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Veröffentlichung Aufleben 2011 Dr. Norbert Waldner 1 Heterogenität als Chance wahrnehmen „Es ist ein Glück des Menschen, ein anderer unter gleichen zu sein.“ (Plato) (zit. nach Hinz 1993, S.5) Christoph mag dieselben Sachen wie viele andere in seinem Alter. Er liebt Fußball und ist ein großer Fan von David Villa, dem spanischen EM- und WM-Helden. Fast jeden Tag trägt er ein Trikot mit dessen Namenszug am Rücken. Sport ist natürlich sein Lieblingsfach. Sein Sportlehrer ist begeistert, über welche Körperbeherrschung der Elfjährige verfügt. Vor allem freut er sich auf das Fach Schulfußball am Freitagnachmittag. Zwei Stunden nur Fußball, das ist für ihn der richtige Abschluss der Schulwoche. Die Leistungen in den anderen Schulfächern sind sehr unterschiedlich. Deutsch und Englisch bereiten ihm Probleme, aber in Mathematik ist er einer der Besten. Die Mathematiklehrerin lobt Christoph über den grünen Klee und ist begeistert von seinen Leistungen. In Deutsch droht ihm aber sogar ein Nicht genügend, obwohl er zweimal in der Woche mit einer Nachhilfelehrerin übt. Der Deutschlehrer äußert den Eltern gegenüber sogar, dass er nicht verstehe, wie ein so schwacher Schüler in anderen Fächern so gut sein kann. Auch im Biologieunterricht vermag Christoph fast immer zu glänzen. Das mag wohl damit zusammenhängen, dass sein Vater mit ihm viel Zeit in der Natur verbringt und ihm dabei sehr viele Sachen erklärt. Christophs Eltern gehen mit gemischten Gefühlen vom Elternsprechtag nach Hause und fragen sich, wie die Schulleistungen ihres Kindes so unterschiedlich sein können? Durch die Einführung der Neuen Mittelschule und die Diskussion über die Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen rückt der Umgang mit der Unterschiedlichkeit von Schülerinnen und Schülern mehr denn je in den Mittelpunkt einer pädagogischen als auch öffentlichen Debatte. Es wird kontrovers diskutiert, inwieweit Schule und Unterricht auf die unterschiedlichen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern reagieren sollen. Bereits Johann Friedrich Herbart sah um 1800 in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem aller Schulbildung. In einer Vorlesung über Pädagogik in Göttingen im Jahre 1807 meinte er, dass darauf nicht zu achten der Grundfehler aller Schulgesetze sei, den Despotismus der

Heterogenitõt als Chance wahrnehmen - Ver÷ffentlichung

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Page 1: Heterogenitõt als Chance wahrnehmen - Ver÷ffentlichung

Veröffentlichung Aufleben 2011 Dr. Norbert Waldner

1

Heterogenität als Chance wahrnehmen

„Es ist ein Glück des Menschen, ein anderer unter gleichen zu sein.“ (Plato)

(zit. nach Hinz 1993, S.5)

Christoph mag dieselben Sachen wie viele andere in seinem Alter. Er liebt Fußball

und ist ein großer Fan von David Villa, dem spanischen EM- und WM-Helden. Fast

jeden Tag trägt er ein Trikot mit dessen Namenszug am Rücken. Sport ist natürlich

sein Lieblingsfach. Sein Sportlehrer ist begeistert, über welche Körperbeherrschung

der Elfjährige verfügt. Vor allem freut er sich auf das Fach Schulfußball am

Freitagnachmittag. Zwei Stunden nur Fußball, das ist für ihn der richtige Abschluss

der Schulwoche. Die Leistungen in den anderen Schulfächern sind sehr

unterschiedlich. Deutsch und Englisch bereiten ihm Probleme, aber in Mathematik ist

er einer der Besten. Die Mathematiklehrerin lobt Christoph über den grünen Klee und

ist begeistert von seinen Leistungen. In Deutsch droht ihm aber sogar ein Nicht

genügend, obwohl er zweimal in der Woche mit einer Nachhilfelehrerin übt. Der

Deutschlehrer äußert den Eltern gegenüber sogar, dass er nicht verstehe, wie ein so

schwacher Schüler in anderen Fächern so gut sein kann. Auch im Biologieunterricht

vermag Christoph fast immer zu glänzen. Das mag wohl damit zusammenhängen,

dass sein Vater mit ihm viel Zeit in der Natur verbringt und ihm dabei sehr viele

Sachen erklärt. Christophs Eltern gehen mit gemischten Gefühlen vom

Elternsprechtag nach Hause und fragen sich, wie die Schulleistungen ihres Kindes

so unterschiedlich sein können?

Durch die Einführung der Neuen Mittelschule und die Diskussion über die

Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen rückt der Umgang mit der

Unterschiedlichkeit von Schülerinnen und Schülern mehr denn je in den Mittelpunkt

einer pädagogischen als auch öffentlichen Debatte. Es wird kontrovers diskutiert,

inwieweit Schule und Unterricht auf die unterschiedlichen Fähigkeiten von

Schülerinnen und Schülern reagieren sollen. Bereits Johann Friedrich Herbart sah

um 1800 in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem aller Schulbildung.

In einer Vorlesung über Pädagogik in Göttingen im Jahre 1807 meinte er, dass

darauf nicht zu achten der Grundfehler aller Schulgesetze sei, den Despotismus der

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Schulmänner begünstige und diese veranlasse, alles nach einer Schnur zu hobeln

(vgl. Meyer-Willner 1979, S. 7). Sein Zeitgenosse Ernst Christian Trapp empfahl im

Unterricht methodisch alles auf die „Mittelköpfe“ auszurichten und schon Comenius

formulierte, dass es der Lehrer wie ein Offizier halten müsse, der seine Übungen

nicht mit jedem einzelnen Rekruten durchführen kann, sondern alle zugleich auf den

Exerzierplatz führe und ihnen gemeinsam den Gebrauch und die Handhabung der

Waffen zeige (vgl. Becker 2004a, S. 12). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts reagiert

die Pädagogik auf diese Problematik mit Versuchen, die Schüler/-innen mit

Leistungsproblemen aus ihren Lerngruppen zu entfernen (z.B. Zurückstellen vom

ersten Schulbesuch, Sitzenbleiben, Sonderschulüberweisungen, differenzierte

Schulsysteme in der Sekundarstufe I, Leistungsgruppen in der Hauptschule). Durch

diese gezielten Selektionsmaßnahmen sollte und soll die „Sehnsucht nach der

homogenen Lerngruppe“ gestillt werden (vgl. Bonsen / Cloppenburg 2011, S. 57).

Homogenität und Heterogenität existieren aber nicht per se. Sie werden Personen

bzw. Gruppen aufgrund von Vergleichen mit anderen Personen, Gruppen oder

Normalitätsvorstellungen zugeschrieben. Ihre Wahrnehmung ist eng verbunden mit

gesellschaftlichen Vorstellungen und öffentlich verbreiteten Bildern. Gleichheit und

Ungleichheit liegen immer nur bezogen auf bestimmte Kriterien vor (vgl. Wenning

2008, S. 6). Heterogenität wird einerseits durch schulexterne Faktoren bestimmt,

andererseits aber auch durch die Schule selbst unterstützt. Wenning (2007 zit. u. a.

nach Dubs 2009, S. 465-466; zit. nach Bonsen/Cloppenburg 2011, S. 56-57)

unterscheidet zwischen:

• Leistungsbedingter Heterogenität:

Aufgrund der Motivation, des Vorwissens, der Fähigkeiten, der

Lerngeschwindigkeit usw. unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler in

ihrem Lernen und ihren Lernerfolgen. Aber auch die Schule bestimmt mit,

welche Leistungsmerkmale defizitär oder überdurchschnittlich sind. Wie man

aus verschiedenen Untersuchungen weiß (Eder 2002, Kahlhammer 1996),

erfolgt die Einstufung nach Leistungsgruppen oder die Aufnahme in eine

Allgemeinbildende Höhere Schule nicht nach objektiven, allgemein gültigen

und vergleichbaren Kriterien, sondern wird nach Standortsituation, „Strenge“

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oder „Milde“ des Lehrer/-innenurteils oder nach gewünschter

Klassenzusammensetzung etc. durchgeführt.

• Altersheterogenität und Heterogenität des Entwicklungsstands:

Lernende gleichen Alters weisen Unterschiede in ihrem Entwicklungsstand

auf. Trotzdem wird durch Jahrgangsklassen versucht, eine gewisse

Homogenität zu erreichen.

• Soziokultureller Heterogenität:

Die sozialen Erwartungen an die Schule werden in einer immer pluralistischer

werdenden Gesellschaft laufend vielschichtiger. Das Fordern von Begabten,

das Fördern von Leistungsschwächeren, die Integration von Behinderten etc.

stellt hohe Anforderungen an Schulorganisation und Unterricht. Aber auch die

Schule richtet bestimmte Erwartungen an die Gesellschaft, was die kulturellen

Ausstattungen und Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen betrifft. Diese

Erwartungen werden von den Kindern und ihrem familiären Umfeld in

unterschiedlicher Art und Weise erfüllt.

• Sprachlicher Heterogenität:

Die durch Immigration verursachte sprachliche Vielfalt bringt für die Lehrkraft

sowie für die betroffenen Schüler/-innen zusätzliche Herausforderungen mit

sich.

• Migrationsbedingter oder kultureller Heterogenität:

In Klassen werden Kinder unterrichtet, die aufgrund ihrer Herkunft und ihrer

unterschiedlichen Erfahrungen verschiedene Handlungsmuster aufweisen.

Besonders schwierig ist dieser interkulturelle Ausgleich für Lehrkräfte, welche

an Schulen arbeiten, die ein sehr hoher Anteil an Kindern mit

Migrationshintergrund besucht. Dort fällt eine Integration oft schon auf Grund

der extremen Vielfalt kultureller und auch religiöser Handlungsmuster sehr

schwer.

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• Gesundheits- und körperbezogener Heterogenität:

Sie ergibt sich vor allem bei der Integration von Behinderten und führt zu

Problemen, wenn Schulen nicht behindertengerecht ausgebaut sind und den

Lehrpersonen die Kompetenz fehlt, mit behinderten Menschen umzugehen

und sie in Klassen zu integrieren.

• Geschlechtsbezogener Heterogenität:

Unterschiedliche gesellschaftliche Wertvorstellungen bezüglich der

Geschlechterrollen führen zu ungleichen Erwartungen von Schülerinnen und

Schülern, Eltern und Lehrkräften.

Kategorisierungen dieser Art sind für Schulleiter/-innen, Pädagoginnen und

Pädagogen, Lehramtskandidaten und –kandidatinnen sowie für

Bildungsverantwortliche natürlich nützlich. Sie helfen den Fokus auf Problemfelder

zur richten und damit etwaige Lösungsansätze zu finden. Betrachtet man all diese

Bereiche, sind Lerngruppen in den letzten Jahren in allen Schulformen immer

heterogener geworden. Und dies hat durchaus auch gesellschaftliche Gründe. Kinder

wachsen in immer unterschiedlicheren Milieus auf, da sich traditionelle

Lebenszusammenhänge zunehmend aufgelöst haben. Das gilt für Familienformen,

Geschlechterrollen, für Berufsverläufe sowie für religiöse und nationale Herkunft. Die

Erfahrungen, die Kinder in ihren Familien und in ihrem privaten Umfeld sammeln,

werden vielfältiger und bunter, aber häufig auch problematischer. Man lebt als

Einzelkind, mit oder ohne Geschwister, mit arbeitslosen oder beruflich völlig

überlasteten Eltern, in Armut oder Überfluss, mit deutscher, türkischer oder

serbischer Familiensprache, behütet oder verwahrlost. Entsprechend stark

unterscheiden sich Interessen, Erwartungen, Kompetenzen und Arbeitshaltungen,

die ein Kind mit in die gemeinsame Klasse bringt (vgl. Becker et al. 2004b, S. 1). Wie

wir aus verschiedenen unterschiedlichen Bildungsstudien (PISA1, IGLU2, TIMMS3)

wissen, stehen familiäre Faktoren sehr häufig in engem Zusammenhang mit dem

unterschiedlichen Leistungsvermögen in den Klassenzimmern. Schüler und

Schülerinnen aus bildungsnahen Familien erreichen in Österreich

überdurchschnittlich oft Spitzenleistungen. Schüler und Schülerinnen aus 1 Programme for International Student Assessment

2 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

3 Third International Mathematics and Science Study

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bildungsfernen Familien findet man dagegen überproportional unter den

Leistungsschwächeren. Bei den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und

Schülern sind vor allem Migrantinnen und Migranten relativ stark vertreten (Schreiner

2007, S. 65-69).

Einmaligkeit als Ausdruck großer Vielfalt

Aber selbst wenn Kinder unter gleichen sozialen, kulturellen und religiösen

Bedingungen mit ähnlichen schulischen Bildungschancen aufwachsen würden,

wären sie immer noch verschieden. Wenn in einer Volkschulklasse 7-jährige Kinder

vor der Lehrperson sitzen, dann unterscheiden sich diese in ihrem Entwicklungsalter

um mindestens drei Jahre. Im Laufe der Schuljahre nehmen diese

Entwicklungsunterschiede nochmals deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das

Entwicklungsalter um mindestens sechs Jahre zwischen den am weitesten

entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln (vgl. Largo /

Beglinger 2009, S. 18-19). Die Vielfalt unter gleichaltrigen Kindern entsteht, weil

Eigenschaften und Fähigkeiten von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt sind

und unterschiedlich rasch ausreifen, wie zum Beispiel die gesprochene Sprache. Es

kann aber auch sein, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten rascher entwickeln als

die motorischen. Remo Largo und Martin Beglinger zeigen in ihrem Buch

Schülerjahre (2009) eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Entwicklung von Kindern

desselben Alters sein kann. Sie haben dabei Kompetenzprofile von Kindern im Alter

von zehn Jahren verglichen. Drei Beispiele sollen dies exemplarisch dokumentieren:

Abb. 1: Kompetenzprofil Melissa (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 285)

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Melissa ist sprachbegabt und sozial kompetent. Sie hat Schwächen im logischen

Denken, im Zahlenverständnis und der räumlich-figuralen Vorstellung. Sie ist

motorisch etwas ungeschickt.

Abb. 2: Kompetenzprofil Philip (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 286 [sic!])

Philip ist motorisch sehr geschickt, hat jedoch Schwächen im sprachlichen Bereich.

Seine anderen Kompetenzen sind etwa altersentsprechend entwickelt.

Abb. 3: Kompetenzprofil Joachim (vgl. Largo/Beglinger 2009, S. 286)

Joachim ist sehr begabt im logischen Denken, hat ein gutes Zahlenverständnis und

eine gute räumlich-figurale Vorstellung. Allerdings zeigt er Schwächen im

Sozialverhalten. Sprache und Motorik sind altersentsprechend entwickelt.

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Sehnsucht nach Homogenisierung

Trotz dieser unterschiedlichen Begabungsausprägungen in derselben Altersgruppe

ist die Vorstellung in unserem Bildungssystem sehr stark verankert, dass sich durch

die Deutsch- und Mathematiknoten in der Grundschule homogene Gruppen

organisieren lassen, wie zum Beispiel die versuchte Einteilung der Schüler und

Schülerinnen nach Leistungsfähigkeit in gymnasiale Unterstufe, Hauptschule,

sonderpädagogisches Zentrum oder Leistungsgruppen in leistungsdifferenzierten

Fächern der Hauptschule zeigt. Das Schaffen von homogenen Gruppen geht

grundsätzlich vom Gedanken aus, dass sich schulisches Lernen in Klassen besser

organisieren lasse, wenn die Ausgangsvoraussetzungen aller Schüler und

Schülerinnen in etwa gleich sind. In diesem Zusammenhang ist ein

Forschungsergebnis aus der TIMSS-Studie besonders interessant. Lehrerinnen und

Lehrer wurden nach besonderen Berufserschwernissen befragt. Als Spitzenreiter

wurde in allen teilnehmenden Ländern (Deutschland, Japan USA)

Begabungsunterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern genannt.

Bemerkenswert dabei ist nicht die Tatsache, dass Begabungsunterschiede als

besondere Herausforderung gesehen werden, sondern dass Lehrkräfte aus

Deutschland, die in leistungsmäßig stark vorselektierten Klassen unterrichten, fast

gleich hohe Werte als die Kollegen und Kolleginnen aus Japan und höhere Werte

wie die Lehrerinnen und Lehrer aus den USA (In beiden Ländern wird in der

Sekundarstufe I nicht selektiert!) erreicht haben (vgl. Tillmann/Wischer 2006, S. 45).

Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass bei vielen Lehrerinnen und Lehrern –

jedenfalls in Deutschland – eine starke Sehnsucht nach homogenen Gruppen

grundgelegt ist – ein logischer Schluss, nachdem viele von ihnen eine

Vorselektierung ja auch selbst als Schüler/-innen erlebt haben, da sie in einem

selektiven Schulsystem aufgewachsen sind.

Die Bildungsforschung der letzten Jahre hat aber auch gezeigt, dass es zu

besonders negativen Auswirkungen kommt, wenn leistungsschwache und sozial

belastete Kinder am „unteren Ende“ zu homogenen Gruppen zusammengefasst

werden (vgl. Tillmann / Wischer 2006, S. 45). Allein das Bewusstsein, in eine dritte

Leistungsgruppe eingestuft zu sein, führt bei Schülerinnen und Schülern zu

geringerem Selbstvertrauen und einem negativen Selbstbild. Dies hat auch zur

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Folge, dass die eigene Leistungserwartung und die der Mitschüler/-innen gegenüber

Kindern einer dritten Leistungsgruppe eine geringere ist (vgl. Waldner 2009, S. 147-

148). Dies führt unweigerlich auch zu schwächeren Leistungen, weil jener, dem

nichts zugetraut wird, auch meistens nicht im Stande ist, seine Leistungsfähigkeit

abzurufen. Nach der Neuen Mittelschule gehen nun auch viele Hauptschulen dazu

über, zumindest dritte Leistungsgruppen nicht mehr als eigene Lerngruppe zu führen,

sondern sie mit leistungsstärkeren Kindern gemeinsam zu unterrichten. Dies ist

sicher ein Schritt in die richtige Richtung.

Heterogenität und Individualisierung von Unterricht

„Eltern, Lehrer, Bildungswissenschaftler und Politiker treibt die gleiche grundlegende Frage […],

die ihren Ursprung in einem der größten Gruppenexperimente der Menschheitsgeschichte hat:

Mindestens 9 Jahre lang werden Kinder mit mehr oder weniger dem gleichen Lernstoff unterrichtet, doch

am Ende ihrer Schulzeit sind sie verschiedener denn je.“ (Largo / Berlinger 2009, S. 13)

Der Umgang mit Heterogenität gehört zweifellos zu den zentralen

Herausforderungen von Schule und Unterricht. Individualisierung und Differenzierung

von Unterricht gelingt nur dann, wenn die Verschiedenheit unserer Kinder als ein

Faktum angesehen wird, mit dem wir umgehen lernen müssen, und das auch in

vermeintlich noch so homogenen Gruppen. Lehrerinnen und Lehrer sollten ein

Bewusstsein für die Vielfalt der Schüler/-innen entwickeln und bereit sein, die

Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit nicht als eine Last, sondern als eine Chance

für Schule und Unterricht zu sehen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für ein

erfolgreiches Arbeiten in heterogenen Gruppen. Bloße Einstellungsveränderungen

allein führen aber noch nicht zu besseren Schulen und besserem Unterricht. Wenn

wir allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht werden wollen, müssen wir

ihnen Schul- und Unterrichtskonzepte bieten, die ihnen die Möglichkeit geben,

voneinander zu lernen und zu profitieren.

Ein erfolgreicher Unterricht in heterogenen Gruppen hängt davon ab, ob es uns

Lehrer/-innen gelingt, methodisch vielfältigen Unterricht anzubieten, der dem

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Einzelnen gestattet, möglichst nach seinen Fähigkeiten zu lernen. Dabei ist es vor

allem wichtig, dass Lernprozesse an die individuellen Erfahrungen und das

Vorwissen des/der Lernenden anknüpfen (Adaption), Lernprozesse durch den/die

Lernende/-n weitgehend selbst gesteuert werden (Selbstregulation und

Selbststeuerung), individuelle Lernwege von der Lehrkraft gezielt gefördert und auf

Basis einer fundierten Diagnostik begleitet werden (Förderung und Diagnostik) und

dass Schülerinnen und Schüler befähigt werden, sich selbst regelmäßig zu

kontrollieren (Evaluation) (vgl. Bonsen/Cloppenburg 2011, S. 58). Schülern und

Schülerinnen wie Christoph muss die Möglichkeit geboten werden, ihre Stärken

auszubauen und ihre Mängel und Schwächen kontinuierlich zu verbessern.

Es ist auch an der Zeit, dass Ergebnisse der Bildungsforschung, wie zum Beispiel die

große Anzahl von Risikoschülern und der hohe Einfluss familiärer Herkunft auf die

Schulleistungen, bildungspolitisch diskutiert und nicht länger verharmlost werden,

weil in der Folge politisch heikle Erkenntnisse zu erwarten sind. Daraus muss eine

Schulstrukturreform entstehen, die auf breitem gesellschaftlichen Konsens beruht.

Auch die Lehrerbildung ist dazu aufgerufen, den zukünftigen Lehrerinnen und

Lehrern noch mehr Kompetenzen, Haltungen und Wissen zu vermitteln, die den

Abgängern einen adäquaten Umgang mit der zunehmenden Verschiedenheit der

Schülerinnen und Schüler erleichtern. Die Pädagogik ist nun mal eine Wissenschaft,

die auf Erfahrungen basiert. Dies muss auch bei der Lehrer/-innenausbildung

berücksichtigt werden. Theoretisches Wissen ist wichtig, es muss aber immer mit

praktischen Erfahrungen in der Klasse bzw. Kindergartengruppe mit qualitativ

hochstehendem Coaching verknüpft werden (vgl. Largo / Beglinger 2009, S. 260).

Die bereits in den Eckpunkten fixierte zukünftige gemeinsame Ausbildung aller

Pädagoginnen und Pädagogen auf Masterniveau geht hier sicherlich richtige Wege,

denn nur gut ausgebildete, offen denkende junge Menschen werden es schaffen,

Kinder und Jugendliche in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und sie entsprechend ihren

individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten auf die Zukunft vorzubereiten.

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Literarturverzeichnis:

Becker Gerold (2004): Regisseur, Meisterdirigent, Dompteur? Die Sehnsucht nach

„gleichen Lernvoraussetzungen“ hat Gründe. In: Friedrich Jahresheft 2004:

Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Seelze: Friedrich,

S. 10-12

Bonsen Martin / Cloppenburg Monika (2011): Heterogenität und individuelle

Förderung. Eine große Herausforderung für die Schulpolitik. In: Schulmagazin 5-10

(5/2011), S. 55-58

Dubs Rolf (2009): Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und

Lernenden im Unterricht. Stuttgart: Steiner

Eder Ferdinand (2002): Fähigkeits- und Leistungsunterschiede auf der

Sekundarstufe I. In: Eder, F., Grogger, G. & Mayr, J. (Hrsg.) „Sekundarstufe I:

Probleme – Praxis – Perspektiven. Innsbruck: Studien Verlag

Hinz Andreas (1993): Heterogenität in der Schule. Integration – Interkulturelle

Erziehung – Koedukation. Hamburg: Curio

Kahlhammer Jelle (1996): Leistungsgruppen und Notenverteilung. Dokumentation.

Salzburg: Landesschulrat für Salzburg

Largo Remo, Beglinger Martin (2009): Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen.

München: Piper

Meyer-Willner Gerhard (1979): Differenzieren und Individualisieren. Begründung

und Darstellung des Differenzierungsproblems. Bad Heilbrunn: Klinkhard

Schreiner Claudia (Hrsg.) (2007): Pisa 2006. Internationaler Vergleich von

Schülerleistungen. Graz: Leykam

Page 11: Heterogenitõt als Chance wahrnehmen - Ver÷ffentlichung

Veröffentlichung Aufleben 2011 Dr. Norbert Waldner

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Tillmann Jürgen / Wischer Beate (2006): Heterogenität in der Schule.

Forschungsstand und Konsequenzen. In: Pädagogik, Hamburg: Beltz, 3/2006, S. 44-

48

Waldner Norbert (2009): Die Rolle von sogenannten „leistungsschwachen Schülern“

in Gruppenarbeiten. Eine qualitativ-quantitative Untersuchung durchgeführt im

Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht der Sekundarstufe I. Dissertation an der

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Wenning Norbert (2008): Gleichheit und Ungleichheit. Möglichkeiten eines anderen

Umgangs in Schule und Unterricht. In: Schulmagazin 5-10, München: Oldenbourg,

1/2008, S. 5-8