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Leseprobe Müller-Doohm, Stefan Jürgen Habermas Eine Biographie © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42433-9 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Müller-Doohm, Stefan

Jürgen Habermas

Eine Biographie

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42433-9

Suhrkamp Verlag

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Stefan Müller-Doohm

Jürgen HabermasEine Biographie

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2014© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlagesreproduziert oder unter Verwendungelektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmISBN 978-3-518-42433-9

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Prolog: Der Andere unter seinesgleichen . . . . . . . . . . . . . . 17

Teil I

Katastrophe und Emanzipation

1. Unheilsjahre als Normalität. Kindheit und Jugend inGummersbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Jahrgang 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41Die Zäsur von 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

2. Studium in Göttingen, Zürich und Bonn . . . . . . . . . . . 55Promotion mit einer Arbeit über die Philosophie

Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67In der Sprecherrolle des freien Journalisten . . . . . . . . . 73Beginn einer Karriere als öffentlicher Intellektueller . . . 87

Teil II

Politik und Kritik

3. Education intellectuelle im Café Marx . . . . . . . . . . . . . 99Im wechselseitigen Vertrauen mit den Adornos . . . . . . 105Von Horkheimers Animositäten gegen den

»dialektischen Herrn H.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Der »meistversprechende Intellektuelle« . . . . . . . . . . . 124

4. Unter der Ägide gegensätzlicher Persönlichkeiten:Abendroth und Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Mann der demokratischen Linken . . . . . . . . . . . . . . . . 149Positionierungen im Streit um richtige Kritik und gute

Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545. Wieder Frankfurt. Die Zerreißprobe zwischen

akademischer Wissenschaft und politischer Praxis . . . . 168

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Der Versuch, Kritik erkenntnistheoretisch zubegründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Mit der Protestbewegung gegen sie denken . . . . . . . . . 187In der Schusslinie der eigenen Mannschaft . . . . . . . . . . 199Eine neue Fährte im philosophischen Denken . . . . . . . . 215

6. Im Elfenbeinturm sozialwissenschaftlicher Forschung . 222Zwischen Wissenschaftsmanagement und Forschungs-

praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Eine Theorie des Nicht-nicht-Lernenkönnens . . . . . . . . 245Das verminte Feld politischer Deutungskämpfe im

»Deutschen Herbst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Teil III

Wissenschaft und Engagement

7. Genius loci: Zum dritten Mal Frankfurt . . . . . . . . . . . . 281Das Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290System und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292Frankfurter Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

8. Neue Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317Im Bannkreis der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . 328Moral und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

9. In der Kampfzone ideenpolitischer Kontroversen . . . . . 337Opinion leader der Neuen Linken? . . . . . . . . . . . . . . . 341Der Historikerstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353Skeptiker der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

10. Wider Deutschtum und Nationalismus . . . . . . . . . . . . . 369Das zwiespältige Verhältnis zu militärischen

Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373Die Asyldebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386Ein Denkmal für die ermordeten Juden . . . . . . . . . . . . 391

6 Inhalt

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Teil IV

Weltbürgergesellschaft und Gerechtigkeit

11. Kritik als Beruf. Übergang ins dritte Jahrtausend . . . . . 405Ein Plädoyer für Willensfreiheit und die Unverfügbarkeit

der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425Der Philosoph als Weltreisender . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433Viel Ehre und eine Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

12. Die Zähmung des Kapitalismus und dieDemokratisierung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460Demokratische Politik – ein Gegengewicht zum

Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464Europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471Auf dem Weg zu einer demokratisch verfassten

Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48213. Philosophie in der nachmetaphysischen Moderne . . . . . 488

Was kann ich wissen? – Eine sprachpragmatischeSpielart von Naturalismus und Realismus . . . . . . . . . 492

Was soll ich tun? – Von der Tugendzumutung zurRationalitätsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Was darf ich hoffen? – Religion in der postsäkularenGesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

Was ist der Mensch? – Sprachlichkeit undIntersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

14. Bücher einer Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531Bewusstmachende und rettende Kritik . . . . . . . . . . . . . 537

Epilog: Der innere Kompass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

Bildteil nach Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686

Inhalt 7

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Vorlesungen und Seminare von Jürgen Habermas . . . . . 692Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702Verzeichnis der Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737

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Für meine Frau Heidlind

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Vorwort

Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten,als kennte er mich.

Robert Walser1

In den vergangenen Jahrzehnten sind Jürgen Habermas viele Eti-ketten angeheftet worden: »Verfechter der Moderne« und »DerMeister der Kommunikation«, »Öffentliches Gewissen der politi-schen Kultur« und »Hegel der Bundesrepublik«, »Macht am Main«,»Frankfurter Feuerkopf« und »Praeceptor Germaniae«, um nureinige zu nennen.2 Dass sich diese Reihe nicht durchweg schmei-chelhafter medialer Zuschreibungen problemlos fortsetzen ließe,zeigt, welch hohen Nachrichtenwert Habermas hat und dass mitBlick insbesondere auf sein Wirken als Wissenschaftler und Zeit-diagnostiker wahrlich kein Mangel an Publizität herrscht. Warumalso auch noch eine Biographie über diese Persönlichkeit schreiben,zumal eine, die weder den (eher unbekannten) Privatmann JürgenHabermas ins Zentrum stellt noch das Ziel hat, einem »Meister-denker« zu seinem 85. Geburtstag ein Denkmal zu setzen? Schließ-lich leben wir in Zeiten, von denen Habermas selbst sagt, sie habeHelden ebenso wenig nötig wie Antihelden.Was den Soziologen indie Arme der Biographienforschung getrieben und veranlasst hat,sich erneut als Biograph zu versuchen, ist die Überzeugung, dasssich an den sichtbaren Spuren einer Lebensgeschichte wie der vonJürgen Habermas besonders gut studieren lässt, was gleichsam diePointe der soziologischen Betrachtungsweise seit ihren Anfängenist: die Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Wie wird diePerson im Lebenszusammenhang mit anderen zum Individuum,das nur im Prozess der Auseinandersetzung mit und in seiner Zeit

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die Einzigartigkeit und Besonderheit ihrer Biographie zu kreierenvermag?

Gewiss, die Verführung ist groß, gerade diese Biographie alsaußergewöhnliche Erfolgsgeschichte ins Bild zu setzen. Das aberkäme nicht nur einer Retuschierung der zum Teil ja bekanntenSchattentöne dieser Lebensgeschichte gleich, sondern auch der je-denfalls auf den ersten Blick bürgerlich-konventionelle Lebenslaufvon Habermas spricht dagegen. In Gesprächen hat er immer wie-der betont, sein mehr oder weniger geradliniger Werdegang seinicht aus dem Rahmen dessen gefallen, was seiner Generation ge-schichtlich widerfahren und dem Einzelnen möglich gewesen sei,um unter Bedingungen einer wiedergewonnenen Freiheit persön-liche Ambitionen zu verwirklichen. Würde man diese Selbstbe-schreibung für bare Münze nehmen, so käme man im Fall der Vitavon Habermas vielleicht zu dem Ergebnis, hier habe sich eine stu-fenweise Entwicklung von Lebensabschnitt zu Lebensabschnittvollzogen, eben ganz im Sinne einer Normalbiographie. Es stimmt,dass seine Lebensgeschichte durch eine kontinuierliche Lebensfüh-rung auf der Grundlage weitgehend gesicherter Lebensumständecharakterisiert ist: Kindheit, Schule, Studium, Heirat, Kinder, Be-ruf etc. Und wie im Leben anderer Menschen gibt es auch bei ihmBrüche, Rückschläge und Zäsuren. Worin also liegt das Unver-wechselbare dieses Existenzverlaufs – das Ungewöhnliche im Ge-wöhnlichen?

Ohne Zweifel springt ins Auge, dass Jürgen Habermas eine be-merkenswerte Karriere gemacht hat; mit seinen Monographienund Aufsatzbänden, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt wordensind, hat er sich als Wissenschaftler eine enorme nationale und in-ternationale Reputation erworben und als Autor eine große Reso-nanz nicht nur in der akademischen Welt gefunden. So gesehenliegt die Schlussfolgerung nahe, die Biographie von Habermas seiim Grunde die Biographie seines Werks. Aber dieses Leben ist des-halb so faszinierend, weil es eben mehr ist als ein Stapel gelehrterBücher, weil dieser Mann immer wieder den geschützten Raumder Universität verlassen hat,um in die Rolle des streitbaren Debat-

12 Vorwort

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tenteilnehmers zu schlüpfen und auf diesem Wege Einfluss auf dieMentalitätsgeschichte dieses Landes zu nehmen und,wie man wohlhinzufügen darf, auch genommen hat. Insofern ist der Nachvollzuglebensgeschichtlicher Ereignisse gewissermaßen der Basso ostina-to für das eigentliche Hauptanliegen dieser Biographie: die Darstel-lung des verschlungenen Ineinanders von Haupt- und Nebenberuf,der Wechselbeziehung zwischen den Denkentwicklungen des Phi-losophen und den Interventionen des öffentlichen Intellektuellenvor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse.

Wie auch immer der Biograph seine Akzente setzt, er macht sicheiner Anmaßung schuldig. Zu ihr muss er sich bekennen. Dennzum biographischen Forschen und Schreiben gehört notwendiger-weise ein Moment von Indiskretion, ja, man könnte die biographi-sche Recherche sogar als einen feindseligen Akt bezeichnen. DerBiograph kann nicht umhin, privates Leben zum Gegenstand sei-nes neugierigen Blicks zu machen. Mehr noch: Er wühlt im Lebendes Biographisierten und muss dabei eigenmächtig die Wahl tref-fen, welche Ereignisse er im Detail betrachten oder doch nur strei-fen möchte, welche Geschehnisse er meint ganz aussortieren zukönnen. Er muss also die Entscheidung treffen, welche Augenbli-cke des Lebens übersprungen, welche Verstrickungen ausgelassenwerden und ob und, wenn ja, wo er Leerstellen mit Mitteln der»exakten Phantasie« (Theodor W. Adorno) ausfüllt.

Der Biograph ist in diesen Momenten gar nicht so weit entferntvom Romancier. Wie Max Frischs Hauptfigur in Mein Name seiGantenbein tappt auch er im Dunkeln, was die beim Rückblickauf ein Leben gewonnenen Einsichten genau bedeuten – »Was istwirklich geschehen?« Um einer Lebensgeschichte mit ihren Brü-chen und Widersprüchen habhaft zu werden, verhält sich der Bio-graph wie die Blindheit vortäuschende Hauptfigur in Frischs Ro-man: »Ich stelle mir vor.«3 Und dann beginnt die Suche nach derGeschichte der Geschichte, bei der der Biograph gegenüber demSchriftsteller den Vorteil haben mag, sich auf ein Korpus von Quel-len zu beziehen, die ihn beim Erzählen leiten.

Folglich kann eine Biographie bestenfalls Glaubwürdigkeit, nie

Vorwort 13

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jedoch Gewissheit bieten. Das Vorhaben, die Abläufe eines realenLebens eins zu eins in einer Biographie abzubilden,und sei es in ver-kleinertem Maßstab, ist meines Erachtens von vorneherein zumScheitern verurteilt. Insofern erhebt diese Biographie keinen sol-chen Wahrheitsanspruch. Folglich muss eine Erwartung, die man-che Leser an dieses Genre haben, enttäuscht werden: dass der Bio-graph den Leserinnen und Lesern eine Art vertraulichen Umgangmit dem Objekt der biographischen Neugier eröffnet oder gar mitsensationellen Enthüllungen aufwartet.

Das vorliegende Buch wirft Schlaglichter auf das Leben und diemarkanten Denkbewegungen von Jürgen Habermas und bricht da-bei mit der Illusion, das Authentische der Person gleich einem Por-trait einfangen zu können. Stattdessen stehen distinkte Textsortenim Mittelpunkt dieser biographischen Studie. Prosaischer ausge-drückt: Es geht in erster Linie um die Tat und in zweiter Linie umden Täter. Ich lese vor allem die Spuren, die Habermas als Autorim weitesten Sinne hinterlassen hat, und zwar als Philosoph undals eine Verkörperung jener Spezies von Intellektuellen, die, gleich-sam als Täter, das Politische antreibt.

Der institutionelle Ort dieser Spuren sind natürlich die Archive,darunter mein eigenes Habermas-Archiv, das sich aus einer überviele Jahre systematisch aufbereiteten Sammlung von für aussage-kräftig erachteten Quellen zusammensetzt: den zugänglichen Ver-öffentlichungen von Habermas, Teilen seiner Korrespondenz, In-terviews und autobiographischen Fragmenten und dem Großteilseiner Artikel in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Kultur-zeitschriften seit 1953. Dazu kommen Photographien und andereAbbildungen sowie zahlreiche Gesprächsprotokolle mit Weggefähr-ten und Zeitzeugen.4 Wie die in diesem Archiv zusammengetrage-nen und aus anderen Archiven herangezogenen Quellen ausgewählt,systematisch zusammengestellt und dann ausgewertet wurden, warabhängig von der spezifischen Fragestellung dieser Biographie: Wiewurde Habermas einerseits zum Philosophen der kommunikativenVernunft und anderseits zum einflussreichen öffentlichen Intellek-tuellen?

14 Vorwort

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Was die Diskurspraxis des Intellektuellen angeht, so steht nichtHabermas’ Persönlichkeit im Zentrum der Betrachtung, sondernmein Blick richtet sich auf seine konkreten Interventionen im öf-fentlichen Raum. Ein wesentlicher Aspekt gilt dabei der Frage, wiesich die Polarisierungen entwickeln, die sich im Zuge der Kämpfeum Aufmerksamkeit und intellektuelle Deutungshoheit herausbil-den, an denen Habermas immer wieder teilgenommen, ja, die erzum Teil entfacht hat. Des Weiteren frage ich, welcher diskursivenMittel – oder ideenpolitischen Strategien – er sich als Protagonistintellektueller Kontroversen bedient. Und schließlich: Wie kontu-riert sich in den Prozessen intellektueller Interventionen die Posi-tion von Habermas, dem die Funktion eines opinion leader des,wenn man es so nennen möchte, linksliberalen Lagers zugeschrie-ben wird?

Das für Habermas’ Wirken typische Zusammenspiel von philo-sophischer Reflexion und intellektueller Intervention strukturiertdiese Biographie, die fast durchweg auf eine rein individualbiogra-phische Perspektive verzichtet und sich mit Spekulationen, wasHabermas bei dieser oder jener Gelegenheit wohl »gedacht« oder»gefühlt« haben mag, zurückhält. Sie zielt vielmehr darauf ab, In-terdependenzen von Lebens- und Werkgeschichte im Kontext derZeitgeschichte zu veranschaulichen.

Welche Rolle spielt dabei die Haltung des Biographen zu seinemGegenstand? Die Herausforderung des biographischen Schreibensbesteht zweifellos darin, die Gratwanderung zwischen Nähe undDistanz, zwischen der Außenperspektive neutralen Analysierensund der Binnenperspektive des hermeneutischen Erschließens undemphatischen Verstehens, das nur durch Zugewandtheit und Ein-fühlungsvermögen erreichbar ist, zu meistern. Auch ich habe mei-nen eigenen Weg zwischen Abstandnehmen und Annäherung fin-den müssen. Auf diesem Weg habe ich versucht, aus dem Knäueldieser Lebensgeschichte bestimmte Fäden freizulegen in der Hoff-nung,damit sichtbar zu machen,wie die Lebenslinien gespannt undwie sie verlaufen sind. Ich gehe überwiegend chronologisch vor,blende aber hin und wieder zurück oder greife vor, um Verbindun-

Vorwort 15

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gen kenntlich zu machen, die in der Chronologie unter Umstän-den verdeckt würden. Hinzu kommt ein Weiteres: Es werden die-jenigen Themen, die Habermas ein Leben lang beschäftigt haben,gewissermaßen stillgestellt und hochgezoomt, um sie genauer be-trachten zu können. Das gilt vor allem dort,wo es um die Kontinui-täten und Diskontinuitäten von Habermas’ Theorieentwicklunggeht. Dabei habe ich mich mit eigenen Deutungen möglichst zu-rückgehalten und den O-Ton sprechen lassen.

Schließlich sei noch erwähnt, dass es in dieser Biographie einge-standenermaßen Grenzen des Sagbaren gibt. Alles rein Private undIntime bleibt in ihr ausgeblendet, sofern es nichts Erhellendes zumVerstehen der Philosophie und der intellektuellen Praxis beiträgt.Und naturgemäß hat sie ein offenes Ende. Denn sie handelt voneinem life and work in progress.

16 Vorwort

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Prolog: Der Andere unter seinesgleichen

Es ist wahr, daß ich die Grundannahme der ›Kritischen Theorie‹,so wie sie Anfang der vierziger Jahre Gestalt angenommen

hat, nicht teile.1

Ironischer Geburtstagsgruss eines Karikaturisten. Strenggenommen gehört Jürgen Habermas nicht auf dieses populär ge-wordene Gruppenbild des Zeichners, Poeten und JazzmusikersVolker Kriegel, der mit den betreffenden Personen als Student imFrankfurt der 1960er Jahre in Kontakt gekommen war. In dieserKarikatur, die 1969 in der Wochenzeitung Publik veröffentlichtwurde, springt der überdimensioniert dargestellte Max Horkhei-mer ins Auge, wie er mit patriarchalem Gestus drei bedeutende,hier allerdings auf Zwergengröße geschrumpfte Persönlichkeiten»unter sich« versammelt: Herbert Marcuse, Theodor W. Adornound Jürgen Habermas. Die Botschaft, dass sie zusammen die Qua-driga der Kritischen Theorie bilden, kann nur ironisch gemeint sein.Gewiss, Horkheimer, der Spiritus Rector kritischer Theorie Frank-furter Provenienz, der Adorno zufolge ein »flair für Machtver-

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hältnisse« hatte,2 vermochte schon zu Lebzeiten Wissenschaftsge-schichte zu schreiben. Ihm verdanken wir die Namensprägung »Kri-tische Theorie«. Aber er war alles andere als der selbstlose Mentorjener drei durchaus gegensätzlichen Geister, die sich unter demDach des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zusammenfan-den und keineswegs immer einer Meinung waren. Diese Geisterwaren keine eingeschworene Gesinnungsgemeinschaft und erstrecht keine, die sich um einen charismatischen »Anführer« scharte,wie etwa der George-Kreis um den Dichter oder die Pariser Exis-tenzialisten um Jean-Paul Sartre. Stattdessen waren sie eigenstän-dige und eigensinnige Repräsentanten unterschiedlicher Denkwei-sen und Denkstile. Gleichwohl gab es einen, wenn auch kleinengemeinsamen Nenner: die Haltung der aufklärenden Kritik an ausihrer Sicht gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

Es wäre sicher überzeichnet, wenn man Habermas, der Marcuseund Adorno vom Wuchs her nicht nur auf dieser Zeichnung, son-dern auch realiter überragte, schlicht als Abtrünnigen dieses Vie-rerbundes männlicher Philosophen und Soziologen bezeichnen wür-de. Dennoch ist er bei Lichte besehen der Andere unter seinesglei-chen. Habermas ist rund drei Jahrzehnte jünger als diejenigen, diein unterschiedlicher Weise für ihn die Rolle eines intellektuellenVorbildes gespielt haben, gehört also einer anderen Generation an.Er entstammt nicht einem jüdischen Elternhaus wie die drei Älte-ren, sondern einem protestantisch geprägten. Ihm, dessen Kind-heit und frühe Jugend in die Zeit des Nationalsozialismus fallen,bleiben die Erfahrung rassischer und politischer Verfolgung sowiedas Schicksal des Exils erspart. Ein weiterer lebensgeschichtlichbedeutsamer Unterschied zwischen den jüdischen Linksintellek-tuellen und Habermas ist darin zu sehen, dass dieser sich – trotzseiner Sprachbehinderung aufgrund einer angeborenen, das heißtgenetisch bedingten Gaumenspalte – nie als Außenseiter gesehenhat. Habermas’ Entwicklung zum homo politicus wurzelt vielmehrzum großen Teil in den Erfahrungen, die er in den ersten Jahrennach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Insbesondere der Um-gang vor allem des politischen Establishments der jungen Bundes-

18 Prolog

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republik mit dem Erbe des verbrecherischen NS-Regimes und diesich abzeichnenden Defizite beim Aufbau demokratischer Lebens-formen in Deutschland spielten dabei eine entscheidende Rolle.Aber trotz aller kritischen Distanz, die Jürgen Habermas immerwieder zu den ihn umgebenden gesellschaftlichen und politischenVerhältnissen eingenommen hat und noch einnimmt, sah er sichdoch stets als aktiver Teilnehmer am sozialen und politischen Ge-schehen. Von einem Grundgefühl der Ortlosigkeit oder der Mar-ginalisierung, jenem eigentümlichen Außenseiterbewusstsein, dasetwa Adorno oder Marcuse ihr Leben lang begleitet hat, kannbei ihm also keine Rede sein. In einem Gespräch hat er von sichselbst gesagt, sein Leben sei alles in allemunspektakulär verlaufen.3

Und in der Tat: Es ist eine Biographie ohne gravierende Einschnitteund Diskontinuitäten, gekennzeichnet in erster Linie durch eineakademische Erfolgsgeschichte auf der einen und ein energischesEingreifen ins politische Geschehen auf der anderen Seite.

Während Adorno und Marcuse gelegentlich um die Gunst Hork-heimers kämpfen mussten, der sich diese Konkurrenzsituation aufhöchst strategische Art zunutze machte, erntete Habermas als zeit-weiliger Mitarbeiter des remigrierten Frankfurter Instituts für So-zialforschung sogleich das dezidierte Missfallen des Institutsdirek-tors. Dieser störte sich sowohl am theoretischen Projekt des neuenAssistenten, das auf eine Adaption des Marxismus als Geschichts-philosophie in praktischer Absicht abzielte, als auch an dessen po-litischem Engagement. Im restaurativen Nachkriegsdeutschland be-trieb Horkheimer, keineswegs im Einklang mit der Mehrheit derMitglieder des Instituts, zumindest nach außen eine Politik osten-tativer Unauffälligkeit, die mit dem Nonkonformismus und derprogressiven, marxistisch-sozialkritischen Zielsetzung vor der er-zwungenen Flucht aus Nazideutschland schwer in Einklang zu brin-gen war.

Der vielleicht wichtigste Grund, warum Habermas damals einAnderer unter seinesgleichen war, liegt jedoch darin, dass er das,was spätestens ab Mitte der 1960er Jahre als »Frankfurter Schule«um die Welt ging, nie als ein fest umrissenes Programm sah. »Für

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mich«, so bekannte er in einem Interview, »gab es keine KritischeTheorie, keine irgendwie zusammenhängende Lehre.«4 Ihm bliebdamals nichts anderes übrig, als sich an den Büchern und Aufsätzenzu orientieren, die bis Ende der 1960er Jahre nur sehr spärlich undverstreut vorlagen, ja: Die wegweisenden Studien des Instituts undseiner Mitglieder aus den Jahren der Weimarer Republik sowie deramerikanischen Emigrationsphase, »[d]ie gab’s nicht. Horkheimerhatte eine große Angst, daß wir an die Kiste gehen«, in der sämt-liche Jahrgänge der zwischen 1932 bis 1941 erschienenen und fürdas ursprüngliche Konzept der Kritischen Theorie programmati-schen Zeitschrift für Sozialforschung verstaut waren.5 Freilich ließsich Habermas davon nicht abschrecken; denn wer wollte, konn-te sich jene legendäre Zeitschrift, »diese[n] versunkene[n] Kon-tinent«6 des revolutionären Erbes, am benachbarten Institut fürPolitische Wissenschaft beschaffen, wo der Lehrstuhl von CarloSchmid angesiedelt war. Dessen Assistent Wilhelm Hennis hattedie Jahrgänge von einem Pariser Antiquar besorgt und in die Insti-tutsbibliothek integriert.Was Habermas da zu lesen bekam, hat, sosagt er selbst, seinen »Blick für den prekären Zusammenhang vonDemokratie, Staat und Ökonomie geschärft«.7

Mit Beginn der 1970er Jahre und beeinflusst unter anderem durchdie angloamerikanische Sprachphilosophie begann er jedoch, seineigenes Paradigma kommunikativer Vernunft und verständigungs-orientierten Handelns zu entwickeln und den Pfad der KritischenTheorie, wie ihn die Vertreter der ersten Generation der Frankfur-ter Schule gegangen waren, zu verlassen. Seitdem konzentriert sichseine Philosophie darauf, »die Bedingungen zu klären, unter denensowohl moralische wie ethische Fragen von den Beteiligten selbstrational beantwortet werden können«.8

Abweichung und Zuschreibung. Als der Cartoon von VolkerKriegel erstmals erscheint, ist Habermas im vierten Lebensjahr-zehnt. Zu diesem Zeitpunkt war er sich der Defizite der klassischenkritischen Theorie bereits bewusst geworden und arbeitete an derBegründung eines eigenen philosophischen Programms. Die ver-

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