Veröffentlichung Aufleben 2011 Dr. Norbert Waldner
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Heterogenität als Chance wahrnehmen
„Es ist ein Glück des Menschen, ein anderer unter gleichen zu sein.“ (Plato)
(zit. nach Hinz 1993, S.5)
Christoph mag dieselben Sachen wie viele andere in seinem Alter. Er liebt Fußball
und ist ein großer Fan von David Villa, dem spanischen EM- und WM-Helden. Fast
jeden Tag trägt er ein Trikot mit dessen Namenszug am Rücken. Sport ist natürlich
sein Lieblingsfach. Sein Sportlehrer ist begeistert, über welche Körperbeherrschung
der Elfjährige verfügt. Vor allem freut er sich auf das Fach Schulfußball am
Freitagnachmittag. Zwei Stunden nur Fußball, das ist für ihn der richtige Abschluss
der Schulwoche. Die Leistungen in den anderen Schulfächern sind sehr
unterschiedlich. Deutsch und Englisch bereiten ihm Probleme, aber in Mathematik ist
er einer der Besten. Die Mathematiklehrerin lobt Christoph über den grünen Klee und
ist begeistert von seinen Leistungen. In Deutsch droht ihm aber sogar ein Nicht
genügend, obwohl er zweimal in der Woche mit einer Nachhilfelehrerin übt. Der
Deutschlehrer äußert den Eltern gegenüber sogar, dass er nicht verstehe, wie ein so
schwacher Schüler in anderen Fächern so gut sein kann. Auch im Biologieunterricht
vermag Christoph fast immer zu glänzen. Das mag wohl damit zusammenhängen,
dass sein Vater mit ihm viel Zeit in der Natur verbringt und ihm dabei sehr viele
Sachen erklärt. Christophs Eltern gehen mit gemischten Gefühlen vom
Elternsprechtag nach Hause und fragen sich, wie die Schulleistungen ihres Kindes
so unterschiedlich sein können?
Durch die Einführung der Neuen Mittelschule und die Diskussion über die
Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen rückt der Umgang mit der
Unterschiedlichkeit von Schülerinnen und Schülern mehr denn je in den Mittelpunkt
einer pädagogischen als auch öffentlichen Debatte. Es wird kontrovers diskutiert,
inwieweit Schule und Unterricht auf die unterschiedlichen Fähigkeiten von
Schülerinnen und Schülern reagieren sollen. Bereits Johann Friedrich Herbart sah
um 1800 in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem aller Schulbildung.
In einer Vorlesung über Pädagogik in Göttingen im Jahre 1807 meinte er, dass
darauf nicht zu achten der Grundfehler aller Schulgesetze sei, den Despotismus der
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Schulmänner begünstige und diese veranlasse, alles nach einer Schnur zu hobeln
(vgl. Meyer-Willner 1979, S. 7). Sein Zeitgenosse Ernst Christian Trapp empfahl im
Unterricht methodisch alles auf die „Mittelköpfe“ auszurichten und schon Comenius
formulierte, dass es der Lehrer wie ein Offizier halten müsse, der seine Übungen
nicht mit jedem einzelnen Rekruten durchführen kann, sondern alle zugleich auf den
Exerzierplatz führe und ihnen gemeinsam den Gebrauch und die Handhabung der
Waffen zeige (vgl. Becker 2004a, S. 12). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts reagiert
die Pädagogik auf diese Problematik mit Versuchen, die Schüler/-innen mit
Leistungsproblemen aus ihren Lerngruppen zu entfernen (z.B. Zurückstellen vom
ersten Schulbesuch, Sitzenbleiben, Sonderschulüberweisungen, differenzierte
Schulsysteme in der Sekundarstufe I, Leistungsgruppen in der Hauptschule). Durch
diese gezielten Selektionsmaßnahmen sollte und soll die „Sehnsucht nach der
homogenen Lerngruppe“ gestillt werden (vgl. Bonsen / Cloppenburg 2011, S. 57).
Homogenität und Heterogenität existieren aber nicht per se. Sie werden Personen
bzw. Gruppen aufgrund von Vergleichen mit anderen Personen, Gruppen oder
Normalitätsvorstellungen zugeschrieben. Ihre Wahrnehmung ist eng verbunden mit
gesellschaftlichen Vorstellungen und öffentlich verbreiteten Bildern. Gleichheit und
Ungleichheit liegen immer nur bezogen auf bestimmte Kriterien vor (vgl. Wenning
2008, S. 6). Heterogenität wird einerseits durch schulexterne Faktoren bestimmt,
andererseits aber auch durch die Schule selbst unterstützt. Wenning (2007 zit. u. a.
nach Dubs 2009, S. 465-466; zit. nach Bonsen/Cloppenburg 2011, S. 56-57)
unterscheidet zwischen:
• Leistungsbedingter Heterogenität:
Aufgrund der Motivation, des Vorwissens, der Fähigkeiten, der
Lerngeschwindigkeit usw. unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler in
ihrem Lernen und ihren Lernerfolgen. Aber auch die Schule bestimmt mit,
welche Leistungsmerkmale defizitär oder überdurchschnittlich sind. Wie man
aus verschiedenen Untersuchungen weiß (Eder 2002, Kahlhammer 1996),
erfolgt die Einstufung nach Leistungsgruppen oder die Aufnahme in eine
Allgemeinbildende Höhere Schule nicht nach objektiven, allgemein gültigen
und vergleichbaren Kriterien, sondern wird nach Standortsituation, „Strenge“
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oder „Milde“ des Lehrer/-innenurteils oder nach gewünschter
Klassenzusammensetzung etc. durchgeführt.
• Altersheterogenität und Heterogenität des Entwicklungsstands:
Lernende gleichen Alters weisen Unterschiede in ihrem Entwicklungsstand
auf. Trotzdem wird durch Jahrgangsklassen versucht, eine gewisse
Homogenität zu erreichen.
• Soziokultureller Heterogenität:
Die sozialen Erwartungen an die Schule werden in einer immer pluralistischer
werdenden Gesellschaft laufend vielschichtiger. Das Fordern von Begabten,
das Fördern von Leistungsschwächeren, die Integration von Behinderten etc.
stellt hohe Anforderungen an Schulorganisation und Unterricht. Aber auch die
Schule richtet bestimmte Erwartungen an die Gesellschaft, was die kulturellen
Ausstattungen und Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen betrifft. Diese
Erwartungen werden von den Kindern und ihrem familiären Umfeld in
unterschiedlicher Art und Weise erfüllt.
• Sprachlicher Heterogenität:
Die durch Immigration verursachte sprachliche Vielfalt bringt für die Lehrkraft
sowie für die betroffenen Schüler/-innen zusätzliche Herausforderungen mit
sich.
• Migrationsbedingter oder kultureller Heterogenität:
In Klassen werden Kinder unterrichtet, die aufgrund ihrer Herkunft und ihrer
unterschiedlichen Erfahrungen verschiedene Handlungsmuster aufweisen.
Besonders schwierig ist dieser interkulturelle Ausgleich für Lehrkräfte, welche
an Schulen arbeiten, die ein sehr hoher Anteil an Kindern mit
Migrationshintergrund besucht. Dort fällt eine Integration oft schon auf Grund
der extremen Vielfalt kultureller und auch religiöser Handlungsmuster sehr
schwer.
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• Gesundheits- und körperbezogener Heterogenität:
Sie ergibt sich vor allem bei der Integration von Behinderten und führt zu
Problemen, wenn Schulen nicht behindertengerecht ausgebaut sind und den
Lehrpersonen die Kompetenz fehlt, mit behinderten Menschen umzugehen
und sie in Klassen zu integrieren.
• Geschlechtsbezogener Heterogenität:
Unterschiedliche gesellschaftliche Wertvorstellungen bezüglich der
Geschlechterrollen führen zu ungleichen Erwartungen von Schülerinnen und
Schülern, Eltern und Lehrkräften.
Kategorisierungen dieser Art sind für Schulleiter/-innen, Pädagoginnen und
Pädagogen, Lehramtskandidaten und –kandidatinnen sowie für
Bildungsverantwortliche natürlich nützlich. Sie helfen den Fokus auf Problemfelder
zur richten und damit etwaige Lösungsansätze zu finden. Betrachtet man all diese
Bereiche, sind Lerngruppen in den letzten Jahren in allen Schulformen immer
heterogener geworden. Und dies hat durchaus auch gesellschaftliche Gründe. Kinder
wachsen in immer unterschiedlicheren Milieus auf, da sich traditionelle
Lebenszusammenhänge zunehmend aufgelöst haben. Das gilt für Familienformen,
Geschlechterrollen, für Berufsverläufe sowie für religiöse und nationale Herkunft. Die
Erfahrungen, die Kinder in ihren Familien und in ihrem privaten Umfeld sammeln,
werden vielfältiger und bunter, aber häufig auch problematischer. Man lebt als
Einzelkind, mit oder ohne Geschwister, mit arbeitslosen oder beruflich völlig
überlasteten Eltern, in Armut oder Überfluss, mit deutscher, türkischer oder
serbischer Familiensprache, behütet oder verwahrlost. Entsprechend stark
unterscheiden sich Interessen, Erwartungen, Kompetenzen und Arbeitshaltungen,
die ein Kind mit in die gemeinsame Klasse bringt (vgl. Becker et al. 2004b, S. 1). Wie
wir aus verschiedenen unterschiedlichen Bildungsstudien (PISA1, IGLU2, TIMMS3)
wissen, stehen familiäre Faktoren sehr häufig in engem Zusammenhang mit dem
unterschiedlichen Leistungsvermögen in den Klassenzimmern. Schüler und
Schülerinnen aus bildungsnahen Familien erreichen in Österreich
überdurchschnittlich oft Spitzenleistungen. Schüler und Schülerinnen aus 1 Programme for International Student Assessment
2 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
3 Third International Mathematics and Science Study
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bildungsfernen Familien findet man dagegen überproportional unter den
Leistungsschwächeren. Bei den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und
Schülern sind vor allem Migrantinnen und Migranten relativ stark vertreten (Schreiner
2007, S. 65-69).
Einmaligkeit als Ausdruck großer Vielfalt
Aber selbst wenn Kinder unter gleichen sozialen, kulturellen und religiösen
Bedingungen mit ähnlichen schulischen Bildungschancen aufwachsen würden,
wären sie immer noch verschieden. Wenn in einer Volkschulklasse 7-jährige Kinder
vor der Lehrperson sitzen, dann unterscheiden sich diese in ihrem Entwicklungsalter
um mindestens drei Jahre. Im Laufe der Schuljahre nehmen diese
Entwicklungsunterschiede nochmals deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das
Entwicklungsalter um mindestens sechs Jahre zwischen den am weitesten
entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln (vgl. Largo /
Beglinger 2009, S. 18-19). Die Vielfalt unter gleichaltrigen Kindern entsteht, weil
Eigenschaften und Fähigkeiten von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt sind
und unterschiedlich rasch ausreifen, wie zum Beispiel die gesprochene Sprache. Es
kann aber auch sein, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten rascher entwickeln als
die motorischen. Remo Largo und Martin Beglinger zeigen in ihrem Buch
Schülerjahre (2009) eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Entwicklung von Kindern
desselben Alters sein kann. Sie haben dabei Kompetenzprofile von Kindern im Alter
von zehn Jahren verglichen. Drei Beispiele sollen dies exemplarisch dokumentieren:
Abb. 1: Kompetenzprofil Melissa (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 285)
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Melissa ist sprachbegabt und sozial kompetent. Sie hat Schwächen im logischen
Denken, im Zahlenverständnis und der räumlich-figuralen Vorstellung. Sie ist
motorisch etwas ungeschickt.
Abb. 2: Kompetenzprofil Philip (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 286 [sic!])
Philip ist motorisch sehr geschickt, hat jedoch Schwächen im sprachlichen Bereich.
Seine anderen Kompetenzen sind etwa altersentsprechend entwickelt.
Abb. 3: Kompetenzprofil Joachim (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 286)
Joachim ist sehr begabt im logischen Denken, hat ein gutes Zahlenverständnis und
eine gute räumlich-figurale Vorstellung. Allerdings zeigt er Schwächen im
Sozialverhalten. Sprache und Motorik sind altersentsprechend entwickelt.
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Sehnsucht nach Homogenisierung
Trotz dieser unterschiedlichen Begabungsausprägungen in derselben Altersgruppe
ist die Vorstellung in unserem Bildungssystem sehr stark verankert, dass sich durch
die Deutsch- und Mathematiknoten in der Grundschule homogene Gruppen
organisieren lassen, wie zum Beispiel die versuchte Einteilung der Schüler und
Schülerinnen nach Leistungsfähigkeit in gymnasiale Unterstufe, Hauptschule,
sonderpädagogisches Zentrum oder Leistungsgruppen in leistungsdifferenzierten
Fächern der Hauptschule zeigt. Das Schaffen von homogenen Gruppen geht
grundsätzlich vom Gedanken aus, dass sich schulisches Lernen in Klassen besser
organisieren lasse, wenn die Ausgangsvoraussetzungen aller Schüler und
Schülerinnen in etwa gleich sind. In diesem Zusammenhang ist ein
Forschungsergebnis aus der TIMSS-Studie besonders interessant. Lehrerinnen und
Lehrer wurden nach besonderen Berufserschwernissen befragt. Als Spitzenreiter
wurde in allen teilnehmenden Ländern (Deutschland, Japan USA)
Begabungsunterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern genannt.
Bemerkenswert dabei ist nicht die Tatsache, dass Begabungsunterschiede als
besondere Herausforderung gesehen werden, sondern dass Lehrkräfte aus
Deutschland, die in leistungsmäßig stark vorselektierten Klassen unterrichten, fast
gleich hohe Werte als die Kollegen und Kolleginnen aus Japan und höhere Werte
wie die Lehrerinnen und Lehrer aus den USA (In beiden Ländern wird in der
Sekundarstufe I nicht selektiert!) erreicht haben (vgl. Tillmann/Wischer 2006, S. 45).
Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass bei vielen Lehrerinnen und Lehrern –
jedenfalls in Deutschland – eine starke Sehnsucht nach homogenen Gruppen
grundgelegt ist – ein logischer Schluss, nachdem viele von ihnen eine
Vorselektierung ja auch selbst als Schüler/-innen erlebt haben, da sie in einem
selektiven Schulsystem aufgewachsen sind.
Die Bildungsforschung der letzten Jahre hat aber auch gezeigt, dass es zu
besonders negativen Auswirkungen kommt, wenn leistungsschwache und sozial
belastete Kinder am „unteren Ende“ zu homogenen Gruppen zusammengefasst
werden (vgl. Tillmann / Wischer 2006, S. 45). Allein das Bewusstsein, in eine dritte
Leistungsgruppe eingestuft zu sein, führt bei Schülerinnen und Schülern zu
geringerem Selbstvertrauen und einem negativen Selbstbild. Dies hat auch zur
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Folge, dass die eigene Leistungserwartung und die der Mitschüler/-innen gegenüber
Kindern einer dritten Leistungsgruppe eine geringere ist (vgl. Waldner 2009, S. 147-
148). Dies führt unweigerlich auch zu schwächeren Leistungen, weil jener, dem
nichts zugetraut wird, auch meistens nicht im Stande ist, seine Leistungsfähigkeit
abzurufen. Nach der Neuen Mittelschule gehen nun auch viele Hauptschulen dazu
über, zumindest dritte Leistungsgruppen nicht mehr als eigene Lerngruppe zu führen,
sondern sie mit leistungsstärkeren Kindern gemeinsam zu unterrichten. Dies ist
sicher ein Schritt in die richtige Richtung.
Heterogenität und Individualisierung von Unterricht
„Eltern, Lehrer, Bildungswissenschaftler und Politiker treibt die gleiche grundlegende Frage […],
die ihren Ursprung in einem der größten Gruppenexperimente der Menschheitsgeschichte hat:
Mindestens 9 Jahre lang werden Kinder mit mehr oder weniger dem gleichen Lernstoff unterrichtet, doch
am Ende ihrer Schulzeit sind sie verschiedener denn je.“ (Largo / Berlinger 2009, S. 13)
Der Umgang mit Heterogenität gehört zweifellos zu den zentralen
Herausforderungen von Schule und Unterricht. Individualisierung und Differenzierung
von Unterricht gelingt nur dann, wenn die Verschiedenheit unserer Kinder als ein
Faktum angesehen wird, mit dem wir umgehen lernen müssen, und das auch in
vermeintlich noch so homogenen Gruppen. Lehrerinnen und Lehrer sollten ein
Bewusstsein für die Vielfalt der Schüler/-innen entwickeln und bereit sein, die
Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit nicht als eine Last, sondern als eine Chance
für Schule und Unterricht zu sehen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für ein
erfolgreiches Arbeiten in heterogenen Gruppen. Bloße Einstellungsveränderungen
allein führen aber noch nicht zu besseren Schulen und besserem Unterricht. Wenn
wir allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht werden wollen, müssen wir
ihnen Schul- und Unterrichtskonzepte bieten, die ihnen die Möglichkeit geben,
voneinander zu lernen und zu profitieren.
Ein erfolgreicher Unterricht in heterogenen Gruppen hängt davon ab, ob es uns
Lehrer/-innen gelingt, methodisch vielfältigen Unterricht anzubieten, der dem
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Einzelnen gestattet, möglichst nach seinen Fähigkeiten zu lernen. Dabei ist es vor
allem wichtig, dass Lernprozesse an die individuellen Erfahrungen und das
Vorwissen des/der Lernenden anknüpfen (Adaption), Lernprozesse durch den/die
Lernende/-n weitgehend selbst gesteuert werden (Selbstregulation und
Selbststeuerung), individuelle Lernwege von der Lehrkraft gezielt gefördert und auf
Basis einer fundierten Diagnostik begleitet werden (Förderung und Diagnostik) und
dass Schülerinnen und Schüler befähigt werden, sich selbst regelmäßig zu
kontrollieren (Evaluation) (vgl. Bonsen/Cloppenburg 2011, S. 58). Schülern und
Schülerinnen wie Christoph muss die Möglichkeit geboten werden, ihre Stärken
auszubauen und ihre Mängel und Schwächen kontinuierlich zu verbessern.
Es ist auch an der Zeit, dass Ergebnisse der Bildungsforschung, wie zum Beispiel die
große Anzahl von Risikoschülern und der hohe Einfluss familiärer Herkunft auf die
Schulleistungen, bildungspolitisch diskutiert und nicht länger verharmlost werden,
weil in der Folge politisch heikle Erkenntnisse zu erwarten sind. Daraus muss eine
Schulstrukturreform entstehen, die auf breitem gesellschaftlichen Konsens beruht.
Auch die Lehrerbildung ist dazu aufgerufen, den zukünftigen Lehrerinnen und
Lehrern noch mehr Kompetenzen, Haltungen und Wissen zu vermitteln, die den
Abgängern einen adäquaten Umgang mit der zunehmenden Verschiedenheit der
Schülerinnen und Schüler erleichtern. Die Pädagogik ist nun mal eine Wissenschaft,
die auf Erfahrungen basiert. Dies muss auch bei der Lehrer/-innenausbildung
berücksichtigt werden. Theoretisches Wissen ist wichtig, es muss aber immer mit
praktischen Erfahrungen in der Klasse bzw. Kindergartengruppe mit qualitativ
hochstehendem Coaching verknüpft werden (vgl. Largo / Beglinger 2009, S. 260).
Die bereits in den Eckpunkten fixierte zukünftige gemeinsame Ausbildung aller
Pädagoginnen und Pädagogen auf Masterniveau geht hier sicherlich richtige Wege,
denn nur gut ausgebildete, offen denkende junge Menschen werden es schaffen,
Kinder und Jugendliche in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und sie entsprechend ihren
individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten auf die Zukunft vorzubereiten.
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Literarturverzeichnis:
Becker Gerold (2004): Regisseur, Meisterdirigent, Dompteur? Die Sehnsucht nach
„gleichen Lernvoraussetzungen“ hat Gründe. In: Friedrich Jahresheft 2004:
Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Seelze: Friedrich,
S. 10-12
Bonsen Martin / Cloppenburg Monika (2011): Heterogenität und individuelle
Förderung. Eine große Herausforderung für die Schulpolitik. In: Schulmagazin 5-10
(5/2011), S. 55-58
Dubs Rolf (2009): Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und
Lernenden im Unterricht. Stuttgart: Steiner
Eder Ferdinand (2002): Fähigkeits- und Leistungsunterschiede auf der
Sekundarstufe I. In: Eder, F., Grogger, G. & Mayr, J. (Hrsg.) „Sekundarstufe I:
Probleme – Praxis – Perspektiven. Innsbruck: Studien Verlag
Hinz Andreas (1993): Heterogenität in der Schule. Integration – Interkulturelle
Erziehung – Koedukation. Hamburg: Curio
Kahlhammer Jelle (1996): Leistungsgruppen und Notenverteilung. Dokumentation.
Salzburg: Landesschulrat für Salzburg
Largo Remo, Beglinger Martin (2009): Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen.
München: Piper
Meyer-Willner Gerhard (1979): Differenzieren und Individualisieren. Begründung
und Darstellung des Differenzierungsproblems. Bad Heilbrunn: Klinkhard
Schreiner Claudia (Hrsg.) (2007): Pisa 2006. Internationaler Vergleich von
Schülerleistungen. Graz: Leykam
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Tillmann Jürgen / Wischer Beate (2006): Heterogenität in der Schule.
Forschungsstand und Konsequenzen. In: Pädagogik, Hamburg: Beltz, 3/2006, S. 44-
48
Waldner Norbert (2009): Die Rolle von sogenannten „leistungsschwachen Schülern“
in Gruppenarbeiten. Eine qualitativ-quantitative Untersuchung durchgeführt im
Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht der Sekundarstufe I. Dissertation an der
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Wenning Norbert (2008): Gleichheit und Ungleichheit. Möglichkeiten eines anderen
Umgangs in Schule und Unterricht. In: Schulmagazin 5-10, München: Oldenbourg,
1/2008, S. 5-8