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ARBEITSGEMEINSCHAFT THEOLOGIE DER SPIRITUALITÄT Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität Studien zur Theologie der Spiritualität Band 2 Corinna Dahlgrün (Hg.) Tradition und Innovation in der Spiritualität Martin Luthers

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ARBEITSGEMEINSCHAFT THEOLOGIE DER SPIRITUALITÄT

Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität

Studien zur Theologie der Spiritualität

Band 2

Corinna Dahlgrün (Hg.)

Tradition und Innovationin der Spiritualität Martin Luthers

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ArbeitsgemeinschaftTheologiederSpiritualität(AGTS)

StudienzurTheologiederSpiritualität

Band2

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CorinnaDahlgrün(Hg.)

TraditionundInnovationinderSpiritualitätMartinLuthers

DokumentationderJahrestagungderAGTS

vom14.-16.September2017inWürzburg

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Impressum:

StudienzurTheologiederSpiritualität(Band2)

Online-Publikation

ISSN:2520-0569

HerausgegebenvonderArbeitsgemeinschaftTheologiederSpiritualität(AGTS)

Verantwortlich:Univ.-Prof.Dr.MichaelRosenberger(Vorsitzender),Bethlehemstraße20,A–4020Linz

www.theologie-der-spiritualitaet.de/publikationen/tagungsbaende

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INHALT

Einleitung 5

DieBedeutungderBibelvorderReformation 8BarbaraHenze

EinekatholischeSichtaufGottesWort 15DieHeiligeSchriftundLuthers„solascriptura“JosefFreitag

DieHerrnhuterLosungen 21EineinzigartigesKapitelWirkungsgeschichtevonLuthersSchriftverständnisPeterZimmerling

„Arsmoriendi“,„DieKunst,gutzusterben“,imSpätmittelalter 30BarbaraHenze

LuthersSermonvonderBereitungzumSterben–EineEinführung 41CorinnaDahlgrün

ChorälederReformation 49LutheralsLiederdichter CorinnaDahlgrün

Anhang1:FlyerderTagung 61

Anhang2:LuthersSermonvonderBereitungzumSterben(Auszüge) 63

Anhang3:Luther,VomKriegewiderdieTürken(Auszüge) 68

Anhang4:Choralsynopse(EGundGL) 76

Anhang5:DieökumenischeVesper 79

Anhang6:FlyerderAGTS 82

FrühereVeröffentlichungenderAGTS 84

AutorinnenundAutoren 85

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EINLEITUNG

DieArbeitsgemeinschaftTheologiederSpiritualität(AGTS)hatessichzurAufgabegemacht,die wissenschaftliche Auseinandersetzungmit geistlichen Phänomenen zu fördern und zukoordinieren.InihrenJahrestagungenbeschäftigtsiesichdarummitsehrunterschiedlichenFragestellungenausdemweitenSpektrumderSpiritualität, insystematischer,historischer,exegetischerwiepraktisch-theologischerPerspektive.

Zum Reformationsjubiläum stellte sich, wie viele andere wissenschaftliche und kirchlicheGruppen und Institutionen auch, die AGTS in ihrer Tagung im September 2017 einem„Lutherthema“,derFragenachTraditionundInnovationinderSpiritualitätMartinLuthers.AllerdingswolltenwirwenigerüberLutherreden–dazuistindenletztenJahrenbereitsviel,vielleicht zu viel, gesagt und geschrieben worden – als vielmehr auf die Stimme desReformators selbst hören und uns dazu mit einigen Schriften Luthers, wenigstens inAuszügen,befassen.DarumwardieTagungsoorganisiert,dassaufkurze, indieThematikeinführendeVorträge1jeweilseineausführlicheAuseinandersetzungmitdenTextenfolgte.Die Erträge dieser Auseinandersetzungen sind hier nicht dokumentiert, doch kannfestgehalten werden, dass immer wieder Erstaunen über die ökumenische Anschluss-fähigkeitdergeistlichenundtheologischenAusführungenLutherslautwurde:ErsetzteohneZweifel seine eigenen Akzente, doch muss diesen aus orthodoxer, katholischer oderfreikirchlicherSichtnichtnotwendigwidersprochenwerden.

DieTagungwarmitÜberschriftenüberdieverschiedenenEinheitenversehen,die,einweniginderManiervonKatechismus-Fragen formuliert, verschiedeneThemenundBereichederSpiritualität ansprechen2: Bedeutung und Verstehensmöglichkeiten der Heiligen Schrift inökumenischerPerspektive (1), Seelsorgeangesichtsdes Todes (2), die Fragenachethisch-politischenKonsequenzen geistlicher und theologischer Einstellungen (3) und – eingedenkderBezeichnungderReformationalseiner„Singebewegung“wieauchderBedeutungdesSingensfürdenGlauben–diereformatorischeLieddichtungundihreRezeptioninökumeni-schemKontext(4).

(1) Die drei Vorträge am Eröffnungsabend zur Bedeutung der Bibel für die Spiritualitätstandenunter derGesamtüberschrift: „Wie kannderMensch verstehen,wasGott zu ihmspricht? Das Schriftverständnis Martin Luthers im ökumenischen Dialog“3. BARBARA HENZErelativierte dazu zunächst die Bedeutung Luthers, indem sie die Rolle der Bibel für dieSpiritualitätinderZeitvorderReformationbeschrieb:BildlicheDarstellungenderlesendenMariawiesenaufeinegewisseVerbreitungderPraxisderBibellektüreimVolk,undfürdiekirchlichen Reformbestrebungen insbesondere der Dominikaner sei die BibelmaßgeblicheRichtschnurgewesen.Dassesdabei immerauchumdieFragedesrechtenGebrauchs,der

1DervorliegendeBandenthält–miteinerAusnahme–dieseVorträge.DiezitierteLiteraturistjeweilsamEndederBeiträgeineinerkurzenBibliographiezusammengestellt;dieverwendetenKurztitelsinddortkursiviert.2S.denFlyerderVeranstaltunginAnhang1.3Die Vorträge wurden öffentlich gehalten, sie waren also von vornherein nicht nur für ein Fachpublikumbestimmt.

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CorinnaDahlgrün

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„richtigen“Interpretationgegangensei,zeigtesiekritischamBeispielderReaktionLuthersaufdieaufständischenBauern.JOSEFFREITAGging–ebenfallsauskatholischerPerspektive–der Frage nach, wie es um das Einigungspotential der vielsinnigen Schrift in ihrenverschiedenen Teilen bestimmt sei und kam zu dem Schluss, dass die unterschiedlichenFrömmigkeitsformen, die aus den unterschiedlichen Auslegungen erwüchsen, alsBereicherunganzusehenseien.SeinFazit:„DasWortGotteseintmehralsestrennt.“PETERZIMMERLING untersuchte in der Darstellung der Entstehungsgeschichte der HerrnhuterLosungeneinenspezifischenAspektderWirkungsgeschichtederLutherbibel.Erzeigtedabei,daßGrafZinzendorf,derErfinderderLosungen,ebensowieLutherdiebiblischenWortealslebendigeStimmeChristiverstand,dieindiepersönlicheVerbundenheitderLeserinnenundHörermitdemAuferstandenenriefen.

(2)Das zweite Themader Tagungwar die Seelsorge angesichts des Todes in einer frühenSchrift Luthers: „Was mach’ ich mit der Angst vor dem Tod? Luthers Sermon von derBereitung zum Sterben“. BARBARA HENZE zeichnete zunächst den spätmittelalterlichenHintergrund nach, auf dem Luthers Schrift zu sehen ist, indem sie in Wort und Bild die„Bilder-Ars“ausderzweitenHälftedes15.Jahrhundertsvorstellte.CORINNADAHLGRÜNführtedaraufhin in den Sermon selbst ein, ergänzt um Anwendungsbeispiele aus TrostbriefenLuthersundkontrastiertmitBeispielenausderWirkungsgeschichtedesSermonsinGestaltvonEinspielungenverschiedernerChoralvertonungenausdenPassionen JohannSebastianBachs. Die Textgrundlage für das folgende Gespräch, Luthers Sermon, findet sich inAuszügeninAnhang2.

(3) Eine überindividuelle (und überdies sehr aktuelle) Perspektive der Spiritualität Lutherswurde imdrittenThemenbereichbetrachtet:„Bin ichnur fürmichalleine fromm?LuthersSchrift vom Kriege wider die Türken“. JOHANNES EHMANN, der mit seinem Vortrag in dieThematikeinführte,bittetalleTagungsteilnehmerinnenund–teilnehmerunddieLeserinnenund Leser dieses Bandes um Verständnis, dass er seinen bereits an verschiedenen Ortenveröffentlichten Vortrag nicht erneut für eine Veröffentlichung zur Verfügung stellenmöchte. Ich verweise alle Interessenten auf seine Monographien zu Luthers Türken-Schriften:

JohannesEhmann,LutherunddieTürken,LutherVerlagBielefeld2017(StudienreiheLuther15)undders., Luther,Türkenund Islam:EineUntersuchungzumTürken-undIslambild Martin Luthers (1515-1546) (Quellen und Forschungen zur Reformations-geschichte80),Gütersloh2008

InderVerlagsankündigungzu„LutherunddieTürken“heißtes:„Luther istaktuell.GeradeseinVerhältnis zudenTürkenund zum IslamseinerZeitbedürfen jedochderhistorischenAnalyse, bevor die Aktualität seiner Theologie behauptet oder auch bestritten wird. DieDarstellungversucht,eineGlorifizierungoderVerteufelungLutherszuvermeiden.HistorischgehtesumdieFrage:WashatLuthervomIslamwissenkönnen?Theologischgehtesdarum:Welche Fragen sind im Gespräch zwischen Christen und Muslimen gestellt?“ Generellversucht Ehmann in seinen Untersuchungen zu zeigen, dass Luthers Islambild zum einenkontextuell zu verstehen (die politische Bedrohung durch die Türken), zum anderen von

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Einleitung

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seinemSchriftverständnisund„DeutungswillenaufbiblischerBasis“bestimmt ist. Ehmannzeichnet die theologische Entwicklung nach, die Luther in der Beschäftigung undAuseinandersetzung mit dem Islam durchläuft: Er „schreitet von einer bußtheologischenüber die ethisch-politische Frage der Bekämpfung der Türken weiter zum Versuch einerapologetisch-polemischen, theologischen Würdigung des Islam“ (Jens Walter). 4 – DieTextgrundlagefürdasGesprächbotenwiederumAuszügeausLuthersSchrift(Anhang3).

(4)DasletzteThemaderTagungführteindenBereichliturgischerebensowieindividuellerSpiritualität: „… des Lied ich sing’? Lutherlieder in Evangelischem Gesangbuch undGotteslob“. CORINNA DAHLGRÜN führt zur Einstimmung in die Textarbeit an Lutherliedern(anhandeinerSynopsevonals„ökumenisch“gekennzeichnetenLiedernderReformations-zeit indenGesangbüchernderbeidengroßenKirchen,Anhang4) ineinigeBesonderheitenderdichterischenSpracheLuthersund inStilundGehalteiniger seinerChoräleein. InderGegenüberstellungderLiedfassungenindenverschiedenenGesangbüchernfielauf,dassdieVersionen des Gotteslobes gegenüber dem Original teilweise recht erhebliche, mitunterwohltheologischmotivierteVeränderungenaufwiesen.

IndenthematischenKontextderTagunggehörtauchdieökumenischeVesperzuPsalm90,insofern hier der Psalm, in vier verschiedenen Übertragungen – Die Gute Nachricht,Einheitsübersetzung, BasisBibel, Lutherbibel 2017 –, jeweils mit Auslegungen aus LuthersPsalmenvorlesungvon1534/35insGesprächgebrachtwird(Anhang5).

AllenAutorinnenundAutoren ist fürdieBereitschaft, ihreTexte fürdieseDokumentationzurVerfügungzustellen,herzlichzudanken.

Jena,inderPassionszeit2017 CorinnaDahlgrün

4Rezensioninlehrerbibliothek.de:http://lbib.de/Luther-Tuerken-und-Islam-Eine-Untersuchung-zum-Tuerken-und-Islambild-Martin-Luthers-1515-1546-53319,eingesehenam25.2.2018,19Uhr.

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BARBARAHENZE

DIEBEDEUTUNGDERBIBELVORDERREFORMATION

1 DIEBIBELALSWEGWEISUNGFÜRDASEIGENELEBEN

EinBildmotiv,dasbelegenkann,dassimSpätmittelalterdieBibelimalltäglichenLebenderMenscheneinenRaumeinzunehmenbegann,istdasderlesendenMariainKunstwerkenfürdenAdeloderdasgebildeteBürgertum.AnMariakonntemanerkennen,wiemansichselbstverhaltensoll.DieTod-Marien-DarstellungenbeispielsweisezeigenexemplarischchristlichesSterben. Wenn Maria liest und in welchem Kontext sie liest, lässt das Schlüsse auf dieVorstellungswelt der Künstler bzw. deren Auftraggeberinnen und Auftraggeber zu. Sowiedas Bild von der Verkündigungsszene als Hinweis darauf angeschaut werden kann, wieWohnhäuser gebaut und Räume eingerichtetwaren undwelche Kleidung Frauen trugen,1kannesauchAuskunftdarübergeben,wasman für schicklichhielt, dasseseineFrauwieMariainnerhalbdereigenenvierWändetut.UndgenausowiesichdasWohnungsinterieurderVerkündigungsszeneunterschiedenhat, jenachdem,obdieKunstwerkstatt aus ItalienoderausdenNiederlandenstammte,beschäftigtesichMariavorderAnkunftdesEngelsmitetwas anderem, nur, dass nicht die Kunstregion das entscheidende war, sondern dieVorstellungvonGebetundKontemplation.ObMariasticktoderobsiebetetundinderBibelliest,anihremBetpultknietunddieSchuheausgezogenhat,zeigt,wiemansicheineprivateAndachtvorstellte.2

EinBeispielfüreinVerkündigungsgemäldeausderZeitvorderReformationisteinBlattausdemStundenbuchdesMarkgrafenChristophI.vonBaden(1453-1527),eineHandschriftaufPergament,wahrscheinlich 1488 in Paris entstandenundum1519 restauriert.3Man siehtdieBegegnungdesErzengelsGabrielmitMaria(Lk1,26-38)undaufMariasSchoßliegteinBuch.AufdieFrage,wasMariagelesenhabenwird,kanndieAntwortnurlauten:DieBibel,und zwar Jes 7,14, die Ankündigung der Geburt des Erlösers durch eine junge Frau.Dermaßen informiert, so stellteman sichvor, konnteMariadieWortedesEngelsdeuten.Man erkennt ferner, dass unter dem Verkündigungsbild die Einladung zum Stundengebet(Invitatorium) steht: „Domine labia mea aperies. Et os meum annuntiabit laudem tuam“(Herr, öffne meine Lippen. Damit meinMund dein Lob verkünde) und die Eröffnung derTagzeiten „Deus in adiutoriummeum intende. Domine ad adiuvandumme festina“ (Gott,komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen). Schlug der Markgraf zu Beginn des

1Lüken,Verkündigung,277-312:„DasVerkündigungsgemäldealskulturgeschichtlicheQuelle“.2A.a.O.,286,291.3Digitalisiertmitderurn:nbn:de:bsz:31-20435vonderBadischenLandesbibliothekKarlsruhe,hierBl.19r.Derdirekte Link zu diesem Blatt lautet https://digital.blb-karlsruhe.de/blbhs/content/pageview/492681(14.2.2018).

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DieBedeutungderBibelvorderReformation

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morgendlichenGebetsseinGebetbuchauf,dannhatteerMariavorAugen,diedasgleichetat,wasaucherbeabsichtigte:sichindasWortGotteszuvertiefen.

DiedieBibellesendeMariaindemStundenbuchdesMarkgrafenisteinBeispiel.Abermankönnte einwenden, badischeMarkgrafen sindnicht dasVolk. Aus seinemStundenbuch zuschließen,dassdieBibelvorderReformation fürdieMenschenanBedeutunggewann, istriskant.InderTat,aberesgibtdielesendeMariaauchaufderAußenseiteeinesTriptychons,dessen Maße so sind, dass es weder in einer Klostergemeinschaft noch in einerKirchengemeindegenutztwordenseinkonnte.IngeöffnetemZustandmisstesnur36cmmal56cm.Dannzeigtes links JesuGeißelung, rechtsdieDornenkrönungund inderMittedenSchmerzensmann.EinsolchesTriptychonwurde imSpätmittelalter ineinemPrivathaushaltgenutzt.EsdientezurMeditationoderzumGebet.Wennmanesnichtsonutzte,quasi imTagesverlauf,warendieSeitenflügeleingeklappt.DannwardieVerkündigungzusehen,mitderdieBibellesendenMaria.4DasTriptychon,daswahrscheinlichvoneineroberrheinischenWerkstattstammt, isteinBelegdafür,dassamOberrheinnichtnurdieadligeOberschicht,sondern auch die Mitglieder der gebildeten Bürgerschaft, die sich ein solches Kunstwerkleisten konnten, das Vorbild der die Bibel lesenden Maria vor Augen hatten. Und zwarwährendihresTagesgeschäfts.AlsIdealfallwardaherangestrebt,wieMariasovertrautmitderBibelzusein,dasseineAnredevonGott–diemittenimAlltagpassierenkann–richtiggedeutetundverstandenwird.

DieFrageist,habendieMenschenaberauchselbstdieBibelgelesen?DreiSchwierigkeitenmusstendafürüberwundenwerden.ErstenswarenKritikerzuüberzeugen,diemitderBibelargumentierten(„derBuchstabetötet,derGeististes,derlebendigmacht“2Kor3,6),dassaufdemFeldderFrömmigkeitbücherloseUnmittelbarkeitdasBeste sei.5Zweitenswaresfür Kleriker ein Problem, dass sich auch Laien theologische Bildung aneignen wollten. Esgenüge,wenndiesedieZehnGebote,dasGlaubensbekenntnis,dasVaterUnserunddasAveMariakennen.6Unddrittensgaltesalshäresieverdächtig,wennLaieninderBibellasen,diedazu in die Volkssprachen übersetzt werden musste. Die Gefahr einer falschen Inter-pretationseibeitheologischUngebildetenerstrechtgegeben.7

Auch wenn die Zahl derMenschen, die um 1500 lesen konnten, nur einen Bruchteil derBevölkerungausmachte,istesdochbemerkenswert,dasszudemKreisderer,diesichimmerschonmitderBibelbeschäftigthaben,nuneinneuerPersonenkreishinzukommt.BisdahinwardieBibeleinerseitsbeidenOrdensleuten,andererseitsbeidenTheologenimGebrauch.BeideGruppenhatteneinenunterschiedlichenBlickaufdieBibel.FürOrdensleutewardieBibel Gebetbuch und gehörte zu ihrem Klosteralltag, für Theologen Rüstzeug, Material,

4 In Lüdke, Spätmittelalter, 357, findet sich eine Abbildung. Das „Triptychon für die Privatandacht mitSchmerzensmann“von1484stammtausdemHistorischenMuseumBasel,Barfüsserkirche.5Schreiner,Laienbildung,264f.6A.a.O.,273.7A.a.O.,288.

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BarbaraHenze

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Quelle für ihre Überlegungen über „Gott und dieWelt“. Als die Theologie ab demHoch-mittelalter„verschulte“,wosieandenaufkommendenUniversitätengelehrtwurde,konnteman verschiedene theologische Richtungen unterscheiden, die sich je anders auf die Hl.Schrift beriefen: die Ordenstheologie beispielsweise eines Bernhard von Clairvaux, dieTheologieeinesAbelardoderdieeinesHugovonSt.Viktor.8MitdengebildetenBürgerinnenund Bürgern schaute ein dritter Personenkreis auf und in die Bibel, und zwar in denAnliegen,dieihninteressierten.SienutztendieBibelalsspirituelleAnleitungfürihrLeben.Auch von anderen Büchern weiß man, dass sie in diesem Sinn gelesen wurden,beispielsweisedie„NachfolgeChristi“desThomasvonKempen.

2 DIEBIBELALSRICHTSCHNURFÜRDIEREFORMDERKIRCHE

EinBilddesausBresciastammendenKünstlersAlessandroMoretto(1498?–1554)ausdemJahr 1524 zeigt einen Ordensmann, einen Dominikaner, mit der Hand auf der Bibel. Diemeisten vonMorettos Auftraggebern gehörten zu dem Kreis seiner Heimatstadt, der derkatholischen Reformbewegung nahestand.9 Als ein Beispiel dafür gilt sein Gemälde derPersonifikation des Glaubens als eine Frau, die das Kreuz und einen Kelch hält. EinSpruchbandträgtdieAufschrift„Iustusexfidevivit“(„DerGerechtelebtausdemGlauben“,Röm1,17)von1540undebendasBildeinesDominikaners,dernachallgemeinerMeinungGirolamoSavonarola(1452-1498)darstellt.10

Bei Savonarola verband sichdiepersönlicheSuchemitder SuchenachReformvonKircheundGesellschaft,und inbeidenFällen spieltedieBibeldieentscheidendeRolle.So saheszumindestseinPorträtistMoretto.EinePredigt,dieSavonarolaüberGen12,1 („Ziehe fortaus deinem Land“) gehört hatte, arbeitete ein Jahr in ihm, bis der Entschluss reif war,tatsächlichseineHeimatstadtFerrarazuverlassen.11IndemBriefanseinenVater,denerzurErklärung für sein unangekündigtes Weggehen von daheim und den Eintritt in denDominikanerorden verfasst hat, schreibt er: „Der Grund, der mich bewegt, in ein Klostereinzutreten, ist vor allem dieser: zunächst das große Elend der Welt, die Bosheit derMenschen, die Schändungen, die Räubereien, der Stolz, der Götzendienst und die rohenGotteslästerungen,dennunsereZeitistzueinersolchenStufederVerruchtheitgekommen,daßsichniemandmehrfindet,derrechthandelt.“12Savonarolawardavonüberzeugt,dassVieles in der Gesellschaft, in seiner Stadt Florenz, geändert werden musste. NichtkirchenrechtlicheDokumentebewegtenihndazuoderAnweisungenvonoben,sonderndieBibel.DaseineArgumentefürReformausderBibelkamen,konnteersichsichersein,dass

8Karpp,Bibel,64f.9Schneider,Kunst,251.10Ebd.11O‘Collins,InspiringPower,271f.12GirolamoSavonarola:BriefandenVaternachdemEintrittinsKloster25.4.1475,zitiertbeiBernhardt,GestaltSavonarolas,31.

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DieBedeutungderBibelvorderReformation

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esPersonenkreisegab,die ihnverstanden.DereinePersonenkreiswarendieOrdensleuteausdenBettelorden,zudenenerselbstgehörte.13DeranderePersonenkreiswarendie,dieseit dem Konzil von Konstanz auf Reform warteten. Das Konzil war ja fruchtlos zu Endegegangen, denn von den vielen Aufgaben, die es anpacken musste, hat es nur dieLeitungsfrageinderKirchegelöst.VorallemdasProblemderFinanzenwarnochunerledigt,vielmehr durch das Konzil noch verschärft worden.14 Savonarolawollte die große ReformzumindestvorOrtrealisieren.FürDeutschlandzeigtdieum1440entstandene„ReformatioSigismundi“,wieselbstverständlichauchdort imöffentlichenLebenderMaßstabderBibelwar.15

3 WIEWIRDDIEBIBELRICHTIGINTERPRETIERT?

DasgewaltsameEndevonGirolamoSavonarola,deralsKetzerhingerichtetwurde,belegt,dassindemMoment,wodieSchlussfolgerungen,diemanausderBibelzieht,Konsequenzenhaben, die über den individuellen Bereich hinausgehen, zur Debatte steht, wie dieSchlussfolgerungen zustande gekommenundob sie gut begründet sind.Wennes sich beidenKonsequenzenumÄnderungsvorschlägehandelt,diefürganzeGruppen(„die“Bischöfe,Kardinäle, Kirchenleitungen) oder Gesellschaften (der Adel, die Städter, die Land-bevölkerung) einschneidend sind, dann ist Kritik unausweichlich. Und es ist nicht immererkennbar,obeineals„falsch“erklärteBibelinterpretationtatsächlichfalschist,oderobihreKonsequenzenunangenehmsindunddaherdieInterpretationfalschsein„muss“.

EinbrisanterFallimÜbergangvomSpätmittelalterzurNeuzeitwardieSchriftinterpretationder Bauern. An ihr und ihrer Bewertung durch Martin Luther kann man erkennen, dassVertrautheitmitderBibelund„richtige“Schriftinterpretationnichteinfachzuerreichen,understrechtnichtzudekretierenist.

AmOberrheinwar es seit 1493 immerwieder zu Bauernunruhen gekommen, so dass derAufstand der Stühlinger Bauern im Juni 1524 zunächst für eine Fortführung der altenAufständegehaltenwurde,zumalsichanderschwierigenLagederBauernnichtsverbesserthatte.AberunterdenReformen,diedieBauernforderten,warennunauchsolche,diedenEinfluss reformatorischenGedankenguts verratenund: die alten Forderungenwurdenneubegründet,nämlichmitBelegenausderHl.Schrift.EinberühmterForderungskatalogwarendie „Zwölf Artikel“ ausMemmingen, hinter die sich deutschlandweit viele Bauerngruppenstellten. Sie beginnen: „Erstens ist unsere demütige Bitte und Begehren, auch unser allerWilleundMeinung,dasswirvonnunanGewaltundMachthabenwollen,dasseineganzeGemeindeihrenPfarrerselbsterwähltundprüft(1Tim3[,1–7];Tit1[,6–9];Apg14[,23]).Sie

13Springer,DominikanischeReform.14FürdieReformversucheaufdemKonzilvonKonstanzvgl.Henze,WiegeschiehtReform,293-305.15Karpp,Bibel,67.

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sollauchGewalthaben,diesenwieder zuentlassen,wenner sichungebührlichverhält.“16Auf den erstenBlick könntemandenken, dass es umdenneuenHandlungsspielraumderBauern geht, sie wollen „Gewalt und Macht haben“, wollen „wählen und prüfen“ und„entlassen“.Theologischausgedrücktsähemandannhinterdemerstender„ZwölfArtikel“dieRealisierungdes „AllgemeinenPriestertumsallerGläubigen“oderersteAnzeichenvonGemeindeautonomie. Aber wenn man sich die Begründungszusammenhänge genaueranschaut,wirddeutlich,dassdieBetonungnichtaufdemliegt,wasdieBauerntun,sondernaufdem,wassiedurchihrTunerreichenwollen,nämlicheinengutenPfarrerzubekommen.WarumfordertendieBauerngutePfarrer?Weilihnenklargewordenwar,dasssieohnedierechteAuslegungderBibel ihrLebenfalschleben.Siefahrenfort:„DiesererwähltePfarrersoll uns das heilige Evangelium lauter und klar predigenohne jedenmenschlichen Zusatz,LehreundGebot(Dtn17[,9–13];Ex31[,1–6];Dtn10[,22f]).DenndiesteteVerkündigungdeswahrenGlaubensveranlasstunsdazu,GottumseineGnadezubitten,unsdiesenwahrenGlaubeneinzuprägenundinunszufestigen.DennwennseineGnadenichtinunseingeprägtwird,bleibenwirstetsFleischundBlut,dasdannzunichtsnützeist(Joh6[,63]);sostehtesdeutlich inderSchrift,dasswiralleindurchdenwahrenGlaubenzuGottkommenkönnenundalleindurch seineBarmherzigkeit seligwerden (Gal 2[,16]).Darum ist unsein solcherAnführerundPfarrervonnötenundindieserWeiseinderSchriftbegründet.“17

DieBauernwarenweitdavonentfernt, sichdie lesendeMariaalsVorbild zunehmenundselbstdieBibel zu lesenundauszulegen.UndsiehattenauchnichtdasSelbstbewusstsein(und die Verantwortung) Savonarolas, von anderen die gleichen Konsequenzen aus derSchriftzuerwarten,wiesiesieselbstzogen.MitBlickaufihreigenesLebenundihreigenesSeelenheilwollten sie lediglich dafür sorgen, einen gutenAusleger derHeiligen Schrift alsPfarrer zu bekommen.Wenn jederMensch selbst Rechenschaft über seinenGlauben undsein Leben ablegenmuss, ein rechter Glaube und ein christliches Leben aber ohne Bibelunmöglichist,dannwolltensiedasinihrerMachtstehendetun,umeinenZugangzurBibelzugewinnen,unddaswarfürdieBauern:füreinengutenPfarrerzusorgen.

VonMartinLuthergibteszweiSchriften,diesichmitderBauernproblematikbeschäftigen.Die eine, „Von den mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“, wird (zu Recht)herangezogen, um zu zeigen, wie grausam und unmodern Luther war. Die andere,„ErmahnungzumFriedenaufdieZwölfArtikelderBauernschaftinSchwaben“,argumentierttheologisch.Luthererklärt,dasssichdieverschiedenenReformvorschlägeundForderungender Bibel tatsächlich mit der Bibel begründen lassen. Die eingebauten Bibelzitate seienkorrekt. Aber, schreibt er, an die Bauern gewendet: Eure Hermeneutik stimmt nicht, derHintergrund,aufdemIhrdieBibelinterpretiert,istfalsch.WarumwarerfürLutherfalsch?WeildieBauernder„ZwölfArtikel“keinechristlichenBauernseien.WoranerkenntLuther

16Leppin,Quellen,131.17Ebd.

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DieBedeutungderBibelvorderReformation

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das?Weil dieBauernnichtChristusnachfolgen. InderNachfolge vonChristuswürden siesichinDemutinihrSchicksalergeben.Dastunsieabernicht.DaheristihreBibelauslegungfalsch. Gibt es (k)eine richtige Bibelauslegung im falschen Leben? Und wer legt fest, wasrichtigundfalschist?

Literatur:

Die grundtlichen und rechten Hauptartikel aller Baurschafft und Hyndersessen derGeistlichen und Weltlichen oberkeiten, von wölchen sy sich beschwert vermainen,Regensburgca.1525,digitalisiertunterurn:nbn:de:bvb:12-bsb10200150-0(26.2.2018).

Bernhardt, Oliver,Gestalt undGeschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur.VonderFrühenNeuzeitbiszurGegenwart,Würzburg2016.

Henze, Barbara,Wie geschieht in der Kirche Reform und wer trägt sie? Vom Konzil vonKonstanzvor600JahrenbiszurEuropäischenÖkumenischenVersammlunginBaselvor25Jahren, in:VonderReformationzurReform.NeueZugängezumKonzilvonTrient,hg.vonGünterFrank,AlbertKäufleinundTobiasLicht,Freiburg-Basel-Wien2015,289-352.

Karpp, Heinrich, Bibel IV. Die Funktion der Bibel in der Kirche. 2.2. Hochmittelalter 2.3.SpätesMittelalter,in:TheologischeRealenzyklopädie6(1980)63-70.

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Schneider, Norbert, Die antiklassische Kunst: Malerei des Manierismus in Italien, Berlin-Münster2012.

Schreiner, Klaus, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. ReligiöseVorbehalteundsozialeWiderständegegendieVerbreitungvonWissenimspätenMittelalterundinderReformation,in:ZeitschriftfürHistorischeForschung11(1984)257–354.

SpätmittelalteramOberrhein:MalerundWerkstätten1450-1525.AusstellungundKatalog,hg.u.a.vonDietmarLüdke,Stuttgart2001(=GroßeLandesausstellungBaden-WürttembergSpätmittelalteramOberrheinTeil1).

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BarbaraHenze

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Springer, Klaus-Bernward, Dominikanische Reform und protestantische Reformation, in:WortundAntwort58(2017)50-56.

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JOSEFFREITAG

EINEKATHOLISCHESICHTAUFGOTTESWORT

DIEHEILIGESCHRIFTUNDLUTHERS„SOLASCRIPTURA“

ImAnfangmeinesStudiumsinRom(1970)konnteichinder„EinführungindasMysteriumChristi“meineHausarbeitschreibenüber„DieTheologiedesWortesGottes“.FündigwurdeichbeiKardinalVolkundinderOffenbarungskonstitutiondes2.VatikanischenKonzils.EineTheologiedesWortesGotteswarinderNeuscholastikkaumentwickelt!Im20.JahrhunderthateinnachhaltigesUmdenkeneingesetzt,angestoßenvonderFrage,wieGottsichmitteilt,d.h.vonseinerSelbstoffenbarungher.

BisdahinwarinderkatholischenKircheundTheologiem.E.derpraktischeUmgangmitdemWortGottesvielsprechenderundaussagekräftigeralsdietheologischeReflexionaufGottesWort– trotzderReformation, vielleichtweildem„sola scriptura“ („alleindieSchrift“)dasPrinzip„SchriftundTradition“entgegengestelltwurde.

WieistdasWortGottesalsGottesWortzuverstehen?

Als Jesus sich in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth vorstellt, liest er aus demProphetenJesaja(61,1f)vorundbeginntseineAuslegung:„HeutehatsichdasSchriftwort,dasihrebengehörthabt,erfüllt.“(Lk4,16-30,hier20)AlsPetrusdasPfingstgeschehen,dasKommendesGeistes,klärensoll,weileinigesagen:“Diesindbetrunken“,greifteraufdieSchriftzurückundlegtmitGottesWortdar,washiergeschieht,dassnämlichGottseinWort,daserinderGeschichtedesVolkesIsraelunddurchdieProphetenzugesagthat,jetzterfülltundendgültigwahrmacht.PetruserkenntundverstehtGottesbisherigesWortausGottesWirkenundsowirklichalsGottes(wirkendes)Wort,dasindenSchriftenIsraelsgesammeltundüberliefertist.

WastundieChristen?SielesennatürlichindiesenSchriftenIsraelsundsehendarinGottesWort.PauluszeigtausdenSchriftenIsraelsheraus,dieeralsWortGottesliest,denGlaubenanJesusalsdenChristusauf–vordenJudeninallenSynagogen–woerauchhinkommt.InPhilippiliestPaulusvordenGottesfürchtigenGottesWortundlegtesaus;dassprichtLydia,einer Purpurhändlerin aus Kleinasien, die selbst keine Jüdin ist, sondern eine derGottesgläubigen,diedenJudenwegenihresGlaubensannureinenGottzugewandtsind,sozuHerzen,dasssiePaulusbzw.demWortGottesglaubtundanOrtundStellegetauft,alsoChristinwird.SietutdaraufhineinenzweitenSchritt:„Wennihrwirklichmeint,dassichzumGlauben an denHerrn gefunden habe, dann kommt inmein Haus und bleibt da. Und siedrängteuns.“(Apg16,15)PaulusundseineGefährtenbleibeninihremHaus!DasGeschehenkannmansichgutvorstellen.Theologischheißtdas:AmWortGottes,an IsraelsSchriften,machtPaulusaufgrunddesinundmitJesusGeschehenendenGlaubenanJesusalsChristusund damit an das Evangelium klar. Aus dem Hören auf Gottes Wort und das Christus-

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JosefFreitag

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geschehen wird Gottes Wort als Wort Gottes, nicht nur des Paulus, verstanden. AuchNichtjuden verstehen es, werden gläubig, lassen sich taufen, werden Christen, setzen ihrChristseininHandelnundHaltungum.DerVerkünder,hierPaulus,bestätigtdenGlaubenandasWortGottesdurchdieTaufeundspürbardurchdieeigeneReaktion:Er lässt sichvonLydiaaufnehmen.DasWortGotteswirktbeiihrundbeiihm.InseinemerstenBrief–andieThessalonicher – schreibt Paulus: „Darum dankenwir Gott unablässig dafür, dass ihr diesWortGottes,dasihrdurchunsereVerkündigungempfangenhabt,nichtalsMenschenwort,sondern–wases inWahrheit ist–alsGottesWort, angenommenhabtund jetzt istes ineuch,denGlaubendenwirksam.“(1Thess2,13)

PaulushatnichtnurausderSchriftGottesWortvorgelesen,erhatdiesvorgeleseneWortausgelegt. Die Leute glauben seinem Wort, aber eben als Wort Gottes, als GottesVerkündigungansie.EsgibtdasZeugnisderSchrift,esbrauchtdielebendigeVerkündigung;siewecktdenGlauben;dieHörerglaubennichteinfachPaulus,sieglaubenGott.DasWortGottesbegegnetihnenimMenschenwort.

PaulussprichtundschreibtGriechisch,inihrerSprache.ErhatihnendasWortGottesauchnicht auf Hebräisch, in dem es ursprünglich niedergeschrieben worden ist, sondern inGriechisch,inderjüdischenÜbersetzungderSchrifteninsGriechische,derSeptuaginta,vor-gelesen.WaseralsZeugnisundAuslegungdesWortesGottesunddesChristusgeschehensschreibt,alsoseinZeugnis inseinen Briefen,wirdderGemeinde imGottesdienstalsWortGottesvorgelesenundausgelegt,eswirdalsWortGottesvonihrgehört.SeineBriefewer-dengesammeltundauchinanderenGemeindenalsWortGottesvorgelesen.

DiesePraxisergibtsichausdertragenden,sehreinfachenGrundüberzeugung:Gottsprichtwirklichmit seinem Volk – damals wie heute.Was er sagt, wird durch Zeugen weiterge-geben, diese selbst oder Hörer können es in Texten aufzeichnen, die dann Gottes Wortwidergebenundsind–undalssolcheGlaubenwecken.DergemeineMannunddieeinfacheFraukannsoGottesWortverstehen.SieverstehenesmitdemHerzen,sieverstehenesmitihremLeben,mitderAntwort,diesiemitihremBekenntnisundihremneuenLebendaraufgeben.HansUrsvonBalthasarhatdasamMenschgewordenenWortGottes,anJesusselbst,abgelesenundauf eine „Formel“ gebracht:AnderAntwort habenwir dasWort, zuerst inJesus und seiner Lebensantwort auf Gottes Wort, dann in der Lebensantwort und demZeugnisdesGlaubenden,immenschlichen,inunseremZeugnis(vgl.Joh18,21).ZuhöchstimSchriftgewordenenWort,demGlaubenundKirchegründendenWort.

Ohnedasswirestun,ohnedasswiresleben,wirddasWortnichtGottesWortfüruns.DasstimmtnochaufursprünglichereWeise.DieTextederHeiligenSchriftsind janichteinfachDiktate des lebendigen Gottes, sondern sind Berichte und Erzählungen davon, wasbestimmte Menschen von Gott vernommen, erlebt, verstanden und wie sie sichdementsprechend verhalten haben. In der konkreten Gestalt ihrer menschlichen AntworthabenwirdasWortGottes.DasJohannesevangeliumerzähltesanganzzentralerStelle.Als

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EinekatholischeSichtaufGottesWort

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JesusvorPilatusstehtundvonihmgefragtwird:„BistduderKönigderJuden?(Joh18,34),fragtJesuszurück:„Sagstdudasvondirausoderhabenesdirandereübermichgesagt?“Und als Jesus nach seiner Lehre gefragt wird, sagt er: “Ich habe offen vor aller Weltgesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Judenzusammenkommen:NichtshabeichimGeheimengesprochen.Warumfragstdumich?Fragdoch die, die gehört haben, was ich geredet habe.“ (Joh 18,20-21) Was Jesus sagt, wirdzugänglich im Zeugnis der Hörenden. Das ist Gotteswort inMenschenwort. Das bleibt soauchindenfolgendenGenerationen:inderTraditiondesWortesGottesunddesGlaubens.InsoferngibtesGottesWortfürunsnieohneTradition,ohneauslegendesTradieren.

IndenerstenGemeindenwerdendieBriefedesPaulus,baldauchdieEvangeliengelesen.ImPrinziphatmandengleichenText,abereristnichtimmergenaudergleiche.BeiDifferenzenimWortlautergibtsichdieFrage:WelcheVersionistdennnunGottesWort?Sokommtesinden Gemeinden und zwischen den Gemeinden/Kirchen zum Interesse daran, einen allengemeinsamenverbindlichenTextzuhaben,denmanüberdiesnachaußenvorweisenkann.DamitentstehtauchdieFrage,welcheTextedannverbindlichGottesWortsindundwelchenicht.EsentstehtdieFragenachdemgenauenUmfang,demKanonderhl.Schrift:WelcheBücher (biblia) gehören in welchemWortlaut zum einen Buch (biblion)? Und in welcherSprache und in welchen Sprachen, d.h. Übersetzungen, wird Gottes Wort authentischzugänglich?Istauchdiesyrische,lateinischeoderchinesischeÜbersetzungGottesWort?

So sehr das Wort Gottes an seinen konkreten sprachlichen Ausdruck, an einen exaktenWortlaut,anseineursprünglicheSpracheundSprachgestaltgebundenist,kanneszugleichnichtdarauffestgenagelt,garbeschränktwerden.EsistundbleibtvonAnfanganinandereSprachen übersetzbar. Die eine Schrift Alten und Neuen Bundes ist von vornherein min-destenszweisprachig:HebräischundGriechisch.DasinsGriechischeübersetzteHebräischistfürdennurGriechischverstehendenHörerebenfallsauthentischGottesWort.UnddasgiltgrundsätzlichfüralleSprachen,somachtdasPfingstgeschehendeutlich,dennallekönneninihrerMuttersprachedieGroßtatenGottesverstehenundpreisen.

Nachwelcher Sprache undwelchemText sollman sich fürÜbersetzungen richten?DamitsindwirbeiLutherunddem16.JahrhundertmitseinemhumanistischenSprachbewusstsein.Offiziell hörten sie den Text im Gottesdienst auf Latein, das war die Liturgiesprache.Ausgelegt und gepredigt wurde auch auf Deutsch, es gab auch schon DeutscheBibelübersetzungen. Was ist jetzt der verbindliche Text des Wortes Gottes? Und wennübersetzt wird, aus welcher Sprache und aus welchen Textzeugen? Aus der lateinischenVulgata?BesserausdemUrtext,demgriechischenNTunddemhebräischenAT?Oderausdem AT der Christen, der griechischen Übersetzung und Sammlung des AT, also derSeptuaginta? Luther entscheidet sich als guter Wissenschaftler für den Urtext. Das istphilologisch völlig korrekt. Die katholische Kirche entscheidet im Konzil von Trient etwas

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JosefFreitag

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anders.Siesagt:SeitdenZeitenvonHieronymus,seitdem5.Jahrhundert,habenwirinderlateinischenVulgata das Evangeliumgehört und gelesen, habenwir andiesemText unserVerstehengeschärft,unsereTheologieentwickelt.DannmussdochdieserTextderVulgataGrundlagederDiskussionund theologischbeweisfähig sein können, sonsthättenwirüber1000 JahreeineunzulänglicheoderunzulässigeGrundlage fürdieEntwicklungvonGlaubeund Theologie gehabt. Die Konzilsväter von Trient bestreiten nicht den Wert und dieAuthentizitätderUrtexte,aberhaltenfest:AuchdieVulgataistverbindlich.Dennsiebietetden Text, nach demwir dasWort Gottes verstanden haben. Sie ist der Text – um esmitLutherzusagen–,derGlaubengewecktunddiegemeinsameBasisfürdasNachdenkenüberden Glauben dargestellt hat. Die Vulgata hat die Sprache der Liturgie und der Theologiegeformt.

Nehmenwiran,wirverstehendasWortGottesheuteaufDeutsch–wieesinderReforma-tion emphatisch von Gemeinden und Theologen begrüßt und erfasst worden ist. HeutehörenwiresfastausschließlichaufDeutsch: inderKirche,beimSchriftgespräch,beivielenGelegenheiten,meistauchimTheologiestudium.Offensichtlich ist,dasswirChristenundafortiorialleMenschennichtalleTextegleichverstehen.ÜberdieDifferenzenimVerstehenkönnenwirimguten,konstruktivenSinnmitdemWortGottes,überdasWortGottesundimWort Gottes miteinander ins Gespräch kommen und gerade in der AuseinandersetzungtieferindasWortGottesundtieferzueinanderkommenundKirchewerden,vielleichtsogareineKirche.

Ist nur ein echtes Verständnis des Textes möglich oder sind mehrere Verständnisse desgleichenTextesmöglich?WennSiedenken,derAutorwolltedochetwasganzbestimmtessagen, und seine Aussageabsicht muss ich verstehen und übernehmen, dann gibt essinnvollerweiseeinenGrundsinndesTextes.

Wenn ich umgekehrt sage: Das Wort Gottes will gehört, will verstanden, will mit demeigenenHerzen begriffenundmitdemeigenenLebenbeantwortetwerden,dannkannessein, dass die gleiche Geschichte in verschiedenen Lebenszusammenhängen andereReaktionen wachruft und andere Antworten erfordert. Dieselbe Geschichte, dieselbeAufforderung(folgemirnach!)kanndannmehrereSinneentfalten.Gegenwärtigmachtdasvor allen Dingen die sogenannte Rezeptionsästhetik auch wissenschaftlich deutlich.Demnach kann der gleiche Text verschiedene Auslegungen gewinnen – je nach Hörerin/Leser.SokannunserLeben,alsRezeptiondesWortesGottes,indieWirklichkeitderBezeu-gungdesWortesGotteseingehenundsowiederneuesVerstehenfreisetzen.DasgeschiehttatsächlichimProzessderÜberlieferung.EsentstehenneueTraditionenoderGestaltendes(gelebten) Wortes Gottes (ob in Übersetzungen wie der Lutherübersetzung, ob inBach’schenPassionenoder in verschiedenenOrden, sogar in verschiedenenRiten(kirchen)oderchristlichenKulturen).DanngibtesdasWortGotteskonkretnichtohneTradition,ohnedass es überliefert wird; Überlieferung vollzieht sich immer in konkreter Gestalt. Es kann

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EinekatholischeSichtaufGottesWort

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nichtnurbeiderUrsprachebleiben;eskannauchnichtnurdieAuslegunggeben,diePaulusgeliefert hat (oder bei ihr bleiben). Die Glaubensweitergabe, die Tradition, kann nicht beieinerÜberlieferungsgestaltstehenbleiben.Traditionmussweitergehen,musssichentfaltenkönnen;doch ihreEntfaltungenmüssen imGesprächuntereinanderbleibenundsichaucheinigen.

In diesem Prozess kann die Schrift – und das ist im 16. Jahrhundert passiert – in diesenverschiedenenAuslegungendazugebrauchtwerden,dasjemandsagt:„IchberufemichaufdieSchriftunddeswegenhabeichRechtunddukannstnichtRechthaben.“DasscheintdienormaleLogikzusein.EsgibtnureineAuslegung.DahermüssendieVertretereineranderenAuslegung aus der bisherigen Lesegemeinschaft herausgeworfen werden (oder -fallen).Konkret zunächst aus der katholischen, später auch aus der – oder einer etablierten –evangelischenKirche.DieSpaltungoderTrennungkannvonbeidenSeitenausgehen.

Ichkannauchumgekehrtfragen–unddasistzurZeitunsereTendenz:„Wiestehtesdenninder Schrift?“ So hat Jesus schon gefragt, als er gefragt wurde, wie das ewige Leben zugewinnensei.„WasstehtimGesetzgeschrieben?Wasliestdu?“(Lk10,25f)Dannkannmangemeinsamschauen.Dereinehatdasentdecktundderanderejenes.Könnteessein,dasssichbeidesmiteinanderverträgtstattsichauszuschließen?Dassessichgegenseitigergänzt,gegenseitig vor Einseitigkeit bewahrt, gegenseitig kritisch oder konstruktiv erhellt oderherausfordert?

MitdiesemGedankenfolgtganzkurzdieeigentlicheThese,dieichvortragenmöchte:EsgibtnichtnureinenSinnderSchriftoderbestimmterSchriftstellen.AbervomWortderSchrifther,weiles imEndeffekteines ist,nämlichGottesWortanuns, indenNuancenunddemZusammenspielvielerStellenundmanchermöglicherAuslegungen,kannmanzueinerLese-und dann auch Lebensgemeinschaft kommen, ohne dass die Schrift oder Wort Gotteseinsinnigodereng,garausschließendwird.VondaherhatdieeineSchriftinderVielzahlundVielfalt (und konstruktiven Spannungen) ihrer Schriften (Bücher und Geschichten) ein un-geahntes, vielfältiges, reiches, überraschendes Einigungspotential. Es istmöglich, in BezugaufdieSchriftundihregrundlegendenAussagenundvonihr/ihnenhereinigzuseinundzuwerden, auch bei unterschiedlichen Gestalten und Praxen des Glaubens. Sie sind jeweilskonkretzuprüfenundinihremVerhältniszurOffenbarungundzumGlaubenzuklären.BeiandererPraxisoderanderemVerstehenmussmandemanderenChristennichtsofortseinChristsein absprechen oder ihn ablehnen.Wir könnten entdecken lernen, wie wir uns andiesenStellengegenseitigbereichern,ergänzen,vielleichtauchkorrigierenoderdeneigenenBlinden Fleck erkennen und so sagen:Diese Erfahrung des anderen brauchenwir geradejetzt oder gegenüber dieser Entwicklung. Das Wort Gottes und die Schrift gilt es alsgemeinsamen, verbindenden Reichtum zu entdecken, dann kann das Wort Gottes stattseines Trennungspotentials sein Einigungspotential und seine verbindende Kraft entfaltenundwirksamwerdenlassen.

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JosefFreitag

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JedenfallswirktesvorallerTrennungzuerstundbisheuteundgrundlegenddenGlauben.Erst in dieser grundlegenden Einigung der Glaubenden kann es überhaupt Trennungs-potential entfalten; aber es bleibt immer überholt von seinem Glauben schaffendenPotential und von seinem Einigungspotential, denn nach Gottes Wort will sich jederGlaubenderichten.

Wenn und weil wir GottesWort verstehen, wollen Christen zusammenkommen und sichgegenseitig verstehen, gerade inGottesWort und von ihm her – damit dieWelt glaubenkann.DasWortGotteseintmehralsestrennt.

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PETERZIMMERLING

DIEHERRNHUTERLOSUNGEN

EINEINZIGARTIGESKAPITELWIRKUNGSGESCHICHTEVONLUTHERSSCHRIFTVERSTÄNDNIS1

1 DIEERFINDUNGDERLOSUNGEN

Der Erfinder der Herrnhuter Losungen war Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), einer der bedeutendsten und umstrittensten evangelischen Theologen des 18.Jahrhunderts. Die Losungen entstanden am Ende der 1720er Jahre im Rahmen der nochjungen Herrnhuter Brüdergemeine, die in der Folgezeit durch ihre Missions- undDiasporaarbeit weltweit expandierte. Beim Tod des Grafen gab es auf allen damalsbekanntenKontinentenHerrnhuterSiedlungen.

AlsZinzendorfam3.Mai1728inderabendlichenSingstundederHerrnhuterGemeineeineLosungfürdennächstenTagmitgab,hatsicherniemanddamitgerechnet,dassdamiteineatemberaubendeErfolgsgeschichtebegann. InzwischensinddieLosungendasmitAbstandamweitestenverbreiteteAndachtsbuchdesProtestantismus.DieersteLosunghatderGrafselbstgedichtet:„Liebehatihnhergetrieben,LieberissihnvondemThron.Undichsollteihnnichtlieben?“2VondaanwurdeesfesteSitte,dasseinodermehrereGemeindegliedereinkurzesWortausderBibelodereineLiedzeileamMorgenindiedamals32HäuserHerrnhutsbrachten. Aus dieser ersten Phase der Losungen ist nur ein Fragment aus dem Jahr 1729erhalten,dasvom1.Januarbiszum14.Septemberreicht.3

1731 wurden die Losungen erstmals gedruckt, von Zinzendorf selbst zusammengestellt.4Seitdem sind sie bis heute in ununterbrochener Folge im Druck erschienen. Schon beimerstengedrucktenBüchleinfindetsichdiecharakteristischeVerbindungvonBibelwortundLiedvers.BisweilenbildetallerdingsaucheinLiedversdieLosungundisteineBibelstellezumNachschlagenbeigefügt.

Heuteerscheinendie Losungen in ca.50SprachenaufderganzenWelt, vonAfrikaansbisTürkisch,mit einerGesamtauflage von über 1, 7Millionen. Im Schnitt kommt derzeit allefünf Jahre eine neue Sprache dazu. In Deutschland sind auch Ausgaben für Blinde undSehbehinderte, eine Losung für Gehörlose und seit neuestem ein Losungsbuch fürJugendlicheundjungeErwachseneerhältlich.5

1DiefolgendenÜberlegungenhabeichausführlichvorgetrageninmeinemBuch:DieLosungen(2014).2 Vgl. dazu Beyreuther, Zinzendorf-Trilogie, 208; Schiewe, Losungen, 10f. Heute findet sich der Vers – leichtabgewandelt–in:Gesangbuch,Nr.567,2.3vonZinzendorf,Sammlung,imAnschlussandieVorrede(unpaginiert).FastalleimFolgendenzitiertenWerkeZinzendorfssindwiederabgedrucktindervonErichBeyreutherundGerhardMeyerinitiiertenReprintausgabeimOlms-Verlag,Hildesheim1962ff.4A.a.O.,1–52.5Motel,Losungen,48–54.

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PeterZimmerling

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Die Gestalt der Losungen hat sich in der zurückliegenden Zeit immer wieder verändert.Besonders zur Zinzendorfzeit lässt sich eine große Experimentierfreude und Gestaltungs-vielfalterkennen.Biseinschließlich1761besorgtederGrafalleLosungsausgabenselbst.Erstellte die einzelnen Losungsworte aus sehr unterschiedlichen Spruchsammlungen zusam-men.Siewurdenwohlauchnichtimmerausgelost.Eserschienenz.B.thematischeLosungs-jahrgänge:1734kamendieLosungenausdenPsalmen;1736enthieltensienurAussprücheJesu. Seit 1741 ließ Zinzendorf parallel zum Losungsbuch wechselnde Text- und Lektions-büchlein drucken, diemit den Losungen inhaltlich nichts zu tun hatten.6 Die Textbüchleinenthielten z.B. einen Jahrgang lang „Lammes-Texte“, Bibelworte über Jesus Christus alsErlöser.EsgabaucheinenJahrgangmitTextenüberdenHeiligenGeistalsMutterundüberdieDreieinigkeitalsgöttlicheFamilie.DieseTextbüchleinstellten imGrundekleinetheolo-gischeAbhandlungendar,worausspäterderName„Lehrtext“entstand.DieheuteüblicheEinheitvonLosungundLehrtextentwickeltesichendgültigerstim20.Jahrhundert–parallelzudemVorgang,dassdasLosungsbuchzueinempersönlichen,auchaußerhalbderBrüder-gemeinegelesenenAndachtsbuchwurde.

2 DIELOSUNGEN–LEBENDIGESTIMMEJESUCHRISTI

DieErfindungderLosungenwirderstaufdemHintergrundvonZinzendorfsBibelverständnisverständlich.ImRückbezugaufMartinLutherkonzentriertsichdiesesaufJesusChristus.DerGrafhatteimLaufeseinesLebensimmerdeutlichererkannt,dassdieBibeldieeinzigeQuellederOffenbarungGottesandenMenschendarstellt. „Dennausserderheiligenschriftmußmanwederredennochdenken ingeistlichensachen.“7Dieses,wiederuminAnlehnunganLuther formulierte theologische Erkenntnisprogramm, stammt aus Zinzendorfs „BerlinerReden“von1738.WieLutherbilligtZinzendorfdamitderSchrifteineeinzigartigeAutoritätzu.AnihrmusssichjedeErkenntnisGottesprüfenlassen:„...weiles jaeingrossesunglükwäre,wennmanmitderschriftzusammenstossensolte,diedaseinigeregel=maaßunserergeistlichen gedanken, worte und werke seyn muß.“8 Zinzendorf ist darum der Schriftgegenüber von Ehrfurcht erfüllt und preist sie bisweilen hymnisch. Derselbe Gott, der inseinerunendlichenWeisheitHimmelundErdegeschaffenhat,istauchUrheberderSchrift.Gegenüber Gottes Offenbarung in der Schrift ist darum demütige Ehrfurcht die einzigangemessene Haltung. Selbst die Engel waren gespannt, das Wunderwerk der Schriftkennenzulernen.9

Zinzendorfs Schriftverständnis darf dennoch nicht mit der Verbalinspirationslehre derlutherischenOrthodoxiegleichgesetztwerden.DieSchriftistfürihnnichtprimärQuellevon

6vonZinzendorf,Sammlung,Bd.2–4.7vonZinzendorf,BR,16.8vonZinzendorf,LP2,363f.;vgl.auchders.,LP1,111.9LP1,368f.

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DieHerrnhuterLosungen

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dogmatischen Glaubenswahrheiten. Vielmehr steht bei ihm, nicht anders als für denReformator,dieexistentielleErfahrungimZentrum,dassdieBibelAnredeJesuChristiandenMenschen ist.DerGrafmöchte inderSchriftdie „lebendigeStimmeChristi“hören,um in„Connexion“ [=Verbindung]mit ihmzu kommen.DiesemZiel dient seineganzeArbeit anundmitderSchrift,vorallemjedochdieErfindungderLosungen.10

An dieser Stelle trifft er sich mit einem Grundanliegen des Pietismus seiner Zeit: imchristlichenGlauben geht es umdie persönlicheVerbundenheitmit demAuferstandenen,d.h.mitdemhierundheutegegenwärtigenJesusvonNazareth.DadieseVerbindungaucheinHauptanliegenvonLuthersTheologiegewesenist,wagtZinzendorfdamitdenBrücken-schlag über die lutherische Orthodoxie hinweg zur Reformation. Die Schrift besitzt eineinnereZugkraftzuJesusChristus,weilerzugleichihrAutorundihrInhalt,ihrSubjektundihrObjekt ist. Dadurch wird die Schrift untrennbar mit dem lebendigen Jesus Christusverbunden. Weil dieser noch heute durch die Schrift redet, gerät sie in eine unerhörte,beinahe bedrohlicheGleichzeitigkeit zu ihren Leserinnen und Lesern. Jesus Christus selbstüberbrückt„dengarstigenGrabenderGeschichte“(GottholdEphraimLessing,1729-1781),durchdenandereSchriftenderAntikevonunsgetrenntsind:„WirsehendenHeilandnichtleiblich,welchesauchnichtshilft,wieandenleutenseinerzeitzumerkenwar,könnenIhnalso auch nicht leiblicher weise aufnehmen, wie die Jünger zur zeit seiner leiblichen undsichtbarengegenwartaufderweltthaten;aberdasWortvonChristoistunsebensonahe,undmachtdas geheimnis desCreutzes so klar, alswennderHerr noch vor unsern augenhinge.“11ZinzendorfsGedanken liegenhieraufeiner Liniemitder reformatorischenWort-Theologie:ImWortderSchriftistunsJesusChristusgenausonahe,wieesderirdischeJesusseinen Jüngern war. Der Graf spitzt diesen Gedanken noch zu, indem er behauptet, dassbereitszuJesuLebzeitenseinWortdaseinzigeMitteldesUmgangsmitihmwar–sichdurchseineAuferstehungundHimmelfahrtdarannichtsgeänderthat.12NichtdasAnschauenJesu,sonderndasRedenmitihmwarimmerschondieGrundlagederGemeinschaftmitihm.

DassderLeser ineineGleichzeitigkeitmitden inderSchriftberichtetenEreignissengerät,bedeutet,dasser sich in ihrenWorten selbstwiederfindet. Er istmitverantwortlichdarür,dassJesusvonNazarethamKreuzsterbenmusste.GanzpersönlichgiltihmaberauchGottesAngebotderVergebungunddieVerheißungdesewigenLebens.DadurchhatZinzendorfdasreformatorischeprome[=fürmich]alsentscheidendeAbsichtdesinderBibelBerichtetenwiederentdeckt.

10„EsliegtalsoimWortGottesmehralsmansichordinäreinbildet,esisteinverborgenerschatz,einewahreperle.Wereinmalrechtdahinterkommt,wasdrinnen liegt,undseineforceerfährt,derweiß,wieesandenMann,andiePersonanzieht[nämlichanJesusChristus],undwiewenigesmöglichist,mitseinemWortbekantseyn,ohnezudemMannselbstzukommen,deresgeredet.Dennwennmansichdaswortnichtbaldzudemführenläßt,dersausgesprochenhat,derdereigentlichegrundunderstegedankeunddasobjectdavonist;sowirdmanbaldconfundirt,undverstehtallesverkehrt“(LP2,112).11BR,17.12LP2,112f.

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PeterZimmerling

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Entscheidend für das Schriftverständnis Zinzendorfs und der Brüdergemeine war die„combination des Worts und der personellen connexion mit Ihm“, die Verbindung vonBibelwortundpersönlichemGlaubenanJesusChristus.IndenLosungenistdiese„combina-tion“inunüberbietbarerWeiseverwirklicht.DarumliebtZinzendorfsieso.DieSchriftistfürdenGrafennieSelbstzweck,sondernimmernurMittelzumZweck,d.h.MittelzumUmgangmit Jesus Christus. „DasWort [= die Bibel]muß den ausschlag geben, und die sache ver-sichern,aberesmußunsnichtgenugseyn.DaslesenundstudireninderBibel,diebetrach-tungderschriftmußunsnichtaequipollent[=gleichwertig]seynmitdemumgang,denwirmitunsermGottundHeilandinPersonhabenkönnenundsollen.Dieheiligeschriftmußunsfreilich immer das seyn, wohin wir recurriren [= zurückkehren], wo wir nachsuchen, undunsernzärtlichen,aberunsehendlichenumgang[=mitJesus]prüfen;aberebendasbeweist,daßwirmitIhmselbstbekantwerden,undseinestimmehörenmüssen.“13Entscheidendistfür seineFrömmigkeitspraxisunddiederBrüdergemeinedie „combinationdesWortsundderpersonellenconnexionmit Ihm“,dieVerbindungvonBibelwortundpersönlicherGlau-bensgemeinschaftmitJesusChristus.Diese„combination“isteinlebendigesVerhältnis,daswederzurorthodoxennochzurspiritualistischenSeitehinumkippendarf.IndenLosungenistdiese„combination“fürZinzendorf inunüberbietbarerWeiseverwirklicht.„Es liegtalsoimWort Gottes mehr als man sich ordinär einbildet, es ist ein verborgener schatz, einewahreperle.Wereinmalrechtdahinterkommt,wasdrinnenliegt,undseineforceerfährt,derweiß,wieesandenMann,andiePersonanzieht [nämlichanJesusChristus],undwiewenigesmöglichist,mitseinemWortbekantseyn,ohnezudemMannselbstzukommen,deresgeredet.Dennwennman sichdaswortnichtbald zudem führen läßt,dersausge-sprochenhat,derdereigentlichegrundunderstegedankeunddasobjectdavonist;sowirdmanbaldconfundirt,undverstehtallesverkehrt.“14

3 DIELOSUNGEN–„EXTRAHIERTEBIBEL“UND„QUINT-ESSENZ“DERHEILIGENSCHRIFT

DieLosungensindfürZinzendorf„extrahierteBibel“.15WieeinMaggiwürfelenthaltensiedie„Quint-Essenz“16 der Heiligen Schrift. Der Graf knüpft auch in diesem Zusammenhang anLuthersSchriftverständnisan.SowarschonderReformatorüberzeugt,dassdiebiblischenBücherundTexte inunterschiedlicherKlarheitund IntensitätdasEvangeliumverkündigen.Auch die Tradition, sog. Kernverse17 im Druckbild der Lutherbibel hervorzuheben, gehtbereitsaufdieZeitderReformationzurück.

13A.a.O.,86.14A.a.O.,112.15vonZinzendorf,Sammlung1,Vorrede(unpaginiert);vgl.auchJüngerhausdiarium(JHD),25.12.1752,zit.beiMeyer,Christozentrismus,119f.16SoinZinzendorfsVorredezumLosungsbuchvon1751,in:Sammlung3,1.17 Anm. der Herausgeberin: Luther hatte die für seine Theologie zentralen Christusbotschaften, sowie allealttestamentlichen Zitate im Neuen Testament hervorgehoben, die – in der Intention der Verfasser derSchriften– JesusalsdenverheißenenMessiaserweisensollten. ImLaufederRevisionsgeschichtesinddaran

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DieHerrnhuterLosungen

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Zinzendorf war überzeugt, dass nur derjenige die lebendige Stimme Jesu Christi in derganzenBibel zu hören vermochte, der den „General-Geist“ der Schrift besaß, der ihn denGesamtzusammenhangderBibelverstehen ließ.Bisessoweitwar,musstenderGemeindediejenigen Bibelverse gesagt werden, aus denen sie Jesu Stimme zweifelsfrei, ohneAuslegung,vernehmenkonnte.DieseAufgabesolltendietäglichenLosungenalsWeisungendesauferstandenenundgegenwärtigenHerrnerfüllen.

DiezuZinzendorfsZeiteinsetzendeBibelkritikderAufklärungmitihrerScheidungzwischendemWortGottesunddenWortenderBibel ließdiesesZielhochaktuellwerden.Eswarennicht zuletztdie Losungen,durchdiedieBrüdergemeine zueiner konstruktivenAuseinan-dersetzungmitdemSchriftverständnisderAufklärungbefähigtwerdensollte.DieBeschäfti-gungmitderBibelkritikzeigtZinzendorfalsTheologen,derdieZeichenderZeiterkenntundrichtig deutet. Er hat nach der Bibel kein Buch so oft und regelmäßig gelesen wie PierreBayles „Dictionnaire historique et critique“.18 Bayle fordert das christliche Denken auf,seinenWahrheitsanspruchvonderVoraussetzungzulösen,alsselbstverständlichanerkanntzusein.StattdessenhatessichderKritikzustellen.19ChristlicheErkenntnissegeltenseitderAufklärunginderGesellschaftnichtmehrautomatischalswahr.DamitistderTheologieeineNeubegründung ihrer Wahrheit aufgetragen. Der Graf sieht, dass die ganze orthodoxelutherischeTheologieundderenSchriftlehreaufderunbezweifeltenAnerkennungderchrist-lichenWahrheitfußt.DieGöttlichkeitderSchriftkonntesieabernursolangeaufvernünfti-gem Wege beweisen, wie die Vernunft von vornherein vom christlichen Wahrheits-bewusstseingeprägtwar. IndemMoment,wodasöffentlicheWahrheitsbewusstseinnichtmehrbiblischgeprägtwar,mussteaucheinrationalerBeweisfürdieGöttlichkeitderSchriftbrüchigwerden. IndemderGrafdaraufverzichtet,dieSchriftmitdenstumpfgewordenenWaffenderOrthodoxiezuverteidigen,schaffterRaumfüreineneue,zeitgemäßeBegrün-dung ihrerEinzigartigkeit.DieseBegründungkann für ihnnichtaufdemFeldderVernunftliegen.Die Ratio ist unfähig, demGlauben zu gewissen Einsichten zu verhelfen.Mit Baylegeht er davon aus, dass Überzeugungen in Fragen der Religion niemals zu Vernunft-einsichtenerhobenwerdenkönnen.20

Wie begründet Zinzendorf aber danndie besondereWertschätzung der Schrift gegenüberihrerInfragestellungdurchdieKritik?Zunächstfälltauf,dassseineAussagenzurQualitätder

etliche Veränderungen vorgenommen worden, wobei man an den Hervorhebungen stets die theologischePosition der Revisoren ablesen kann. In der Revision von 2017 wurde die Hervorhebung der moralischenImperative des Neopietismus des 19. Jahrhunderts getilgt, auch die von Luther herausgestellten„Schriftbeweise“scheinennichtalsKernstellenauf.DieaktuelleAuswahlwarvon„seelsorglich-dogmatischen“Motiven bestimmt, wie Christoph Kähler, der Vorsitzende des Lenkungsausschusses zur Revision derLutherbibel,mündlicherklärte; hervorgehoben sind zentrale Sätzeder christlichenBotschaft vonGnadeundGericht.Vgl.zurFragestellunginsgesamtdenÜberblickbeiHövelmann,Kernstellen.18NachweisbeiUttendörfer,Mystik,85.19Vgl.Hirsch,Geschichte1,75f.20Vgl.zuBaylea.a.O.,68.

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PeterZimmerling

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Bibeluneinheitlichsind.EinerseitssprichterunbefangenvonIrrtümern,21Gegensätzen22undFehlern,23vonschlechtemStil,24zeitbedingtemAusdruckundzeitbedingterArgumentation25undmeint,dassdieBibelganzunsystematischsei.26Andererseitsbehaupteter,dasskeineeinzige „Contradiction“ [„Widerspruch“] darinnen sei,27 dass unter den unterschiedlichenArtensichauszudrückenallemalebenderselbeSinnsei,28dassdieBibelunfehlbarsei,29dassdie Harmonie ihrer Ideen gleich bleibe30 und schließlich, dass ihre Ausdrücke unfehlbarseien.31 Schautman genauer hin, so entdeckt man, dass er zwischen einer zeitbedingtenäußerenGestaltundihrendasHeilunmittelbarbetreffendenAussagenunterscheidet.32NurimHinblickaufihreHeilswahrheitenistdieBibelunfehlbar.33

Ihre äußereGestalt kann er dabei umso leichter der Kritik preisgeben, als er es geradezugenial versteht, diese Kritik für sein Anliegen, die Schrift groß zu machen, in Dienst zunehmen.Z.B.sagter,„…dasdieSchriftsovielFehlerhat,alskaumeinBuch,dasheutigesTagesherauskommt,welchesmirwenigstenseinunumstößlicherBeweis für ihreGöttlich-keit ist.“34 Wieso das? Er wendet hier einen Gedanken seiner Kreuzestheologie auf dasSchriftverständnisan:DieFehler–etwabeiZeitangaben–sindBeispielefürdieAnpassungdesHeiligenGeistesandasmenschlicheFassungsvermögen.35Dieserstreitetnichtgegendienatürlichen Voraussetzungen der biblischen Autoren, sondern nimmt dieMenschen samtihrerEigenartenfürsichinDienst.36DasgiltauchfürihreUnvollkommenheiten.AlsGeistdesGekreuzigtenbringterkeinedermenschlichenIrrtumsfähigkeitentrückteBibelhervor.DieOffenbarung bleibt wie in Jesus von Nazareth auch in Gestalt der Schrift unter ihremGegenteilverborgen:Sieistunansehnlich,überhörbarundmissverständlich.ZinzendorfhatmitdiesenÜberlegungengegenüberderOrthodoxiedastheologischeRechtaufseinerSeite.

In den Losungen zieht er die praktische Konsequenz aus seinem von der lutherischenKreuzestheologie geprägten Schriftverständnis: Es handelt sich dabei ausschließlich umbiblischeAussagen,diedasHeildesMenschenbetreffen.Schriftaussagen,dievongeschicht-lichen,biologischen,geografischenu.a.Sachverhaltenhandeln,müssenschonaufgrundderKürzedesLosungswortesunberücksichtigtbleiben.

21vonZinzendorf,PR1,132.22A.a.O.,135.23vonZinzendorf,WL,144.149.24PR1,129.25vonZinzendorf,ZR,154;LP1,368.26vonZinzendorf,CA,205f.27PR1,129.28A.a.O.,130.29A.a.O.,134.30WL,146.31PR1,199.32A.a.O.,134;WL,145f.33Vgl.z.B.LP2,363f;LP1,111.34WL,144.35ZR,154.36Vgl.z.B.PR1,134.

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DieHerrnhuterLosungen

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DerGrafwill aber nicht nur die Kreuzesgestalt der Schrift zur Geltung bringen; in seinemSchriftverständnisschwingtnocheinweitererGedankemit:ErgehörtzudenBewundererndesEinfachenundNatürlichen,damitauchdesIndividuellenundGeschichtlichenim18.Jh.37SosiehterinderSchrift„…mitderallergrössestenSimplicität[=Einfachheit]undEinfaltderRedeeinesolcheinimitable[=unnachahmliche]Weisheitverbunden…,daßesniemandalsGottsomachenkan.“38GeradedieEinfachheit,jadieEinfalt,istdiederWeisheitdesHeili-genGeistes angemesseneGestalt.DieAutorender Schrift habeneinfältigdarauf vertraut,dassGottdenLeserinnenundLesernihreWorteverständlichmachenwerde.39Daherhabensie auchnicht zwanghaft dieWahrheit des von ihnenGesagtenbegründet oder später anihren Schriften herumkorrigiert.40 Genauso wenig hat Gott es nachfolgenden Theologenerlaubt,dieSchriftzu„verbessern“.41

AuchdieEinfachheitder Schriftbildet sich inden Losungenab:Die Losungsverse sindge-wöhnlichkurzundprägnantundwollenohneexegetischeKenntnisseunmittelbarverständ-lichsein.

WeildieErkenntnisGottes inderSchrift inunscheinbarerGestaltvorliegt, javerborgen ist,ist sie dermenschlichen Vernunft nicht ohneweiteres zugänglich.42 Dass die Bibel GottesWortist,erfährteinMenschnurimGlaubenanJesusChristus,derdurchdenHeiligenGeistin seinemHerzen gewirkt werdenmuss.43 Der Glaube ist das Tor, durch das jeder gehenmuss,umdenRaumderBibelbetretenzukönnenundinihmdaheimzusein,ohnedauerndan ihrenAussagenAnstoßzunehmen.44Den logischenZirkel,dass JesusChristusanderer-seits nur durch das Medium der Schrift erkannt werden kann, löst Zinzendorf – wie dieReformatoren (vgl.etwaCA5)–nichtauf.DassderLeserderSchriftaufdenGeistGottesangewiesen bleibt, ist für ihn Beweis für die Glaubwürdigkeit der Schrift:Weil die SchriftGottesWort ist, kann ein Mensch sie nicht aus eigener Vernunft und Kraft verstehen,sondernmussGott selbstdemLeser ihrVerständnisdurch seinenGeistöffnen.45Die Ideeder Losungen stellt die Angewiesenheit des Verstehens der Schrift auf den Heiligen Geistnichtinfrage–imGegenteil.DerGrafverstehtdieLosungenalsnotwendigespirituelleHilfeaufdemWegzueinemvomGeistGottesgewirktenVerstehenderBibel.

37Uttendörfer,Weltbetrachtung,15ff.117ff.;Baumgart,Wegbereiterpassim.38PR1,132.39A.a.O.,134.40A.a.O.,135.41WL,144.42„...dasistderBeweis,warumderheiligeGeistauchinBiblicisallesuntereinandergelassenhat,wieesdortinhoc tertio von dem Getraide heißt, laßt beydes miteinander wachsen; weil sehr viele reine Körner in demgeringscheinendenStroh liegen,daßwennunverständigeLeutedrüberkämenundwolltenreinemachen,sokehrtensieesmitweg.Soabermußbeydesbeysammenbleiben,hernachkommendieKennerundsuchensichihre Sache heraus; denn sie liegt da, sie liegt da für den Sucher, der mit Begierde seines Herzens sucht:unterdessenhaltensichdieandernbeymSchuttaufundspringendraufherum“(vonZinzendorf,CA,169).43vonZinzendorf,GR1,Anhang,19.44WL,Vorrede,unpaginiert.45A.a.O.,143f.

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PeterZimmerling

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4 RESÜMEE

MitdenLosungengabZinzendorfderHerrnhuterBrüdergemeineimZeitalterderAufklärungimRückgriffaufLuthersTheologieundSchriftverständniseinepraktischeHilfeandieHand,in das Vertrauen zur Bibel hineinzuwachsen. Die Losungen als unmittelbar verständlicheKernverse der Bibel sind ein hervorragendes Mittel, damit Gottes Geist Menschen dasVerständnisfürdenGesamtzusammenhangderBibelöffnenkann.

Zinzendorfs Umgangmit der Bibelkritik erscheintmir heute noch richtungweisend: Er er-sparte seiner Gemeinde nicht die Auseinandersetzung mit ihr, sondern führte sie in ihrrelatives Recht, aber auch in ihre Grenzen ein.46 Auf dieseWeise befähigte der Graf dieBrüdergemeine – angesichts eines in weiten Kreisen der Christenheit schwindenden Ver-trauensindieSchrift–ineinerArtvonreflektiertemVertrauenanihrerGlaubwürdigkeitundEinzigartigkeitfestzuhalten.VorallemschuferindenLosungeneinespirituelleForm,dieesihrerlaubte,dieKraftdesbiblischenWortesimkonkretenAlltagtäglichzuerproben.

Literatur:

Baumgart,Peter,ZinzendorfalsWegbereiterhistorischenDenkens,Lübeck/Hamburg1960.

Beyreuther,Erich,DiegroßeZinzendorf-TrilogieBd.2,Marburg1988.

Gesangbuch der EvangelischenBrüdergemeine, hg. von der EvangelischenBrüder-Unität /HerrnhuterBrüdergemeineBadBoll/Herrnhut/Zeist,Basel2007.

Hirsch,Emanuel,GeschichtederneuernevangelischenTheologie,Bd.1,Gütersloh31964.

Hövelmann, Hartmut, Kernstellen der Lutherbibel - Eine Anleitung zum Schriftverständnis(TexteundArbeitenzurBibel5),Bielefeld1989.

Meyer, Dietrich, Der Christozentrismus des späten Zinzendorf. Eine Studie zu dem Begriff„TäglicherUmgangmitdemHeiland“,Bern/Frankfurta.M.1973.

Motel, Hans-Beat, Die Losungen – ein Buch der weltweiten Christenheit, in: EvangelischeBrüder-Unität (Hg.),DieLosungenderHerrnhuterBrüdergemeine.Geschichte,Entstehung,Verbreitung,Gebrauch,Herrnhut/Basel2003,45–54.

Schiewe, Helmut, Eine gute Gabe Gottes – die Losungen im Wandel der Zeiten, in:EvangelischeBrüder-Unität(Hg.),DieLosungenderHerrnhuterBrüdergemeine.Geschichte,Entstehung,Verbreitung,Gebrauch,Herrnhut/Basel2003,9–18.

Uttendörfer,Otto,ZinzendorfunddieMystik,Berlin1952.

Uttendörfer,Otto,ZinzendorfsWeltbetrachtung,Berlin1929. 46ZR,100f.

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DieHerrnhuterLosungen

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Zimmerling,Peter,DieLosungen.EineErfolgsgeschichtedurchdieJahrhunderte,Göttingen2014.

von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, 21 Diskurse über die Augsburger Konfession (CA), o.O.21748.

von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Londoner Predigten Bd. 1 und 2 (LP 1 und LP 2),London/Barby1756f.

vonZinzendorf,NikolausLudwig,BerlinischeReden(BR),2.Auflage,London/Barby1758.

vonZinzendorf,NikolausLudwig,Gemeinreden,1.Teil(GR1),o.O.1748f.

vonZinzendorf,NikolausLudwig,PennsylvanischeReden,1.Teil(PR1),Büdingen21746.

vonZinzendorf,NikolausLudwig,ZeisterReden(ZR),o.O.1746–1747.

von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Sammlung der Losungs- und Textbüchlein der Brüder-Gemeinevon1731–1761,Bd.1,Barby1762;Bd.3.1,Barby1762;Reprint:NikolausLudwigGraf von Zinzendorf, Leben und Werk in Quellen und Darstellungen. Materialien undDokumente, Reihe 2, Bd. XXV, 1–4, hg. von Beyreuther, Erich und Meyer, Gerhard,Hildesheim1987.

vonZinzendorf,NikolausLudwig,HomilienüberdieWundenlitanei(WL),o.O.1747.

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BARBARAHENZE

„ARSMORIENDI“,„DIEKUNST,GUTZUSTERBEN“,IMSPÄTMITTELALTER

1 DIE„BILDER-ARS“ALSEXEMPEL

Mitseinem„SermonvonderBereitungzumSterben“griffMartinLuthereinThemaauf,dasimSpätmittelalteralsdringlichundbedrängendgesehenwurde,dennseitBeginnderDruck-kunst gehören „Sterbebücher“ zu den beliebtesten Druckerzeugnissen. Luthers SermonstammtausdemJahr1519,gehörtalsozuseinenfrühenSchriftenvordenHauptwerkendesJahres1520.Esbietetsichdaheran,alsHilfezuseinerInterpretationdiespätmittelalterlicheSterbebuchtradition vorzustellen.1 Im Folgenden wird sich auf ein einziges Sterbebuchkonzentriert, die sogenannte Bilder-Ars aus der Zeit um 1470. Ihr Hauptteil neben einerEinleitung und einem Schlusswort, in denen aus der Tradition bekannte Gedanken undEinsichtenwie z.B.dieAnselmschenFragenundeineSchrift JohannesGersonsverarbeitetwerden, besteht aus der Beschreibung von fünf Versuchungen2 durch Teufelchen oderDämonenundderen EntgegnungenoderBewältigungen3mithilfe eines Engels. So könnenhinsichtlich des Verhältnisses der Bilder-Ars zur sonstigen Sterbebuchliteratur des Mittel-alters einerseits Bezüge hergestellt werden, andererseits ist hervorzuheben, dass sie mitihremHauptteil, denVersuchungenund ihren Einsprüchen, amBeginn einer neuen Tradi-tionslinie steht.4 Weil auchMartin Luther die Anfechtungen in denMittelpunkt stellt, istschonvermutetworden,LutherhabedieBilder-Arsgekannt.EinenBeleghatmandafüraberbishernichtgefunden.5

Die Versuchungen, um die es in der Bilder-Ars geht, sind geistige Versuchungen. DerSterbendesollsichGedankenhingeben,dieihnsowohlschlechtsterbenlassen,alsauchihmdas Seelenheil kosten.DieseGedanken sind: 1.Das,worauf sichderGlaube stützt, ist einTrugbild.Daheristesbeliebig,wiemanlebt.EsgibtjakeineHölle.2.DasvieleSchlechte,dasmangetanhat,istnichtmehrrückgängigundauchnichtmehrgutzumachen.ManüberlässtsichdaherderVerzweiflung.3.Esistnichteinsichtig,warummandenSterbeprozessmitsei-nem Leid und seinen Schmerzen aushalten muss. Statt sein Schicksal hinzunehmen, wirdmanungeduldig.4.MitBlickaufdieeigeneLebensbilanzkommenGedankenvonSelbstüber-heblichkeit undHochmut. 5.Der Sterbende kann sich nicht vondem trennen,was ihm inseinemLebenetwasbedeutethat.

1 Schottroff, Bereitung, 19-31, stellt in ihrem ersten Kapitel den „Themenbestand der spätmittelalterlichenSterbebücher“vor.2Esstehtjeweils„temptatio“inderÜberschrift.3ImLateinischenheißtes„bonainspiratio“.4SoSchottroff,Bereitung,24f.5Schottroff,Bereitung,26.

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„Arsmoriendi“imSpätmittelalter

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Bilder-Ars, Ulm [ca. 1468/69], Exemplar „Xylogr. 18“ aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek, Blatt 7 (in den unkolorierten Drucken 4v) der urn:nbn:de:bvb:12-bsb00038676-9 (25.2.2018).

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BarbaraHenze

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Bilder-Ars, Ulm [ca. 1468/69], Exemplar „Xylogr. 19“ aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek, Blatt 5v der urn:nbn:de:bvb:12-bsb00038639-9 (25.2.2018). Die fünf Versuchungen und die Hilfen zu ihrer Überwindung werden jeweils durch eineGraphik des „Meisters E.S.“ illustriert. Eine elfteGraphik stellt denVerstorbenendar, undman sieht, wie seine Seele von einer Schar Engel in Empfang genommen wird und die

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„Arsmoriendi“imSpätmittelalter

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Teufelchen fliehen. Die Bilder-Ars ist sowohl in voller Länge6 in mehrere Landessprachenübersetztworden7,alsauchgibteszumindesteine landessprachlicheKurzfassung,nämlichauf Alemannisch. Die graphischen Illustrationen sind fast immer den Ausgaben beigefügt,von unterschiedlicher Qualität und manchmal – im Vergleich zum lateinischen Text –spiegelbildlich.DieinLateingeschriebenenSpruchbändersindnichtimmermitübersetzt,inmanchen Ausgaben fehlen die Spruchbänder ganz. Aber die Entsprechungen zwischenGraphik und Text sind jeweils so deutlich, dass die Bilder-Ars für Gebildete, die Lateinkonnten, inderRegelKleriker,und für Laienundauch fürNicht-Lesekundigenutzbarwar.TeufelundEngelsprechendenSterbendendirektan.DerEngelbautinseineRedeBibel-undKirchenväterzitateein.DannwechseltderAdressatundangesprochenwirddiePerson,dieamSterbebett sitzt. Ihrwirdgesagt,wasguteGedankenwärenundwodafür inderBibelBelege stehen. In der alemannischenKurzfassung stehen an ihrer StelleGebete.Damit isteinemSterbebegleiter,einerSterbebegleiterineinewertvolleHilfeandieHandgegeben.Erodersiemussnichtüberlegen,obsiesichzutrautbzw.obesangemessenist,indieRolledesEngelszuschlüpfen,ummitdessenWortendemSterbendenimSterbeprozessbeizustehen.Als Sterbebegleitung muss sie auch nicht selbst die beschriebenen guten Gedanken indirekte Ansprache umsetzen, sondern sie kann die angegebenen Gebete beten und denSterbenden ermuntern, siemitzubeten.8 Durch die Bündelung der „guten Eingebung“ desEngels ineinemGebetersetztdieKurzfassungdasArgumentfüreinSich-Gott-Anvertrauendurch die direkte Ansprache an Gott und praktiziert damit das Angestrebte. Das kann inzweierleiHinsichtwichtigsein,amSterbebettselbstundfürUngeübte.

2 DIEVERSUCHUNGZURVERZWEIFLUNG

DerTextbeginntmitderErklärung:„DieandereAnfechtungistdiederVerzweiflung,diedawiderdieHoffnungunddasVertrauen,dasderMenschzuGotthabensoll,gerichtetist.SonunderKrankeLeidenundSchmerzenallerArtanseinemLeibezuerduldenhat,fügetderTeufel noch viel brennendere Schmerzen hinzu, indemer ihm seine Sünden vorwirft, undbesonders jene,dieeretwanichtgebeichtethat,aufdasser ihnzurVerzweiflungbringenmöge.“9 Verzweiflung ist deswegen im Sterbeprozess gefährlich, weil sie dem entgegensteht,waseinenChristen,eineChristin(imText„derMensch“)auszeichnet,das„Vertrauen[…] zu Gott“. Was bringt den Menschen zur Verzweiflung? Seine Sünden. Auf demillustrierendenHolzschnitt zeigt ein TeufelchendemSterbendeneine Tafel und sagt dazu:

6BeispielsweiseBilder-Ars,Leipzig.7 Schreiber/Zimmermann, Ars moriendi, nennen neben deutschen Übersetzungen niederländische, franzö-sische,spanischeundenglische.8 Schottroff, Bereitung, 26 Fußnote 26 weist darauf hin, dass „durch die Dialogform […] die priesterlicheFunktionnunvölligausgeschaltet[sei].“Dasstimmt,aberauchohneDialogformistdas,worumesgeht–dierichtige innere Einstellung zum eigenen Sterben zu finden – nicht davon abhängig, ob jemand, der einepriesterlicheFunktionausübenkann,anwesendistodernicht.9Arsmoriendi[Kurzfassung],75f,identischmitBilder-Ars,Ulm,5r.

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BarbaraHenze

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„SiehdeineSünden“.Welchedassindoderseinkönnten,wirddurchSzenen,diesichumdasSterbebett herum abspielen und die sie deutenden Spruchbänder, die von weiterenTeufelchengehaltenwerden,erklärt:„DubisteinEhebrecher“,„Dubistmeineidig“,„Dubistgeiziggewesen“,„Duhastjemandenumgebracht“10.VordemFußendedesBetteshockteinNackter, und das Teufelchen ohne Spruchband trägt Kleidung über dem Arm. Das kannmithilfe des Textes gedeutet werden, in dem von den nicht getanen Werken derBarmherzigkeit (Hungrige speisen,Durstige tränken, Fremdebeherbergen,Nackte kleiden,Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten) die Rede ist. Illustriert wird hier„Nacktekleiden“.

Der Text lässt die Teufel sprechen: „Siehe,wie du dieGebote Christi übertreten hast! Duhast Gott nicht über alles geliebt, den Menschen Unrecht zugefügt, und doch weißt dugenau,daßniemandgerettetwerdenkann,derdieGeboteGottesnichtbefolgthat, sagtedochderHerr:‚WennduzumLebeneingehenwillst,sohaltedieGebote‘.Duaberhaststolz,geizig,unkeusch,gefräßig, jähzornig,neidischundträgegelebt,unddochhastduvernom-men,daßeinMenschwegeneinereinzigenTodsündeverdammtwerdenkann.FernerhastdudiesiebenWerkederBarmherzigkeitnichterfüllt,nachdeneneramJüngstenTagganzbesonders forschenwird.“11 Die Vorhaltungen der Teufelchen sind die, die der Sterbendeschonkennt,dahersindsie ihmjaaufdemSterbebettbesonderspräsent.Siewurden ihmzeitseinesLebensinderBeichtkatecheseundinPredigtenvorAugengeführt.DieAngstvorderHölle oder der ewigenVerdammnis hat dieMenschenumgetrieben.Martin Luther istdafürdasbesteBeispiel.

WaskannderEngeldagegenvorbringen?WiekannerdenMenschenausderVerzweiflungüber die Sünden reißen? Er spricht den Sterbenden direkt an: „Warum verzweifelst du, oMensch? Auch wenn du Raub, Diebstahl undMord begangen hättest, wie es Tropfen imMeerundSandgibt,auchwennduganzalleinalleSündenderWeltbegangen,darübernieReue empfunden und sie auch nicht bekannt hättest, und dir selbst jetzt dieMöglichkeitfehlte,siezugestehen,sodarfstdutrotzdemkeineswegsverzweifeln,denninsolchemFallegenügt allein eine innere Zerknirschung. Das bezeugt der Psalm: ‚Ein zerknirschtes unddemütiges Herz wirst du, Gott, nicht verachten.‘ [Ps 50,19]“12 Nach Zitaten aus Ezechiel,Bernhard und Augustinus erinnert der Engel den Sterbenden daran, dass Christus für dieSünder,nichtfürdieGerechtengekreuzigtwordenistundführtihmdievorAugen,dietrotzallihrerSündenGottesBarmherzigkeiterfahrenhaben:„NimmdireinBeispielanPetrus,derChristusverleugnet,anPaulus,derdieKircheverfolgthat,anMatthäusundanZachäus,dieZöllner waren, an Maria Magdalena, der Sünderin, am Weib, das im Ehebruch ergriffen

10Wörtlichstehtdort:„Dubist jemandesSchlächter“,dasTeufelchenhateinSchwert inderHand,undeineamBodenliegendePersonhateineWundeinderHerzgegend.11Bilder-Ars,194.196.12Bilder-Ars,198.

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„Arsmoriendi“imSpätmittelalter

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wurde, am Schächer, der neben Christus am Kreuz hing.“13 Auf der Graphik sind sieabgebildetundstehenumdasSterbebettherum,sodassderEngelmitdemSpruchband„Dusollstnichtverzweifeln“aufsiezeigenkann:PetrusmitdemSchlüsselunddemHahn,MariaMagdalenamitdemSalbgefäß,derSchächeramKreuz,demvomPferdgestürztenSaulus,den vom Himmel Steine treffen, und zwei Teufelchen, die sich davonmachen und dasSpruchbandhalten„IchhabekeinenSieg“.WodieOriginalversionaufAugustinusverweist,derdieVerzweiflungdesJudasfürschlimmerhieltalsdieKreuzigungdurchdieJuden,undandieHoffnungerinnert,andenAnkerunseresHeilsunddieGrundvesteunseresLebens,14lautetdergesamte„Engelpart“inderKurzfassung:„AberdarumsollniemandverzweifelnanderGnadeGottes,hätteer auch so viele schwereSündenbegangen,RaubundMordundDiebstahlmiteingeschlossen,alsdaTropfensind indemMeere,undhätten ihndieselbennoch nie gereut, noch hätte er sie gebeichtet, wenn er nur den festenWillen hat, sie zubeichten,sobaldernurkönnte,undwahreReuedazu,soverschmähtGottkeinreuigHerz,undermagdannzuGottseufzenundsprechen:„Oallerstärkster,unüberwindlichsterHerrJesu Christe, durch das bittere Leiden, das Du für mich und alle armen Sünder an demStammdesheiligenKreuzesgelitten,verleihemirHoffnungundVertrauenaufDeineBarm-herzigkeit,ReueundLeidübermeineSünden,Kraft zumWiderstandegegendieVerzweif-lung,stärkemichmitSanktPeter,derdichverleugnethat,beruf‘michmitSanktPaulus,derDichverfolgethat, tröst‘michwiedenSchächeramKreuze,undvergibmir,wieduMariaMagdalene und allen Sündern, die danach Verlangen getragen und Dich darum gebetenhaben,vergebenhastundinEwigkeitvergibst.Amen.“15

Die Verzweiflung, die denMenschen befällt,wenn er über seine Sünden nachdenkt,wirddeswegengetadelt,weilsieihrenGrundineinemfalschenGottesbildhat,„verstößtsiedochgegen die Barmherzigkeit Gottes, die uns allein retten kann,wie es der Prophet bezeugt:‘DerBarmherzigkeitGotteswegensindwirnichtvernichtetworden.‘UndAugustinussagt:‚Jeder,derimStandederSündeistunddieHoffnungaufwahrhafteVergebungaufgegebenhat,gehtderBarmherzigkeitverlustig.‘“16

WeraufdemSterbebettdarübernachdenkt,waserodersieangesichtsdereigenenSünden„tun“könnte,wirdnotwendigerweiseverzweifeln.InteressanterweisewirddieMöglichkeit,dieSündendochbeichtenzukönnen,nichtweitervertieft.DieTeufelchenerinnernjagenauandieSünden,diemannochnichtgebeichtethat.DahersuchtdieBilder-Arseine„Lösung“unabhängig von den Sterbesakramenten und sie hat sie gefunden: Vertrauen auf GottesBarmherzigkeit,ZerknirschungdesHerzensalsSignal,dassmansichseinerSchuldbewusstist, und Stärkung des Widerstands gegen die Verzweiflung durch Erinnerung an die, dieebenfallsGottesBarmherzigkeiterfahrenhaben.

13Bilder-Ars,200.14Bilder-Ars,Ulm,6r.15Arsmoriendi[Kurzfassung],76f.16Bilder-Ars,196f.

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3 DIEBEICHTEINDERBILDER-ARS

Die„Lösung“angesichtsderVerzweiflungwirdinderErmahnungaufdiefünfteVersuchungwiederholt. Diese besteht darin, sich von Personen und Dingen nicht trennen zu können.Dazuheißtes inderKurzfassung:„UnddochsolleinMensch,derwohlundsichersterbenwill, vonallen zeitlichenundäußerlichenDingengänzlichabsehenund sichganzundvoll-kommentlichanGotthingebenund ihmsichbefehlen,dennwelcherKrankewilliglichdenTodaufsichnimmtundseinenWillengeduldiglichdazugibt,derthutfüralleseinelässlichenundtäglichenSündengenugunderwirbtsichdieGnade,durchwahreReueundklareBeicht,oderwenigstensdurchdengutenWillendazubei vollständigerUnmöglichkeit dieselbe zuverrichten, von seinen schweren Sünden erlediget zu werden und die Anfechtungen desTeufels, die ihm nicht schaden können, solange er in dieselben bei klarer Vernunft nichteinwilliget,zuüberwinden.“17

Die Bilder-Ars denkt vomBildprogrammher zwar an Freunde und Schätze, die einemdasSterbenschwermachenunddiemangehenlassensoll.DieTeufelchenführendasPferdvor,zeigen das Haus, die reichen Kleider, die Familie und Freunde. Und auf der Engelseitemüssen sich zwei Engel bemühen, der eine, der mit dem Sterbenden spricht, und derandere, der mit einem Tuch die vom Sterbenden abschirmt, die ihn daran hindern zusterben.AbervomTexthergehtesumdieSünden,diemanlassenmuss:WahreReueundder festeWille zu beichten, falls das nochmöglich ist, geltenwie die Beichte selbst. DasschreibtdieArsmoriendialsSelbstverständlichkeit.

4 STÄRKUNGDURCHANDERE

UmdenSterbendenausderVerzweiflungüberseineSündenherauszureißen,hilftderEngeldurch zwei guteGedanken.Der erste ist, ihm zu beteuern, dassGott Sünden vergibt undbarmherzig ist. ZurUnterstützung zitiert er aus der Bibel.Mit dem zweitenGedanken er-innerter ihnandiePersonen,denengegenübersichGottbereitsalsbarmherzigerwiesenhat.Damitkannergleichsamdie„TheorieüberGott“verifizieren.Diese„Strategie“ findetmanauch indenübrigen„gutenEingebungen“desEngels. InderStärkunghinsichtlichdesGlaubenskannderEngelaufChristus,MariaunddieScharderHeiligenverweisen,diedasZimmerbevölkern.UmdenSterbendenangesichtsseinerSchmerzenzutrösten,erscheinenChristusmitDornenkroneundGeißelruteundMärtyrermitihrenLeidensattributen,Stepha-nus mit Steinen, Barbara mit einem Turm, Katharina mit einem Rad und Laurentius miteinemRost.ZurDemutmahnenChristus,MariaundderEremitAntonius.AlsHilfe,sichvonallemzuverabschieden,waseinem lieb ist, schreibtdieKurzfassungderBilder-Ars:„Wennaber Christus seine liebe Mutter unter dem Kreuze verließ und den Willen seineshimmlischenVaters vollbrachte, undder frommeDulder JobWeibundKindundHabund

17Arsmoriendi[Kurzfassung],81f.

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„Arsmoriendi“imSpätmittelalter

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Gut um Gottes willen dahingab, so müssen auch wir alle zeitlichen Dinge uns aus demHerzen schlagenunddazuGott anrufen:Ohimmlischer Fürst, gewaltigerewiger, getreuerGott,derDuunsnicht lässestversuchtwerdenüberunsereKräfte, ichbitteDich,dassDumirgebestbeimeinemSterbendieGabederDemuth,dassDuallezeitlicheundfleischlicheLiebezudenweltlichenDingeninmirgänzlicherlöschest,meinenWillenvollkommenzuDirziehest, inmeinerSterbensnothmirwahreReueundGeduldgebestundmichbeimeinemletztenEndenimmermehrverlassest.Amen.“18

Menschenausder religiösenTradition, derenGeschichtenman imSpätmittelalter kannte,weswegen man hoffen konnte, dass sich auch in den letzten Phasen des Lebens an sieerinnertwurde, sollten den Sterbeprozess erleichtern,weil sie Vorbilderwaren, sich trotzaller Versuchungen auf Gott zu verlassen. Nicht selten ist Maria, die Mutter Jesu, unterihnen.EinenochgrößereBedeutungkommtaberJesusChristusselbstzu.

5 DERGLAUBEANJESUSCHRISTUSUNDANGOTTINDERBILDER-ARS

Die beiden Unterscheidungen der Theologie, fides qua und fides quae, sind auch in derBilder-Ars präsent. Die erste Versuchung richtet sich gegen den Glauben, da er „eineGrundfestedesHeils ist,ohnedenkeinMenschHeilwerdenkann.“19DerTeufelversucht,den Menschen im Glauben irre zu machen, und die Frage ist, in welchem Glauben. DerTeufelsprichtdavon,dassdieHöllezerbrochenistundjederMenschfreiseizutun,waserwolle. In der dazu passenden Graphik werden allerhand Gebotsübertretungen gezeigt,Götzenanbetung, Selbstmord,Wucher. So legt sich nahe, dass gemeint ist: DerGlaube anGott,derdieWeltrechtgeordnethat,wozuauchdieHöllegehört,undlenkt,sollerschüttertwerden.EsgehtalsonichtumeinzelneGlaubensartikel,sondernumGrundsätzliches,umdieStellungvonGott.

AndererseitswirdalsGebetformuliert:„Allmächtiger,ewigerGott,daderGlaubealleDingevermagund erwirbt, bitt ichDich inbrünstiglich, verleihemir, nicht allein dieHauptstückedesGlaubens,sonderndieganzeheiligeSchriftundGesetzederheiligenrömischenKirchezuglaubenunddarinfestiglichzubleibenundzusterben.StärkemichindemGlaubenderAlten und unserer Väter, der heiligen Apostel, der unzähligen Schar der Märtyrer, derheiligenBekennerundJungfrauen,dieda,Herr,durchdenGlaubenalleDirwohlgefälligundseligwordenist.Amen.“20HieristnichtderGlaubealsSich-FestmachenaneinenGott,derdie Welt lenkt, beschrieben, sondern der Glaube in seinen „Hauptstücken“, „die ganzeheilige Schrift“ unddie „Gesetzeder […]Kirche“.WenndannaberwiederderGlaubederApostelundMärtyrerbeschworenwird,dannwirdwiedereher„fidesqua“gemeintsein.

18Arsmoriendi[Kurzfassung],82f.19Bilder-Ars,Ulm,3r.20Arsmoriendi[Kurzfassung],74f.

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BarbaraHenze

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Diese steht in der gesamten Bilder-Ars im Vordergrund. Eins der Schlussgebete wirdfolgendermaßeneingeleitet:„WieaberdiebösenGeistermitAnfechtungenundEinblasun-geneinemsterbendenMenschennahesind,undsoglaubeerauchsicherlich,dassihmunserlieber Herr Jesus Christusmit seiner liebenMutter und allen Heiligen und Engeln gegen-wärtig seienbei seinemHinscheiden,denGuten zumTrost, denBösen zurMehrung ihrerPein. Sprich darum also:“21 und folgendermaßen formuliert: „O allerhöchste Gottheit, ounermessliches Gut, allermildeste und gerechteste Dreifaltigkeit, erbarme Dich übermicharmenSünder! IchempfehlemeinenGeist inDeineHände, allermildesterGottundVater,thue DeinemGeschöpfe nach Deiner Barmherzigkeit, hilfmir in dieser letzten Noth, dassmeineSeelenichtvondembösenFeindindieHölledahingerafftwerde.MinnesamsterHerrJesuChriste,SohndeslebendigenGottes,durchdieKraftDeinesallerseligstenLeidensheiß‘michempfangenwerdenindieZahlDeinerAuserwählten.MeinErlöser,ichgebemichganzDirhin,versageDichmirnichtundverschmähemichnicht,schlagmichnichtaus,wennichkomme zu Dir. Ich begehre nach Deinem Paradiese, nicht wegen des Werthes meinerVerdienste,daichdochnurStaubundAschebinundderallererbarmungswürdigsteSünder,sondernweilDu inKraftundWirkungDeinesallerheiligstenLeidensmicharmen,elenden,sündigenMenschenhasterlösenunddurchDeinkostbares, fürmichvergossenesBlutmirdasParadieshastaufschließenwollen.[...]OHerr,durchdieBitterkeitDeinesLeidens,dasDu ummeinetwillen auf Dich genommen und um der Schmerzen willen, die Du an demheiligenKreuzezumalinderStunde,daDeineallerheiligsteSeeleausDeinemheiligenLeibegeschieden ist, für mich erduldet, erbarme Dich über meine allerärmste Seele bei ihremAusgangausdemLeibe!“22

Die Dreifaltigkeit wird „allermildeste und gerechteste“ tituliert und „Gott und Vater“ als„allermildest“ und voll „Barmherzigkeit“. Jesus Christus ist „minnesamst“. Durch die KraftseinesLeidenskannderSterbendegerettetwerden,dennerselbstistnur„StaubundAscheundderallererbarmungswürdigsteSünder“.Der„WertseinerVerdienste“bedeutetnichts.Und noch etwas fällt auf: Das Gebet stellt eine direkte Beziehung zwischen sündigemMenschenundJesusChristusdar:Duwolltestmicherlösen,DeinkostbaresBlutwolltemirdasParadies aufschließen,Dein LeidenhastDuummeinetwillen aufDich genommen,dieSchmerzenamKreuzhastDufürmicherduldet.

6 FAZIT

Die Situation im Spätmittelalter ist also folgende: Unabhängig davon, welche Hilfen dieKirche angeboten hat, um mit Sünden umzugehen (Beichtsakrament, gute Werke tun,

21Arsmoriendi[Kurzfassung],83.22Arsmoriendi[Kurzfassung],84f.

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„Arsmoriendi“imSpätmittelalter

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Ablässeerwerben),warumundwiesichdieseHilfenimLaufederZeitentwickelthabenundwie diese Hilfen von den Leuten genutzt worden sind, ist die Situation im Sterben einebesondere und außergewöhnliche, weil alle Hilfen, die darauf aufbauen, dass man selbstHandanlegtundaktivwird,unbrauchbarsind.AngesichtsdieserSituation,diedieBilder-Arsschonungslosbeschreibt–weildieOptionenderTeufelalsfalschentlarvtwerden–,bleibtnurdasVertrauenaufdenbarmherzigenGott, zudemermuntertwirddurchdenVerweisaufalldieMenschen,dieebensolchesVertrauenbiszuletztbewiesenhaben,undaufJesusChristus, der durch seinKreuzund Leiddie Sünden jedes einzelnenMenschen getilgt hat.VielleichtistdieBilder-ArsimGesamtendesSpätmittelalterseineAusnahme,abereshatsiegegeben,23unddieUnterschiedezum„SermonvonderBereitungzumSterben“vonMartinLuthersind–wennessieüberhauptgibt–minimal.

Literatur:

Arsmoriendi [Kurzfassung]. Lithographisches Facsimileder inder fürstl. Fürstenberg'schenHofbibliothek zu Donaueschingen verwahrten und im einzigen Exemplare bekannten dt.Ausg.abe der Arsmoriendimit xylographischem Text, hg. von Albert F. Butsch, Augsburg1874.

Bilder-Ars, Leipzig 1493, gedruckt von Konrad Kachelofen (deutsche Übersetzung undGraphikenmit lateinischenSpruchbändern,Graphikennicht immeranderrichtigenStelle),digitalisiertunterhttp://digital.slub-dresden.de/ppn321943775(25.2.2018).

Bilder-Ars,Ulm[ca.1468/69](deutscheÜbersetzungundGraphikenmitSpruchbändernaufDeutsch,ExemplarderBayerischenStaatsbibliothekMünchenmitderSignatur„Xylogr.19“),digitalisiertunterurn:nbn:de:bvb:12-bsb00038639-9(25.2.2018).

Bilder-Ars (modernedeutscheÜbersetzung), in:Arsmoriendi.DieKunst, gut zu lebenundgut zu sterben.TextevonCicerobis Luther,herausgegeben,eingeleitetundübersetztvonJacquesLaager,Zürich1996,S.181-229.

Henze,Barbara,AngstvordemSterben–früherundheute.Oder:Vom„GlückderHoffnungauf Glück“, in: meditation. zeitschrift für christliche spiritualität und lebensgestaltung 39(2013)Heft3,31-36.

23 Pavlíčková, Sterbebuch, 196-199, kommt zu einem gänzlich anderen Urteil über die Sterbebücher desSpätmittelalters.BußeundBeichte,AbsolutionundEucharistiehabezumspätmittelalterlichenSterbengehört(197), Trost habe vollständig gefehlt (197) und das vorherrschende Motiv sei „Gefährdung und […]Ungewissheit der Erlösung“ (198). Aber sie hat die Bilder-Ars nicht konsultiert, obwohl sie Schottroff,Bereitung,benutzt,die–wieobenzitiert–dieBrückenstellungderBilder-ArszuLuthersSermonausdrücklichhervorhebt.

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BarbaraHenze

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Pavlíčková,RadmilaPrchal, „UnterdenKetzern zu lebenund zu sterben ist gar schwerlichund geferlich.“ Das Sterbebuch des Johann Leisentritt im Kontext der katholischenSterbebücherdes16. Jahrhunderts, in:Archiv fürReformationsgeschichte107 (2016)193-216.

Schottroff, Luise, Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischenSterbebüchern,Göttingen2012.

Schreiber, Wilhelm Ludwig und Hildegard Zimmermann, Ars moriendi, in: Reallexikon zurDeutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1936), Sp. 1121–1127; mit der URL:http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89539(25.2.2018).

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CORINNADAHLGRÜN

LUTHERSSERMONVONDERBEREITUNGZUMSTERBEN1–EINEEINFÜHRUNG

1 EINFÜHRUNG

Gutes, seliges Sterben ist eineKunst, diearsmoriendi eben, diederMensch zu Lebzeitenerlernenkann,aberaucherlernensollte–imTodselbstisteszuspätdazu.IndieserEinsichtverfaßt imJahr1519MartinLutherseinenvorallemseelsorglichmotivierten„SermonvonderBereitungzumSterben”.Vorbereitendistzuerwähnen,dassLutherinseineverschiede-nenortsgeäußertenÜberlegungenzuTodundSterbenunterschiedlichebiblischeGedankenaufnimmt, den der sofortigen Auferstehungwie den des Seelenschlafes bis zum JüngstenTag,ohnesie zuharmonisieren: ImTode„kehrtderGeist zumHerrnzurück.Das lehrtdieganzeKirche,daßimTodedieSeelevomLeibgetrenntwird.DochisteseineandereFrage,obder LeibunddieSeelegetrennteDinge sind“, sagteraufdereinenSeite.Andererseitskannerformulieren:„Drumbheystauchdertodynnderschriffteynschlaff“.2DochvertritterinÜbereinstimmungmitdermittelalterlichenLehreeineUnsterblichkeitderSeele,dieimTodvomirdischenLeibgetrenntwird,3dieAuferstandenendenktersichmiteinemverklär-tenLeibausgestattet.„ImZentrumstehtdabeidieAnsicht,daßdieGemeinschaftmitGottundmit Christus durch den Tod nicht aufhört, und zwar nicht darum, weil die Seele desMenscheneineewigeWesenheitwäre,sondernweilGottdenMenschengeschaffenhatundmit ihmredet.“4Aneinen ‚natürlichen’ToddenktLuthernicht,auchwennderTodnur imLichtdesGesetzeseinFeindist,wie1Kor15,26sagt.ImLichtdesEvangeliumsdagegenkanner herbeigewünscht werden als Vollendung des in der Taufe begonnenen Gnadenge-schehens,alsendlicheBefreiungvonderSünde,alsein letztesFallen inGottesHand.5DieLehrevomFegefeuerlehntLutherab,ebensodieFürbittefürdieToten,undwieerüberdenAblassunddenVerdienstguterWerkedenkt, isthinlänglichbekannt.AllerTrost imLebenundimSterbenkommtfürihnalleinausdemGlaubenanChristus,ausdessenHeilshandelnpronobisinKreuzundAuferstehung–hierinliegtaucheinwesentlicherUnterschiedzuder

1DieserTextistdiegekürzteFassungeinesimAugust2017inderWittenbergerLeucoreagehaltenenVortrags;die Veröffentlichung der ungekürzten Fassung wird 2018 im Jahrbuch der Reformationsgeschichtlichen For-schungsbibliothekerfolgen.2„Spiritusreditaddominum.Hoctotaecclesiadicit,etquodinmorteseparaturanimaacorpore.Sedaliaquaestioest, an corpus et anima sint distinctae res.“ Luther, Promotionsdisputation, 10-15 und ders., Fastenpostille,235,16-20(EvangeliumaufdenSonntagJudica),alsBeispielefürseinePosition.3 Vgl.Lohse,Theologie,345ff.mitdenentsprechendenQuellenhinweisen.4 Lohse, Theologie, 348. Die Gemeinschaft ist allerdings gänzlich Gabe Gottes; dies stellt Luther durch denGedankendesSeelenschlafes sicher–anGottesauferweckendemund richtendemHandelnvorbeigibteskeinewigesLeben.5Vgl.Luther,Operationes,168,1-6(ZuPsalm5):„Quoenimperveniat,quisperatindeum,nisiinsuinihilum?Quoautemabeat,quiabitinnihilum,nisieo,undevenit?Venitautemexdeoetsuonihilo,quareindeumredit,quiredit innihilum.Nequeenimextramanumdeiquoquecaderepotest,quiextraseipsumomnemquecreaturamcadit,quamdeimanusundiquecomplectitur.“

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CorinnaDahlgrün

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vonBarbaraHenzevorgestelltenBilder-Ars, inder janebenChristusdieGottesmutterundverschiedeneHeiligedemSterbendenbeistehen.

2 DERSERMON

LutherbeginntseineAusführungenim„SermonvonderBereitungzumSterben”6nüchternundpragmatisch,dochdarinnichtohnetheologischeFundierung:DerTodisteinAbschiedvonderWelt,dergeordnetvollzogenwerdensoll.DieweltlicheHabe istzuverteilen,undauchgeistlichistAbschiedzunehmen.Lutherkannsichdabei–wieinallemanderen–aufdieBibelberufen,aufdieMahnungdesProphetenJesajaandenKönigHiskiaetwa:„BestelledeinHaus,dennduwirststerbenundnichtamLebenbleiben.”(Jes38,1)7.ChristusselbstisteinpositivesBeispielfürdiegeforderteVorsorge,indemer,bereitsamKreuzhängend,denJüngerJohannesundseineMutteraneinanderverweist(Joh19,25-27).Wirkungsgeschicht-lich interessant ist, dass 1633 Paul Stockmann in der zwanzigsten Strophe seines Chorals„Jesu Leiden, Pein und Tod“, einer Nachdichtung der Passionsgeschichte, diesen Aspekterzählendaufnimmt;undetwahundertJahrespäterdient,ganzimSinneLuthers,dasinderStrophebeschriebeneTun in einemder reflektierendenChoräleder Johannespassionaus-drücklichalsVorbild.WennderMenschvorseinemTodentsprechendhandelt,ermöglichtihm das ein befreites Sterben: „Er nahm alles wohl in acht in der letzten Stunde, seineMutternochbedacht,setztihreinVormunde.OMenschmacheRichtigkeit,GottundMen-schenliebe,stirbdaraufohnallesLeid,unddichnichtbetrübe.“8

NachdemderMenschsoseinHausbestellthat, istervonirdischenSorgenundBindungenfrei und kann und soll sich an den halten, auf den er zugeht, auch wenn diese letzteWegstrecke unangenehm und angsterfüllt sein kann. Luther zieht als Vergleich für dasLebensendedenLebensbeginnheranundnimmtdamitsehrvielspätereErkenntnisseüberdasGeburtstraumavorweg:„WennsojedermannAbschiedaufErdengegebenist,dannsollmansichalleinzuGottrichten,wohinderWegdesSterbenssichauchkehrtundunsführt.UndhierbeginntdieengePforte,derschmaleSteigzumLeben.Daraufmußsichein jedergetrostgefaßtmachen.Denneristwohlsehreng,eristabernichtlang.Undesgehthierzu,wiewenneinKindausderkleinenWohnunginseinerMutterLeibmitGefahrundÄngstengeboren wird in diesen weiten Himmel und Erde, das ist unsere Welt; ebenso geht derMenschdurchdieengePfortedesTodesausdiesemLeben.[...]SomußmansichauchimSterbenaufdieAngstgefaßtmachenundwissen,daßdanacheingroßerRaumundFreudeseinwird.”

6Luther,Sermon,685-697.Zitiertwirdnach:Luther,Schriften,15-34.7DieZitationderbiblischenTexteerfolgtinderFassungderrevidiertenLutherbibel2017.8 Johannespassion, BWV 245, unter der Nummer 28. Im Evangelischen Gesangbuch und bereits in dessenVorläufer,demEvangelischenKirchengesangbuch, istderChoralnichtenthalten.DenHinweisaufdenChoralverdanke ich Prof. Hans Darmstadt (vgl. Darmstadt, Johannes-Passion, 159). – Generell finden sich in derJohannespassionvieleinMusikgefassteGedankenausLuthersSchrift,s.dazuimfolgenden.

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LuthersSermonvonderBereitungzumSterben

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Die Ängste, die der Mensch im Sterbeprozess erlebt, sind verschiedener Art, kreatürlich,körperlich,seelisch,geistlich.DieerstendreiFormenderAngstsindzuerdulden,gegendieleztegibtesAbhilfe.LutherverbindetdievonihmausgemachtengeistlichenÄngstemitdreiBildern, demBild des Todes, demBild der SündeunddemBild derHölle undder ewigenVerdammnis.DieseBilderwachsen, stellt er fest, siewerdengroßundmächtig,wennderMenschsichdemSterbennähert.InBezugaufdasBilddesTodessagtLuther:„DerTodwirdgroßunderschreckenddadurch,daßdie schwache,verzagteNaturdiesBild zu tief in sichhineinbildet,eszusehrvorAugenhat.[...Und]jetieferderTodbetrachtet,angesehenunderkanntwird,destoschwererundgefährlicherdasSterbenist.”NunhältLuthergenerelldenGedankenandenTodfürnützlichundsogarnotwendig,doch istesfür ihneineFragedesgeeigneten Zeitpunkts.9 Die Mahnungen der ars moriendi aufnehmend, aber seelsorglichwendend,unterscheideterzwischenderBeschäftigungmitdemTodimVollbesitzderKräfteund demNachdenken über den Todwährend des Sterbeprozesses: „Im Leben solltemansichmitdesTodesGedankenübenundsiezuunsfordern,wennernochfernistundeinennicht indieEngetreibt.AberimSterben,wennervonselbstschonallzustarkdaist, istesgefährlichundnichtsnütze.”

Ebensoverhält es sichmitdemBildder Sünde, alsodemBewusstseindereigenenSchuldundderdamitverbundenenVorstellungvonderStrafe,diedieseSündeverdiente,demBildderewigenVerdammnisinderHölle.ImSterbensollsichderMenschdieseBildernichtinsHausladen,sie„gehörenindieseZeitnur,ummit ihnenzufechtenundsieauszutreiben.”Allerdings ist es Luther bewusst, dass das leichter gesagt als getan ist: „Wer nun gutmitihnenfechtenwillundsieaustreiben,demwirdesnichtgenügen,daßersichmitihnenzerrtundschlägtoderringt.Dennsiewerdenihmzustarksein,undeswirdärgerundärger.DieKunst ist'sganzundgar,siefallenzulassenundnichtsmit ihnenzuschaffenzuhaben.Wiegehtdasaberzu?Esgehtsozu:DumußtdenTodindemLeben,dieSündeinderGnade,dieHölle im Himmel ansehen und dich von dem Ansehen oder Blick nicht lassenwegtreiben[...].”

UndwoanderssiehtderMenschdiedunklenBilderumfangenundüberstrahltvomLicht,woanderswerdenTod,SündeundHöllekleinalsimBlickaufChristus,derselbstdasÜbermaßvon Leben, Gnade und Himmel ist. Die dritte Strophe aus Valerius Herbergers 1613, fasthundertJahrenachLuthersSermonentstandenemChoral„Valetwillichdirgeben”(EG523),von Johann Sebastian Bach noch einmal etwa hundert Jahre später kongenial vertont10,nimmtdenGedanken Luthers auf: „InmeinesHerzensGrundedeinNamundKreuz alleinfunkeltallZeitundStunde,draufkannichfröhlichsein.ErscheinmirindemBildezuTrostinmeinerNot,wiedu,HerrChrist,somilde,dichhastgeblut´zuTod.“

9 Hier wird besonders deutlich, dass Luther im Sermon neben aller theologischer Argumentation deutlicheseelsorglicheAkzentesetzt.10EsgibtverschiedeneVertonungendesChoralsindenWerkenBachs,eineindrücklichesBeispielfindetsichinderJohannespassion,BWV245,unterderNummer26.

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CorinnaDahlgrün

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DasBilddesGekreuzigten,alleinimGrundedesHerzensfestgehalten,tröstetinallerAngstund Not, auch in der Stunde des Sterbens. Denn der Glaube eignet sich das Kreuzes-geschehenanundschöpftZuversichtausdemBilddesGekreuzigten,ganzso,wieLutheresempfiehlt.Darumsoll,sowiederLuther,derMenschinderAngstvordemTodaufdasLebensehen,aufChristus,derdenTodüberwundenhat,und,inzweiterLinie,auchaufandere,dieindiesemVertrauenaufChristusgestorbensind.Lutherrätalso, imSterbennichtaufdenTodzuschauen,„sonderndumußtdeineAugen,deinesHerzensGedankenundalledeineSinneentschlossenabkehrenvondiesemBildunddenTodstarkundbeharrlichansehennurindenen,dieinGottesGnadegestorbensindunddenTodüberwundenhaben,vornehmlichinChristus[...].DennChristusistnichtsalslauterLeben[...].JetieferundfesterdudiesBildindichhineinbildestundansiehst,destomehrfälltdesTodesBildabundverschwindetvonselbstohneallesZerrenundStreiten.UndsohatdeinHerzFriedenundkannmitChristusundinChristusruhigsterben[...Dumußtdich]umdenTodChristialleinbekümmern,dannwirstdudasLebenfinden.”

EbensowiefürdenTodgiltdasfürdieAngstimGedankenandieeigeneSünde.Auchhierhilftnur,dasBildderGnadeinsichhineinzubildenundvorAugenzuhaben.„DerGnadeBildist nichts anderes als Christus am Kreuz [...]. Wie versteht man das? Das ist Gnade undBarmherzigkeit,daßChristusamKreuzdeineSündevondirnimmt,siefürdichträgtundsieerwürgt,unddiesfestglaubenundvorAugenhaben,nichtdaranzweifeln–dasheißt,dasGnadenbildansehenundinsichhineinbilden.”

Und schließlich gilt das auch für das Bild der Hölle:Weil Christus am Kreuz die Hölle derGottverlassenheit erlitten hat, ist in diesem Bild des Gekreuzigten des Menschen Hölleüberwunden „und deine ungewisse Erwählung gewiß gemacht.” Am Kreuz „hat [Christus]unssichselbstbereitetalseindreifältigesBild,unsermGlaubenvorAugenzuhalten[...].Eristdas lebendigeundunsterblicheBildwiderdenTod,denererlittenunddochmitseinerAuferstehung von den Toten überwunden hat in seinem Leben. Er ist das Bild derGnadeGotteswiderdieSünde,dieeraufsichgenommenunddurchseinenunüberwindlichenGe-horsamüberwundenhat. Er ist das himmlischeBild: Er, der verlassen ist vonGott als einVerdammterunddurchseineallermächtigsteLiebedieHölleüberwundenhat,bezeugt,daßerder liebsteSohn seiunddaßunsallendies zueigengegeben,wennwiresglauben.”–„Wenndualleindarumdichbekümmerstunddasglaubstalsfürdichgeschehen,sowirstduin diesemGlauben gewiß errettet. Darum laß dir's nur nicht aus den Augen nehmen undsuchedichnurinChristusundnichtindir,sowirstdudichaufewiginihmfinden.”

Doch soll „niemand sich vermessen, solcheDinge aus seinen Kräften heraus zu unterneh-men.” DerMensch braucht zu allen Zeiten Hilfe auf dem geistlichenWeg, wie die Sakra-mentesiegewähren,diegewissmachendeZeichenvonGottesGnadenwillensind.Dasgiltauch und besonders imMoment des Sterbens. Darum soll der Mensch nicht meinen, erkönne aus eigenemVermögenentschlossen seineGedanken kontrollieren, „sondern jeder

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LuthersSermonvonderBereitungzumSterben

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sollGottdemütigbitten,daßdersolchenGlauben[...] inunsschaffeunderhalte[...].”DasGebetdarfundsollzuversichtlichsein,betontLuther:DerMensch„sollabersobitten,daßernichtzweifle,dasGebetwerdeerhört.”DennsoweißeresausderHeiligenSchrift,inderGottunseinsolchesBetengebotenhat.UndwennGott„gebotenhat,zubittenundzuver-trauenimGebet,dazuGnadegegebenzubitten–wassolltemanzweifeln,erhabeesdarumallesgetan,weilereserhörenunderfüllenwill!”IndieserZuversichtformuliertdann1656,Luthers Gedanken aufnehmend, Paul Gerhardt in seinen Choralstrophen das Gebet anChristus11:„Wennicheinmalsollscheiden,soscheidenichtvonmir.WennichdenTodsollleiden,sotrittdudennherfür.WennmiramallerbängstenwirdumdasHerzesein,soreißmichausdenÄngstenkraftdeinerAngstundPein.–ErscheinemirzumSchilde,zumTrostinmeinemTod,undlassmichsehndeinBildeindeinerKreuzesnot.Dawillichnachdirblicken,dawillichglaubensvolldichfestanmeinHerzdrücken.Wersostirbt,derstirbtwohl.“

3 DIEPRAKTISCHEUMSETZUNGINDENSEELSORGEBRIEFEN

Luther versucht zu praktizieren, was er lehrt. Allerdings fällt auf, dass er angesichts desnahenSterbensüberzeugenderzutröstenvermagalsnacheinemTodesfall–vielleichtdieFolgeseinereigenenMühemitderTrauer.AlsderneugeboreneSohnseinesFreundJustusJonas imMai1530 (wohlanderPest) stirbt,bitteterzunächstvonderVesteCoburgausMelanchthon, dem Vater, der kurz vor der Geburt zum Reichstag nach Augsburgaufgebrochen ist, diese Nachricht schonend zu übermitteln und ihn zu trösten. Er selbstwollespäterschreiben,damiterdieBetrübnisdesFreundesnichtvermehre12.EinigeTagespäterleiteterseinenBriefanJonasmitderFeststellungein,erseieinbeschwerlicherundunbequemerTröster,daauchseinGemütnichtvollseimitfröhlichenGedanken13.„Duabersehe,dassDugestärktbist inChristus“. 14DasgegenwärtigeLeidenseieineUnterweisungdurchGott, und es sei nötig, damit auch an unserem Leibe die Schriften erfülltwürden –

11Gerhardthatmit„OHauptvollBlutundWunden“,dessenneunteundzehnteStrophehierzitiertsind,denlateinischenHymnus„Salvecaputcruentatum“–wohlvonArnulfvonLöwenim13.Jahrhundertgeschrieben–nachgedichtet (EG 85); wiederum hat Bach den geistlichen Gehalt des Chorals in Töne umgesetzt, unterandereminderMatthäuspassion,BWV244,inChoralNummer62.12Luther,Nr.1567,318:„Noluieiscriberequiequam,neaugeremtristitiam,sedsimularediutiusvolo,utaliotemporescribam.“DieVorgeschichte,dieLuthersseelsorglichesHandelnnachheutigemVerständnisdeutlicherschwerthabendürfte, resultiertausdensichüberschneidendenNachrichtenzwischenWittenberg,CoburgundAugsburg. LutherhatteKatharina Jonas in ihrer Schwangerschaftermutigt,was ihmumsonotwendigererscheinenmusste,alsvondenbishergeborenenvierKindernnureinesüberlebthatte.AufdieNachrichtvonderGeburtdesKindeshinhatteerJonaseineGratulationgeschrieben(währendKatharinaJonasbrieflichdieGeburt und gesundheitliche Problememeldete,was jedoch einen letalen Ausgang nicht erwarten ließ); erstnachAbsendendiesesBriefeshatteLuthervonseinerFraudieNachrichtvondembereitseingetretenenToderhaltenunddaraufhinzunächstMelanchthonzuderenÜberbringenaufgefordert.13„[…]quiaetipsenonabundosatisvernantibiscogitationibusetfloridisaffectibus“,Luther,Nr.1571,323.FürdieUnterstützungbeiderÜbersetzungdankeichFrauChristinBärwaldundHerrnTommyDrexel.14DerFreundsolledieseStärkungannehmen,diebesondersinderSchwachheitzurWirkungkomme–„Sedtuvide,utinChristoroboreris,cuiusopusetartificium,imototumeiusregnumest,utinnostrainfirmitatevirtusetvictoriacrescat.“(Ebd.)

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CorinnaDahlgrün

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„werdendiesenichterfüllt,könnenwirnichtunversehrtsein.Aberwirwerdenleben,weildieseerfülltwerden.“LeidenundFreudeseienBestandteiledesLebens,undauchwennwirnurdaseinegernempfingen,solltenwirdasanderedochnichtzurückweisen. Jonassei inseinemLeidnichtallein,erhabeGefährtendarin,vondenenersichdochnichtabwendenwolle. „Ist’s doch eitel Leiden, eins uber das ander“, denn der Feind, der Teufel, schlafenicht.LutherermahntJonasaußerdem,dieGeschenkeGottesinseinemLeben,allenvoranseine Frau, dem gegenwärtigen Übel entgegenzustellen. Zudem werde Christus, der denJungenzusichgeholthabe,besserfür ihnsorgenalsJonasselbsteskönnte,ermögeauchJonas trösten und stärken15. Die Trostgründe sind also: Christus; der Hinweis auf dieLeidensgefährten und die Allgemeinheit des Leidens sowie die Christusnähe darin;schließlich der Hinweis auf die positiven Seiten des Lebens, die wie das Leiden von Gottgegeben seien, der denMenschendadurch unterweise.16 – Inwieweit diese theologischenAussagen,dieMahnungenundRelativierungenfürJonastatsächlichtröstlichgewesensind,seidahingestellt.AusheutigerpoimenischerPerspektivewäremancheseinzuwenden,dochmageseingedenkderinderdamaligenZeitanderenMentalitäteinhilfreicherBriefgewesensein17. Der Brief insgesamt wie der abschließende Verweis auf Christus, der für das Kindsorgenwerde,sindjedenfallsTröstungen,diedemSermonentsprechen.

SeinemaufdenToderkranktenVaterschreibterimFebruardesselbenJahres18:„SolaßtnuninEurerSchwachheitdasHerzfrischundgetrostsein,dennwirhabendortinjenemLebenbei Gott einen gewissen treuenHelfer, Jesus Christus,welcher für uns den Tod samt denSündenerwürgthatundjetztdafürunssitztundsamtallenEngelnaufunssiehtundunserwartet,wennwirheimfahrensollen,daßwirnichtsorgennochfürchtenbrauchen,daßwirversinken oder in den Abgrund fallenwerden. Er hat so große Gewalt über den Tod undSünde,daß sieunsnichts tunkönnen;auch ister soherzlich treuund fromm,daßerunsnicht lassen kann noch will, allein, daß wir’s ohne Zweifel begehren. […] Ist’s aber seingöttlicher Wille, daß Ihr auf jenes bessere Leben noch länger warten sollt und mit unsweiterhinindiesembetrübtenundunseligenJammertalmitleidenundUnglücksehenundhörenoderauchsamtallenChristenhelfentragenundüberwinden,sowirderauchGnadegeben,solchesalleswilligundgehorsamanzunehmen.EsistdochjadiesesverfluchteLebennichtsandersdenneinrechtesJammertal,darinmanjelängerjemehrSünde,Bosheit,PlageundUnglücksiehtunderfährt,undistdesalleskeinAufhörennochAbnehmenda,bismanunsmitderSchaufelnachschlägt;damußesdochaufhörenundunszufriedeninderRuheChristi schlafen lassen, bis er kommt und wecke uns mit Fröhlichsein wieder auf, Amen.HiermitbefehleichEuchdem,derEuchlieberhatalsIhrEuchselbstundsolcheLiebedarin

15 „Dominus Iesus,qui filiolum tuumad se recept,melius curaturusquam tu, te soleturet roboret.“ (A.a.O.,324.)16„Quareteoro,utdisciplinamhanepatrisprudenterferas.“(Ebd.)17DieungebrochenpositiveEinschätzungdiesesSchreibens,dieEbelingformuliert,vermagichallerdingsnichtzuteilen;vgl.Ebeling,Seelsorge,355-363.18Luther,Nr.1529,238-241.Zitiertnach:Luther,Schriften6,110f.

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LuthersSermonvonderBereitungzumSterben

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bewiesen hat, daß er Eure Sünde auf sich genommen und mit seinem Blut bezahlt undsolches Euch durchs Evangeliumwissen lassen und durch seinenGeist solches zu glaubengeschenktundsoallesaufsgewissestebereitetundversiegelthat,daßIhrEuchnichtmehrwedersorgennochfürchtenbraucht,nurdaßIhrmitEuremHerzenfestundgetrostbleibtan seinem Wort und Glauben. Wenn das geschieht, so laßt ihn sorgen, er wird’s wohlmachen,[…].“DieserBriefentsprichtdenÜberlegungenimSermonsogenau,daßsicheineweitereAuslegungerübrigt.

1571dichteteMartinSchallingseinenChoral „Herzlich liebhab ichdich,oHerr“ (EG397),dessendritteStropheLuthersHinwendungzuChristusebensowieseineZuversichtinReimefasst und wohl darum von Johann Sebastian Bach als letztes Stück der Johannespassionaufgenommen wird: „Ach Herr, laß dein lieb Engeleinam letzten End die Seele meininAbrahamsSchoßtragen,denLeibinsein’mSchlafkämmerleingarsanftohneingeQualundPeinruhnbis am jüngstenTage!Alsdenn vomToderweckemich,daßmeineAugen sehendichinallerFreud,oGottesSohn,meinHeilandundGenadenthron!HerrJesuChrist,erhöremich,erhöremich.Ichwilldichpreisenewiglich!“19

Literatur:

Darmstadt, Hans, Johann Sebastian Bach, Johannes-Passion(BWV 245).Analysen undAnmerkungen zur Kompositionstechnik mit aufführungspraktischen und theologischenNotizen(DortmunderBachforschungen10),Dortmund2010.

Ebeling, Gerhard, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen anseinenBriefendargestellt,Tübingen1997.

Lohse,Bernhard, LuthersTheologie in ihrerhistorischenEntwicklungund ihremsystemati-schenZusammenhang,Göttingen1995.

Luther,Martin,BriefanseinenVaterHansLutherinMansfeld(Nr.1529),WA.B5,238-241.

Luther,Martin,BriefanMelanchthon(Nr.1567),WA.B5,318f.

Luther,Martin,BriefanJustusJonasinAugsburg(Nr.1571),WA.B5,323f.

Luther,Martin,Fastenpostille(1525),WA17/II,1-247.

Luther,Martin,OperationesinPsalmos1519-1521,WA5

Luther,Martin,DiePromotionsdisputationvonPetrusHegemon,3.Juli1545,WA39II,337-401.

19Johannespassion,BWV245,Nummer40.

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CorinnaDahlgrün

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Luther,Martin, Ausgewählte Schriften Bd.2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie,hg.vonKarinBornkammundGerhardEbeling,Frankfurta.M.1990,15-34.

Luther,Martin,AusgewählteSchriftenBd.6:Briefe,hg.vonKarinBornkammundGerhardEbeling,Frankfurta.M.1990.

Luther,Martin,EinSermonvonderBereitungzumSterben(1519),WA2,680-697.

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CORINNADAHLGRÜN

CHORÄLEDERREFORMATION1

LUTHERALSLIEDERDICHTER

MartinLuther istmitPsalmenundLiedernaufgewachsen.WährendseinerSchulzeit,alsersichvon1498bis1501anderEisenacherLateinschulezuSt.GeorgenaufseinStudiumvor-bereitete,verdienteersichdenLebensunterhaltimChorusmusicus,alsKurrendesänger.2

ErkanntealsodasSingenvonJugendan,underliebtedieMusik,wieerselbstsagte.SieseieineGottesgabe,einGeschenkGottesvongroßerMacht3:Siemachefröhlich,haltenegativeImpulseimZaumundverjagedenTeufel4.SieseieinMittel,dieOrdnungderWeltgegenalleKräftederZerstörungaufrechtzuerhalten5.SieweckeundstärkedenGlauben6.UndsieseieinVorscheinderEwigkeit7.DarumseidieBereitschaftzumSingengeradezueinAnzeichenfürdenrechtenGlauben8–unddasgelteinsbesonderefürLehrerundTheologen.Wernichtsingenkönneoderwolle,solltesichnachLuthersÜberzeugungeinenanderenBerufsuchen.

Luther selbst konnte singen, und er tat es, den zeitgenössischen Berichten zufolge, gern.DieseMusikalität ist seiner Sprache an vielen Stellen anzumerken. Außerdemwar er mitlateinischerPoesieundKunstprosaaufgewachsen,underwandtedasdortErlernteauchaufdiedeutscheSprachean.NichtnurseineLiedverse,auchdievonihmgeformtenProsasätzehaben meist einen klaren Rhythmus, einen einprägsamen Wechsel von Hebungen undSenkungen der Silben, eine Sprachmelodie. Er setzt Vokale und Konsonanten an vielenStellensehrbewusst,ermaltmitKlängen:„UndeswarenHirteninderselbigenGegendaufdemFeldebeidenHürden,diehütetendesNachts ihrerHerde“, soheißt in Lk2,8 inderÜbersetzungLuthersausdemJahr15349.Auffälligvieleanlautende„h“sindindiesemVersder Weihnachtsgeschichte zu finden, fast nur helle Vokale (i, e, ü), dazu eineSatzkomposition, die rhythmisches, zwischen Hebungen und Senkungen schwingendesSprechennahelegt.DerSatzistkomponiert,esbleibtzwareinerzählenderText,docherist 1DerVortrag ist eine gekürzte Fassung von: CorinnaDahlgrün, „Ein festeBurg“. Luther als Sprachkünstler –PsalmenundLieder, in:MargotKäßmann /MartinRösel (Hg.),DieBibelMartin Luthers. EinBuchund seineGeschichte,Stuttgart/Leipzig2016,151-169.2AuchJohannSebastianBachwarwährendseinerEisenacherSchulzeitbis1695alsSchülerderLateinschuleSängerimChorusmusicus.3Luther,Tischrede968,490:„Musicamaximum,immodivinumestdonum,ideoSatanaesummecontrarium,quiapereammultaeetmagnaetentationespelluntur.Diabolusnonexpectat,cumeaexercetur.“4Vgl.Luther,Musik,696;Luther,Psalm,182.5Vgl.Luther,Tischrede1096,532.6Vgl.Luther,Vorrede1524,474undders.,Gesangbücher,484;ders.,PredigtSeptuagesimae,44.7Vgl.Luther,Praefatio,370;ders.,Tischrede4192,191.8Vgl.Luther,Vorrede1545,477.9 ZumVergleichdie Fassungder Einheitsübersetzung von1980: „In jenerGegend lagertenHirtenauf freiemFeldundhieltenNachtwachebei ihrerHerde.“EinweiteresBeispiel inderWeihnachtsgeschichteistderVers12mitdenvielen„i“-lauten,diealshelleVokaledieFreudigkeitderBotschaftspiegeln:„IhrwerdetfindendasKindinWindelngewickeltundineinerKrippeliegen.“

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CorinnaDahlgrün

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in dichterische Sprache gefasst. Es gibt viele andere Beispiele für Luthers dichtendesGestalten, den Stabreim in der Gethsemane-Szene etwa, „und fing an zu zittern und zuzagen“ (Mk 14,33), oder auch die Einsetzung des Abendmahls, mit auffallend vielen „a“-LautenzuBeginnunddemStabreimmit„w“,„f“und„v“amEnde:„Dasieaberaßen,nahmJesusdasBrot,dankteundbrachsundgabsdenJüngernundsprach:Nehmet,esset,dasistmein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alledaraus. Das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zurVergebungderSünden.“(Mt26,26-28)

Luther hat auf die Übersetzung der Bibel dichterische Sorgfalt verwandt, er hat einemusikalischeSprachegeschaffen.Wohldarum fanderMusikalität fürdieVerkündigerdesWortes so wichtig: Sie sollten nicht nur den Inhalt verstehen, sie sollten den Gehalt mitganzemHerzen,mitdemGemüt,mitderSeeleaufnehmenundweitergebenkönnen.DazumusstensieimUmgangmitderMusikgeübtsein,siemusstensingenkönnen.

DochnichtnurPfarrerundLehrer,auchdieGemeindensolltensingen,siesolltenmitihremGebet und ihrem Lobgesang dankend auf Gottes Wort antworten und in ihren LiedernGottes große Taten singend ausbreiten. Denn der Gottesdienst sei nichts anderes, soformulierteLutherspäter inderPredigtzurEinweihungderTorgauerSchloßkirche imJahr1544, als „dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wirwiederummitihmredendurchGebetundLobgesang.“10

Damit bekam die Gemeinde eine bis dahin unbekannte Verantwortung:Während sie dasganzeMittelalter hindurch lediglich passive Zuschauerin des priesterlichen Tuns gewesenwar, sollte sie nun entsprechend dem Priestertum aller Getauften selbst handeln. DerGemeindewurdeindengottesdienstlichenReformenLutherserstmalseineaktiveAufgabeim Geschehen der Messe gegeben, erstmals war die Verkündigung auch in ihren Mundgelegt. Doch um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, brauchte sie Gebete in derMuttersprache, sie brauchte Gesänge mit singbaren Melodien, die in ihrer Sprachegeschriebenwarenunddiesicheinprägten,siebrauchtedeutschePsalmenundLobgesänge,deutschegeistlicheLieder,wieLuthermitHinweisaufKol3,1611festhält:„LassetdasWortChristiuntereuchreichlichwohneninallerWeisheit,lehretundvermahneteuchselbstmitPsalmenundLobgesängenundgeistlichenlieblichenLiedernundsingetdemHerrnineuremHerzen.“

Luther erläutert diese Stelle in der Fastenpostille von 1525: „[Der] Unterschied der dreiWörter ‚Psalmen’, ‚Lobgesänge’ und ‚Lieder’, meine ich, sei dieser, dass er [der Apostel],[mit] den Psalmen eigentlich die PsalmenDavidsmeine und andere im Psalter. [Mit] den 10Luther,PredigtTorgau,588.11EntsprechendesfindetsichinEph5,19. Interessant ist,dassLuther inderFassungvon1534diegeistlichenLiedermit einem zusätzlichenAdjektiv versehenhat: „lieblich“ solltendie Lieder sein.Darindrückt sich seinAnspruchandiehoheQualitätaus,dieeineMusiknachseinerAuffassungauszeichnenmusste,wennsie fürdenGottesdienstgeeignetseinsollte.

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LutheralsLiederdichter

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LobgesängendieanderenGesängeinderSchrift,die[mitunter]vondenProphetengemacht[sind], wie Mose, Deborah, Salomo, Jesaja, Daniel, Habakuk; ebenfalls das Magnificat,Benedictus und dergleichen, die man Cantica nennt. [Mit] geistlichen Liedern aber dieLieder, die man außerhalb der Schrift von Gott singt, welche man täglich machen kann.Darumnennterdieselben ‚geistlich’,mehralsdiePsalmenundLobgesänge,vondenenerwohlwusste,dasssieschon[fürsich]selbstgeistlichsind.AberindenLiedernverwehrteruns, dieweltlichen, fleischlichen und unschönenGesänge zu brauchen, sondernwill, dassunsereLiedervongeistlichenDingenlautensollen,diedatüchtigsind,unsetwaszulehrenoder [uns] zu vermahnen, wie er hier sagt.“12 – Diese drei Gattungen sollen nun, jeweilsanhandeinigerBeispiele,genauervorgestelltwerden.

1.PSALMEN

DiePsalmeninderÜbersetzungMartinLutherssindfürvieleGenerationenvonChristinnenundChristeneinunverzichtbaresGebetbuchfürdietäglichgelebteFrömmigkeitgeworden,sei es in der privaten Andacht, sei es in den vier Gebetszeiten des Tagzeitengebets (amMorgen [Matutin,Mette}, amMittag, am Abend [Vesper] und zur Nacht [Komplet]). Vorallem ihr Klang ist es, ihre verdichtete Sprache, ihr Rhythmus, den Menschen mit derLutherbibelverbindenunddenauchdieRevisionvon2017bewahrt:

IchliegeundschlafeganzmitFrieden;dennalleinDu,Herr,hilfstmir,dassichsicherwohne.(Ps4,9)

WennichsehedieHimmel,deinerFingerWerk,denMondunddieSterne,diedubereitethast:wasistderMensch,dassduseinergedenkst,unddesMenschenKind,dassdudichseinerannimmst?DuhastihnwenigniedrigergemachtalsGott,mitEhreundHerrlichkeithastduihngekrönt.(Ps8,4-6)

DutustmirkunddenWegzumLeben:VordiristFreudedieFülleundWonnezudeinerRechtenewiglich.(Ps16,11)

12Luther,Fastenpostille,121,3-15indemheutigenDeutschetwasangeglichenerWiedergabe.

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Aberdu,Herr,seinichtferne;meineStärke,eile,mirzuhelfen!ErrettemeinLebenvomSchwert,meineinzigesGutvondenHunden!(Ps22,20f.)

DerHerristmeinHirte,mirwirdnichtsmangeln.ErweidetmichaufeinergrünenAueundführetmichzumfrischenWasser.ErerquicketmeineSeele.ErführetmichaufrechterStraßeumseinesNamenswillen.UndobichschonwanderteimfinsternTal,fürchteichkeinUnglück;denndubistbeimir,deinSteckenundStabtröstenmich.(Ps23,1-4)

DerÜbersetzerLutherhaterkennbarundspürbargrößteSorgfaltaufgewandt: JedesWortist bedacht, dessen Stellung im Satz, dessen Vokal- und Konsonantenbestand, dessenemotionaler Gehalt. DieWorte vieler Psalmen sind leicht zu lernen und zu behalten, siebleibenimGedächtnishaften.SoberichtenesimmerwiederSeelsorgerinnenundSeelsorgerin höchst eindrücklicher Weise von ihrer Arbeit mit Demenzkranken – auch wenn allesanderevergessenwurde,dieNamenderKinder,derWohnort,derGeburtstag,dereigeneName:Psalmverse,oftganzePsalmen,könnenmitgesprochenwerden.DieSprachescheintnichtnurdenVerstandderMenschenzuerreichen,sieberührtauch ihreSeelen,sieprägtsicheinundbietetsoeinZuhause,dasbleibt,wennallesandereverschwimmt,einZuhause,aufdasinZeitenderNotzurückgegriffenwerdenkann.

LuthersPsalmenübersetzungensindjedochnichtseineeinzigeAnnäherungandiesegroßenGebetederJudenundChristengeblieben.ImJahr1524schrieberselbstvierKirchenliederaufihrerGrundlage,TextundMelodievon„AustieferNot“(EG299zuPsalm130)und„AchGott,vomHimmelsiehdarein(EG273zuPsalm12),dazudenTextvon„EswolleGottunsgnädigsein“(EG280zuPsalm67)sowiedieStrophen3und4von„WoGottderHerrnichtbeiunshält“13(EG297zuPsalm124).

AuchandereDichterhabensichimmerwiedervonLuthersPsalmübersetzungeninspirierenlassen: Bereits 1531 entstand, wohl in Augsburg, eine Nachdichtung des 23. Psalms, aufeinerMelodievonJohannWaltervon1524(EG274).BesondersbekanntistdasAdventsliednach Psalm 24 –Macht hoch die Tür (EG 1, der Text von GeorgWeissel 1623/1643, dieMelodieausdemJahr1704,inHalleentstanden).EinerderbekanntestenLiederdichterder 13DieStrophen1,2,5und6stammenvonLuthersFreundJustusJonas(1493-1555).

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LutheralsLiederdichter

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lutherischenKirche,PaulGerhardt, istderSprachevonLuthersBibelübersetzungstetsnah,hieristspeziellseinLied„DumeineSeele,singe“nachPsalm146zuerwähnen(EG302)14.Zunennen ist in diesem Zusammenhang schließlich noch der sächsische Pfarrer CorneliusBecker (1561-1604),derdas lutherischeGegenstückzumreformiertenLiedpsalterdichteteunddarindemKlangderlutherschenNachdichtungennahblieb(Vgl.z.B.EG276nachPs34„Ichwill,solangichlebe“;EG288nachPs100„NunjauchztdemHerren,alleWelt;EG295nachPs119„Wohldenen,diedawandeln“).DiePsalmenwiediePsalmliederhabendannihrerseits Musiker inspiriert: Der Beckersche Psalter ist die Grundlage zahlreicherPsalmmotteten vonHeinrich Schütz; die Psalmender Lutherbibel und Luthers Psalmliederfinden sich inKompositionenvon JohannSebastianBachüberFelixMendelssohnBartoldybiszuKomponistenderGegenwartwieGüntherKretzschmarundHansDarmstadt.

2.LOBGESÄNGE

UnterdiesenBegrifffasstLutherdiebiblischenLiederaußerhalbdesPsalters.Vorallemdreidieser Lieder sind bis heute regelmäßig in den Tagzeitengebeten in Gebrauch, auch vieleevangelischeChristinnenundChristenbeten sie täglich: dieneutestamentlichenCantica.15SimeonsLobgesanghatLuther1524zusätzlich ineinGemeindeliedgefasst:„MitFriedundFreudichfahrdahin“(EG519).

Auch für die Cantica gilt, was bereits für die Psalmen gesagt wurde: Es sind sorgfältigkomponierte, gesangliche Texte mit genau und bewusst gesetzten Worten undeinprägsamem Rhythmus. Dieswird vor allem im Vergleich deutlich, wie unterschiedlicheÜbersetzungenvonLk1,51zeigenkönnen:

ErübtGewaltmitseinemArmundzerstreut,diehoffärtigsindinihresHerzensSinn.(Luther2017)

ErvollbringtmitseinemArmmachtvolleTaten:Erzerstreut,dieimHerzenvollHochmutsind.(Einheitsübersetzung1980)

GewaltigeshatervollbrachtmitseinemArm,zerstreuthater,diehochmütigsindinihremHerzen.(ZürcherBibel2007)

14GerhardtschriebdasLied1653,dieMelodieausdemJahr1666stammtvonJohannGeorgEbeling.15 Das Benedictus, der Lobgesang des Zacharias nach der Geburt Johannes’ des Täufers, hat seinen Ort imMorgengebet(Lk1,68-78);dasMagnificat,derLobgesangderMarianachdemSegensgrußderElisabeth,wirdin jederVespergebetet(Lk1,46b-55);unddasNuncdimittis,dieWortedesSimeonbeimAnblickdesKindesJesus, in dem er den verheißenenMessias erkennt, werden in der Komplet, im Nachtgebet gesprochen (Lk2,29-32).

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CorinnaDahlgrün

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Alle Übersetzungen versuchen, die poetische Struktur des Verses abzubilden; doch dieFassung der Lutherbibel ist nach dem Urteil verschiedener Literaturwissenschaftlerbesonders rhythmisch, kurz und prägnant, indem das Subjekt nur einmal am Anfang desVerses erscheint, indem das Substantiv der ersten Vershälfte, das „Gewaltige“, die„machtvollen Taten“, in das Verb hineingenommen wird, und indem in der zweitenVershälfte „Hochmut“ als Adjektiv „hoffärtig“ erscheint, das überdies eine etwas andereNuancierungaufweist:„Hoffärtig“lässtdasaktiveMomentdes„Hochfahrenden“deutlicheranklingen, als es im„hohenMut“enthalten ist.DieWendung „in ihresHerzensSinn“gibtden griechischen Text freierwieder als die anderenÜbersetzungen, die lediglich –korrektübersetzend– „imHerzen“bzw. „in ihremHerzen“verwenden,doch schafft LutherdamiteinBild,daswiederumdieAssoziationdesdenkenden,aktivplanendenMenschenwachruftund zudem an 1. Mose 8,21 erinnert, an das „Dichten und Trachten des menschlichenHerzens“. Diese durch seine dichterische Sprache eröffneten Assoziationsräume sind eineweitereStärkederÜbersetzungskunstLuthers.

Die Cantica, vor allem das Magnificat und das Nunc dimittis, sind immer wieder vertontworden.VomLobgesangderMariafindensichmehralseinhunderfünfzehnKompositionen,einigen davon liegt der deutsche Text der Lutherbibel zugrunde, so den Chorstücken vonHeinrichSchützundSamuelScheidt,vonAndreasHammerschmidt,GeorgPhilippTelemannund Johann Sebastian Bach, der einmal den lateinischen Text der Vulgata, einmal dendeutschenTextderLutherbibelverwendete,vonHerbertCollumundChristophDalitz.DasNunc dimittis in der Übersetzung Luthers gibt es zum Beispiel in den Vertonungen vonHeinrichSchütz(indenMusikalischenExequien),DietrichBuxtehudeundFelixMendelssohnBartholdy.BachhatsowohlimActusTragicuswieinseinerKantateBWV125aufdenChoralLuthers zurückgegriffen, also nicht den liedhaft gedichteten Bibeltext, sondern dessenNachdichtungverwendet–LuthersmusikalischeSpracheführteundführtimmerwiederzuihrermusikalischenUmsetzung.

3.GEISTLICHELIEDER

Die Psalmen und Lobgesänge hatte Luther in seiner Bibelübersetzung in die deutscheSpracheübersetzt,damitsiedenGemeindenzugänglichwürden.1523hatteerzudemmitderReformdesGottesdienstesbegonnen,derkünftig inderVolkssprachegefeiertwerdensollte. Doch es fehlten noch deutsche Lieder für den liturgischen und gottesdienstlichenGebrauch.LutherbatSpalatin16undandereumHilfe,dochals–außervonPaulSperatus17–Reaktionenzunächstausblieben,machteersichselbstandieArbeit.

16 Georg Spalatin (1484-1545) war Hofkaplan und Hofprediger des Kurfürsten Friedrichs III. des Weisen inSachsen;seit1509hatteerfürdenkursächsischenHoflateinischeTexteinsDeutschezuübersetzen;auchzurÜberarbeitungvonLuthersBibelübersetzungwurdeerhinzugezogen.

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LutheralsLiederdichter

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InsgesamtdreiundvierzigLiederschrieber,davonsindsiebenunddreißigKirchenlieder.DieseChorälesindzumeistauchimgegenwärtigbenutzenGesangbuchzufindenundwerdenbisheutegesungen;besondersbekanntistzweifellosdie„HymnederReformation“,„EinfesteBurgistunserGott“,einefreieNachdichtungvonPs46(EG362,TextundMelodie1529)18.DenmeistenLiedernliegenlateinischeHymnenzugrunde,dochfünfLiedersindvonLutherohne Vorlage gedichtet im Bestreben, seine theologischen Grundüberzeugungen von derRettungdesMenschenalleinausderGnadeGottes,alleinausdemGlaubenanChristus,denHeiland, und von derMacht des lösendenWortes in erinnerbarerWeise den Gemeindeneinzuprägen.

Der Theologe, Kirchenmusiker und Komponist Christoph Albrecht charakterisiert LuthersLiederinseiner„EinführungindieHymnologie“sehrtreffendalszumeistkomprimiertund–imVergleichetwazuPaulGerhardt–meistkurz,dabei„durchauspersönlich,ohnejedochins Subjektive abzugleiten. Die Sichtungen sind kraftvoll und urwüchsig in Satzbau,WortschatzundReim.“19DabeiseiderReimhäufigunrein(z.B. inderzweitenStrophevon„Nun komm, der Heiden Heiland“: Held / eilt). Stets jedoch vermittelten seine Lieder diereformatorischeTheologie. „Wasein Jesuitenpaterüberdie Lieder Luthers sagte,nämlich,daß siemehr Seelen dem katholischen Glauben abspenstig gemacht hätten als alle seinePredigtenundSchriften,trifftsicherzu.“20

EssindmehrereLiedgattungenunterLuthersDichtungenzuunterscheiden.DasältesteganzvonLuther stammendeLied ist „Nun freuteuch liebenChristengmein“ (EG341;TextundMelodie1523),eswurdeerstmalsgedrucktimsogenannten„Achtliederbuch“,derfrühestenSammlungevangelischerChoräle,einemVorläuferallerevangelischenGesangbücher.21

1.Nunfreuteuch,liebenChristeng’mein,undlasstunsfröhlichspringen,dasswirgetrostundallineinmitLustundLiebesingen,wasGottanunsgewendethatundseinesüßeWundertat;garteu’rhater’serworben.

17 Speratus, geboren1484 inRötlen,war zunächst katholischerPriester, der aus etlichen Städten vertriebenwurde,nachdemer LuthersTheologie zu vertretenbegannund zudemdenZölibat angriff.Um1523kamernachWittenberg,1524wurdeerHofpredigerAlbrechts I.vonBrandenburg-Ansbach inKöngisberg,von1530biszuseinemTod1551warerlutherischerBischofinMarienwerder.18Diesgiltungeachtetderseelsorglichwieethischnichtunproblematischen4.Strophe,indernebenGutundEhr’auchKindundWeibfürdasGottesreichrechtunbekümmertdahingegebenwerden.19Albrecht,Hymnologie,17.20Albrecht,Hymnologie,22.21 Enthalten sind außerdem „Es ist das Heil uns kommen her“ (Speratus), „In Gott gelaub ich, das er hat“(Speratus),„HilfGott,wieistderMenschenNot“(Speratus),„AchGott,vomHimmelsiehdarein“(Luther),„EssprichtderUnweisenMundwohl“(Luther),„AustieferNotschrei ichzudir“(Luther),„InJesuNamenhebenwiran“(zweistimmigerSatz,anonym).

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CorinnaDahlgrün

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2.DemTeufelichgefangenlag,imTodwarichverloren,meinSündmichquälteNachtundTag,darinichwargeboren.Ichfielauchimmertieferdrein,eswarkeinGutsamLebenmein,dieSündhatt’michbesessen.3.MeingutenWerk,diegaltennicht,eswarmitihn’verdorben;derfreiWillhassteGottsGericht,erwarzumGutnerstorben;dieAngstmichzuverzweifelntrieb,dassnichtsdennSterbenbeimirblieb,zurHöllenmusstichsinken.4.DajammertGottinEwigkeitmeinElendübermaßen;erdachtanseinBarmherzigkeit,erwolltmirhelfenlassen;erwandtzumirdasVaterherz,eswarbeiihmfürwahrkeinScherz,erließ’sseinBesteskosten.5.ErsprachzuseinemliebenSohn:„DieZeitisthierzuerbarmen;fahrhin,meinsHerzenswerteKron,undseidasHeildemArmenundhilfihmausderSündenNot,erwürgfürihndenbitternTodundlassihnmitdirleben.“6.DerSohndemVaterg’horsamward,erkamzumiraufErdenvoneinerJungfraureinundzart;ersolltmeinBruderwerden.GarheimlichführterseinGewalt,erginginmeinerarmenG’stalt,denTeufelwollterfangen.

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LutheralsLiederdichter

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7.Ersprachzumir:„Haltdichanmich,essolldirjetztgelingen;ichgebmichselberganzfürdich,dawillichfürdichringen;dennichbindeinunddubistmein,undwoichbleib,dasollstdusein,unssollderFeindnichtscheiden.8.VergießenwirdermirmeinBlut,dazumeinLebenrauben;dasleidichallesdirzugut,dashaltmitfestemGlauben.DenTodverschlingtdasLebenmein,meinUnschuldträgtdieSündedein,dabistduseligworden.9.GenHimmelzudemVatermeinfahrichvondiesemLeben;dawillichseinderMeisterdein,denGeistwillichdirgeben,derdichinTrübniströstensollundlehrenmicherkennenwohlundinderWahrheitleiten.10.Wasichgetanhabundgelehrt,dassollstdutunundlehren,damitdasReichGottswerdgemehrtzuLobundseinenEhren;undhütdichvorderMenschenSatz,davonverdirbtderedleSchatz:daslassichdirzurLetze.“

Das Lied enthält biographische Aspekte, ist aber vor allem eine große Ermutigung dergeängsteten Gewissen: Luther beschreibt das Verfallensein an die Sünde, die Angst vorGottes Gericht, die Unfähigkeit zu gutenWerken, die er in seiner Klosterzeit erlebt hatte(Strophen 2 und 3). Er betont Gottes freien Willen, sich aus Mitleid des Menschen zuerbarmen(Strophen4und5).Erbeschreibtdie„füruns“erfolgteMenschwerdungunddieSendungdesHeiligenGeistes(Strophe6,8und9)undbetontdieses„pronobis“persönlich

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CorinnaDahlgrün

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zugewandt,„fürdich“(Strophe7).DarauserwächstbleibendeVerbundenheitmitChristus,diedenMenschenzurSeligkeitführt– jetztundinEwigkeit,wennderMenschden„edlenSchatz“gutbewahrt (Strophe10).DannaberhatderChristallenGrund,„getrost“zusein,dannkanner„mitLustundLiebesingen“(Strophe1).

Neben den ohne Vorlage entstandenen finden sich erzählende Lieder, die biblischeGeschichtennarrativvermitteln,sozumBeispiel„Christ,unserHerr, zumJordankam“(EG202), das die Taufe Jesu durch Johannes nacherzählt und unter Bezugnahme auf denTaufbefehl (Mk 16,15f.) theologisch deutet. Ein besonderes Gewicht liegt auf derZuwendungder Taufgnade auf die Christen, auf ihrerVergewisserungundderBestärkungihrerZuversicht:

4.AuchGottesSohnhierselberstehtinseinerzartenMenschheit,derHeiligGeistherniederfährtinTaubenbildverkleidet,daßwirnichtsollenzweifelndran:wennwirgetaufetwerden,alldreiPerson’getaufethan,dadurchbeiunsaufErdenzuwohnensichbegeben.

5.SeinJüngerheißtderHerreChrist:‚Gehthin,allWeltzulehren,daßsieverlorninSündenist,sichsollzurBußekehren;werglaubetundsichtaufenläßt,solldadurchseligwerden;einneugebornerMenscherheißt,dernichtmehrkönnesterben,dasHimmelreichsollerben.’

AuchseineKatechismusliederhabendiesevergewisserndeAbsicht,dochzudemaucheinedurchaus pädagogische Intention: Sie sollen der Gemeinde die entsprechendenKatechismusstücke einprägen. Zudem sind sie für bestimmte gottesdienstliche Aufgabengedacht, so soll „Dies sind die heilgen zehnGebot“ (EG 231) auf die Beichte vorbereiten,indem die Gemeinde beim Singen der Strophen bedenken kann, ob sie eines der Geboteverletzthabe:

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11.AlldieGebotunsgebensind,daßdudeinSünd,oMenschenkind,erkennensollstundlernenwohl,wiemanvorGottlebensoll.Kyrieleis.

Ein weiteres Katechismuslied ist „Wir glauben all an einen Gott“ (EG 183); in seinergottesdienstlichenFunktiondientesalsGlaubensbekenntnis,alsAntwortderGemeindeaufdieLesungdesEvangeliums.

Die Nachdichtungen finden sich, neben den bereits genannten Psalmliedern, in denverschiedensten Rubriken des Gesangbuches, zum Beispiel im Advent: „Nun komm, derHeidenHeiland“wurde von Luther 1524 nach dem lateinischenHymnus „Veni redemptorgentium“verfasst,dieMelodiestammtausdem12.JahrhundertundwurdevonLutherfürseinAdventsliedaufgenommen.WeitereBeispielesinddaslutherscheTeDeum(„HerrGott,dich loben wir“, EG 191 von 1529), die 1524 geschriebenen Strophen 2 und 3 desPfingstliedes„Komm,HeiligerGeist“(EG125)nachderAntiphon„Venisanctespiritus,reple“aus dem 11. Jahrhundert und das Abendlied „Der du bist drei in Einigkeit“ (EG 470), daseinemHymnusausdem9.Jahrhundertnachgedichtetist,„OLuxbeatatrinitas“22.

Ein Passionslied hat Luther nicht geschrieben; das Kreuz spielt für ihn zwar in fast allenLiederneinewichtigeRolle,docherbetrachtetdasLeidenChristiniefürsich,sondernimmereingebunden indasOstergeschehenoder in seiner vergewisserndenBedeutung „füruns“.Ein sehr charakteristisches Beispiel ist „Christ lag in Todesbanden“ (EG 101; Text undMelodie1524;derText ist teilweiseeinerSequenzdesWipovonBurgundnachgedichtet),dasinseinerviertenStrophemitdemBildderbeidenTode,dereneinerdenanderenfrißt,einemittelalterlicheTraditionaufnimmt,dasOsterlachen.

LutherhatmitseinerBibelübersetzungdiedeutscheSprachegeformt.ErhatdiebiblischenTexte dabei in eine besondere Sprache gefasst und sie durch seine theologischenErkenntnisseakzentuiert.ErhatdeutscheKirchenliedergedichtet,dieinstarkenBildernundeinprägsamer Sprache die zentralen Themen seiner Theologie vermitteln. Sowohl seineBibelübersetzung wie seine Lieder sind bis heute in Gebrauch; einzelne Christen wieGemeindennutzensieinihrerAndacht,sielesenundbedenkendieBibelworte,siebetenimStundengebetdiePsalmenunddieneutestamentlichenCanticaundsingenLuthersgeistlicheLieder.Komponistenwerdenauchgegenwärtig immerwiedervondenebensostarkenwieeinfühlsamenSprachbildernzumSchreibenkirchenmusikalischerWerkeveranlasst.UndbisheutegibtesChöreundKurrenden,diewieLuthersichderTheologiesingendnähernundso

22DieMelodiebegegneterstmalsinMailandum650,danninreformatorischemKontext1545inStraßburg.

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ein Gefühl für die besondere Dichtkunst entwickeln können, die Luthers Texten zugrundeliegt.

Literatur:

Christoph Albrecht, Einführung in die Hymnologie, Göttingen, 4. überarbeitete underweiterteAuflage1995.

Luther,Martin,Fastenpostille(1525),WA17/II,1-247.

Luther,Martin,ÜberdieMusik(Traktat Περι της μουσικης),WA30/II,696.

Luther,Martin,Praefatiozudensinfoniaeiucundaevon1538,WA50,368-374.

Luther,Martin,PredigtamSonntagSeptuagesimae,24.Januar1529zuMt20,WA29,37-45.

Luther,Martin,Predigtam17.SonntagnachTrinitatisbeiderEinweihungderSchloßkirchezuTorgaugehalten,WA49,588-615.

Luther,Martin,Psalm5,in:OperationesinPsalmos1519-1521,WA5,125-199.

Luther,Martin,TischredeNr.968, in: TischredenausdererstenHälftederdreißiger Jahre(SammlungenVeitDietrichsundMedlers),WATischreden1,490f.

Luther,Martin,TischredeNr.1056, in:TischredenausdererstenHälftederdreißigerJahre(SammlungenVeitDietrichsundMedlers),WATischreden1,532f.

Luther, Martin, Tischrede Nr. 4192, in: Tischreden 1538-40 (Sammlungen Khummers,NachschriftenMathesiusu.a.),WATischreden4,191.

Luther,Martin,DieVorredezumBabstschenGesangbuch1545,WA35,476f.

Luther,Martin,VorredeaufallegutenGesangbücher(FrauMusica),WA35,483f.

Luther,Martin,DieVorrededesWittenbergerGesangbuchesvon1524,WA35,474f.

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ANHANG1:DERFLYERDERTAGUNG

Tradition und Innovation in der Spiritualität Martin Luthers

14. – 16.09.17 Exerzitien- und Bildungshaus Himmelspforten, Würzburg

Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität

Kontakt Vorsitzender Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger Institut für Moraltheologie Katholisch-Theologische Privatuniversität Linz Bethlehemstr. 20 A-4020 Linz E-Mail: [email protected] Geschäftsführer Prof. Dr. Cornelius Roth Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft und Spiritualität Theologische Fakultät Fulda Domdechanei 5 36037 Fulda E-Mail: [email protected] Bankverbindung Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität IBAN: DE84 75090300 0002185865 BIC-Code: GENODEF1M05 LIGA Bank Regensburg eG

www.theologie-der-spiritualitaet.de

Mitgliedschaft und Gäste Sie beschäftigen sich mit christlicher Spiritu-alität und interessieren sich für die Teilnah-me an unseren Veranstaltungen?

Gern sind Sie bei unseren Tagungen als Gast willkommen. Bitte nehmen Sie Kontakt zu unserem Geschäftsführer Prof. Dr. Corneli-us Roth auf, um weitere Informationen zu erfragen oder sich verbindlich anzumelden. Sie lehren Theologie im akademischen Be-reich und legen dabei besonderen Wert auf die spirituelle Dimension oder einen spiritu-ellen Zugang zu theologischen Fragestellun-gen? Dann freuen wir uns, wenn Sie Mitglied in unserer Arbeitsgemeinschaft werden möch-ten. Bitte nehmen Sie Kontakt zu unserem Vorsitzenden Prof. Dr. Michael Rosenberger oder zu unserem Geschäftsführer Prof. Dr. Cornelius Roth auf, um weitere Informatio-nen zu erfragen oder sich als Mitglied re-gistrieren zu lassen. Anmeldung Mitglieder der AGTS erhalten das Anmelde-formular per Post bzw. E-Mail von der Ge-schäftsführung zugesandt. Anreise Informationen zur Anreise nach Würzburg Himmelspforten erhalten Sie unter: www.himmelspforten.net/kontakt/anfahrt

IMPRESSUM Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität, Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger, Bethlehemstr. 20, A-4020 Linz; Gestaltung: Anja Conrad; Bilder: gemeinfrei/Wikimedia Commons: Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553) Portrait Martin Luthers als Junker Jörg (1521/22); ders., Martin Luther (1520); ders. Portrait Martin Luthers (1528).

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Anhang1

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Tradition und Innovation in der Spiritualität Martin Luthers

Vom Reformationsjubiläum sprechen viele, der Name Martin Luthers taucht in diesem Jahr häu-fig auf – doch wie steht es mit den Inhalten der Reformation? Was bewegte den ehemaligen Au-gustiner und unfreiwilligen Kirchengründer geist-lich? Worin verdankte er sich der Frömmigkeit und Theologie vergangener Epochen und welche neuen Akzente setzte er?

Für umfassende Antworten waren Luthers Interessen zu weit gefächert. Aber die genaue Betrachtung eini-ger Beispiele – des Schriftverständnisses, der Seelsor-ge angesichts des Todes, der Frömmigkeit im Kontext des politischen Alltags und der Choraldichtung – kann einen tieferen Einblick in die Spiritualität des Refor-mators gewähren, nicht so sehr im „Reden über“ als vielmehr im „Hören auf“. Darum wird ein wesentli-cher Bestandteil der Tagung die Beschäftigung mit Texten Luthers sein, damit nicht nur das Jubiläum der Reformation gefeiert, sondern auch einige ihrer Inhal-te neu gewonnen werden.

Prof. Dr. Corinna Dahlgrün, Jena

Programm

Donnerstag, 14. September 2017 18.00 Uhr Abendessen

19.00 Uhr Öffentlicher Vortrag mit Diskussion

„Wie kann der Mensch verstehen, was Gott zu ihm

spricht?“ Das Schriftverständnis Martin Luthers im öku-

menischen Dialog

Josef Freitag, Lantershofen Barbara Henze, Freiburg i. B. Peter Zimmerling, Leipzig

Anschließend Vorstellung, Kennenlernen und Beisam-mensein in der Kellerbar.

Freitag, 15. September 2017 07.30 Uhr Möglichkeit zur Eucharistiefeier

08.00 Uhr Frühstück

09.00 – 12.00 Uhr "Was mach‘ ich mit der Angst

vor dem Tod?" Luthers Sermon von der Bereitung zum

Sterben

Historische Einordnung und Einführung in den Sermon – Textarbeit – Überlegungen zur heutigen Rezeption

Corinna Dahlgrün, Jena Barbara Henze, Freiburg i. B.

12.00 Uhr Mittagessen, Mittagspause

14.00 Uhr Kaffee

14.30 – 18.00 Uhr "Bin ich nur für mich alleine

fromm?" Luthers Schrift vom Kriege wider die Türken

Johannes Ehmann, Ludwigshafen

18.00 Uhr Abendessen

19.00 Uhr Ökumenische Vesper zu Psalm 90

Corinna Dahlgrün, Jena Barbara Henze, Freiburg i. B.

Anschl. Mitgliederversammlung

Samstag, 16. September 2017 07.30 Uhr Möglichkeit zur Eucharistiefeier

08.00 Uhr Frühstück

09.00 Uhr "... des‘ Lied ich sing?" Lutherlieder in

Evangelischem Gesangbuch und Gotteslob

Einführung ins Thema – Arbeit an Beispielen

Corinna Dahlgrün, Jena

10.30 Uhr Pause

11.00 Uhr Auswertung und Ausblick

12.00 Uhr Mittagessen

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ANHANG2

MARTINLUTHER,SERMONVONDERBEREITUNGZUMSTERBEN,1519(AUSZÜGE1)

Erstens.WeilderTodeinAbschiedistvondieserWeltundvonallenihrenGeschäften,istesnötig,dassderMenschseinzeitlichesGutinOrdnungbringe,wieessichgehörtoderereszuregeln gedenkt, damit nach seinem Tode kein Anlass zu Zank, Hader oder sonst einemZweifel unter seinen hinterbliebenen Verwandten zurückbleibt. Das ist ein leiblicher oderäußerlicherAbschiedvondieserWelt;hierwirdHabundGutentlassenundverabschiedet.

ZweitenssollmanauchgeistlichAbschiednehmen,dasheißtmansoll freundlich, reinnurum Gottes willen, allen Menschen vergeben, so sehr sie uns auch Leid zugefügt habenmögen.Umgekehrt sollman auch, rein umGotteswillen, von allenMenschenVergebungbegehren; denn zweifellos habenwir vielen von ihnen Leid zugefügt, zummindestenmitbösen Beispiel oder mit zu wenig Wohltaten, wie wir nach dem Gebot brüderlicher,christlicher Liebe schuldig gewesen wären. Das sollen wir tun, damit die Seele nicht mitirgendwelchenHändelnaufErdenbehaftetbleibe.

Drittens. Wenn man so jedermann auf Erden Abschied gegeben hat, dann soll man sichalleinaufGottrichten.DenndorthinwendetsichundführtunsauchderWegdesSterbens.UndzwarfängthierdieengePfortean,derschmalePfadzumLeben;daraufmusssichjederfröhlichwagen.Denneristwohlsehrenge,abereristnichtlang;esgehthierzu,wiewennein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und ÄngstenhineingeborenwirdindiesenweitenRaumvonHimmelundErde,dasheißtaufdieseWelt:ebensogehtderMenschdurchdieengePfortedesTodesausdiesemLeben,undobwohlderHimmelunddieWelt,worinwirjetztleben,fürgroßundweitangesehenwird,soistesdochalles gegenüber dem zukünftigen Himmel viel engere und kleiner als es der Mutter LeibgegenüberdiesemHimmel ist.Darumheißtder liebenHeiligenSterbeneineneueGeburt,undihrenFesttagnenntmanaufLateinisch„natale“,ihrenGeburtstag.AberderengeGangdesTodesbewirkt,dassunsdiesesLebenweitundjenesengvorkommt.Darummussmanes glauben und an der leiblichen Geburt eines Kindes es lernen. So sagt ja Christus: „EinWeib,wennesgebiert,soleidetesAngst;wennsieabergenesenist,sodenktsienimmerandie Angst,weil einMensch von ihr in dieWelt geboren ist.“ Ebensomussman sich auchbeimSterbenderAngstentschlagenundwissen,dassnachhereingroßerRaumundFreudedaseinwird.[…]

Fünftenssollman jedenfallsmit allem Ernst und Fleiß drauf sehen, dassman die heiligenSakramentegroßachteunddieinEhrenhalte;manverlassesichfreiundfröhlichdaraufundwäge sie gegenüber Sünde, Tode und Hölle so ab, dass sie bei weitem das Übergewichthaben.[…]

1WA2,685-697.DieTextauszügesindentnommen:MartinLuther,AusgewählteSchriftenBd.2:ErneuerungvonFrömmigkeitundTheologie,hg.vonKarinBornkammundGerhardEbeling,Frankfurta.M.1990,15-34.

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Anhang2

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Sechstens.UmdieKräftederSakramentezuerkennen,mussmanvorherdieSchädigungenwissen,gegendiesiekämpfenundwogegensieunsgegebensind.Essinddrei:dieersteistdaserschreckendeBilddesTodes,die zweitedasgrauenerregende,mannigfaltigeBildderSünde, die dritte das unerträgliche und unentrinnbare Bild der Hölle und der ewigenVerdammnis.Nunwächst jedes vondiesendreienundwird großund stark dadurch, dassetwasZusätzlicheshinzukommt.

DerTodwirdgroßundschrecklich,weildie furchtsame,verzagteNaturdiesesBild sichzutiefeinprägt,zusehrsichvorAugenstellt.DazusteuertnunderTeufeldasSeinebei,damitder Mensch in das grässliche Aussehen und Bild des Todes sich vertiefe und dadurchbedrückt, weich und zaghaft werde. Da wird einem nämlich der Teufel wohl alle dieschrecklichen, jähen, bösen Todesfälle vorhalten, die einMensch je gesehen, gehört odergelesenhat;danebenwirdermithineinflechten,wiederZornGotteseinstdaunddortdieSünderheimgesuchtundverderbthat.SowillerdieängstlicheNaturdahintreiben,dasssiedenTodfürchteunddasLebenliebeunddarumsorge;dadurchsollderMensch,mitsolchenGedanken zuvielbelastet,Gott vergessen,denTod fliehenundhassenund soam letztenEnde Gott ungehorsam sich zeigen und bleiben. Denn je tiefer der Tod betrachtet,angesehen und erkanntwird, desto schwerer und bedenklicher ist das Sterben. Im LebensolltemansichmitdemGedankenandenTodbeschäftigenundihnvorunstretenheißen,solangeernochferneistundunsnochnichtbedrängt;imSterbendagegen,wennerschonvonselbstnurallzustarkdaist,istesgefährlichundnichtsnütze.DamussmansichseinBildausdemSinneschlagenundesnichtsehenwollen,wiewirhörenwerden.SohatderTodseineKraftundStärkeinderFurchtsamkeitunsererNaturunddarin,dassmanzurUnzeitihnzuvielansiehtoderbetrachtet.

Siebtens. Die Sünde wächst und vergrößert sich ebenfalls dadurch, dass man sie zu vielansiehtundihrzutiefnachdenkt;dazuträgtdieFurchtsamkeitunseresGewissensbei,dassichselbstvorGottschämtundsichschrecklicheVorwürfemacht.DamithatdannderTeufelein Schwitzbad gefunden, wie er es gesucht hat: da bedrängt er einen; da macht er dieSündensovielundgroß;dawirdereinemalledievorAugenführen,diegesündigthabenund wie viele mit weniger Sünden doch verdammt worden sind. So muss der Menschabermals verzagenoderwiderwilligwerden zumSterben, undmuss somitGott vergessenundsichbleibendungehorsamzeigenbisindenTod.DasistvorallemdieFolgedavon,dassderMenschmeint, ermüsse jetzt die Sünde betrachten und tuewohl recht und nützlichdaran,dasserdamitumgeht;da findeter sichdann so sehrunvorbereitetunduntüchtig,dass auch alle seine guten Werke zu Sünden geworden sind. Daraus muss dann einwiderwilliges Sterben folgen, Ungehorsam gegen Gottes Willen und ewige Verdammnis.DennzumBetrachtenderSündeistdakeinRechtundkeineZeit;dassollmanzuLebzeitentun.SoverkehrtunsderböseGeistalleDinge:imLeben,wowirdesTodes,derSündeundderHölleBildstetigvorAugenhabensollten(wiePsalm51,5steht:„MeineSündensindmirallzeitvorAugen“),datuterunsdieAugenzuundverbirgtunsjeneBilder;imSterben,wowirnurdas Leben,GnadeundSeligkeit vorAugenhaben sollten, tuterunsdannerstdieAugendafür auf undängstigt unsmit den zurUnzeit kommendenBildern, damitwirddierechtenBildernichtsehensollen.

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Luther,SermonvonderBereitungzumSterben(Auszüge)

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Achtens.DieHöllewirdgroßundwächstgleichfallsdadurch,dassmansiezuvielansiehtundzurUnzeitstrengbedenkt.Dazuträgtaußerordentlichvielbei,dassmanGottesUrteilnichtweiß und dass der böse Geist die Seele dahin treibt, dass sie sich mit überflüssigem,unnützem Vorwitz, ja mit dem allergefährlichsten Unterfangen belastet; sie soll dasGeheimnis des göttlichen Ratschlusses erforschen, ob sie zu den Erwählten gehöre odernicht.HierbetätigtderTeufelsein letztes,größtes, listigstesKönnenundVermögen.DenndamitführterdenMenschen,wennersichnicht inachtnimmt,überGotthinaus,dasserZeichenfürdengöttlichenWillensuchtundesnichtertragenwill,dassernichtwissensoll,oberzudenErwähltengehört;ermacht ihmseinenGottverdächtig,dassersichbeinahenach einemandernGott sehnt; kurzum, hier beabsichtigt er, die Liebe zuGottmit einemSturmwindauszulöschenundHassgegenGottzuerwecken.JemehrderMenschdemTeufelfolgtundsolcheGedankenduldet,destogefährdeterstehterdaundkannzuletztnichtmehrdurchhalten;erfälltinHassundLästerunggegenGott.[…]

Neuntens.Nunmussman indiesemStreit allenFleißdaraufverwenden,dassmankeinesdieserdreiBilderin’sHausladeunddenTeufelnichtüberdieTüremale.SiewerdenschonvonselbstnurallzustarkeindringenunddasHerzmitihremAnblick,ihremDisputierenundBeweisenganzundgarinnehabenwollen.[…]

Wernunerfolgreichmitihnenkämpfenundsieaustreibenwill,demwirdesnichtgenügen,sichmitihnenhin-undherzuzerrenundherumzuschlagenoderzuringen;dennsiewerdenihmzustarksein,undeswirdschlimmerundschlimmerwerden.DerKunstgriffist,sieganzundgarfallenzulassenundnichtsmitihnenzutunzuhaben.Wiegehtdasabervorsich?Esgehtsovorsich:DumusstdenTodinVerbindungmitdemLeben,dieSündeinVerbindungmitderGnade,dieHölleinVerbindungmitdemHimmelansehenunddarfstdichvondieserArtdesAnsehensoderBlickesnichtwegtreibenlassen,auchwennalleEngel,alleKreaturen,jasogar(wieesdirvielleichtvorkommt)Gottselbstdiresandersnahelegenwollen(wassiedoch nicht tun; vielmehr verursacht der böseGeist einen solchenAnschein).Wie soll dasangreifen?

Zehntens.DudarfstdenTodnichtanund fürsichansehenoderbetrachten […].Vielmehrmusst du deine Augen, deines Herzens Gedanken und alle deine Sinne gewaltsam vonseinem Bild abkehren und den Tod stark und emsig nur in denen ansehen, die in GottesGnade gestorben sind und den Tod überwunden haben, vor allem in Christus, sodann inallen seinen Heiligen. Sieh, an diesen Bildern wird dir der Tod nicht zum Schrecken oderGrauen, vielmehr verachtet und getötet und durch das Leben erwürgt und überwunden.DennChristusistnichtsalslauterLebenundseineHeiligenauch.JetieferundfesterdudirdiesesBildeinprägstundansiehst,destomehrfälltdesTodesBilddahinundverschwindetvon selbst, ohneallesHin-undHerzerrenundStreiten;und sohatdeinHerz FriedenundkannmitChristusundinChristusgelassensterben[…].EbensodarfstdudichauchnurumdenTodChristikümmern;dannwirstdudasLebenfinden.[…]

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Anhang2

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Elftens.EbensodarfstdudieSündenichtansehenindenSündernundauchnichtindeinemGewissen; auch nicht in denen, die endgültig in den Sünden geblieben und verdammtworden sind; sonst kommst du gewiss ins Hintertreffen undwirst überwunden. Vielmehrmusst du deine Gedanken davon abkehren und die Sünde nur noch im Bilde der Gnadeansehen;dumusstdiesesBildmitallerKraftdireinprägenundvorAugenhaben.DasBildderGnadeistnichtsanderesalsChristusamKreuz,undalleseineliebenHeiligen.Wieistdaszuverstehen?DasistGnadeundBarmherzigkeit,dassChristusamKreuzedeineSündenvondirnimmt,siefürdichträgtundsieerwürgt.UnddasfestglaubenundvorAugenhabenundnichtdaranzweifeln:dasheißtdasGnadenbildansehenundsicheinprägen.[…]Sieh,so[…]sindSündennichtmehrSünden;dasindsieüberwundenundinChristusverschlungen.[…]

Zwölftensdarfst du die Hölle und die Ewigkeit der Pein samt der Frage deinerVorherbestimmung nicht in denen, die verdammt sind, ansehen […]. Dumusst dochGottdarinGottseinlassen,dassermehrvondirweißalsduselbst.DarumsiehtdashimmlischeBild, Christus, an: er ist umdeinetwillen in dieHölle gefahren […] Sieh, in diesemBild istdeineHölleüberwundenunddeineungewisseErwählungistgewissgemacht;dennwenndudich nur darum kümmerst und das als für dich geschehen glaubst, sowirst du in diesemGlaubengewisserrettet.Drum lassdir´snurnichtausdenAugennehmenundsuchedichnurinChristusundnichtindir,sowirstdudichewiginihmfinden.[…]

AmKreuze […]hat [sc.Christus] sich selbst zueinemdreifachenBild fürunsbereitet; dassollenwirunseremGlaubengegendiedreiBildervorhalten,mitdenenderböseGeistundunsre Natur uns anficht, um uns aus dem Glauben zu reißen. Er ist das lebendige undunsterbliche Bild wider den Tod; denn er hat ihn erlitten und hat ihn doch durch seineAuferstehungvondenToteninseinemLebenüberwunden.EristdasBildderGnadeGotteswiederdieSünde;dennerhatsieaufsichgenommenunddurchseinenunüberwindlichenGehorsamüberwunden.EristdasBilddesHimmels;dennindemerwieeinVerdammtervonGott verlassen war und durch seine allermächtigste Liebe die Hölle überwunden hat,bezeugter,dasserder liebsteSohn ist,unddassunsallendasselbezueigengegeben ist,wennwirsoglauben.[…]

Fünfzehntens.NunkommenwirzurückaufdieheiligenSakramenteundihreKräfte,damitwir lernen,wozusiegutundwofürsiezubrauchensind.WemnundieGnadeunddieZeitverliehen ist,dasserBeichteundAbsolution,Kommunionund letzteÖlungempfängt,derhatwohlgroßenAnlass,Gottzulieben,zulobenundzudankenunddannfröhlichzusterben[…]:ChristiLebensolldeinenTod,seinGehorsamsolldeineSünde,seineLiebedeineHölleauf sich genommen und überwunden haben. Dazu wirst du durch diese Sakramente mitallenHeiligeneinemLeibeeingefügtundvereinigtundkommstindierechteGemeinschaftder Heiligen, so dass sie mit dir in Christus sterben, die Sünde tragen und die Hölleüberwinden.Darausfolgt,dassdieSakramenteeinganzgroßerTrostsindundgleichsameinsichtbaresZeichenderGesinnungGottes.[…DiesesZeichen]weisthinaufChristusundseinBild,damitdugegendesTodes,derSündeundderHölleBildsagenkannst:„Gotthatmirseine Zusage gemacht und ein gewisses Zeichen für seine Gnade in den Sakramentengegeben:ChristiLebensollmeinenTod inseinemTodüberwundenhaben,seinGehorsamsollmeineSündeninseinemLeidenvertilgt,seineLiebemeineHölleinseinerVerlassenheitzerstört haben.Dieses Zeichen (die Zusage, dass ich seligwerde)wirdmichnicht belügennoch betrügen. Gott hat es gesagt; Gott kann nicht lügen, weder mit Worten noch mitWerken.“[…]

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Luther,SermonvonderBereitungzumSterben(Auszüge)

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Sechzehntens. Hier kommt es nun am allermeisten darauf an, dass man die heiligenSakramente,inwelchenlauterGottesworte,Gotteszusagen,Gotteszeichengeschehen,hochachte, in Ehren halte, sich darauf verlasse. […] Deshalb istmit den Sakramenten nicht zuscherzen; esmuss der Glaube da sein, der sich darauf verlässt und es fröhlich auf diesesZeichenundVersprechenGotteshinwagt.WaswäredasfüreinSeligmacheroderGott,derunsnichtvomTode,vonderSünde,vonderHölleseligmachenkönnteoderwollte!EsmussetwasGrossessein,wasderrechteGottzusagtundwirkt.

Nun kommt dann der Teufel und flüstert dir ein: „Jawie,wenn ich dann die Sakramenteunwürdig empfangen undmich durchmeine Unwürdigkeit dieser Gnade beraubt hätte?“HiermachedasKreuzdavor,lassdichWürdigkeitoderUnwürdigkeitnichtsanfechten.Schaunur zu, dassdu glaubst, es seien gewisse Zeichen,wahreWorteGottes; dannbist duundbleibstduwohlwürdig.Glaubemachtwürdig,Zweifelmachtunwürdig.[…]

Gott gibt dir um deinerWürdigkeit willen nichts. Er baut auch seinWort und Sakramentnicht auf deineWürdigkeit, sondern aus lauter Gnade baut er dich Unwürdigen auf seinWortundZeichen.[…]

Nunsieh,manfindetvieleLeute,diewolltengernedessengewissseinodereinZeichenvomHimmeldafürhaben,wiesiemitGottdransind,undwolltengerneihreVorherbestimmungzurSeligkeitwissen.AberwennsieschoneinsolchesZeichenbekämen,undsiedochnichtglaubten,-washülfeessie?WashülfenalleZeichenohneGlauben?[…I]ndenSakramentensindWorteGottes enthalten; die dienen dazu, uns Christusmit allem seinemGut (das erselberist)zuzeigenundzuzusagenwiderdenTod,dieSündeunddieHölle.NunkannmannichtsFreundlicheres,BegehrenswertereshörenalsvonderVertilgungdesTodes,derSündeund der Hölle; das aber geschieht durch Christus in uns, wenn wir das Sakrament rechtgebrauchen.DieserrechteGebrauchbestehtinnichtsanderemalsindemGlauben,dassesso ist,wiedieSakramenteesdurchGottesWortzusagenundgeloben.Darumistesnötig,dassmannichtalleindiedreiBilderinChristusanseheunddieGegenbilderdamitaustreibeundfallenlasse,sonderndassmaneingewissesZeichenhabe,dasunsversichert,esseiunssogegeben:dassinddieSakramente.[…]

AchtzehntenssollkeinChristenmenschanseinemEndedaranzweifeln,dassernichtalleinistinseinemSterben,sondernersolldessengewisssein,dass,wiedasSakramentesanzeigt,garvieleAugenauf ihnsehen.ErstensdieAugenGottesselberundChristi,weilerseinemWortglaubtundseinemSakramentanhängt;sodanndieliebenEngel,dieHeiligenundalleChristen.Denndaranist,wiedasAltarsakramentausweist,keinZweifel,dassdieseallesamtherzueilen, ihmdenTod,dieSünde,dieHölleüberwindenhelfenundallemit ihmtragen.[…]

Neunzehntenssollte sich aberniemandanmaßen,dieseDingeaus seineneigenenKräftenfertigzubringen,sondernmansollGottdemütigbitten,dassersolchenGlaubenundsolchesVerständnis seinerheiligenSakramente inuns schaffeunderhalte,damites somitFurchtundDemutzugeheundwirnichtunsdiesesWerkzuschreiben,sondernGottdieEhrelassen.[…]Ersollabersobitten,dassernichtzweifle,seinGebetwerdeerhört. […Ersoll]sagen:„MeinGott,duhastgeboten, zubittenund zuglauben,dieBittewerdeerhört.Daraufhinbitte ichundverlassemichdarauf,duwerdestmichnichtverlassenundmireinenrechtenGlaubengeben.“

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ANHANG3

MARTINLUTHER,VOMKRIEGEWIDERDIETÜRKEN,1529(AUSZÜGE1)[…]Eheichnunvermahneoderauffordere,gegendenTürkenzustreiten,sohöremirdochumGotteswillenzu:ichwilldichzuvorlehren,mitrechtemGewissenKriegzuführen.Dennobwohl ich (wo ich demaltenAdam freie Bahn lassenwollte) stillschweigenund zusehenkönnte, wie mich der Türke an den (geistlichen und weltlichen) Tyrannen (die dasEvangeliumverfolgenundmiralles Leid zufügen) rächteundsiebezahlte, sowill ichdochnicht so tun, sondern beiden. Freunden und Feinden, dienen, daß meine Sonne auchaufgeheüberbeide.BöseundGute,undesüberDankbareundUndankbareregne(Matth.5,45).

Aufs erste: weil das sicher ist, daß der Türke gar kein Recht noch Befehl hat, StreitanzufangenunddieLänderanzugreifen,dienichtseinsind,istseinKriegführenohneZweifeleinreinerFrevelundRäuberei,wodurchGottdieWeltstraft,wieerauchsonstmanchmaldurchböseBubenzuweilenrechtschaffeneMenschenstraft.DennerstreitetnichtausNotoderumseinLanddurchFriedenzuschützen,wieeineordentlicheObrigkeittut,sondernersuchtandreLänderzuraubenundihnenSchadenzutun,dieihmdochnichtstunodergetanhaben,wieeinSeeräuberoderStraßenräuber.EristGottesRuteunddesTeufelsDiener,dashatkeinenZweifel.

Zumzweitenmußmanwissen,werderMannseinsoll,dergegendenTürkenKriegführensoll,aufdaßderselbesichersei,daßerdazuvonGottBefehlhabeundrechtdarantue,nichthineinplumpse, sich selbst zu rächen,oder sonsteine tolleAbsichtundUrsachehabe, aufdaß er, ob er schlüge oder geschlagen würde, in seligem Stand und göttlichem Amtbefundenwerde.DerselbenMännersindzweiundsollenauchalleinzweisein.EinerheißtChristianus,derandereKaiserCarolus.ChristianussollmitseinemHeerdererstesein.

Denn sintemalderTürkeunsersHerrgotts zornigeRuteunddeswütendenTeufelsKnechtist, mußman zuvor vor allen Dingen den Teufel, seinen Herrn, selbst schlagen und Gott(damit) die Rute aus der Hand nehmen, so daß also der Türke für sich selbst, ohne desTeufelsHilfeundGottesHand, imBesitzalleinseinerMachtgefundenwerde.DassollnunHerrChristianustun,dasistderfrommen,heiligen,liebenChristenHaufe;dassinddieLeute,diezudiesemKriegegerüstetsindunddamitumzugehenwissen.DennwonichtzuvordesTürkenGott(dasistderTeufel)geschlagenwird,istzubefürchten,derTürkewerdenichtsoleichtzuschlagensein.NunistderTeufeleinGeist,dermitHarnisch,Geschützen,RoßundMannnichtgeschlagenwerdenkann.UnddamitläßtsichGottesZornauchnichtversöhnen,wiePs.33,17f.geschriebensteht:»ErhatnichtFreudeanderStärkedesRossesundkeinGefallenandenSchenkelndesMannes.DerHerrhatGefallenandenen,dieihnfürchten,dieaufseineGütehoffen«.ChristlicheWaffenundKraftmüssenestun.

1WA30/II,107-148,zitiertnach:LutherDeutschBd.7DerChristinderWelt,hg.vonKurtAland,Göttingen1967;wiederabgedrucktinBd.7derTaschenbuchausgabederUTB,Göttingen1991,94-118.

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Luther,VomKriegewiderdieTürken(Auszüge)

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Hierfragstdu:WersinddenndieChristen,undwofindetmansie?Antwort:Wenigsindsie,aberdennochsindsieallenthalben,obsiegleichseltensindundweitvoneinanderwohnen,unterrechtschaffenenundunterbösenFürsten.DennesmußdieChristenheitbisansEnde(derWeltbestehen)bleiben,wiederArtikelbesagt:»Ichglaube(an)eineheiligechristlicheKirche«. Deshalb muß man sie aber (auch) finden. Die Pfarrer und Prediger sollen einjeglicher ihre Gemeinde aufs allerfleißigste zur Buße und zum Gebet vermahnen. Auf dieBuße sollen sie drängen mit Anzeigen unserer großen unzähligen Sünden undUndankbarkeit,wodurchwirGottesZornundUngnadeverdienthaben,sodaßerunsbilligdemTeufelundTürkenindieHändegibt.UndaufdaßsolchePredigtdestostärkereingehe,mußmandie Exempel und Sprücheder Schrift heranziehen,wie die vonder Sintflut, vonSodom und Gomorra, von den Kindern Israel, undwie greulich und nicht selten Gott dieWelt,LandundLeutegestrafthat,undkräftigunterstreichen,wieeskeinWundersei,dawirwohlschwereralsjenesündigen,daßwirauchärgeralssiegestraftwerden.

EsmußwahrlichdieserStreitmitderBußeangefangenwerden:wirmüssenunserWesenbessern,oderwirwerdenumsonststreiten,wiederProphetJeremia18,7f.sagt:»BaldredeichübereinVolkundKönigreich,daßichesausreißen,einreißenundzerstörenwill;wennessichaberbekehrtvonseinerBosheit,gegendieichrede,soreutmichauchdasUnheil,dasich ihm gedachte zu tun«, und weiter (Jer. 18, 9 ff.): »Bald rede ich über ein Volk undKönigreich,daß ichesbauenundpflanzenwill;wennesabertut,wasmirmißfällt,daßesmeinerStimmenichtgehorcht,soreutmichauchdasGute,dasichihmverheißenhattezutun.UndnunsprichzudenLeuteninJudaundzudenBürgernJerusalems:Siehe,ichbereiteeuchUnheilundhabegegeneuchetwasimSinn.Sobekehrteuchdoch,einjedervonseinenbösenWegenundbesserteuernWandelundeuerTun«usw.DiesenSpruchmögenwirunswahrlich gesagt sein lassen. DennGott denkt gegen uns etwas Böses umunserer BosheitwillenundbereitetdenTürkenbestimmtgegenuns,wiePsalm7,13f.auchsagt:»WiederhateinerseinSchwertgewetztundseinenBogengespanntundzielt.DochsichselberhatertödlicheWaffengerüstet«usw.[…]

Wennsiesobelehrtundvermahntsind, ihreSündezubekennenundsichzubessern, sollmansiedanachalsdannauchmitgroßemFleißzumGebetvermahnenundzeigen,wieGottsolchGebetgefalle,wieersgebotenundErhörungverheißenhat.UnddaßjaniemandseinGebetverachteoderdranzweifle,sondernmitfestemGlaubenderErhörunggewißsei,wiedasalles invielenBüchleinvonunsdargetan ist.DennwerdazweifeltoderaufgutGlückbetetdawärebesser,erließeesbleiben,weilsolchGebetreinesGottversuchenistunddieSache nur ärger macht. Deshalb wollte ich auch der Prozession als einer heidnischen,unnützenWeisewiderratenhaben.DennsieistmehreinGeprängeundScheinalseinGebet.EbensodenkeichauchübervielMessehaltenundHeiligenanrufen.Daskönnteaberetwastun,soman,eswärewährendderMesse,VesperodernachderPredigt, inderKirchedieLitanei, besonders vom jungen Volk, singen oder lesen ließe, und ein jeglichernichtsdestowenigerdaheimbeisichselbstimmerdar,zumwenigstenimHerzen,zuChristusumGnadezumbessernLebenundumHilfegegendenTürkenseufzte.[…]

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Anhang3

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ZusolchemGebetgegendenTürkensollunsnundiegroßeNotbewegen.DennderTürkeist(wie gesagt) ein Diener des Teufels, der nicht allein Land und Leute mit dem Schwertverderbt(welcheswirhernachhörenwerden),sondernauchdenchristlichenGlaubenundunsernliebenHerrnJesusChristusverwüstet.DennobwohletlicheseinRegimentdeswegenloben,weilerjedermannglaubenläßt,wasmanwill,lediglichdaßerderweltlicheHerrseinwill, so ist doch solch Lob nicht wahr. Denn er läßt die Christenwahrlich nicht öffentlichzusammenkommen,unddarfauchniemandöffentlichChristusbekennen,nochgegendenMohammedpredigenoderlehren.WasistdasaberfüreineFreiheitdesGlaubens,damanChristusnichtpredigennochbekennendarf,obwohldochunserHeil indiesemBekenntnisbesteht,wiePaulusRöm.10,10sagt:MitdemMundebekennenmachtselig,undChristusgarstrengbefohlenhat,seinEvangeliumzubekennenundzulehren?

Weil denn nun derGlaube unter solchemwüsten,wildenVolk und bei solchem scharfen,strengenRegimentschweigenundverborgenseinmuß,wiekannerzuletztbestehenoderbleiben,obwohldasdochMüheundArbeitkostet,wennmangleichaufsallertreulichsteundfleißigste predigt? Darum gehts auch so undmuß so gehen:Was aus den Christen in dieTürkeigefangenodersonsthineinkommt,fälltallesdahinundwirdinallenDingentürkisch,sodaßgarselteneiner(Christ)bleibt.DennsieermangelndeslebendigenBrotsderSeelenundsehendasfreie,fleischlicheWesenderTürkenundmüssensichwohl(oderübel)sozuihnengesellen.WiekannmanaberChristusmächtigerzerstörenalsmitdiesenzweiStücken,nämlichmitGewaltundList:mitGewaltderPredigtunddemWortwehren,mit Listbösegefährliche Beispiele täglich vor Augen stellen und zu ihnen anreizen? Auf daß wir nununserenHerrnChristus,seinWortundGlaubennichtverlieren,dürfenwirgegendenTürkennicht anders beten, als gegen andere Feinde unserer Seligkeit und allesGuten, gleichwiegegendenTeufelselbst.

UndhiersolltemandemVolknunalldaswüsteLebenundWesenkundtun,dasderTürkeführt,aufdaßsiedieNotzumGebetdestobesserfühlen.InSumma,wiegesagtist:EsistdadieGrundsuppeallerGreuelundIrrtümer.Solcheswill ichdemerstenMann,nämlichdemChristenhaufen,kundgetanhaben,aufdaßerwisseundsehe,wasfürgroßeNotwendigkeithiervorliegtzubeten,unddaßmanzuvordesTürkenAllah,dasistseinenGott,denTeufel,schlagenundsoseineMachtundGottheitvonihmstoßenmüsse,sonst(habichSorge)wirddasSchwertwenigausrichten.DenndieserMannsollnichtleiblichmitdemTürkenstreiten,wie der Papst und die Seinen lehren, noch ihm mit der Faust widerstreben, sondern imTürkenGottesRuteund Zorn erkennen,welchedieChristenentweder zu erleidenhaben,wennGott ihre Sündeheimsucht, oder gegenden sie alleinmitBuße,WeinenundGebetfechtenund (ihn) verjagenkönnen.WerdiesenRatverachtet,derverachte ihn immerhin:Ichwillzusehen,waserdemTürkenfürAbbruchtunwolle.

Der andere Mann, dem gegen die Türken zu streiten gebührt, ist Kaiser Karl (oder wergerade der Kaiser ist). Denn der Türke greift seine Untertanen und sein Kaisertum an,welcher als eine ordentliche Obrigkeit, von Gott eingesetzt, schuldig ist, die Seinen zuverteidigen. Ich erkläre hier abermals, daß ich niemand aufreizen noch auffordern will,gegendenTürkenzustreiten,esseidenn,daßdieersteWeisezuvorgehaltenwerde,von

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Luther,VomKriegewiderdieTürken(Auszüge)

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derobengeredetist,daßmanzuvorBußetueundGottversöhneusw.WilljemandohnedasKriegführen,derwageesaufseingutGlück.[…]

WirwollennunvomKaiserreden.Erstens:WennmangegendenTürkenKriegführenwill,daßmandasunterdesKaisersGebot, PanierundNamen tue.Dennda kannein jeglicherseinGewissensichern,daßergewißimGehorsamgöttlicherOrdnungsteht,weilwirwissen,daßderKaiserunserrechterOberherrundHauptist.UndwerihminsolchemFallgehorsamist,deristauchGottgehorsam;werihmaberungehorsamist,deristGottauchungehorsam.Stirbteraber imGehorsam,sostirbter ingutemStande,undwoersonstBußegetanhatundanChristusglaubt,sowirderselig.[…]

Zumandern: SolchPanierdesKaisersundGehorsamsoll rechtundeinfältig sein,daßderKaiser nichts anderes suche als einfältig das Werk und die Schuld seines Amtes, seineUntertanenzuschützen,unddie,welcheunterseinemPaniersind,aucheinfältigdasWerkunddieSchulddesGehorsamssuchen.DieseEinfältigkeit sollstdu soverstehen,daßmangegendenTürkennichtausdenUrsachenstreite,durchdiedieKaiserundFürstenbisherzustreitengereizt sind:daßsiegroßeEhre,RuhmundGutgewinnen, ihr Landmehren,oderausZornundRachgierigkeit,undwasdergleichenStückemehrsind.DenndarinwirdbloßerEigennutzgesuchtundnichtdieGerechtigkeitoderderGehorsam.

DeshalbistbeiunsauchbisherkeinGlückgewesen,wederzustreitennochüberdenStreitgegendieTürkenzuberatschlagen.

DeshalbsollmanauchdiesAufreizenundHetzenanstehenlassen,mitdemmandenKaiserund die Fürsten bisher zum Streit gegen die Türken aufgereizt hat: als das Haupt derChristenheit,alsdenBeschirmerderKircheundBeschützerdesGlaubens,daßerdesTürkenGlauben ausrotten solle. Man hat so das Aufreizen und die Vermahnung auf der TürkenBosheit und Untugend gegründet. Nicht so. Denn der Kaiser ist nicht das Haupt derChristenheit noch Beschirmer des Evangeliums oder des Glaubens. Die Kirche und derGlaubemüsseneinenandernSchutzherrnhaben,alsderKaiserundKönigesind.SiesindimallgemeinendieärgstenFeindederChristenheitunddesGlaubens,wiePsalm2,2sagtunddieKircheallenthalbenklagt.UndmitsolchemAufreizenundVermahnenmachtmansnurdestomehr,dieweilmandamitinseineEhreundseinWerkeingreiftundesdenMenschenzueignenwill,welcheseineAbgöttereiundLästerungist.

Auch müßte der Kaiser, wenn er die Ungläubigen und Unchristen vertilgen sollte, beimPapst, den Bischöfen und Geistlichen anfangen, vielleicht auch uns und sich selbst nichtverschonen, denn es gibt greuliche Abgötterei genug in seinem Kaisertum, daß es nichtnotwendig ist, deshalb gegen die Türken zu streiten. Es sind unter uns Türken, Juden,Heiden, Unchristen allzu viel, sowohlmit öffentlicher falscher Lehre wiemit ärgerlichem,schändlichem Leben. Laß den Türken glauben und leben, wie er will, gleich wieman dasPapsttumundandere falscheChristen leben läßt.DesKaisers SchwerthatnichtsmitdemGlauben zu schaffen, es gehört in leibliche, weltliche Sachen. Auf daß nicht Gott auf unszornigwerde,wennwirseineOrdnungverkehrenundverwirren,[…]

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Anhang3

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Sondern so sollteman tun: den Kaiser und die Fürsten ihres Amtes und ihrer schuldigenPflichtvermahnen,daßsiedaraufdächten,ihreUntertanenmitFleißundErnstinFriedeundSchutz gegen den Türken zu haben, gleichviel, ob sie für sich selbst Christenwären odernicht; obwohl es sehr gut wäre, daß sie Christenwären. […] Dennmich dünkt (soviel ichdavon noch an unsern Reichstagen gespürt habe), daß weder Kaiser noch Fürsten selbstglauben,daßsieKaiseroderFürstensind.Dennsiestellensichjaebenso,alsstündees inihrem Gutdünken und Wohlgefallen, ob sie ihre Untertanen vor der Gewalt des Türkenrettenundschützensollenodernicht.UnddieFürstensorgensichauchnichtdarum,nochdenken(siedaran),daßsievorGottaufshöchsteschuldigundverpflichtetsind,demKaisermit Leib und Gut hierin zu raten und ihm behilflich zu sein. […]Gleichwie jetzt auch dergemeineMann: (er)denktnicht,daßeresGottundderWelt schuldig sei,wennereinengeschicktenSohnhat,ihnindieSchulezutunundstudierenzulassen.Sondernjedermannmeint,erhabefreieMacht,seinenSohnnachseinemWillenzuerziehen;esbleibeGottesWort und Ordnung, wo sie wolle. Ja es tun die Ratsherrn in den Städten und fast alleObrigkeitauchso,sielassendieSchulenzugrundegehen,alswärensiedarinfreiundhättenErlaubnis dazu. Niemand denkt, daß Gott es ernstlich gebietet und haben will, diegeschickten Kinder zu seinem Lob undWerk zu erziehen,welches ohne die Schulen nichtgeschehen kann. […] Ebenso tun Kaiser, Könige und Fürsten auch: Sie achtens nicht, daßGottesGebotsienötigt,ihreUntertanenzuschützen[…].Danach,wennKaiserundFürstendasbedenken,daßsieausGottesGebotihrenUntertanensolchenSchutzschuldigsind,sollmansieauchvermahnen,daßsienichtvermessenseienundsolchesausTrotzvornähmenoder sich auf eigeneMacht oder Anschläge verließen […].Darum ists nicht genug, daß duwissest,GotthabedirdiesoderdaszutunbefohlendusollstsauchmitFurchtundDemuttun.DennGottbefiehltnochgebietetniemand,etwasauseigenemRatoderKraft zu tun,sondernerwillauchmit imSpielundgefürchtetsein; ja,erwillsdurchuns tununddrumgebeten sein, auf daßwir uns nicht vermessenund seineHilfe vergessen,wie der Psaltersagt:»DerHerrhatGefallenandenen,dieihnfürchten,dieaufseineGütehoffen«(Ps.147,11).Sonstsolltenwirunswohldünkenlassen,wirkönntenstunundbedürftenGottesHilfenichtundnähmendenSiegunddieEhrefüruns,dieihmdochalleingebührt.[…]

WenndiesezweiStückedasind,GottesGebotundunsereDemut,sohatskeineGefahrnochNot,sofernesdenandernMann,denKaiser,betrifft:sosindwirdennallerWeltstarkgenug,undmußGlückundHeildasein.IstabernichtGlückda,somangeltesgewißaneinemderbeiden, daß man entweder nicht aus Gehorsam gegen göttliches Gebot oder ausVermessenheitKriegführt,oderderersteKriegsmann,derChrist,istnichtdabeimitseinemGebet. Und hier ist nicht nötig zu vermahnen, daß man nicht Ehre noch Beute im Streitsuche, dennwermit Demut und imGehorsam gegen göttlichen Befehl streitet und alleinseinemAmtnacheinfältigSchutzundSchirmseinerUntertanenerstrebt,derwirddieEhreundBeutewohlvergessen.[…]

Weiter höre ich sagen, daßman (Menschen) in deutschen Landen findet, die des TürkenKommenundseinRegimentbegehren,alsdielieberunterdemTürkenalsunterdemKaiseroder den Fürsten sein wollen. Mit solchen Menschen sollts böse gegen den Türken zu

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Luther,VomKriegewiderdieTürken(Auszüge)

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streiten sein. Gegen diese weiß ich keinen bessern Rat, als daß man die Pfarrherrn undPrediger vermahne, daß siemit Fleiß auf der Kanzel fortfahren und solche Leute treulichunterrichten,ihnenGefahrundUntugendeinschärfen,wiegaraußerordentlicherunzähligerSünden sie sich teilhaftig machen und sich vor Gott beladen, wo sie in dieser Meinunggefundenwerden.Dennes ist Jammersgenug,werdenTürkenzumOberherrn leidenundsein Regiment tragen muß; aber freiwillig sich darunter begeben oder danach begehren,wennersnichtbrauchtnochdazugezwungenwird,demsollmananzeigen,waserfürSündetut,undwiegreulicherAnstoßerregt.

Zumersten:daßsolcheMenschentreulosundmeineidigwerdenanihrerObrigkeit,dersiegeschworen und gehuldigt haben, welches vor Gott eine große Sünde ist, die nichtungestraftbleibt.[…]EsmeinenvielleichtsolcheMenschenoderlassensichdünken,esseiinihrer Macht undWillkür, sich von einem Herrn zum andern zu begeben; sie fahren alsodaher, als wären sie frei, hierin zu tun und zu lassen, was sie wollen, vergessen undbedenken nicht Gottes Gebot und ihren Eid, durch den sie gebunden und schuldig sindgehorsamzubleiben,bissiemitGewaltdavonweggezwungenoderdrübergetötetwerden.GleichwiedieBauernimletztenAufruhresauchvornahmenunddrübergeschlagenwurden.[…]

Zum zweiten: daß solche treulosen, abtrünnigen,meineidigen Leute über das alles hinausnochviel greulichere Sünde tun,nämlichdaß sie sichallerGreuelundBosheitder Türkenteilhaftigmachen.DennwersichfreiwilligunterdieTürkenbegibt,dermachtsichzuihremGesellenundMitgenossenallerihrerTaten.Nunhabenwirobengehört,wasderTürkefüreinMannsei,nämlicheinZerstörer,FeindundLästererunseresHerrnJesusChristus,deranStelledes EvangeliumsunddesGlaubens seinen schändlichenMohammedundalle Lügenaufrichtet.DazuverwüsteteralleweltlicheObrigkeitundHauszuchtoderEhestand,undseinKriegführen ist nichts anderes als Mord und Blutvergießen, als eines rechten TeufelsWerkzeug.

Siehe, solcher schrecklichen Greuel muß der teilhaftig sein, der sich selbst zum Türkengesellt,undallderMordundalldasBlut,dasderTürkejevergossenhat,auchalledieLügenund Untugend, mit denen er Christi Reich zerstört und die Seelen verführt, werden aufseinenKopfkommen.[…]

ZumdrittenistauchdassolchenMenschendurchdiePredigereinzuschärfen:WennsiesichschonunterdieTürkenbegeben,sohabensieesdamitauchfürsichselbstnichtgebessertund werden ihnen ihre Hoffnung und Pläne sehr weit fehlgehen. Denn es ist des TürkenWeise,daßeralle,dieetwassindoderhaben,nichtbleibenläßt,wosiewohnen,sondernerbringtsieweitwegineinanderesLand,wosieverkauftwerdenunddienenmüssen.[…]

Solches,sage ich,müssendiePredigerundPfarrherrenbeisolchenabtrünnigenMenschenmit fleißigem Vermahnen und Abschrecken tun, denn es ist auch die Wahrheit undNotwendigkeit.Findensichtrotzdem(Menschen),diesolchVermahnenverachtenundsichdurchdiesallesnichtbewegen lassen;wohlan,die lasse immerhinfahrenzumTeufel,wiePaulusdieGriechenundPetrusdie Juden lassenmußten,es solldeshalbdieandernnicht

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Anhang3

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erschrecken.[…]DenngegensolchebösenMenschenistgutstreiten,diesoöffentlichundsichervonGottundderWeltverdammtsind.Manfindetmanchenwüsten,verzweifelten,bösen Menschen; aber wer etwas Vernunft hat, wird sich ohne Zweifel an solcheVermahnungwohl halten und sich bewegen lassen, unter demGehorsam zu bleiben undseineSeelenichtsofrechindieHöllezumTeufelschlagen,sondernviellieberunterseinemOberherrnmitallemVermögenstreitenundsichdarübervondenTürkentötenlassen.[…]

So sprichst du abermals: Ist dochder Papst ebensobösewieder Türke,welchendu auchselbstdenAntichristschiltstmitseinenGeistlichenundAnhängern.UmgekehrtistderTürkeebensofrommwiederPapst,dennerbekenntsichjazudenvierEvangelienundMosesamtdenPropheten.SolltemandenngegendenTürkenstreiten,somüßtemanebensogutodervielmehrgegendenPapststreiten.Antwort:Ichkannsnichtleugnen,derTürkehältdievierEvangelienfürgöttlichundrechtsowohlwiediePropheten,rühmtauchChristusundseineMutter sehr. Aber er glaubt gleichwohl, daß sein Mohammed über Christus sei und daßChristuskeinGottsei;wieobengesagt ist. […]Umgekehrt istderPapstnichtviel frömmerundsiehtdemMohammedüberdieMaßenähnlich,dennerlobtmitdemMundeauchdieEvangelienunddieganzeheiligeSchrift.Aberermeint,daßvieleStückedrinnenzuschwerund unmöglich seien, und (zwar) eben dieselben wie die Türken und der Mohammedmeinen,wiedieinMatth.Kap.5.Deshalbdeutetersieumundmacht»evangelischeRäte«draus, die niemand zu halten schuldig sei, außerwelche es gelüstet;wie denn Paris samtandern Universitäten, Stiften und Klöstern solches bisher unverschämt gelehrt haben.DeshalbregierterauchnichtmitdemEvangeliumoderGottesWort,sondernhataucheinneuesGesetzundeinenKorangemacht, nämlich sein kanonischesRechtundbetreibtdasmitdemBanngleichwiederTürkeseinenKoranmitdemSchwert,welchesdochalleindasWortGottesistundheißensoll,Eph.6,17.[…]UndGottdrücktauchaufsieallebeidemitgleicherPlageund schlägt siemitBlindheit, daßes ihnengehtwiePaulusRöm.1, 28 vondem schändlichen Laster der stummen Sünden sagt, daß Gott sie in verkehrten Sinndahingibt,weilsieGottesWortverkehren.[…]

Wassollenwirdennnuntun?SollenwirgegendasPapsttumauchKriegführen,sogutwiegegendenTürken,weileinersorechtschaffenistwiederandere?Antwort:Einemwiedemandern, so geschieht niemandUnrecht; denn gleiche Sünde soll gleiche Strafehaben.Dasmeineichso:woderPapstsamtdenSeinendasKaisertumauchmitdemSchwertangreifenwollte,wieesderTürketut,sosollersogutseinwiederTürke;wieihmdennneulichvorPavia auch von Kaiser Karls Heer geschehen ist. Denn da steht Gottes Urteil: »Wer dasSchwertnimmt,dersolldurchsSchwertumkommen«(Matth.26,52).Denn ichratenicht,gegen den Türken oder Papst seines falschen Glaubens und Lebens halber zu streiten,sondernseinesMordensundZerstörenshalber.AberdasBesteamPapsttumist,daßesdasSchwertnochnichtwiederTürkehat,sonstwürdeessichgewißauchunterstehen,alleWeltunter sich zubringen,undbrächte siedochnirgendhinals zu seinemKoran,das ist, zumGlauben seines kanonischen Rechts. Denn das Evangelium oder den christlichen GlaubenachtetundkenntersowenigwiederTürke […].AbergegendasPapsttum,seines IrrtumsundbösenWesenswegen,istderersteMann,HerrChristianus,aufgewacht,undgreift ihn

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Luther,VomKriegewiderdieTürken(Auszüge)

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mit dem Gebet und GottesWort frisch an, hat auch getroffen, so daß sie es fühlen undwüten.

DiesesallesunddergleichensolltealleFürstenunddasganzeReichbilligzurBarmherzigkeitbewegen,daßsie ihreeigenenSachenundHadereineWeilevergessenoder liegen lassenundhiermitganzemErnsteinträchtigdenElendenhülfen,daßesnichtvollendsgehe,wieesmitKonstantinopelundGriechenlandging,welcheauchsolangemiteinanderhadertenundsichumihreSachenkümmerten,bisderTürkesieallemiteinanderüberwältigte,wieerdennauchunsschonebenaufgleicheWeiseganznahegekommen ist.Sollsabernicht seinundmachtunserunbußfertigesLebenunsallerGnade,RatsundTrostsunwert,somüssenwirsgehen lassen und unter dem Teufel leiden, aber damit sind die unentschuldigt, die hierhelfensolltenundsnichttun.[…]

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ANHANG4

CHORALSYNOPSEMIT„Ö“GEKENNZEICHNETELIEDERINEGUNDGLIMVERGLEICH(AUSWAHL)EG10 GL113(NeuesGL:Diöz.-TeilFreiburg752)1)MitErnst,oMenschenkinder, 1)MitErnst,oMenschenkinder,dasHerzineuchbestellt; dasHerzineuchbestellt,baldwirddasHeilderSünder, baldwirddasHeilderSünder,derwunderstarkeHeld, derwunderstarkeHeld,denGottausGnadallein denGottausGnadalleinderWeltzumLichtundLeben derWeltzumLichtundLebenversprochenhatzugeben, versprochenhatzugeben,beiallenkehrenein. beiallenkehrenein.2)Bereitetdochfeintüchtig 2)BereitetdochbeizeitendenWegdemgroßenGast; denWegdemgroßenGastmachtseineSteigerichtig, undrüsteteuchmitFreuden,lasstalles,waserhasst; lasstalles,waserhasst.machtalleBahnenrecht, MachtebenjedenPfad,dieTälerallerhöhet, dieTälerallerhöhet,machtniedrig,washochstehet, machtniedrig,washochstehet,waskrummist,gleichundschlicht. waskrummist,machtgerad.3)EinHerz,dasDemutliebet, Strophe3fehltimaltenGL,beiGottamhöchstensteht; imFreiburgerDiöz.-Teilistsieenthalten.einHerz,dasHochmutübet,mitAngstzugrundegeht;einHerz,dasrichtigistundfolgetGottesLeiten,daskannsichrechtbereiten,zudemkommtJesusChrist.4)AchmachedumichArmen 4)AchmachedumichArmenzudieserheilgenZeit zudieserheilgenZeitausGüteundErbarmen, ausGüteundErbarmen,HerrJesu,selbstbereit. HerrJesu,selbstbereit.ZiehinmeinHerzhinein ZiehinmeinHerzhineinvomStallundvonderKrippen, vomStallundvonderKrippen,sowerdenHerzundLippen sowerdenHerzundLippendirallzeitdankbarsein. dirallzeitdankbarsein.EG41Jauchzet,ihrHimmel GL144(„Ich-Strophen“5+6fehlen,

imneuenGL251vollständig)

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Choralsynopse

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EG72OJesuChriste,wahresLicht GL485(alt:643;UmdichtungvonStrophe2+3)2)ErfüllemitdemGnadenschein, Lassalle,dieimFinsterngehen,dieinIrrtumverführetsein, dieSonnedeinerGnadesehn;auchdie,soheimlichfichtnochan undwerdenWegverlorenhat,inihremSinneinfalscherWahn; densuchedumitdeinerGnad.3)undwassichsonstverlaufenhatvondir,dassuchedumitGnadundihrverwundtGewissenheil,laßsieamHimmelhabenteil.EG81HerzliebsterJesu GL290(alt:180)Strophen5-11fehlenEG85 GL179(Strophen1+2;neu:289,Str.2wieEG)OHauptvollBlutundWunden, OHauptvollBlutundWunden,vollSchmerzundvollerHohn, vollSchmerzundvollerHohn,oHaupt,zumSpottgebunden oHaupt,zumSpottgebundenmiteinerDornenkron, miteinerDornenkron,oHaupt,sonstschöngezieret oHaupt,sonstschöngekrönetmithöchsterEhrundZier, mithöchsterEhrundZier,jetztaberhochschimpfieret: jetztaberfrechverhöhnet:gegrüßetseistdumir. gegrüßetseistdumir.DuedlesAngesichte, DuedlesAngesichte,davorsonstschricktundscheut vordemsonstalleWeltdasgroßeWeltgewichte: erzittertimGerichte,wiebistdusobespeit, wiebistdusoentstellt.wiebistdusoerbleichet! Wiebistdusoerbleichet,WerhatdeinAugenlicht, werhatdeinAugenlicht,demsonstkeinLichtnichtgleichet, demsonsteinLichtnichtgleichet,soschändlichzugericht’? soschändlichzugericht’t?EG99Christisterstanden GL318/319(alt:213)Strophe2Wärernichterstanden, Wärernichterstanden,sowärdieWeltvergangen; sowärdieWeltvergangen;seitdaßererstandenist, seitdaßererstandenist,solobnwirdenVaterJesuChrist! sofreutsichalles,wasdaist.Kyrieleis. Kyrieleis.EG125Komm,HeiligerGeist,HerreGott GL247(fehltimneuenGLganz)Strophen2+3:Luther Strophen2+3fehlen

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Anhang4

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EG155 GL516HerrJesuChrist,dichzuunswend (Eschatolog.)Strophe3fehlt

(neu:147,istenthalten)EG295Wohldenen,diedawandeln GL543(TnachCorneliusBecker)1)Wohldenen,diedawandeln Wohldenen,diedawandelnvorGottinHeiligkeit, vorGottinHeiligkeit,nachseinemWortehandeln nachseinemWortehandelnundlebenallezeit; undlebenallezeit.dierechtvonHerzensuchenGott DierechtvonHerzensuchenGottundseineZeugniss'halten, undseinerWeisungfolgen,sindstetsbeiihminGnad. sindstetsbeiihminGnad.2)VonHerzensgrundichspreche: (alt:614,Str.2+3fehlen)dirseiDankallezeit,weildumichlehrstdieRechtedeinerGerechtigkeit.DieGnadauchfernermirgewähr;ichwilldeinRechtehalten,verlaßmichnimmermehr.3)MeinHerzhängttreuundfeste LehrmichdenWegzumLeben,andem,wasdeinWortlehrt. führmichnachdeinemWort,Herr,tubeimirdasBeste, sowillichZeugnisgebensonstichzuschandenwerd. vondir,meinHeilundHort.Wenndumichleitest,treuerGott, DurchdeinenGeist,Herr,stärkemich,sokannichrichtiglaufen dassichdeinWortfesthalte,denWegdeinerGebot. vonHerzenfürchtedich.4)DeinWort,Herr,nichtvergehet, DeinWort,Herr,nichtvergehet,esbleibetewiglich, esbleibetewiglich,soweitderHimmelgehet, soweitderHimmelgehet,derstetsbewegetsich; derstetsbewegetsich.deinWahrheitbleibtzuallerZeit DeinWahrheitbleibtzuallerZeitgleichwiederGrundderErden, gleichwiederGrundderErde,durchdeineHandbereit'. durchdeineHandbereit't.

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ANHANG5

DIEÖKUMENISCHEVESPERAMFREITAGABEND–ABLAUFUNDTEXTELied:DuläßtdenTag,oGott,nunendenundbreitestDunkelübersLand.WirwarenheutindeinenHänden,nimmunsauchjetztindeineHand.(GL96)GrußundEinführungL: ImNamenGottes,desVatersunddesSohnesunddesHeiligen Geistes.G: AmenL: DerFriededesHerrnseimiteuch.G: UndmitdeinemGeist.L: Gotthatunszusammengeführt.Woherwirauchkommen,inChristussindunseregetrenntenWegevereint.InseinemGeistsindwirmiteinanderverbunden.DafürlobenwirGottunddankenihm.Lied:DieErdekreistdemTagentgegen,wirruhenausindieserNacht.WirdankendirfürSchutzundSegenwiejederMensch,derbetendwacht.LesungPs90,1-6(GuteNachricht)Herr,seitMenschengedenkenwarstduunserSchutz.Du,Gott,warstschon,bevordieBergegeborenwurdenunddieErdeunterWehenentstand,unddubleibstinalleEwigkeit.Du sagst zum Menschen: »Werde wieder Staub!« So bringst du ihn dorthin zurück, woher ergekommenist.Für dich sind tausend Jahrewie ein Tag, sowie gestern – imNu vergangen, so kurzwie ein paarNachtstunden.DuscheuchstdieMenschenfort,sieverschwindenwieeinTraum.SiesindvergänglichwiedasGras.Morgensnochgrüntundblühtes,amAbendschonistesverwelkt.

AusderPsalmenvorlesungLuthers(1534/35)Wennwirachtdaraufgeben,sobegreiftdieserVersinsichalles,wasmanvonGöttlicherMajestätsagenundinderSchriftfindenmag.DennistGottewig,sofolget,daßerauchunsterblich,allmächtig,weiseundseligist.ErhatalleKreaturinseinerHand.Niemandvermagwiderihnetwasaufzubringen.Nunzeigterweiteran,waswirMenschensind,nämlicharme,elende,sterblicheundvergänglicheKreaturen,diewirinGottesGewaltsind,beides,imLebenundimSterben.DaßMosessagt:DuläßtdieMenschensterben,isteinePredigtfürdierohen,mutwilligen,frechenundsicherenGeister,daßsievorGottesZornerschreckenundihrLebenbessern.Daßerabersagt:Kommtwieder,Menschenkinder,isteinePredigtfürdiegutherzigen,frommenMenschen,daßsiesichvonGottallesGutenversehen,alsderihnen,sosienurglaubenundsichbekehren,willgnädigundbarmherzigsein.IndenfolgendenVersenführterunsnunausderZeitindieEwigkeit,ja,ausdemkurzen,mühseligenLebenindieewigeGottheit,dakeineZeit,wederTagenochWochennochMondenochJahresind,sonderneinewigesLeben.

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Anhang5

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Lied:WennunsderScheinderSonneschwindetundLichtdenfernenLändernbringt,wirddeinErbarmendortverkündet,vieltausendfachdeinLoberklingt.LesungPs90,7-10(Einheitsübersetzung)DennwirvergehendurchdeinenZorn,werdenvernichtetdurchdeinenGrimm.DuhastunsreSündenvordichhingestellt,unseregeheimeSchuldindasLichtdeinesAngesichts.DennallunsreTagegehnhinunterdeinemZorn,wirbeendenunsereJahrewieeinenSeufzer.UnserLebenwährtsiebzigJahre,undwenneshochkommt,sindesachtzig.DasBestedaranistnurMühsalundBeschwer,raschgehtesvorbei,wirfliegendahin.AusderPsalmenvorlesungLuthers(1534/35)UnsereTagefahrendahin–mitdemWortewillereigentlichanzeigen,wiehöhnischundspöttischdasLebengegenunsgesinntist,undwiebaldsich’sgegenunsstellt,nämlich,daßesnichtdasAngesichtzuunskehrtwieeinkommenderFreund,sondernkehrtunsdenRückenzuwieeinerderjetztsobalddavonwill,undnichtharren,daßmanmitihmredenkönnte.Mosessagtauch,solcheFluchtseieineStrafederSündenundseiunsvondemzornigenGottauferlegt.Dasistschrecklich.DennwiewohldieandernKreaturen,alsdieVögelinderLuft,dieFischeimWasser,dieTiereaufdemLandeauchnichtewigleben,sondernhabenaucheinkurzesLebenundmüssensterben,sosterbensiedochnichtausGottesZornundUngnade.DarumtutMoseshierabermalsseinemAmtegenug,erinnertunsalseinGesetzespredigerunsersarmen,elendenWesensundLebensundwarntunsvorSicherheitundVerachtungGottes,daßwirjanichtsofrechundstolzwerdenundwiediefrechenundsichernGeisterdahingehen,sondernstetsinderFurchtGotteswandeln,bleibenundbeharren.Lied:DennwiederMorgenohneHaltenalsLeuchtenumdieErdegeht,scheintaufinwechselndenGestalteneinunaufhörlichesGebet.LesungPs90,11-12(BasisBibel)Werweißschon,wieheftigdeinZornbrennt?Undwerkannermessen,wiewütenddubist?Lassunsbegreifen,welcheZeitwirzumLebenhaben–damitwirklugwerdenundesvernünftiggestalten.AusderPsalmenvorlesungLuthers(1534/35)Istesnichteinarmes,elendesDing?WirerkennenallemiteinanderdiesenJammerdesmenschlichenLebens.Aberwenigesind’s,diesolchesmitErnstzuHerzennehmen,auchimAlter.Dennwirsehen,wieesinderWeltzugeht:JeälterdieMenschen,jenärrischerwerdensie.Einernimmtdies,deranderejenesvor.EinerwirdeinBuhler,derandereeinGeizhals,derdritteeinAlchimist,dervierteeinböserChrist.UndesgehtnachdemSprichwort:DiealtenNarren–diebesten.WennsieschonaufihreGrubezugehenundsolltensichmitGottbekümmern,sowerdensieerstrechtweltlich.Wirwünschenundbegehrenallesamt,altzuwerden.Wenn’saberkommt,soist’sunsnichtsehrwillkommen.Ja,welcherMenschhältdasAlter,KranheitundTodfüreineStrafederSünde?WirlebendahinohneVerstandundohneaufzusehen.Kindersindwir,wennwirgeborenwerdenundinsLebentreten.Kinderwerdenwir,wennwiraltwerdenundausdiesemLebenfahrenundsterben.WollteGott,solcheKindheitbetreffealleindieäußerlichenSinne,sehen,hörenusw.UndnichtauchdasinnerlicheGemüt,HerzundAffekt.Aberdahat’sMüheundArbeit.Ja,unterTausendfindetmankaumeinen,dermitMosediesesGebetausdemHerzenspricht.DermeisteHaufelebtso,alsseikeinTod,ja,keinGott.

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ÖkumenischeVesper

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Lied:DeinReich,oGott,istohneGrenzen.Auchda,woMenschenmachtregiert,wirdneudergroßeTagerglänzen,zudemdualleMenschenführst.LesungPs90,13-17(Luther2017)HERR,kehredichdochendlichwiederzuunsundseideinenKnechtengnädig!FülleunsfrühemitdeinerGnade,sowollenwirrühmenundfröhlichseinunserLebenlang.Erfreueunsnunwieder,nachdemduunssolangeplagest,nachdemwirsolangeUnglückleiden.ZeigedeinenKnechtendeineWerkeunddeineHerrlichkeitihrenKindern.UndderHerr,unserGott,seiunsfreundlichundförderedasWerkunsrerHändebeiuns.Ja,dasWerkunsrerHändewollestdufördern!AusderPsalmenvorlesungLuthers(1534/35)GotthatunsMenschenindieseWeltgestelltwieindieMitte,zwischenZeitundEwigkeit.UndvonbeidenTeilenhaterunsStückegegeben,denLeibvonderZeit,dieSeelevonderEwigkeit.Mosehatangezeigt,daßnachdiesemLebeneinandresLebensei,undnichtsoeinschlechtesLebenwiedieseszeitlicheLeben,sonderneinewigesLeben,undeineandereWeltnachdieserWelt.Lied:DenHerrenwillichloben(GL395/EG604[RegionalteilBayern/Thüringen])GebetfürdieEinheitL:HerrJesusChristus,duhastgebetet:Lassalleeinssein,wiedu,Vater,inmirbist,undichindir.WirbittendichumdieEinheitdeinerKirche.ZerbrichdieMauern,dieunstrennen.Stärke,wasunseint,undüberwinde,wasunstrennt.Gib,dasswirdieWegezueinandersuchen.FühredenTagherauf,andemwirdichlobenundpreisenkönneninderGemeinschaftallerGläubigeninalleEwigkeit.WirdenkenvordirinDankbarkeitanunsereverstorbenenMitgliederAntonRotzetterundManfredSeitzundbittenfüralle,dieumsietrauern.WirbittendichfürunsereArbeitsgemeinschaft.Hilfuns,aufmerksamzubleibenfürdeinWortundfüreinander.SeimitdeinemSegenbeiunsallen.G:Amen.SegenL:Gott,wennunserBemühenumEinheitnurlangsamvorankommt,dannstärkeunsereZuversicht.WennwirverzagtsindaufunseremWegzurEinheit,danngibunsneuenMut.WenndiealtenVorurteileauflebenwollen,dannlassunsaufunsereSchwesternundBrüdersehenundihneninLiebebegegnen.EssegneundbehüteeuchderallmächtigeundbarmherzigeGott,derVaterundderSohnundderHeiligeGeist.G:Amen.Lied:Allpraisetothee,myGod,thisnight,foralltheblessingsofthenight;keepme,ohkeepme,kingofkings,beneaththyownallmightywings.(Kanonzu4Stimmen,ThomasTallis)

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ANHANG6:DERFLYERDERAGTS

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FlyerderAGTS

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DieVeröffentlichungenderJahre2010-2014sindalse-bookimEchter-Verlag,Würzburgerschienen:

CorneliusRoth(Hg.),SpiritualitätinderSeelsorge,Würzburg2010

CorinnaDahlgrün(Hg.),SpiritualitätinderÖkumene–ÖkumenischeSpiritualität,Würzburg2011

VeitNeumann/AnsgarWucherpfennig(Hg.),DantesGöttlicheKomödieunddieSpiritualität,Würzburg2012

KatharinaKarl(Hg.),ScheiternundGlaubenalsHerausforderung,Würzburg2013

Seit2017erscheintdieReihe„StudienzurTheologiederSpiritualität“alsonline-PublikationundistüberdieHomepagederAGTSabrufbar:

http://www.theologie-der-spiritualitaet.de/publikationen/studien-zur-theologie-der-spiritualitaet

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AUTORINNENUNDAUTORENDIESESBANDESCorinnaDahlgrün,Theologin,ProfessorinfürPraktischeTheologieanderFriedrich-Schiller-Universität,Jena

Josef Freitag, Theologe, bis Juni 2016 Professor für Dogmatik an der Katholisch-TheologischenFakultätderUniversitätErfurt,seitSeptember2016SpiritualimStudienhausSt.LambertinLantershofen

Barbara Henze, Theologin, Akademische Oberrätin für Frömmigkeitsgeschichte undKirchliche Landesgeschichte im Institut für Biblische undHistorische Theologie der Albert-Ludwigs-UniversitätFreiburg

PeterZimmerling,Theologe,ProfessorfürPraktischeTheologieanderUniversitätLeipzig