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10 21. Oktober 2010 DIE ZEIT N o 43 D as Internet funktioniert wie ein Restaurant, das am Eingang mit der  Affiche begrüßt: »Hier kocht Ihr Tischnachbar für Sie!« Die Profis sind beurlaubt, die Laien überneh- men – nicht allein die Küche, auch die Medien, den Kommerz, das Sozialnetz. Das Internet, die Galaxie der Dilettanten? Für Eliten/Fachleute zum Fürchten? Die Antwort kann nur diffus ausfallen. Das Internet erklären zu wollen ist wie im Trüben fischen. Darum, zum Warmlaufen, drei Episoden aus dem neuen digitalen Reich der Amateure: Episode eins: Die »Nogger Choc Vermisser«. In Kürze waren es 16 000. Sie vermissten eine Eissorte, die der Konzern Unilever aus der Kühltruhe genom- men hatte. Enttäuschte Kunden schlossen sich beim Netzwerk StudiVZ zusammen, forderten das Eis zu- rück. Unilever antwortete mit einem pathetischen Video und führte Nogger Choc wieder ein. Episode zwei: Der ägyptische Blogger Wael Abbas. Ein Jahr in Haft. Vorwurf: Beleidigung des Präsiden- ten, Angriff auf die Polizei. Heute ist Abbas eine Berühmtheit. Er hatte Videos von Misshandlungen ins Netz gestellt und damit bewiesen, dass in ägyp- tischen Gefängnissen gefoltert wird. Daraufhin wimmelte es von ähnlich verwackelten Filmen – bis auch »normale« Medien über Folter berichteten. Episode drei: Detlef Rüsch, Chefkritiker auf  Amazon.de. Ein Sozialarbeiter, der einfach gern liest, der Menschen, die wenig von Büchern wissen, »nieder- schwellige Signale geben will, worauf man bei einem Buch achten soll«. 1447 Kritiken eingerückt. Echo: 12 446 User finden seine Rezensionen »hilfreich«. Drei Episoden, drei Helden der neuen Laien- sphäre. Der Laie ist – frei nach Max Frisch – ein Mensch, der sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt. Die Griechen nannten ihn idiotes, die Römer idiota: Er lebt für sich, vertraut seiner Erfah- rung, pfeift auf die Finessen der Theoretiker. Als »Idioten« traten die Apostel an gegen verblendete  Welt- und verstockte Schriftgelehrte. Franziskus von  Assisi nannte sich einen einfältigen idiota. Luther fand, die unverbildete »Albernheit des Laien« sei für gött- liche Botschaften empfänglicher als die eingebildete Gescheitheit der Wissenden. Das »Lob der Torheit« war längst angestimmt, als Erasmus von Rotterdam es besang: Der Humanist verspottete den Bildungs- dünkel, spielte Leben gegen Schule aus, Common Sense gegen Dogma, Lachen gegen Tintenernst, er- klärte die Torheit zur alleinigen Quelle des sozialen und privaten Lebensglücks. Die Aufklärer führten im 18. Jahrhundert diese Linie fort, plädierten für Sou- veränität des Laien, setzten Klugheit über Gelehrsam- keit, erfahrungsgesättigte Gewitztheit über lehrbuch- ernährte Bildung, sprachen gern von der »Weisheit auf der Gasse«, die nur der findige Laie entdec ke. Reiht sich die digitale Kultur in diese Laienbe- wegungen ein? Das Internet als Maschine zur Um- verteilung der Macht – weg von den Experten, hin zu den »Idioten«? Wann zuvor waren Kunden so sehr Könige? Wann erzielten Menschenrechtler so direkt Wirkung? Welches feuilletonistische Groß- hirn fand so viele Leser? Nie hatten plebiszitäre Neigungen eine vergleichbare Chance, sich selbst zu organisieren. Im Web fällt die traditionelle Grenze zwischen Fachmann und Amateur. Fachleute schlagen schon Alarm. »Seriöse« Be- wertungen von politischen Ereignissen, Büchern, Restaurants verlören gegen User-Sternchen und  YouTube-Filmchen an Bedeutung. Die »Stunde der Stümper« sieht Andrew Keen angebrochen, ein Internetpionier. Im Aufstieg der Dilettanten wit- tert er eine »kulturelle Verflachung, die die tradi- tionelle Trennung von Künstler und Publikum, von Urheber und Verbraucher verwischt«. Eliten leben davon, dass sie etwas wissen oder können, das die Menge nicht weiß und nicht kann – noch besser etwas, das die Menge zum Staunen bringt, etwas Geheimes, Geheimnisumwobenes, Sa- krales. Die Abwehr neuer Medientechniken ent- springt der Sorge um Ruhe und Ordnung – und der  Angst der Elite, die Gesellschaft aus der Kontrolle zu verlieren. Von Moses’ Bildverbot bis zur Neil Post- mans Wir amüsieren uns zu Tode und Clifford Stolls Die Wüste Internet: Im Kern aller Kritik am Medien- wandel lebt die Klage über den Verlust der Konzen- tration im unmittelbaren Leben: Ablenkung, Ver- führung, Verdummung. Doch was sich als Sorge ums Menschliche ausgibt, ist auch die Angst vor Macht- und Kontrollverlust. Von den frühen Priestern b is zu den heutigen Experten: Stets sieht die Elite Privilegien und Einfluss schwinden. Da Wissen Macht bedeutet, verändern neue Medien nicht nur Weltsichten, sie schaffen neue Machtzentren. Dies alles akzentuiert sich mit den digitalen Medien. War die klassische Zeitung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts »elitär«, von Bildungsbürgern für Bildungsbürger gemacht, setzten sich Radio und Fernsehen als »Massenme- dien« durch, geleitet von der Maxime »Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler« (Helmut Thoma, Gründerchef RTL). Die Ein- schaltquote, von Eliten geschmäht wie gefürchtet, eröffnete eine »Kultur von unten«, den ersten Akt im modernen Lustspiel der Ermächtigung der Laien. Entsprechend sauer reagierten die Eliten. Das Radio schien Bertolt Brecht eine »sehr schlechte Sache«. Durch den »kolossalen Triumph der Technik«, höhnte er 1927, würden »Wiener  Walzer und Küchenrezepte endlich der ganzen  Welt zugänglich«. Und das Fernsehen war für Hans Magnus Enzensberger das »Nullmedium« schlecht- hin, frei von Relevanz, ein moderner »buddhisti- scher Apparat«, feierabendliches Eindudeln ins Nirwana, kollektives Verdampfen aller Tages- bedeutungen, Urlaub von der Realität, Kitsch, Folklore, Ersatzdramatik durch Krimis et cetera. Für Intellektuelle, die davon leben, sich permanent mit dem zu beschäftigen, was sie Relevanz nennen, die schiere Zeitverplem perei. Reagiert die Elite so heftig, weil sie sich v on diesem Medium ausgespielt fühlt? Thomas H. Macho, der Philosoph, bietet dazu eine plausible Theorie. Der Bildschirm, sagt er, ersetze Elite durch Prominenz. Früher verdankte die Elite ihre Macht dem Privileg der Übersicht. Der König, der Hohepriester, der Feld- herr auf dem Hügel: Sie regierten, weil sie alle sahen, ohne selber gesehen zu werden. Heute läuft es umgekehrt: Karriere macht, wer von allen gesehen wird, ohne selbst sehen zu können. TV verändert die Bedingungen unserer Wahr- nehmung. Macht aber ist eine Ordnung der Sichtbarkeitsver- hältnisse. Ergo verändert Fern- sehen auch die Strukturen der Macht. Nämlich so: Macht gewinnt, wer ein Maximum an  Aufmerksamkeit erzielt. Der Bekanntheitsgrad ersetzt die Kompe tenz. Schlimmer als jede Kritik trifft das Verdikt »unbe- kannt«. Bekannt aber wird, wer es schafft, dass ihm die Blicke folgen. Das Massenpublikum aber, das alles sieht, bleibt un- sichtbar. Es fällt seine Urteile, indem es die TV-Kanäle nutzt und Wahlzettel ankreuzt. Genau da übernimmt das Internet. In jeder Minute la- den Menschen rund um die  Welt zwanzig Stunden Video- material auf den Videodienst  YouTube. Die meisten sind  Amateure, die unbezahlt In- halte bereitstellen. Erstaunlich viele Beiträge halten den Ver- gleich mit Produkten eta blier- ter Medien aus. User generated content bedeutet – diesseits aller Qualitätsfragen: Nutzer wandeln sich zu Produzenten, Empfänger zu Sen- dern. Das ist zwar nicht gleich, quasi lutheranisch, als Erhebung der Laien in den Priesterstand zu werten, es entspricht jedoch dem aufklärerischen Mündigkeitsslogan »Denke selbst!«. Digitaltechnik ermutigt, ermündigt die »Idioten«, selber zu sehen, selber zu urteilen. Und zwar dort, wo sie konkret leben, nicht in Redaktionsbüros oder philoso- phischen Seminaren, sondern in Kneipen, Schu- len, Discos, Werkhallen, Tankstellen, sozusagen auf der Gasse. Die große Weisheit springt da selten heraus. Le- benspraktisches durchaus. Tipps und Bewertungen zu Lehrern, Professoren, Ärzten, Hotels, Airlines, Restaurants, Computern, Büchern, Fahrrädern – stets von Nutzern für Nutzer, unbeeindruckt von Marken- werbung und kommerziellen Rücksichten. So unterlaufen Laien den geschmierten Kreislauf von Marketing und Warenästhetik. Produktver- sprechen müssen gehalten werden, sonst ist der Wi- derstand im Netz programmiert. Politische Seifen- opern fliegen schnell auf. Schon Edmund Stoiber erfuhr das, als er sich vom Amt des bayerischen Ministerprä- sidenten nicht trennen wollte; durch YouTube flirrten entlar- vende Bilder (Stoiber, sich ver- sprechend, wie ein Hampelmann gestikulierend), bis der Landes- fürst wankte. Das Internet unter- gräbt das Nachrichtenmonopol despotischer Staatsapparate. Es deckt auf. Auf Dauer passieren schlimme Dinge seltener, weil klar wird, sie werden nicht ge- heim bleiben. Digitale Galaxien sind ju- gendliche Welten. Sie erodieren nicht nur die Barrieren von Ur- heberrechten, von illegalen In- halten, von Zensur und Jugend- schutz. Sie spielen auch das Pri- vileg der Erwachsenen auf öf- fentliche Deutungshoheit aus. Nie zuvor war es kostengünstiger und einfacher, weltweit zu ver- öffentlichen. Aber die wenigsten  jugendlichen Amateure wollen mit Ideen berühmt werden, gar die Welt verändern. Den Laien verstehen die meisten im latei- nisch-italienischen Wortsinne als »Dilettanten«: Er will sich er- freuen und ergötzen. Leute distinguierten Ge- schmacks nennen das Web 2.0 schon Mob 2.0. Wo »Narren«  Ausgang erhalten, muss man auf alles gefasst sein, was die etablierte Ordnung durcheinande rbringt, Piraterie, Mobbin g, Orgien. Die katholische Kirche ließ die Laien nur in der Fasnachtszeit gewähren. In der Onlinewelt herrscht immer Narrentreiben. Pöbeleien auf Meinungs- foren. Persönlichkeitsverletzungen. Selbstentblö- ßung ohne Grenze. Die Internet-Elite wendet sich von diesem Treiben ab. Sie zweifelt schon pauschal am Nutzen digitaler Kultur. »Werden wir online doof?«, fragt etwa Nicho- las Carr, ein Blogger-Guru der ersten Stunde. Sein Hirn sei zum »nervösen Flipperautomaten« verkom- men. »Früher war ich ein Taucher im Ozean der  Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer.« Wer surft, verflacht. Link- hopping macht zappelig. Konzentrationszerstäubung als Leitmotiv elitärer Internetkritik. Leuchtet ein. Dagegen hilft nur: Wir müssen die Informationen wieder dem Hirn unterordnen, nicht umgekehrt. Darum abschließend drei Gründe zur Beruhigung einer Elite, die der Gedanke stresst, durchgeknallte Laien übernähmen die Macht. Erstens muss nicht alles, was Laien im Internet treiben, ihrer Bildung dienen. Das kapierten Eliten schon beim Fernsehen nicht. Mit einer Ausnahme: Hermann Broch, der soziologische Schriftsteller, führte den Begriff der »Spannungsindustrie« ein. Der Mensch der Hochleistungsgesellschaft, meinte er, dürfe sich feierabends nicht in Muße entspannen, sonst kippe er aus dem Spannungssystem heraus. Er müsse künstlich in Spannung bleiben, durch TV- Krimis, nervige Unterhaltung, aufgeregtes Blabla, damit er anderntags wieder gespannt zur Arbeit kom- me. Mit Internetsurfen schafft er das besser. Surfen ist die Kunst, an der Oberfläche zu bleiben. Zweitens verläuft die Mediengeschichte kumula- tiv, nie alternativ. Es kam stets etwas Neues hinzu, das  Alte aber blieb. Die Zeitung hat das Buch nicht er- setzt, das Radio nicht die Zeitung, das Fernsehen nicht das Radio. Internet ist mehr als ein Medium, eher ein Kosmos der unendlichen Galaxien (Social, Commercial, Media). Eben darum zieht es manche User zurück zu alten Medien, etwa zum Radio. Drittens ziehen Laien auch im Online-Leben den Komfort vor: Bequemlichkeit, Übersichtlichkeit, Virenfreiheit. Steve Jobs’ iPad signalisiert die Wende. Pad wie Polster, Kissen, Schoner; weich, wattiert, dämpfend. Pad, die Pfote, schluckt den Ton, gibt selber keinen Laut. Das iPad, ohne ordentliche Tas- tatur, beschränkt Kommunikation auf Tweets und E-Mails, lädt zum Empfang ein, weniger zum Blog- gen, Streiten, Intervenieren, beliefert uns mit allem Ergötzlichen, erlaubt die stubensichere Fernbedie- nung der Welt, lockt nicht zur Einmischung. Und die »Nogger Choc Vermisser«? Der Men- schenrechts-Blogger Abbas? Der Amateurkritiker auf  Amazon.de? Die werden weitermachen. Diese Kultur von unten wird bleiben und wachsen, auch wenn Laien scharenweise vor dem iPad knien wie Katholi- ken vor dem Tabernakel. Das Nützliche setzt sich durch, modische Spielereien nutzen sich ab. Die Skepsis gegen Experten wird steigen, das Urteil er- fahrungsgesättigter Laien wird gefragt bleiben. Franz von Assisi, der idiota, wird seit Jahrhunderten verehrt, seine dogmatischen Gegner sind längst vergessen. Der Publizist und Philosoph Ludwig Hasler arbeitet als Kolumnist, Essayist, Vortragstourist. Sein jüngstes Buch heißt: »Des Pudels Fell. Neue Verführung zum Denken« (Huber Verlag, Frauenfeld) Die Stu nd e der Laien  Wie das Internet jeden zu einem »Experten« macht – zum Ärger der Eliten. Ein Essay von LUDWIG HASLER anlässlich der neuen  Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg SCHWEIZ CH Digital leben »Schuhe aus!«, heißt es von heute an in der  Ausstellung des Stapferhauses Lenzburg »Home – Willkommen im digitalen Leben«. Barfuß, oder in diesem Fall bestrumpft soll erlebbar werden, was das Internet mit uns anstellt. Soll heißen: Ohne Schuhe auf weichem Teppich, wie zu Hause eben, begibt sich der Besucher in die Welt von sechs Protagonisten. Jeder von ihnen ist ein digital native, also einer, für den die digitale Welt bereits zum Alltag gehört. Eltern und Freunde kommen zu Wort, Experten aus Wirtschaft und Psychologie diskutieren noch bis zum 27. November die zu- nehmende Digitalisierung. Besu- cher können unter www.stapfer- haus.ch mitmachen.  Wie ver- ändert die Digitalisierung be- reits heute unser Leben? Exper- ten versuchen, Antworten zu liefern. Ohne anwesend zu sein, digital halt. Gut durchdacht und spannend – nicht nur für die Generation Internet. KD Gegacker und Gezwitscher: Online findet Gehör, wer den Schnabel aufmacht    I    l    l   u   s    t   r   a    t    i   o   n   :    P   e    t   e   r    G   u    t    f    ü   r    D    I    E    Z    E    I    T

Die Zeit: Die Stunde Der Laien

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8/8/2019 Die Zeit: Die Stunde Der Laien

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10 21. Oktober 2010 DIE ZEIT No 43

Das Internet funktioniert wie einRestaurant, das am Eingang mit der

  Affiche begrüßt: »Hier kocht IhrTischnachbar für Sie!« Die Profissind beurlaubt, die Laien überneh-

men – nicht allein die Küche, auch die Medien,den Kommerz, das Sozialnetz. Das Internet, dieGalaxie der Dilettanten? Für Eliten/Fachleute zumFürchten? Die Antwort kann nur diffus ausfallen.Das Internet erklären zu wollen ist wie im Trüben

fischen. Darum, zum Warmlaufen, drei Episodenaus dem neuen digitalen Reich der Amateure:Episode eins: Die »Nogger Choc Vermisser«. In

Kürze waren es 16 000. Sie vermissten eine Eissorte,die der Konzern Unilever aus der Kühltruhe genom-men hatte. Enttäuschte Kunden schlossen sich beimNetzwerk StudiVZ zusammen, forderten das Eis zu-rück. Unilever antwortete mit einem pathetischenVideo und führte Nogger Choc wieder ein.

Episode zwei: Der ägyptische Blogger Wael Abbas.Ein Jahr in Haft. Vorwurf: Beleidigung des Präsiden-ten, Angriff auf die Polizei. Heute ist Abbas eineBerühmtheit. Er hatte Videos von Misshandlungenns Netz gestellt und damit bewiesen, dass in ägyp-tischen Gefängnissen gefoltert wird. Daraufhinwimmelte es von ähnlich verwackelten Filmen – bisauch »normale« Medien über Folter berichteten.

Episode drei: Detlef Rüsch, Chefkritiker auf Amazon.de. Ein Sozialarbeiter, der einfach gern liest,der Menschen, die wenig von Büchern wissen, »nieder-chwellige Signale geben will, worauf man bei einem

Buch achten soll«. 1447 Kritiken eingerückt. Echo:12 446 User finden seine Rezensionen »hilfreich«.

Drei Episoden, drei Helden der neuen Laien-

phäre. Der Laie ist – frei nach Max Frisch – einMensch, der sich in seine eigenen Angelegenheiteneinmischt. Die Griechen nannten ihn idiotes, dieRömer idiota: Er lebt für sich, vertraut seiner Erfah-rung, pfeift auf die Finessen der Theoretiker. Als»Idioten« traten die Apostel an gegen verblendeteWelt- und verstockte Schriftgelehrte. Franziskus vonAssisi nannte sich einen einfältigen idiota. Luther fand,die unverbildete »Albernheit des Laien« sei für gött-iche Botschaften empfänglicher als die eingebildeteGescheitheit der Wissenden. Das »Lob der Torheit«war längst angestimmt, als Erasmus von Rotterdames besang: Der Humanist verspottete den Bildungs-dünkel, spielte Leben gegen Schule aus, CommonSense gegen Dogma, Lachen gegen Tintenernst, er-klärte die Torheit zur alleinigen Quelle des sozialenund privaten Lebensglücks. Die Aufklärer führten im18. Jahrhundert diese Linie fort, plädierten für Sou-veränität des Laien, setzten Klugheit über Gelehrsam-keit, erfahrungsgesättigte Gewitztheit über lehrbuch-ernährte Bildung, sprachen gern von der »Weisheitauf der Gasse«, die nur der findige Laie entdecke.

Reiht sich die digitale Kultur in diese Laienbe-wegungen ein? Das Internet als Maschine zur Um-

verteilung der Macht – weg von den Experten, hinzu den »Idioten«? Wann zuvor waren Kunden sosehr Könige? Wann erzielten Menschenrechtler sodirekt Wirkung? Welches feuilletonistische Groß-hirn fand so viele Leser? Nie hatten plebiszitäreNeigungen eine vergleichbare Chance, sich selbstzu organisieren. Im Web fällt die traditionelleGrenze zwischen Fachmann und Amateur.

Fachleute schlagen schon Alarm. »Seriöse« Be-wertungen von politischen Ereignissen, Büchern,

Restaurants verlören gegen User-Sternchen und  YouTube-Filmchen an Bedeutung. Die »Stundeder Stümper« sieht Andrew Keen angebrochen, einInternetpionier. Im Aufstieg der Dilettanten wit-tert er eine »kulturelle Verflachung, die die tradi-tionelle Trennung von Künstler und Publikum,von Urheber und Verbraucher verwischt«.

Eliten leben davon, dass sie etwas wissen oderkönnen, das die Menge nicht weiß und nicht kann– noch besser etwas, das die Menge zum Staunenbringt, etwas Geheimes, Geheimnisumwobenes, Sa-krales. Die Abwehr neuer Medientechniken ent-springt der Sorge um Ruhe und Ordnung – und der

 Angst der Elite, die Gesellschaft aus der Kontrolle zuverlieren. Von Moses’ Bildverbot bis zur Neil Post-mans Wir amüsieren uns zu Tode und Clifford StollsDie Wüste Internet: Im Kern aller Kritik am Medien-wandel lebt die Klage über den Verlust der Konzen-tration im unmittelbaren Leben: Ablenkung, Ver-führung, Verdummung. Doch was sich als Sorge umsMenschliche ausgibt, ist auch die Angst vor Macht-und Kontrollverlust. Von den frühen Priestern b is zuden heutigen Experten: Stets sieht die Elite Privilegienund Einfluss schwinden. Da Wissen Macht bedeutet,

verändern neue Medien nicht nur Weltsichten, sieschaffen neue Machtzentren.Dies alles akzentuiert sich mit den digitalen

Medien. War die klassische Zeitung bis weit in diezweite Hälfte des 20. Jahrhunderts »elitär«, vonBildungsbürgern für Bildungsbürger gemacht,setzten sich Radio und Fernsehen als »Massenme-dien« durch, geleitet von der Maxime »Der Ködermuss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler«(Helmut Thoma, Gründerchef RTL). Die Ein-schaltquote, von Eliten geschmäht wie gefürchtet,eröffnete eine »Kultur von unten«, den ersten Aktim modernen Lustspiel der Ermächtigung derLaien. Entsprechend sauer reagierten die Eliten.

Das Radio schien Bertolt Brecht eine »sehrschlechte Sache«. Durch den »kolossalen Triumphder Technik«, höhnte er 1927, würden »Wiener

  Walzer und Küchenrezepte endlich der ganzen Welt zugänglich«. Und das Fernsehen war für HansMagnus Enzensberger das »Nullmedium« schlecht-hin, frei von Relevanz, ein moderner »buddhisti-scher Apparat«, feierabendliches Eindudeln insNirwana, kollektives Verdampfen aller Tages-bedeutungen, Urlaub von der Realität, Kitsch,

Folklore, Ersatzdramatik durch Krimis et cetera.Für Intellektuelle, die davon leben, sich permanentmit dem zu beschäftigen, was sie Relevanz nennen,die schiere Zeitverplemperei.

Reagiert die Elite so heftig, weil sie sich von diesemMedium ausgespielt fühlt? Thomas H. Macho, derPhilosoph, bietet dazu eine plausible Theorie. DerBildschirm, sagt er, ersetze Elite durch Prominenz.Früher verdankte die Elite ihre Macht dem Privileg der Übersicht. Der König, der Hohepriester, der Feld-

herr auf dem Hügel: Sie regierten, weil sie alle sahen,ohne selber gesehen zu werden.Heute läuft es umgekehrt:Karriere macht, wer von allengesehen wird, ohne selbst sehenzu können. TV verändert dieBedingungen unserer Wahr-nehmung. Macht aber ist eineOrdnung der Sichtbarkeitsver-hältnisse. Ergo verändert Fern-sehen auch die Strukturen derMacht. Nämlich so: Machtgewinnt, wer ein Maximum an

  Aufmerksamkeit erzielt. DerBekanntheitsgrad ersetzt dieKompetenz. Schlimmer als jedeKritik trifft das Verdikt »unbe-kannt«. Bekannt aber wird, weres schafft, dass ihm die Blickefolgen. Das Massenpublikumaber, das alles sieht, bleibt un-sichtbar. Es fällt seine Urteile,indem es die TV-Kanäle nutztund Wahlzettel ankreuzt.

Genau da übernimmt dasInternet. In jeder Minute la-den Menschen rund um die

 Welt zwanzig Stunden Video-material auf den Videodienst

  YouTube. Die meisten sind Amateure, die unbezahlt In-halte bereitstellen. Erstaunlichviele Beiträge halten den Ver-gleich mit Produkten eta blier-ter Medien aus. User generated content  bedeutet – diesseitsaller Qualitätsfragen: Nutzerwandeln sich zu Produzenten, Empfänger zu Sen-dern. Das ist zwar nicht gleich, quasi lutheranisch,als Erhebung der Laien in den Priesterstand zuwerten, es entspricht jedoch dem aufklärerischenMündigkeitsslogan »Denke selbst!«. Digitaltechnik ermutigt, ermündigt die »Idioten«, selber zu sehen,selber zu urteilen. Und zwar dort, wo sie konkretleben, nicht in Redaktionsbüros oder philoso-phischen Seminaren, sondern in Kneipen, Schu-len, Discos, Werkhallen, Tankstellen, sozusagenauf der Gasse.

Die große Weisheit springt da selten heraus. Le-benspraktisches durchaus. Tipps und Bewertungenzu Lehrern, Professoren, Ärzten, Hotels, Airlines,Restaurants, Computern, Büchern, Fahrrädern – stetsvon Nutzern für Nutzer, unbeeindruckt von Marken-werbung und kommerziellen Rücksichten.

So unterlaufen Laien den geschmierten Kreislauf von Marketing und Warenästhetik. Produktver-sprechen müssen gehalten werden, sonst ist der Wi-derstand im Netz programmiert. Politische Seifen-

opern fliegen schnell auf. Schon Edmund Stoibererfuhr das, als er sich vom Amtdes bayerischen Ministerprä-sidenten nicht trennen wollte;durch YouTube flirrten entlar-vende Bilder (Stoiber, sich ver-sprechend, wie ein Hampelmanngestikulierend), bis der Landes-fürst wankte. Das Internet unter-gräbt das Nachrichtenmonopoldespotischer Staatsapparate. Esdeckt auf. Auf Dauer passierenschlimme Dinge seltener, weilklar wird, sie werden nicht ge-heim bleiben.

Digitale Galaxien sind ju-gendliche Welten. Sie erodierennicht nur die Barrieren von Ur-heberrechten, von illegalen In-halten, von Zensur und Jugend-schutz. Sie spielen auch das Pri-vileg der Erwachsenen auf öf-fentliche Deutungshoheit aus.Nie zuvor war es kostengünstiger

und einfacher, weltweit zu ver-öffentlichen. Aber die wenigsten  jugendlichen Amateure wollenmit Ideen berühmt werden, gardie Welt verändern. Den Laienverstehen die meisten im latei-nisch-italienischen Wortsinne als»Dilettanten«: Er will sich er-freuen und ergötzen.

Leute distinguierten Ge-schmacks nennen das Web 2.0schon Mob 2.0. Wo »Narren«

  Ausgang erhalten, muss manauf alles gefasst sein, was die etablierte Ordnung durcheinanderbringt, Piraterie, Mobbing, Orgien.Die katholische Kirche ließ die Laien nur in derFasnachtszeit gewähren. In der Onlinewelt herrschtimmer Narrentreiben. Pöbeleien auf Meinungs-foren. Persönlichkeitsverletzungen. Selbstentblö-ßung ohne Grenze.

Die Internet-Elite wendet sich von diesem Treibenab. Sie zweifelt schon pauschal am Nutzen digitalerKultur. »Werden wir online doof?«, fragt etwa Nicho-las Carr, ein Blogger-Guru der ersten Stunde. Sein

Hirn sei zum »nervösen Flipperautomaten« verkom-men. »Früher war ich ein Taucher im Ozean der

 Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer.« Wer surft, verflacht. Link-hopping macht zappelig. Konzentrationszerstäubung als Leitmotiv elitärer Internetkritik. Leuchtet ein.

Dagegen hilft nur: Wir müssen die Informationenwieder dem Hirn unterordnen, nicht umgekehrt.Darum abschließend drei Gründe zur Beruhigung einer Elite, die der Gedanke stresst, durchgeknallte

Laien übernähmen die Macht.Erstens muss nicht alles, was Laien im Internettreiben, ihrer Bildung dienen. Das kapierten Elitenschon beim Fernsehen nicht. Mit einer Ausnahme:Hermann Broch, der soziologische Schriftsteller,führte den Begriff der »Spannungsindustrie« ein. DerMensch der Hochleistungsgesellschaft, meinte er,dürfe sich feierabends nicht in Muße entspannen,sonst kippe er aus dem Spannungssystem heraus. Ermüsse künstlich in Spannung bleiben, durch TV-Krimis, nervige Unterhaltung, aufgeregtes Blabla,damit er anderntags wieder gespannt zur Arbeit kom-me. Mit Internetsurfen schafft er das besser. Surfenist die Kunst, an der Oberfläche zu bleiben.

Zweitens verläuft die Mediengeschichte kumula-tiv, nie alternativ. Es kam stets etwas Neues hinzu, das

 Alte aber blieb. Die Zeitung hat das Buch nicht er-setzt, das Radio nicht die Zeitung, das Fernsehennicht das Radio. Internet ist mehr als ein Medium,eher ein Kosmos der unendlichen Galaxien (Social,Commercial, Media). Eben darum zieht es mancheUser zurück zu alten Medien, etwa zum Radio.

Drittens ziehen Laien auch im Online-Leben denKomfort vor: Bequemlichkeit, Übersichtlichkeit,

Virenfreiheit. Steve Jobs’ iPad signalisiert die Wende.Pad wie Polster, Kissen, Schoner; weich, wattiert,dämpfend. Pad, die Pfote, schluckt den Ton, gibtselber keinen Laut. Das iPad, ohne ordentliche Tas-tatur, beschränkt Kommunikation auf Tweets undE-Mails, lädt zum Empfang ein, weniger zum Blog-gen, Streiten, Intervenieren, beliefert uns mit allemErgötzlichen, erlaubt die stubensichere Fernbedie-nung der Welt, lockt nicht zur Einmischung.

Und die »Nogger Choc Vermisser«? Der Men-schenrechts-Blogger Abbas? Der Amateurkritiker auf 

 Amazon.de? Die werden weitermachen. Diese Kulturvon unten wird bleiben und wachsen, auch wennLaien scharenweise vor dem iPad knien wie Katholi-ken vor dem Tabernakel. Das Nützliche setzt sichdurch, modische Spielereien nutzen sich ab. DieSkepsis gegen Experten wird steigen, das Urteil er-fahrungsgesättigter Laien wird gefragt bleiben. Franzvon Assisi, der idiota, wird seit Jahrhunderten verehrt,seine dogmatischen Gegner sind längst vergessen.

Der Publizist und Philosoph Ludwig Hasler arbeitet alsKolumnist, Essayist, Vortragstourist. Sein jüngstesBuch heißt: »Des Pudels Fell. Neue Verführung zumDenken« (Huber Verlag, Frauenfeld)

Die Stunde

der LaienWie das Internet jeden zu einem »Experten«macht – zum Ärger der Eliten.Ein Essay von LUDWIG HASLER anlässlich der neuenAusstellung im Stapferhaus Lenzburg 

SCHWEIZ

CH

Digital leben»Schuhe aus!«, heißt es vonheute an in der   Ausstellung desStapferhauses Lenzburg »Home– Willkommen im digitalenLeben«. Barfuß, oder in diesemFall bestrumpft soll erlebbarwerden, was das Internet mituns anstellt. Soll heißen: OhneSchuhe auf weichem Teppich,wie zu Hause eben, begibt sichder Besucher in die Welt vonsechs Protagonisten. Jeder vonihnen ist ein digital native, alsoeiner, für den die digitale Weltbereits zum Alltag gehört. Elternund Freunde kommen zu Wort,Experten aus Wirtschaft undPsychologie diskutieren noch

bis zum 27. November die zu-nehmende Digitalisierung. Besu-cher können unter www.stapfer-haus.ch mitmachen.   Wie ver-ändert die Digitalisierung be-reits heute unser Leben? Exper-ten versuchen, Antworten zuliefern. Ohne anwesend zu sein,digital halt. Gut durchdachtund spannend – nicht nur fürdie Generation Internet. KD

Gegacker undGezwitscher: Online

findet Gehör, wer denSchnabel aufmacht

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