun dadurch gefährdet, dass der Mensch neuen Einflüssen und damit der
Gefahr potentiell neuer Bedürfnisse ausgesetzt wird. Dies erklärt auch,
weshalb Rousseau dem (vermeintlichen) Fortschritt zu „höherer Bewusstheit“
und mehr „Individualität“ entgegenzuwirken versucht, was in seinem Werk
zum Gesellschaftsvertrag zum Ausdruck kommt.75 Wohl deshalb ist Iring
Fetscher auch der Meinung, dass sich Rousseaus Zivilisationskritik nicht
primär auf die Gegenwart des Ancien Régime bezieht, sondern sich vor
allem gegen die aufkommende Zeit des bevorstehenden Wirtschafts-
liberalismus richtet, durch dessen liberale Freiheit die „homogene Klein-
bürgerbevölkerung der relativ rückständigen republikanischen Kleinstaaten
(z.B. der Schweiz) angegriffen“ wird.76
Dass Rousseau den kleinen Staat mit einer homogenen Kleinbürgerbe-
völkerung als Idealstaat ansieht, zeigt mit aller Deutlichkeit die Inflexibilität
seines Systemes auf. Denn dasselbe ist auf bestimmte, prädestinierte
Faktoren angewiesen. Einerseits geht Rousseau davon aus, dass an eine
Umsetzung „seines Staates“ nur dann zu denken ist, wenn es sich um ein
junges Volk handelt, welches in seinem Aufbau und der Tradition sowie (z.B.)
in der Vorstellung von Sitte und Eigentum noch nicht gefestigt ist. Seine
Begründung: Die „Völker sind wie die Menschen nur in ihrer Jugend gelehrig,
wenn sie altern, werden sie unverbesserlich; sind die Gebräuche einmal
74 FETSCHER, Rousseau, S. 477. 75 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 119. 76 FETSCHER, Freiheitsvorstellung, S. 117.
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festgelegt und die Vorurteile verwurzelt, wird der Versuch, sie abzuändern,
zu einer gefährlichen und vergeblichen Unternehmung; das Volk erträgt es
nicht einmal, dass man seine Übel anfasst, um sie zu entfernen, und es
verhält sich wie jene dummen und mutlosen Kranken, die beim Anblick des
Arztes erzittern.“77 Anderseits hat Rousseau eine Vorstellung von der Grösse
des Territoriums. So seien zu kleine Staaten nämlich nicht in der Lage, sich
selbst zu genügen (Versorgung, Verteidigung usw.) und zu grosse Gebiete
nicht mehr fähig, eine gesetzliche Einheit zu erlassen, da die Interessen der
Bürger zu unterschiedlich würden.78 Als Beispiel nennt Rousseau Korsika,
welches in seiner Dimension schon zu gross wäre, um eine Volksver-
sammlung mit allen Bürgern abzuhalten (weshalb auf einzelne Provinzen
ausgewichen werden müsse, was unter dem Gesichtspunkt der nichtvertret-
baren Souveränität und deren Einheitlichkeit als fragwürdig erscheine).
Ein weiterer Punkt, den man in Rousseaus Staatskonstrukt hinterfragen
muss, ist derjenige von der „Willigkeit“ des Volkes. Denn Rousseaus
Vorstellung vom sich gemeinschaftlich verpflichtenden Kleinbürger dürfte
schwer zu realisieren sein. Diese Erkenntnis verleitet Rousseau bei der
Ausarbeitung seiner Verfassungsentwürfe (Polen und Korsika) meines
Erachtens auch dazu, das Volk durch Erziehung zu dem machen zu wollen,
was für „alle am besten“ ist. Ob dies aber mit seiner idealistischen Vor-
stellung von der bürgerlichen Freiheit übereinstimmt? Ich habe meine
Zweifel.
Nichts desto trotz ist Rousseau mit seinen Werken – und dies insbesondere
mit der Abhandlung zum Gesellschaftsvertrag – ein grosser Beitrag für das
Verständnis von Staat und Freiheit gelungen. Denn obwohl seine Ausfüh-
rungen scheinbar utopische Dimensionen annehmen, sind sie als Ideal und
Richtlinie für die Gesellschaft und den Einzelnen bis in die heutige Zeit
präsent geblieben. Rousseau ist es beim Verfassen seiner Schriften – wie ich
meine – in erster Linie wohl auch mehr darum gegangen, den Menschen
wachzurütteln, und nicht darum, einen Weg zu offenbaren, der die Welt
77 ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, II. Buch, 8. Kap., S. 61 f. 78 FETSCHER, Rousseau, S. 488.
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verändern und jedes Übel durch ein freies, gerechtes Zusammenleben
ersetzen kann. Sein Hauptanliegen dürfte es gewesen sein, der Gemein-
schaft aufzuzeigen, dass die natürlichen Grundwerte in vielen Bereichen
gefährdet, wenn nicht schon verloren gegangen sind. Und so muss
Rousseaus Gesellschaftsvertrag wohl in erster Linie als eine Kritik an der
Gesellschaft, denn als Ziel aufgefasst werden, welches es mit allen Mitteln
anzustreben gilt. Mit seinen Werken hält Rousseau der Menschheit einen
Spiegel vor, in dem ein jeder die Freiheit, oder das, was von ihr übrig
geblieben ist, erkennen kann.
VI. Schlussbemerkung
Rousseau ist ein Kritiker seiner Zeit sowie ein Moralphilosoph, dessen
denkerischer Ansatz in der Natur und namentlich in der nach Luxus streben-
den, der sittlichen Dekadenz unterworfenen Gesellschaft liegt. Aus dieser
Beobachtung des menschlichen Seins heraus schuf Rousseau seine Werke,
die ihn zu einem der grössten Philosophen der Neuzeit werden liessen.
Rousseau ist auch ein Idealist. Die Freiheit des Einzelnen hält er für das
höchste Gut; sie steht jedem zu und bleibt unveräusserlich. Befand sich der
Mensch einst in einer natürlichen Unabhängigkeit, ist er heute in der
Gemeinschaft gefangen. Doch muss dem so sein? Anhand seiner Abhand-
lung zum Gesellschaftsvertrag zeigt uns Rousseau, dass der Mensch auch
im bürgerlichen Zustand frei sein könnte, wenn er sich die Mühe geben
würde, die Stärke des gemeinsamen Wohles zu erkennen. Der Mensch der
rousseauschen Gesellschaft wäre frei, wenn er von der Herrschaft anderer
entbunden würde, d.h. wenn er selber mitbefehlen könnte. Somit muss der
Einzelne an der Herrschaft beteiligt werden. Zur obersten Prämisse seiner
Staatsphilosophie erklärt Rousseau daher die Volkssouveränität und damit
ein Staatsgefüge, in dem der Mensch Teil der Herrschaft und Glied der
Gesellschaft ist.
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Mit seinem Denken war Rousseau für jene Zeit revolutionär. Obwohl er mit
seiner Sichtweise bezogen auf das Kleinbürgertum konservativ gewesen ist,
war er mit seiner staatspolitischen Forderung nach Beteiligung des Volkes an
der Herrschaft in einer bis heute wirkenden Art und Weise liberal und fort-
schrittlich.