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8/8/2019 Die Zeit: Die Stunde Der Laien

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10 21. Oktober 2010 DIE ZEIT No 43

Das Internet funktioniert wie einRestaurant, das am Eingang mit der

  Affiche begrüßt: »Hier kocht IhrTischnachbar für Sie!« Die Profissind beurlaubt, die Laien überneh-

men – nicht allein die Küche, auch die Medien,den Kommerz, das Sozialnetz. Das Internet, dieGalaxie der Dilettanten? Für Eliten/Fachleute zumFürchten? Die Antwort kann nur diffus ausfallen.Das Internet erklären zu wollen ist wie im Trüben

fischen. Darum, zum Warmlaufen, drei Episodenaus dem neuen digitalen Reich der Amateure:Episode eins: Die »Nogger Choc Vermisser«. In

Kürze waren es 16 000. Sie vermissten eine Eissorte,die der Konzern Unilever aus der Kühltruhe genom-men hatte. Enttäuschte Kunden schlossen sich beimNetzwerk StudiVZ zusammen, forderten das Eis zu-rück. Unilever antwortete mit einem pathetischenVideo und führte Nogger Choc wieder ein.

Episode zwei: Der ägyptische Blogger Wael Abbas.Ein Jahr in Haft. Vorwurf: Beleidigung des Präsiden-ten, Angriff auf die Polizei. Heute ist Abbas eineBerühmtheit. Er hatte Videos von Misshandlungenns Netz gestellt und damit bewiesen, dass in ägyp-tischen Gefängnissen gefoltert wird. Daraufhinwimmelte es von ähnlich verwackelten Filmen – bisauch »normale« Medien über Folter berichteten.

Episode drei: Detlef Rüsch, Chefkritiker auf Amazon.de. Ein Sozialarbeiter, der einfach gern liest,der Menschen, die wenig von Büchern wissen, »nieder-chwellige Signale geben will, worauf man bei einem

Buch achten soll«. 1447 Kritiken eingerückt. Echo:12 446 User finden seine Rezensionen »hilfreich«.

Drei Episoden, drei Helden der neuen Laien-

phäre. Der Laie ist – frei nach Max Frisch – einMensch, der sich in seine eigenen Angelegenheiteneinmischt. Die Griechen nannten ihn idiotes, dieRömer idiota: Er lebt für sich, vertraut seiner Erfah-rung, pfeift auf die Finessen der Theoretiker. Als»Idioten« traten die Apostel an gegen verblendeteWelt- und verstockte Schriftgelehrte. Franziskus vonAssisi nannte sich einen einfältigen idiota. Luther fand,die unverbildete »Albernheit des Laien« sei für gött-iche Botschaften empfänglicher als die eingebildeteGescheitheit der Wissenden. Das »Lob der Torheit«war längst angestimmt, als Erasmus von Rotterdames besang: Der Humanist verspottete den Bildungs-dünkel, spielte Leben gegen Schule aus, CommonSense gegen Dogma, Lachen gegen Tintenernst, er-klärte die Torheit zur alleinigen Quelle des sozialenund privaten Lebensglücks. Die Aufklärer führten im18. Jahrhundert diese Linie fort, plädierten für Sou-veränität des Laien, setzten Klugheit über Gelehrsam-keit, erfahrungsgesättigte Gewitztheit über lehrbuch-ernährte Bildung, sprachen gern von der »Weisheitauf der Gasse«, die nur der findige Laie entdecke.

Reiht sich die digitale Kultur in diese Laienbe-wegungen ein? Das Internet als Maschine zur Um-

verteilung der Macht – weg von den Experten, hinzu den »Idioten«? Wann zuvor waren Kunden sosehr Könige? Wann erzielten Menschenrechtler sodirekt Wirkung? Welches feuilletonistische Groß-hirn fand so viele Leser? Nie hatten plebiszitäreNeigungen eine vergleichbare Chance, sich selbstzu organisieren. Im Web fällt die traditionelleGrenze zwischen Fachmann und Amateur.

Fachleute schlagen schon Alarm. »Seriöse« Be-wertungen von politischen Ereignissen, Büchern,

Restaurants verlören gegen User-Sternchen und  YouTube-Filmchen an Bedeutung. Die »Stundeder Stümper« sieht Andrew Keen angebrochen, einInternetpionier. Im Aufstieg der Dilettanten wit-tert er eine »kulturelle Verflachung, die die tradi-tionelle Trennung von Künstler und Publikum,von Urheber und Verbraucher verwischt«.

Eliten leben davon, dass sie etwas wissen oderkönnen, das die Menge nicht weiß und nicht kann– noch besser etwas, das die Menge zum Staunenbringt, etwas Geheimes, Geheimnisumwobenes, Sa-krales. Die Abwehr neuer Medientechniken ent-springt der Sorge um Ruhe und Ordnung – und der

 Angst der Elite, die Gesellschaft aus der Kontrolle zuverlieren. Von Moses’ Bildverbot bis zur Neil Post-mans Wir amüsieren uns zu Tode und Clifford StollsDie Wüste Internet: Im Kern aller Kritik am Medien-wandel lebt die Klage über den Verlust der Konzen-tration im unmittelbaren Leben: Ablenkung, Ver-führung, Verdummung. Doch was sich als Sorge umsMenschliche ausgibt, ist auch die Angst vor Macht-und Kontrollverlust. Von den frühen Priestern b is zuden heutigen Experten: Stets sieht die Elite Privilegienund Einfluss schwinden. Da Wissen Macht bedeutet,

verändern neue Medien nicht nur Weltsichten, sieschaffen neue Machtzentren.Dies alles akzentuiert sich mit den digitalen

Medien. War die klassische Zeitung bis weit in diezweite Hälfte des 20. Jahrhunderts »elitär«, vonBildungsbürgern für Bildungsbürger gemacht,setzten sich Radio und Fernsehen als »Massenme-dien« durch, geleitet von der Maxime »Der Ködermuss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler«(Helmut Thoma, Gründerchef RTL). Die Ein-schaltquote, von Eliten geschmäht wie gefürchtet,eröffnete eine »Kultur von unten«, den ersten Aktim modernen Lustspiel der Ermächtigung derLaien. Entsprechend sauer reagierten die Eliten.

Das Radio schien Bertolt Brecht eine »sehrschlechte Sache«. Durch den »kolossalen Triumphder Technik«, höhnte er 1927, würden »Wiener

  Walzer und Küchenrezepte endlich der ganzen Welt zugänglich«. Und das Fernsehen war für HansMagnus Enzensberger das »Nullmedium« schlecht-hin, frei von Relevanz, ein moderner »buddhisti-scher Apparat«, feierabendliches Eindudeln insNirwana, kollektives Verdampfen aller Tages-bedeutungen, Urlaub von der Realität, Kitsch,

Folklore, Ersatzdramatik durch Krimis et cetera.Für Intellektuelle, die davon leben, sich permanentmit dem zu beschäftigen, was sie Relevanz nennen,die schiere Zeitverplemperei.

Reagiert die Elite so heftig, weil sie sich von diesemMedium ausgespielt fühlt? Thomas H. Macho, derPhilosoph, bietet dazu eine plausible Theorie. DerBildschirm, sagt er, ersetze Elite durch Prominenz.Früher verdankte die Elite ihre Macht dem Privileg der Übersicht. Der König, der Hohepriester, der Feld-

herr auf dem Hügel: Sie regierten, weil sie alle sahen,ohne selber gesehen zu werden.Heute läuft es umgekehrt:Karriere macht, wer von allengesehen wird, ohne selbst sehenzu können. TV verändert dieBedingungen unserer Wahr-nehmung. Macht aber ist eineOrdnung der Sichtbarkeitsver-hältnisse. Ergo verändert Fern-sehen auch die Strukturen derMacht. Nämlich so: Machtgewinnt, wer ein Maximum an

  Aufmerksamkeit erzielt. DerBekanntheitsgrad ersetzt dieKompetenz. Schlimmer als jedeKritik trifft das Verdikt »unbe-kannt«. Bekannt aber wird, weres schafft, dass ihm die Blickefolgen. Das Massenpublikumaber, das alles sieht, bleibt un-sichtbar. Es fällt seine Urteile,indem es die TV-Kanäle nutztund Wahlzettel ankreuzt.

Genau da übernimmt dasInternet. In jeder Minute la-den Menschen rund um die

 Welt zwanzig Stunden Video-material auf den Videodienst

  YouTube. Die meisten sind Amateure, die unbezahlt In-halte bereitstellen. Erstaunlichviele Beiträge halten den Ver-gleich mit Produkten eta blier-ter Medien aus. User generated content  bedeutet – diesseitsaller Qualitätsfragen: Nutzerwandeln sich zu Produzenten, Empfänger zu Sen-dern. Das ist zwar nicht gleich, quasi lutheranisch,als Erhebung der Laien in den Priesterstand zuwerten, es entspricht jedoch dem aufklärerischenMündigkeitsslogan »Denke selbst!«. Digitaltechnik ermutigt, ermündigt die »Idioten«, selber zu sehen,selber zu urteilen. Und zwar dort, wo sie konkretleben, nicht in Redaktionsbüros oder philoso-phischen Seminaren, sondern in Kneipen, Schu-len, Discos, Werkhallen, Tankstellen, sozusagenauf der Gasse.

Die große Weisheit springt da selten heraus. Le-benspraktisches durchaus. Tipps und Bewertungenzu Lehrern, Professoren, Ärzten, Hotels, Airlines,Restaurants, Computern, Büchern, Fahrrädern – stetsvon Nutzern für Nutzer, unbeeindruckt von Marken-werbung und kommerziellen Rücksichten.

So unterlaufen Laien den geschmierten Kreislauf von Marketing und Warenästhetik. Produktver-sprechen müssen gehalten werden, sonst ist der Wi-derstand im Netz programmiert. Politische Seifen-

opern fliegen schnell auf. Schon Edmund Stoibererfuhr das, als er sich vom Amtdes bayerischen Ministerprä-sidenten nicht trennen wollte;durch YouTube flirrten entlar-vende Bilder (Stoiber, sich ver-sprechend, wie ein Hampelmanngestikulierend), bis der Landes-fürst wankte. Das Internet unter-gräbt das Nachrichtenmonopoldespotischer Staatsapparate. Esdeckt auf. Auf Dauer passierenschlimme Dinge seltener, weilklar wird, sie werden nicht ge-heim bleiben.

Digitale Galaxien sind ju-gendliche Welten. Sie erodierennicht nur die Barrieren von Ur-heberrechten, von illegalen In-halten, von Zensur und Jugend-schutz. Sie spielen auch das Pri-vileg der Erwachsenen auf öf-fentliche Deutungshoheit aus.Nie zuvor war es kostengünstiger

und einfacher, weltweit zu ver-öffentlichen. Aber die wenigsten  jugendlichen Amateure wollenmit Ideen berühmt werden, gardie Welt verändern. Den Laienverstehen die meisten im latei-nisch-italienischen Wortsinne als»Dilettanten«: Er will sich er-freuen und ergötzen.

Leute distinguierten Ge-schmacks nennen das Web 2.0schon Mob 2.0. Wo »Narren«

  Ausgang erhalten, muss manauf alles gefasst sein, was die etablierte Ordnung durcheinanderbringt, Piraterie, Mobbing, Orgien.Die katholische Kirche ließ die Laien nur in derFasnachtszeit gewähren. In der Onlinewelt herrschtimmer Narrentreiben. Pöbeleien auf Meinungs-foren. Persönlichkeitsverletzungen. Selbstentblö-ßung ohne Grenze.

Die Internet-Elite wendet sich von diesem Treibenab. Sie zweifelt schon pauschal am Nutzen digitalerKultur. »Werden wir online doof?«, fragt etwa Nicho-las Carr, ein Blogger-Guru der ersten Stunde. Sein

Hirn sei zum »nervösen Flipperautomaten« verkom-men. »Früher war ich ein Taucher im Ozean der

 Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer.« Wer surft, verflacht. Link-hopping macht zappelig. Konzentrationszerstäubung als Leitmotiv elitärer Internetkritik. Leuchtet ein.

Dagegen hilft nur: Wir müssen die Informationenwieder dem Hirn unterordnen, nicht umgekehrt.Darum abschließend drei Gründe zur Beruhigung einer Elite, die der Gedanke stresst, durchgeknallte

Laien übernähmen die Macht.Erstens muss nicht alles, was Laien im Internettreiben, ihrer Bildung dienen. Das kapierten Elitenschon beim Fernsehen nicht. Mit einer Ausnahme:Hermann Broch, der soziologische Schriftsteller,führte den Begriff der »Spannungsindustrie« ein. DerMensch der Hochleistungsgesellschaft, meinte er,dürfe sich feierabends nicht in Muße entspannen,sonst kippe er aus dem Spannungssystem heraus. Ermüsse künstlich in Spannung bleiben, durch TV-Krimis, nervige Unterhaltung, aufgeregtes Blabla,damit er anderntags wieder gespannt zur Arbeit kom-me. Mit Internetsurfen schafft er das besser. Surfenist die Kunst, an der Oberfläche zu bleiben.

Zweitens verläuft die Mediengeschichte kumula-tiv, nie alternativ. Es kam stets etwas Neues hinzu, das

 Alte aber blieb. Die Zeitung hat das Buch nicht er-setzt, das Radio nicht die Zeitung, das Fernsehennicht das Radio. Internet ist mehr als ein Medium,eher ein Kosmos der unendlichen Galaxien (Social,Commercial, Media). Eben darum zieht es mancheUser zurück zu alten Medien, etwa zum Radio.

Drittens ziehen Laien auch im Online-Leben denKomfort vor: Bequemlichkeit, Übersichtlichkeit,

Virenfreiheit. Steve Jobs’ iPad signalisiert die Wende.Pad wie Polster, Kissen, Schoner; weich, wattiert,dämpfend. Pad, die Pfote, schluckt den Ton, gibtselber keinen Laut. Das iPad, ohne ordentliche Tas-tatur, beschränkt Kommunikation auf Tweets undE-Mails, lädt zum Empfang ein, weniger zum Blog-gen, Streiten, Intervenieren, beliefert uns mit allemErgötzlichen, erlaubt die stubensichere Fernbedie-nung der Welt, lockt nicht zur Einmischung.

Und die »Nogger Choc Vermisser«? Der Men-schenrechts-Blogger Abbas? Der Amateurkritiker auf 

 Amazon.de? Die werden weitermachen. Diese Kulturvon unten wird bleiben und wachsen, auch wennLaien scharenweise vor dem iPad knien wie Katholi-ken vor dem Tabernakel. Das Nützliche setzt sichdurch, modische Spielereien nutzen sich ab. DieSkepsis gegen Experten wird steigen, das Urteil er-fahrungsgesättigter Laien wird gefragt bleiben. Franzvon Assisi, der idiota, wird seit Jahrhunderten verehrt,seine dogmatischen Gegner sind längst vergessen.

Der Publizist und Philosoph Ludwig Hasler arbeitet alsKolumnist, Essayist, Vortragstourist. Sein jüngstesBuch heißt: »Des Pudels Fell. Neue Verführung zumDenken« (Huber Verlag, Frauenfeld)

Die Stunde

der LaienWie das Internet jeden zu einem »Experten«macht – zum Ärger der Eliten.Ein Essay von LUDWIG HASLER anlässlich der neuenAusstellung im Stapferhaus Lenzburg 

SCHWEIZ

CH

Digital leben»Schuhe aus!«, heißt es vonheute an in der   Ausstellung desStapferhauses Lenzburg »Home– Willkommen im digitalenLeben«. Barfuß, oder in diesemFall bestrumpft soll erlebbarwerden, was das Internet mituns anstellt. Soll heißen: OhneSchuhe auf weichem Teppich,wie zu Hause eben, begibt sichder Besucher in die Welt vonsechs Protagonisten. Jeder vonihnen ist ein digital native, alsoeiner, für den die digitale Weltbereits zum Alltag gehört. Elternund Freunde kommen zu Wort,Experten aus Wirtschaft undPsychologie diskutieren noch

bis zum 27. November die zu-nehmende Digitalisierung. Besu-cher können unter www.stapfer-haus.ch mitmachen.   Wie ver-ändert die Digitalisierung be-reits heute unser Leben? Exper-ten versuchen, Antworten zuliefern. Ohne anwesend zu sein,digital halt. Gut durchdachtund spannend – nicht nur fürdie Generation Internet. KD

Gegacker undGezwitscher: Online

findet Gehör, wer denSchnabel aufmacht

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