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Heinz Paetzold Helmut Schneider (Hg.) Schellings Denken der Freiheit

Schellings Denken der Freiheit - KOBRAnbn:de:hebis:... · Vorwort der Herausgeber Die in diesem Buch gesammelten Beiträge sind teils auf dem Schelling-Tag 2003 an der Universität

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  • Heinz PaetzoldHelmut Schneider (Hg.)

    Schellings Denken der Freiheit

  • Kasseler Philosophische Schriften Neue Folge 3

    Herausgegeben vonHeinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Die Kasseler Philosophischen Schriften waren ursprnglich eine Reihe der Inter-disziplinren Arbeitsgruppe fr philosophische Grundlagenprobleme der Univer-sitt Kassel, in der von 1981 bis 2004 insgesamt 38 Bnde und Hefte erschienen.2006 wurde die Interdisziplinre Arbeitsgruppe fr philosophische Grundlagen-probleme nach generellen universitren Umstrukturierungen aufgelst, obwohl sieohne Zweifel durch 25 Jahre hindurch das Profil der Universitt Kassel mit gro-en Kongressen, internationalen Symposien, Ringvorlesungen und eben durchihre Schriftenreihe erfolgreich geprgt hat. Die dadurch verwaisten KasselerPhilosophischen Schriften sollen nun in einer Neuen Folge unter vernderterHerausgeberschaft fortgefhrt werden.

  • Heinz Paetzold Helmut Schneider (Hg.)

    Schellings Denken der Freiheit

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zum 70. Geburtstag

    kasseluniversity

    press

  • Gedruckt mit Untersttzung des Fachbereichs Erziehungswissenschaft/Hu-manwissenschaften und des Instituts fr Philosophie der Universitt Kassel.

    Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet berhttp://dnb.d-nb.de abrufbarISBN 978-3-89958-539-1

    2010, kassel university press GmbH, Kasselwww.upress.uni-kassel.de

    Satz: Frank Hermenau, KasselUmschlaggestaltung: Heike Arend, Unidruckerei der Universitt KasselDruck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universitt KasselPrinted in Germany

  • Inhalt

    Vorwort der Herausgeber ............................................................................. 7Gruwort des Dekans des Fachbereichs .................................................... 13Gruwort des Direktors des Instituts fr Philosophie ................................ 15

    Mohamed TurkiVon der Natur ber die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxiszur Utopie. Zur Entwicklung des Denkens von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik ................................................................................................... 17

    I. Freiheit und Natur

    Heinz EidamDas Wissen und seine Realitt. Anmerkungen zu Schelling ...................... 41

    Martin BlumentrittWarum ist das Vollkommene nicht gleich von Anfang? ............................ 63

    Dirk StederothAbgrndige Freiheit und die Notwendigkeit des Bsen. EineAuseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift .................................. 79

    Paul ZicheMenschliche Wissenschaft. Freiheit als anthropologische Bestimmungim bergang von Natur zu Mensch ........................................................... 91

    II. Mythologie und sthetik

    Hassan GivsanEkstasis oder die Chymische Hochzeit in Schellings positiverPhilosophie .............................................................................................. 111

    Helmut SchneiderDie Gottheiten von Samothrake ........................................................... 135

    Heinz PaetzoldSchellings sthetischer Absolutismus heute ............................................. 149

  • Inhalt6

    Christian DanzMythos und Geschichte ........................................................................... 169

    III. Schellings Auseinandersetzung mit Hegel

    Erhard OeserDie Kontroverse mit Hegel. Schellings Erneuerung der antikenDialektik .................................................................................................. 195

    Myriam BienenstockReligion und Philosophie bei Schelling und Hegel .................................. 213

    Friedrich HermanniHegel als Episode? Die Bedeutung der Hegelschen Philosophie fr dieEntwicklung der Sptphilosophie Schellings ........................................... 237

    Walter E. EhrhardtNur ein Schelling ..................................................................................... 253

    Anhang

    Wolfdietrich Schmied-KowarzikDie Freiheit und das Absolute .................................................................. 265

    Die Autorinnen und Autoren .................................................................... 285

  • Vorwort der Herausgeber

    Die in diesem Buch gesammelten Beitrge sind teils auf dem Schelling-Tag2003 an der Universitt Kassel und teils auf dem Schelling-Symposion ausAnlass des 70. Geburtstags von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik 2009 an derUniversitt Kassel vorgetragen und diskutiert worden. Weitere Beitrge kamennoch hinzu, sie alle sind wie die beiden Gruworte am Anfang deutlichmachen Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zum 70. Geburtstag gewidmet.

    I

    In seiner Laudatio gibt Mohamed Turki einen synthetischen berblick berdas philosophische Gesamtwerk von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Natur,Geschichte, Praxis und Utopie sind dessen Grundbegriffe. Schelling, Hegelund Marx sind inspirierende Quellen, um die Geschichte als einen durch In-dividuen und durch die Gattung zu gestaltenden offenen Prozess zu konzi-pieren. In Marx macht Schmied-Kowarzik den Theoretiker der revolutionrenPraxis stark. Der Akzent liegt auf der Praxis. Schon seit den 1980er Jahrenwird von Schmied-Kowarzik in den praxisphilosophisch gelesenen Marx mitSchelling die kologische Naturproblematik eingebracht, die mit Blochs Pro-jekt einer Allianz zwischen Mensch und Natur als utopischer Ausblick dieVision einer Humanisierung der Natur sowie der Naturalisierung des Men-schen (Marx) konkretisiert und erneuert.

    Heinz Eidam analysiert die verschiedenen Etappen von Schellings Er-kenntnislehre. Der junge Schelling war auf der Suche nach einem festenAnkerpunkt der Erkenntnis und konnte diesen nicht lnger mehr in FichtesWissenschaftslehre finden. Die Naturphilosophie stiftete so etwas wie eineGegenstandsgewissheit im Sein. Obwohl des mittleren Schellings Kritik an derphnomenalen Welt vom Absoluten her gedacht wird, gibt es doch berra-schende bereinstimmungen mit Kant, insbesondere mit dessen transzen-dentalem Ideal. Whrend dieses auf die Affinitt von Mglichem und Wirk-lichem zielt, ist es fr die positive Philosophie Schellings die Indifferenz,aus der alles durch Trennung hervorgeht. Fr Kant ist das transzendentaleIdeal apriorische Denkvoraussetzung und Endzweck aller Erfahrung, ein Pro-totyp, fr den spten Schelling geht das Sein aller Erfahrung voraus.

  • Vorwort der Herausgeber8

    In den Theodizeen wurde immer wieder die Frage nach Gottes Rolle imBlick auf die menschliche Freiheit und die Mglichkeit zum Bsen neu auf-gerollt. Schelling hat Martin Blumentritt zufolge eine Sicht entwickelt, in derGott und Geschichte als ein Prozess verstanden werden, der die Natur ein-bezieht. Natur ist der Grund der Existenz in Gott, der Grund das Dunkel, dieSelbsterzeugung Gottes in seinem gleichewigen Sohn. Das bel darf nichtmit Heidegger als eine metaphysische Notwendigkeit verstanden werden. ImGegensatz zu Gott sind im Menschen Eigenwille und Universalwille teilbar.Dadurch entsteht die Mglichkeit des Guten und des Bsen. Das Bse ist dasPartikulare, das sich ber das Allgemeine erhebt. Die Endlichkeit ist nichtGrund des Bsen, sondern es gibt fr den Menschen eine freie Wahl des Bsen.Das Ende aller Offenbarung ist die Ausstoung des Bsen vom Guten, derletzte aufgehobene Feind der Tod. Auf die Frage Schellings, warum das Voll-kommene nicht am Anfang, sondern am Ende stehe, konnte Schelling nurantworten: Weil Gott Leben und Werden ist, nicht nur Sein. Damit ist dieUtopie einer Verwirklichung der Freiheit in einer Weltgeschichte verbunden,in der das Bse ausgestoen wird.

    Dirk Stederoths Essay beschftigt sich mit Schellings Freiheitsschrift insystematischer und historischer Perspektive und konzentriert sich insbeson-dere auf deren zentrale These, dass Freiheit in dem Vermgen des Gutenund des Bsen bestehe. Stederoth zeigt, dass Schelling durchaus prsent istbei zeitgenssischen Debatten ber die Kompatibilitt von Freiheit und Zu-fall. Wie Peter Bieri und Michael Pauen heute, so dachte schon Schelling, dassFreiheit weder auf den Zufall noch auf Determinismus gegrndet werdenkann. Stederoth problematisiert die Ntigung, Freiheit aus dem Bezug zumBsen zu denken. Die Annahme eines dunklen Grundes in Gott erlaubt Schel-ling, das Vermgen des Bsen zu begrnden. Zugleich aber belastet es diePhilosophie mit der Hypothek der Prdestination von Verhalten.

    Paul Ziche zufolge galt es am Beginn des 19. Jahrhunderts, den Diskurs derMedizin wie den der Philosophie zu integrieren, um eine dem doppelseitigenWesen Mensch gerecht werdende Anthropologie zu entwickeln. Die naturaanceps des Menschen meint zweierlei: Vieldeutigkeit und Gefhrdetheit. Frden mittleren Schelling msste das auf beides zutreffen, das Objekt des Wis-sens wie das Subjekt des Wissens. Wie das Wissen aus dem Nicht-Wissen auf-geht, so ist die prekre Gefhrdung ein Merkmal des Menschseins. In denErlanger Vorlesungen ist der Mensch ein durch Selbaufgegebenheit cha-rakterisiertes Wesen, das die Mehrdeutigkeit von Freiheit Vermgen desGuten und des Bsen genauso zu bestehen hat wie den Umstand, dass er dievolle Weisheit verlor und nur das Nachbilden hat. Der Mensch ist der Mittlerzwischen dem Nichtseyenden der Natur und dem absolut-Seyenden = Gott.

  • Vorwort der Herausgeber 9

    Fr Foucault ist die anthropologische Formation zu zerstren. Schelling dage-gen stellt ein Junktim her zwischen dem Menschen als gefhrdetem Wesen undeiner Begrndung der Anthropologie als ein Wissen, das aus dem Nicht-Wissenaufsteigt.

    II

    In seinem Essay problematisiert Hassan Givsan Schmied-Kowarziks Deutungder Existenz in Schellings positiver Philosophie im Sinne einer emanzi-patorischen Existenzphilosophie. Zunchst will Givsan zeigen, dass die Spt-philosophie Schellings ihren Schwerpunkt in einer Ontologie Gottes hat. Derspte Schelling grenze sich sowohl von der Mystik eines Jakob Bhme abwie von dem Rationalismus der negativen Philosophie. Anfang der positi-ven Philosophie ist Givsan zufolge der Satz Schellings, dass ich Gott alsHerrn des Seyns wollen knnen muss. Von daher bedeutet die Ekstasisbei Schelling nichts anderes als die Umkehr zu einem Ursprung. Es geht umeine Rckkehr zu so etwas wie das absolute Subjekt, wie in der Schriftber die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821) ausgefhrt wird. AllesSittliche ist immer schon Abfall von Gott; denn dem Gesetz zu folgenheit, von Gott getrennt zu sein.

    In seinem Beitrag zu den Gottheiten von Samothrake gibt Helmut Schnei-der eine konkrete Fallstudie des Mythos der Kabiren, die im Anhang zuSchellings 1815 fertig gestelltem, aber nicht publiziertem Werk Weltaltererschien. Die vier namentlich bekannten Kabiren insgesamt sollen es achtgewesen sein bilden ein System. Es ist durch eine evolutive Aufwrtsbewe-gung geprgt, die angetrieben wird von der Sehnsucht und dem Hunger nachdem Sein und dem Wesen. Das Gttliche wird durch die Zauberkette derKabiren in die Welt hineingezogen und zur Offenbarung gebracht. Der Wer-deprozess der Kabiren ist auf den kommenden Gott gerichtet, dem sie denWeg bereiten. Im Gegensatz zur Emanation von oben nach unten geht dieEvolution von unten nach oben. Im 20. Jahrhundert wurden Schellings Fragennach dem Verhltnis von Natur und Geist, Kosmos und Gott, Erde undMensch von Max Scheler in seiner Schrift Die Stellung des Menschen imKosmos (1928) aufgegriffen. Wenn auch ohne expliziten Bezug auf SchellingsMythos der Kabiren, sieht Scheler im Kosmos eine evolutionre Bewegungvon unten nach oben, also von den Schichten der Natur und des Lebens, vonTrieb und Drang, nach dem Gttlichen. In diesem Evolutionspantheismusstrebt der werdende Gott zur Identitt mit dem Kosmos am Ende der Zeiten.

  • Vorwort der Herausgeber10

    Heinz Paetzold beschftigt sich mit Schellings sthetischem Absolutis-mus und mit zeitgenssischen Fortsetzungen der darin implizierten philoso-phischen Problematik der Kunst. Nach einer Rekonstruktion der berhmtenThese von Schelling im System des transzendentalen Idealismus, derzufolgedie Kunst das Organon und das Dokument der Philosophie sei, wird die-ses Theorem in den damals zeitgenssischen Kontext eingebettet und als Teilder Bewegung der Romantik erlutert mit Rckbezgen auf das ltesteSystemprogramm des deutschen Idealismus und mit der Aufforderung, my-thische Gehalte in die Kunst einzufgen. Fortfhrungen von Schellings sthe-tischem Absolutismus sieht Paetzold in Adornos sthetik einerseits, die alsmodernisierte Romantik gedeutet wird, und in Richard Rortys neopragmati-scher Poetisierung der Kultur andererseits, die allerdings als eine halbierteRomantik bewertet werden sollte. Rorty bezweifelt grundstzlich jede Mg-lichkeit des Absoluten, whrend Adorno sie auf die Negativitt der Realge-schichte bezieht.

    Christian Danz befasst sich mit den biografischen Anfngen von Schel-lings Mythostheorie. In seinen ersten Schriften (Magisterdissertation 1792 undMythosaufsatz 1793) folgt Schelling der rationalistischen Theorie. In der Magis-terdissertation sah er im Buch Genesis, Kap. 3 ein Philosophem vom Ursprungdes Bsen. Er verband eine geschichtsphilosophische und eine hermeneutischePosition und unterschied, wie Lessing, die drei Stufen der natrlichen, ge-schichtlichen und vernnftigen Religion. Aus den positiven Religionen ent-wickelte sich die Vernunftreligion. Die Theologie der spten Aufklrung hatteden Mythosbegriff rezipiert und damit die biblischen Texte historisiert. FrSchelling war die Geschichte vom Sndenfall keine historische Begebenheit,sondern eine Urkunde aus der Kindheit der Menschheit in der sinnlich-symbo-lischen Form des Mythos. In den noch nicht edierten Kommentaren Schellingszum Galater- und Rmerbrief des Apostels Paulus wurde der Ansatz der bei-den ersten Mythenschriften weitergefhrt, indem die Idee der reineren ReligionChristi in den sinnlichen Ereignissen des Lebens Jesu, etwa der Auferstehung,dargestellt wurde. Im Kontrast zur allegorischen Bibelauslegung bei Kant undzu seinen eigenen Kommentaren zu Paulus hat Schelling 1794 eine philolo-gisch und historisch ansetzende Interpretation der Bibel gefordert, die er zu-nchst allerdings wieder abbrach und erst in Jena wieder aufgriff.

    III

    Erhard Oeser beschftigt sich mit Schellings Hegel-Kritik in dessen positiverPhilosophie. Das Verfehlte der Hegelschen Logik besteht Schelling zufolge in

  • Vorwort der Herausgeber 11

    der Hypostasierung des blo logischen Begriffs zu einer selbstndigen sub-stanziellen Macht, einem objektiven Prozess. Hegel habe den bergang vonder Idee zur Natur nie aufzeigen knnen. Das Absolute wird zum Resultatdes Begreifens. Die konkrete Individualitt eines Gottes der Offenbarungwird nicht erreicht. Schelling setzt gegen den Begriff Hegels den Prozess desWerdens, in ihm sind Begriff und Gegenstand, Form und Materie untrennbar.Gegen die Dialektik bei Hegel vertritt Schelling im Rckgriff auf Platon dieneuen Begriffe von Erfahrung und Induktion, die mit den Naturwissenschaf-ten das Experiment als Methode gemeinsam haben. In der Naturphilosophiespielte Schelling eine wichtige Rolle in der Diskussion der Evolutionslehrevor Darwin. Schellings Evolutionstheorie umfasst das ganze Universum ineinem dynamischen Atomismus der Vernunfteinheit im Gegensatz zum me-chanistischen Atomismus von Kant oder Laplace. Das moderne Konzept derSelbstorganisation der Evolution, das sich schon bei Kant und Schelling fin-det, kann als Ergnzung und Fortfhrung der transzendentallogischen Ver-sion der Philosophie der Natur verstanden werden.

    Myriam Bienenstock untersucht, Franz Rosenzweig folgend, inwiefern dieBegriffe der Philosophie immer die Form der Vergangenheit annehmen, alsomit Schelling zurckgehen mssen zur Schpfung am Anfang der Welt. AmVerhltnis des Absoluten zur Geschichte wird das Verhltnis von Philosophieund Religion bei Schelling und Hegel analysiert. Im ltesten Systempro-gramm richtet sich die creatio ex nihilo gegen den spinozistisch gedachtenbergang vom Unendlichen zum Endlichen. Der Schpfer im Systempro-gramm ist der als prometheisch gefeierte Knstler. Die Vereinigung vonUnendlichkeit und Endlichkeit geschieht fr Schelling in der Ichheit imKunstwerk. Fr den jungen Hegel ist die Religion Erhebung ber das endli-che Leben. Wie fr Schelling, gibt es auch bei Hegel keinen bergang vomEndlichen zum Unendlichen. Doch fanden Hegel und Schelling keine Ann-herung bezglich des Verhltnisses von Religion und Philosophie. Seit 1804kam es bei Schelling zu einer Neuorientierung, die an der Schpfung gegenHegel den Tatcharakter betonte. Schelling orientierte sich am Alten Testa-ment, das er dem Mythos annherte. Bei der Suche nach den gttlichen An-fngen bernahm Schelling Grundbegriffe der Kabbala, wie das Ensof, durchVermittlung J. Bhmes und F. Oetingers. Schelling war berzeugt, sich aufdem philosophischen Weg Spinozas zu befinden und nicht auf dem Jacobisund der Theosophie.

    Friedrich Hermanni zufolge will Schellings frhe Identittsphilosophie diegesamte Wirklichkeit, auch die Materie aus dem unendlichen Subjekt ableiten.Sie ist auch Realphilosophie. Der spte Schelling ergnzte diesen Ansatz einernegativen Philosophie durch eine positive Philosophie, wodurch die ursprng-

  • Vorwort der Herausgeber12

    liche Identittsphilosophie den Anspruch auf die ganze Objektivitt aufgebenmusste. Whrend die negative Philosophie eine Bewegung des Denkens desMglichen ist, bezieht sich die positive Philosophie auf die Existenz. ObwohlSchelling Hegels Philosophie eine Episode in der Geschichte nannte, die ihn ander Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie hinderte, so gabSchelling dieser doch eine Bedeutung fr sich, indem er durch Hegel den reinlogischen Charakter seiner negativen Philosophie einsah, wodurch er zur posi-tiven Philosophie motiviert wurde. Hegel ist mehr als nur eine Sackgasse aufdem Wege zur Vollendung des deutschen Idealismus, die der spte Schellingherbeifhren wollte.

    Walter E. Ehrhardt untersucht die Frage nach der Einheit des philosophi-schen Denkweges im Lebenswerk Schellings. Gegen die Unterscheidung einesfrhen und eines spten Schelling oder andere Klassifikationen sollte manSchellings Philosophie als Naturphilosophie charakterisieren, weil sie unterdieser Bezeichnung Epoche machte und sich selbst so darstellte. Die innereEinheit des Denkweges Schellings knnte man begrifflich als Organismus oderals organisches System beschreiben. Bezeichnungen wie Subjektivittsphilo-sophie oder Idealismus werden Schellings System nicht gerecht. Schellinglegte allem Denken einen Begriff der Natur zu Grunde. Die Naturwissen-schaften erschlieen durch das Experiment den unbedingten Zusammenhangder Natur, in der sich das Sein und die Freiheit zeigen. Auch in der Phi-losophie der Kunst wird die Kunst wissenschaftlich in ihrer Freiheit als dasUnbedingte erwiesen; Natur und Freiheit sind nicht entgegengesetzt. Schel-lings Denkweg ist nicht als Fortgang oder berstieg zu einer positiven Phi-losophie zu verstehen, sondern in jedem Teilbereich ergibt sich die Aufgabeeiner positiven Philosophie eigenstndig.

    Wolfdietrich Schmied-Kowarziks eigener Beitrag in diesem Buch zeich-net die verschiedenen Etappen von Schellings Philosophie nach, um Freiheitzu denken. Als Konstante bleibt, dass Freiheit auf das Absolute bezogen wer-den muss. Nur so lsst sich der Zusammenhang von unvordenklicher Exis-tenz und sittlichem Sinn angemessen explizieren. Whrend der Schelling derFreiheitsschrift und des Frhwerks als Denker menschlicher Freiheit, wennauch noch in der Fluchtlinie Kants, unumstritten ist, so arbeitet Schmied-Kowarzik heraus, dass auch fr den Schelling der Philosophie der Offenba-rung und der Philosophie der Mythologie diese Konstellation zentral bleibt.Der Sinn der Existenz ist nur durch gelingende, auf das Absolute bezogenefreiheitliche Praxis zu entwerfen und einzulsen.

  • Paul-Gerhard Klumbies

    Gruwort zum Schelling-Symposionanlsslich des 70. Geburtstagsvon Univ.-Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Liebe Kolleginnen und Kollegen,lieber Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,

    an Schelling kann man scheitern. Jedenfalls ist mein Eindruck bisher gewe-sen: Schelling fhrt einen an die Grenzen des Mitvollziehbaren heran. Offengestanden habe ich mich manchmal gefragt, ob er nicht womglich am Endeselbst an sich gescheitert ist. War er noch Herr seiner Spekulationen undschaute durch sie hindurch? Oder ist er in ihrem Gestrick untergegangen?Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie bei Ihrem Symposium in dieserHinsicht etwas herausbekommen.

    Nun habe ich aber festgestellt, dass Du, lieber Wolfdietrich, schon als jun-ger Mann frei von solch skrupulsem Fragen und bangem Zweifeln warst.Hast Du Dich doch gleich mit Deiner Erstlingsarbeit an Schelling heran-gewagt und tatschlich seine gefhrliche Sptphilosophie in Deiner Disser-tation ber Sinn und Existenz in der Sptphilosophie Schellings bearbeitet.

    Mit diesem Symposium anlsslich Deines 70. Geburtstages kehrst Du alsoan Deine Anfnge als Philosoph zurck. Ich gratuliere Dir auch von dieserStelle im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Kolle-ginnen und Kollegen des Fachbereichs Erziehungswissenschaft/Humanwissen-schaften noch einmal sehr herzlich zu sieben gefllten Lebensjahrzehnten,und ich wnsche Dir mit Deiner Familie einen glcklichen Beginn der achtenDekade.

    Du hast mich angewiesen, hier und heute auf eine Wrdigung DeinerPerson zu verzichten. Diese sei anlsslich Deiner Emeritierung vor zwei Jah-ren in ausreichendem Mae erfolgt. Dem mchte ich mich nicht widersetzen.Aber ich erlaube mir in meiner Funktion als Dekan dennoch eine fr denFachbereich sehr wichtige Tatsache Deines akademischen Wirkens hervor-heben: Du hast in starkem Mae den wissenschaftlichen Nachwuchs in Dei-nem Fach gefrdert und eine erhebliche Zahl von Promotionen und Habi-litationen zum erfolgreichen Abschluss gebracht. Du hast es vielen jungenWissenschaftlern ermglicht, auf einer neuen Stufe akademisch weiterzu-arbeiten.

  • Gruwort14

    Fr unsere Universitt besitzt das ber die akademische Bedeutung hinausnoch einen immer wichtiger werdenden pekuniren Nebeneffekt. Auch wennes fr die Gesetze der Zunft irrelevant ist und wir uns als Wissenschaftler zuRecht dagegen verwahren mssen, wenn unsere Leistungsfhigkeit auf quan-tifizierbare Mastbe reduziert wird: In den Strukturplnen unserer Instituteund in den Vorgaben fr die Fachbereiche stehen seit die Finanzierung derUniversitten zunehmend an Drittmittelaufkommen und Quantitt der Pro-motionen gekoppelt worden ist harte Zahlen, wie viele Promotionen bzw.Habilitationen in einem Fnfjahreskorridor zu liefern sind. Auch in dieserHinsicht steht das Institut fr Philosophie durch solche zhlbaren Ergebnissegut da.

    Schelling hatte ja einen Sinn fr das mythische Denken. Das verleitetmich zu einer kleinen Zahlenspekulation. Du, lieber Wolfdietrich, bist sieb-zig Jahre alt geworden. Der Zeitraum von dreimal sieben mal zehn Jahren eine magisch hochbedeutsame Verknpfung verwebt Deine Lebensge-schichte unmittelbar mit der Schellings. Vor exakt 210 Jahren, also geradezweimal siebzig Jahre vor Deiner Geburt, war Schelling 24 Jahre alt; und erwar verliebt. Im Jahre 1799 hatte es den studierten Theologen in Jena voll er-wischt. Caroline, die Ehefrau des Freundes August Wilhelm Schlegel, war dieAngebetete. Die Treffen im Hause Schlegel waren die Keimzelle der neuenromantischen Bewegung. Die Gebrder Schlegel, Friedrich von Hardenberg,genannt Novalis, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Johann Wilhelm Ritter,Sophie Mereau, sie waren eifrig dabei, das Alltgliche zu romantisieren, d. h.den Dingen und Begebenheiten Bedeutung beizulegen. Man war jung, manschwebte auf Wolke sieben, man war geistreich. Wissenschaftlich stehtSchelling am Anfang seiner Laufbahn. Zu den ganz Groen des deutschenIdealismus wird er erst noch aufsteigen.

    Fr mich als Theologen besitzt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling seinebleibende Bedeutung dadurch, dass er Natur und Geist beieinander hlt. Erlsst sie nicht in zwei getrennte Richtungen auseinanderlaufen. Damit lieferter bis heute einen Anknpfungspunkt, die fr Universittsgliederungen inaufgeklrter Tradition selbstverstndliche Aufspaltung in Natur- und Geistes-wissenschaften diskutabel zu halten. Mir hilft er, verstndlich zu machen,warum die Theologie bis heute sich als jenseits dieser Aufspaltung stehendeWissenschaft versteht.

    Im Mythos hat bekanntlich alles mit allem zu tun. Materie und Geist sindwechselseitig durchdrungen. Mge also das sympathetische Band, das den ver-liebten Schelling mit dem gereiften Schmied-Kowarzik verbindet, auch IhremSymposion Beschwingtheit und geistige Erhebung verleihen. Ich vermute,unter solchen Rahmenbedingungen ist ein Scheitern ausgeschlossen.

  • Walter Pfannkuche

    Gruwort

    Lieber Wolfdietrich,

    ich freue mich sehr, diese Schelling-Tagung, die ja zugleich eine Tagung zuEhren Deines 70. Geburtstages im Mrz dieses Jahres sein soll also eineArt versptetes Geburtstagsgeschenk , erffnen zu drfen.

    Ich finde es toll, wie Du und einige Deiner Langvertrauten hier ein Bei-spiel geben dafr, dass der philosophische Eros einen Menschen vital haltenkann, dass er auch mit 70 und darber nicht nachlsst. Da ist schon was dranan dem Schillerschen, dass es der Geist ist, der sich den Krper baut. Ichwnsche heute ganz besonders Dir, dass dieser Eros Dich noch lange in Be-wegung hlt.

    Zu Deiner Person hier offiziell Rhmendes zu sagen, das scheint mir auszwei Grnden unangemessen: Erstens wre ich wohl unter den Anwesenden, die Dich alle sehr viel

    lnger kennen als ich, sicher der Ungeeignetste dazu. Und zudem hiee es wohl auch Eulen nach Athen zu tragen, noch einmal

    von den 60 Promotionen und den noch erstaunlicheren 32 Habilitationenzu reden, die Du im Lauf Deiner Dienstjahre durchgefhrt hast. Oder vonden ber 50 entweder gnzlich selbstgeschriebenen oder herausgegebe-nen Bchern? Das wei doch eh jeder hier.

    Stattdessen mchte ich nur weniges aus meiner persnlichen Erfahrung mitDir berichten: Da wre zuerst und ganz vom Anfang meines Hierseins die Einladung zu

    Wein und Gebck in Deine Wohnung zu erwhnen. Es war eine so freund-liche und unverkrampfte Begegnung, dass sie schon nach wenigen Mi-nuten dazu fhrte, dass Du mir jenes Du angeboten hast, von dem ichheute nun schon so oft und als wre das selbstverstndlich Gebrauch ge-macht habe.

    Und ich erinnere die Einladung zu einem Essen bei Dir zu Hause, beidem Du mich Deinen alten Freunden vorgestellt und mir das Gefhlgegeben hast, in Kassel wohl aufgenommen und nun ein Stck weit ange-kommen zu sein.

    Fr beides danke ich Dir sehr herzlich.

  • Gruwort16

    Mittlerweile hatten wir auch ein Dienstgeschft zusammen zu erledigenund haben auch das in kooperativem Geist bestanden.

    Und nun also Schelling, womit Du zurck- oder besser wohl wieder ein-mal einkehrst bei Deinen frhen Wiener Tagen, bei der Abgrenzung von Hegelund dem hegelhrigen Kreis um Erich Heintel.

    Was also knnen wir lernen von Schelling, der die Freiheit als das Ver-mgen des Guten und des Bsen begriffen hat? Vielleicht das Erschrecken, von dem er in seinen spten Jahren ergriffen

    wurde? Ein Erschrecken gerade ber diese Freiheit und die darin wur-zelnde und stndige Mglichkeit, dass das Dunkel-Chaotische aus demMenschen hervorbrechen knne.

    Oder die Schwermut, in die Schelling wenn wir Emil Staiger Glaubenschenken drfen darob verfiel, dass der wahre Grundstoff des Lebenseben dies, das Chaotische und Schreckliche ist?

    Also, lieber Wolfdietrich, von letzterem, von der Schwermut, da wrde ichabraten. Und wenn es zu deren Vermeidung erforderlich ist, dann auch vomganzen Schelling. Aber wie ich Dich kenne, wirst Du schon etwas gefundenhaben, um trotz Schelling oder sogar mit einer anderen Seite von Schellingbei guter Laune zu bleiben.

    In diesem Sinn wnsche ich dem Kongress ein gutes Gelingen und bingespannt auf die Vortrge.

  • Mohamed Turki

    Von der Natur ber die kritische Philosophiegesellschaftlicher Praxis zur UtopieZur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik

    Einleitung

    Wer sich mit dem philosophischen Denken von Wolfdietrich Schmied-Ko-warzik nher befasst, wird sicherlich sofort merken, dass dieses Denken inseinen Grundstrukturen auf vier wesentlichen Paradigmen beruht: Natur, Ge-schichte, Praxis und Utopie. Diese Paradigmen bilden im Grunde die Achse,um die sich die gesamte Entwicklung dieses Denkens dreht und entfaltet. Diegroe Anzahl von Schmied-Kowarzik Schriften weisen ausdrcklich auf dieRelevanz dieser Paradigmen hin und unterstreichen deren Bedeutung fr dasgesamte Werk. Doch hinter diesen Paradigmen stehen wichtige Referenzenaus der Geschichte der Philosophie und genauer gesagt namhafte Denker,deren Einfluss auf die Wegbahnungen zur praktischen Philosophie von Schmied-Kowarzik unverkennbar erscheint. Die meisten Werke dieser Denker wiePlaton, Kant, Schelling, Hegel, Marx, Nietzsche, Rosenzweig, Heidegger,Bloch, Camus und Sonnemann sind in der Schrift Denken aus geschicht-licher Verantwortung1 genannt und gebhrend behandelt. Aber die bedeu-tendsten unter ihnen bleiben doch Schelling, Hegel, Marx und Bloch, diehufiger im Brennpunkt des Beschftigungsfeldes von Schmied-Kowarzikauftreten.

    Zunchst tauchen Begriffe wie Sinn und Existenz auf, die Schmied-Kowarzik in seiner Dissertation2 ausgehend von der Sptphilosophie Schel-lings herausgearbeitet hat. Hier wird vor allem die Frage nach der Einheitvon Sinn und Existenz und um den Erweis ihrer Verwirklichung im Rahmeneiner von Schelling entworfenen positiven Philosophie behandelt. Aber danntritt der Begriff der Natur umso strker in den Vordergrund und wird inAnlehnung an Schellings Naturphilosophie auf den aktuellen Diskurs derkologie und bei der Frage nach dem Verhltnis des Menschen zur Naturangewandt. Die gefhrte Auseinandersetzung in den 80er Jahren um das

    1 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, Wegbah-nungen zur praktischen Philosophie, Wrzburg 1999.

    2 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Sptphilosophie Schellings,Wien 1963.

  • Mohamed Turki18

    Problem der Naturttigkeit und Naturproduktivitt lsst sich nicht ohne denhistorischen und philosophischen Hintergrund, der sie begleitete, erklren.Fr Schmied-Kowarzik liegen die Wurzeln dieser Problematik bereits inSchellings Naturphilosophie, die sehr frh das dialektische Verhltnis vonNatur und Geist herausstellte und mithilfe naturwissenschaftlicher Erkennt-nisse aus der damaligen Zeit zu untermauern versuchte. Freilich sind nichtalle Versuche Schellings gelungen, wie Schmied-Kowarzik zu Recht bemerkt,denn insbesondere in der Phase der Identittsphilosophie (1801 1806)scheint die ganze Dynamik seines Versuchs, die Natur in ihrer eigenen Pro-duktivitt zu betrachten und darzustellen, in eine eigentmliche Statik vonBegriffsschematismen zu entarten. Erst in seiner spteren Schrift Darstellungdes Naturprozesses (1844) gelingt es ihm wieder, die Natur als einen unab-geschlossenen Werdeprozess sichtbar zu machen.3 An diesen Punkt knpftBloch spter an, wenn er von der Allianz zwischen Natur und Geschichte bzw.von der Beziehung zwischen natura naturata und natura naturans spricht.Dennoch setzt sich Schmied-Kowarzik von der blochschen Tendenz zur On-tologisierung der Natur ab und folgt mehr dem marxschen Ansatz, der voneiner bewussten Allianz des Menschen mit der Natur ausgeht.

    Was den Begriff der Geschichte anbetrifft, so betrachtet ihn Schmied-Ko-warzik offenbar als Bindeglied zwischen Schelling, Hegel und Marx. Fr ihnverbindet der Geschichtsprozess trotz der Differenzierungen in der teleologi-schen Finalitt sowohl die beiden Vertreter des deutschen Idealismus alsauch ihren materialistischen Widersacher. Zwar versteht Schelling unter Ge-schichte in Anlehnung an Kant und Fichte und im Gegensatz zum hegelschenSystem nicht das vergangene Gewordensein, sondern praxisphilosophischdas Aufgegebensein menschheitlicher Verwirklichung.4 Dennoch stimmt ermit Hegel und sogar mit Marx bei der Bestimmung dieser Geschichte ber-ein, in der nicht das Individuum, sondern die ganze Gattung handelt.5

    Dabei geht es sowohl um das Verstehen der vergangenen Menschheitsge-schichte als auch um die Prospektion und Orientierung knftiger Entwick-lung.

    3 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die existentielle Grundlage unserer Naturerkenntnisund die Produktivitt der wirklichen Natur, in: Gottfried Heinemann/Georg C. Tholen(Hg.), Ttiger Mensch Ttige Natur, Kasseler Philosophische Schriften 6, Kassel1983, 25.

    4 Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 65.5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: Smt-

    liche Werke in 14 Bdn., Stuttgart/Augsburg 1856, Bd. X, 115.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 19

    Trotz des nach rckwrts gewendeten Blickes in der Betrachtung derGeschichte bezeichnet Hegel, insbesondere in seinen Vorlesungen ber diePhilosophie der Geschichte, den Fortgang der Weltgeschichte dialektisch alsFortschritt im Bewusstsein der Freiheit.6 Hier wird vor allem gezeigt, wiedie Bewusstwerdung der Sittlichkeit durch die Staaten hindurch und bersie hinaus die innere Dialektik der Weltgeschichte ausmacht.7 Doch durchdas Fehlen der Zukunftsdimension versagt sich nach der Ansicht vonSchmied-Kowarzik die Philosophie der Geschichte nicht nur eine begrei-fende Analyse jener geschichtlichen Krfte der Freiheit und Sittlichkeit, diebereits in der Gegenwart ber diese hinauszudrngen scheinen, sondern sieverbietet sich selbst, ihr Begreifen der Geschichte als ein praktisches, als einsittliches Zusichselberkommen zu begreifen.8

    Diese Dimension hat bereits Marx erkannt und folgerichtig kritisiert, in-dem er aus der inneren Dialektik der Geschichte zeigt, wie die Verwirkli-chung der bewussten und freien Sittlichkeit im Horizont der Zukunft undnicht in der Vergangenheit oder Gegenwart liegt. Sie ist erst dort erreicht,wo die der Substanz nach aller gesellschaftlichen Praxis zugrunde liegendeSittlichkeit Subjekt geworden ist,9 wie Schmied-Kowarzik in Anlehnung anHegel formuliert. Dabei wird keine dogmatische Konstruktion der Zukunftimpliziert, sondern erklrt: unser Wissen um das Ziel der Geschichtemenschheitlicher Sittlichkeit grndet in der Gewissheit der geschichtlichenDialektik gesellschaftlicher Praxis.10 Damit tritt der Begriff der Praxis beiMarx in den Vordergrund und wird eine Prioritt im gesellschaftlichen undgeschichtlichen Werdeprozess erhalten.

    Das Wesentliche am Praxisbegriff bei Marx besteht Schmied-Kowarzikzufolge nicht nur in der bewussten Ttigkeit der Individuen bei ihrer Aus-einandersetzung mit der Natur oder mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt, son-dern vielmehr in der emanzipatorischen Perspektive, die auf eine Vernde-rung der bestehenden Verhltnisse hinzielt und eine Befreiung des Menschenvon der Entfremdung herbeifhren wird. Diese Dimension kennzeichnet diePraxis als revolutionre Handlungsttigkeit und liegt ihrer Zielsetzung zu-grunde, denn die Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit muss erst durchdie revolutionre Bewegung der sozial Unterdrckten und Benachteiligten in

    6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in:Werke in 20 Bdn, Frankfurt am Main, 1969, Bd. 12, 32.

    7 Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 90. 8 Ibid. 9 Ibid., 91.10 Ibid.

  • Mohamed Turki20

    einem Umsturz der kapitalistischen Produktionsverhltnisse erkmpft werden.Ziel dieser revolutionren Umwlzung ist die ber die Begrenzungen derbrgerlich-politischen Emanzipation hinausgetriebene menschliche Emanzi-pation, die Errichtung einer solidarischen Gesellschaft freier Individuen, einemenschliche und menschheitliche Weltgesellschaft.11

    Doch diese emanzipatorische Perspektive erfordert eine Erweiterung desHorizonts im Sinne einer noch nicht realisierten Weltgeschichte bzw. einer indie Zukunft projizierten Utopie, die weiterhin der revolutionren PraxisTriebkraft und Hoffnung verleiht. Schmied-Kowarzik sieht in der Philoso-phie Blochs diese Tendenz gegeben, da sie den Geist dieser Utopie und dasPrinzip Hoffnung am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Folgendermaenbeschreibt er diese Tendenz: Utopische Ontologie Hoffnung auf die nochungeborgenen Mglichkeiten zum Guten im Weltprozess und der Mensch-heitsgeschichte mit uns als verantwortlichen Akteuren fr ihre gelingendeWirklichwerdung hier liegen Fahrmotiv und Zielhorizont des BlochschenDenkens.12

    Im Weiteren werden nun all diese Paradigmen eingehend behandelt undkritisch beleuchtet. Sie knnen jedoch nicht das gesamte Umfeld der Anre-gungen und philosophischen Anstze erfassen, die Schmied-Kowarzik erar-beitet hat, sondern nur den Rahmen skizzenhaft umreien, worin sich derEntwicklungsprozess seiner Gedanken bewegt.

    1. Ttiger Mensch oder ttige Natur?

    Wie bereits erwhnt, beginnt Schmied-Kowarzik die Auseinandersetzung mitSchellings Werk bei der Frage nach dem Sinn der Existenz und stellt zwei-fellos die Problematik des menschlichen Daseins und seiner Freiheit in denVordergrund. Dieser Thematik bleibt er weiterhin treu, wenngleich er sich in-zwischen der Naturphilosophie Schellings zuwendet; denn er sprt sehr frhdie Spannung, die das Verhltnis des Menschen zur Natur im Allgemeinenund zu seiner Umwelt im Besonderen begleitet. Der fortschreitende Klima-wandel und die kologische Krise als Ergebnis der Umweltzerstrung stan-den zwar nicht so sehr wie heute, aber schon zu Beginn der siebziger Jahreim Mittelpunkt der Diskussion, die Philosophen und Naturwissenschaftler

    11 Ibid., 112.12 Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Ernst Bloch Utopische Ontologie,

    Band II des Bloch-Lukcs-Symposiums 1985 in Dubrovnik, Bochum 1986, 8.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 21

    gefhrt haben. Im Club of Rom wurde genau auf die sich anbahnenden Ge-fahren einer weiterhin ungezhmten Ausbeutung der Naturressourcen undeiner unkontrollierten Umweltverschmutzung hingewiesen.13 Fr Schmied-Kowarzik, der sich zunchst mit der Sptphilosophie Schellings befasst hat,war der Sinn fr die Existenz, der durch das Handeln und die Ttigkeit desMenschen entsteht, magebend. Doch die Naturfrage, die infolge der kolo-gischen Krise immer deutlicher zum Gegenstand der politischen und philo-sophischen Auseinandersetzung wurde, konnte Schmied-Kowarzik nicht auerAcht lassen. Mit Bezug auf Schellings Naturphilosophie greift er das Themawieder auf und versucht es nher zu erklren.

    Sowohl die Beitrge bei den von ihm organisierten Tagungen als auch dieStreitgesprche, die er in den achtziger Jahren u.a. mit Hans Immler14 gefhrthat, legen Zeugnis von seinem Interesse an dieser Problematik ab und spie-geln den regen Gedankenaustausch mit seinen Kollegen wider. Doch dieSumme seiner berlegungen zu diesem Thema kommt nachtrglich in demumfassenden Werk mit dem Titel Von der wirklichen, von der seyendenNatur Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzungmit Kant, Fichte und Hegel15 zum Tragen.

    Schon bei der interdisziplinren Tagung von 1981 zum Thema TtigerMensch ttige Natur weist Schmied-Kowarzik auf die Bedeutung der Na-turphilosophie Schellings bei der Konstituierung der wissenschaftlichen Er-kenntnis und deren Einfluss auf das Marxsche Denken hin. Seine Aus-fhrungen heben den systematischen Ansatz von Schellings Denken beiseinem Begreifen der Wirklichkeit hervor. Demnach versucht Schelling, vorallem im ersten Teil seines Buches zum System des transzendentalen Idealis-mus, die phnomenal erfahrbare Wirklichkeit und uns als produktiv an-schauende Subjekte dieser Wirklichkeit transzendentalphilosophisch-erkennt-nistheoretisch zu erschlieen.16 Dabei ist es ihm zwar gelungen zu zeigen,

    13 D. Meadows, J. Randers, D. Meadows, Limit to Growth The 30 Year Update, 1972,Club of Rome. Dtsch.: Grenzen des Wachstums, Das 30 Jahre-Update, Signal zum Kurs-wechsel, Stuttgart 2008

    14 Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissen-schaftsstreit, Hamburg 1984 sowie Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.),Natur und marxistische Werttheorie, Dokumentation einer interdisziplinren Arbeits-tagung, Kassel 1986, Kassel 1988.

    15 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Von der wirklichen, von der seyenden Natur.Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichteund Hegel, (Schellingiana 8), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.

    16 Schmied-Kowarzik, Die existentielle Grundlage unserer Naturerkenntnis und die Pro-duktivitt der wirklichen Natur, 19.

  • Mohamed Turki22

    wie die wichtigen Etappen der Welt und Selbstkonstitution des erkennendenund handelnden Subjekts bewusst reproduziert werden, aber er vermag da-durch nicht die Wirklichkeit selbst, d. h. die gesamte Wirklichkeit in ihremWirklichsein von Natur und Geschichte zu erfassen. Erst am Ende der Tran-szendentalphilosophie kommt Schelling auf die Natur- und Praxisphilosophiezu sprechen. Anders ausgedrckt: Schelling nhert sich dem Problem desVerhltnisses von Mensch und Natur von zwei Seiten. Erstens fragt er tran-szendental-philosophisch nach den Bedingungen der Mglichkeit unsererNaturerkenntnis; zeigt aber hier bereits auf, dass diese erkenntnistheoretischeFragestellung nicht ablsbar ist von uns als wirklichen Subjekten imexistenziellen Wirklichkeitszusammenhang. Das transzendentale Rckfragenbedingt jedoch, dass im System des transzendentalen Idealismus nur die For-men unserer Selbst- und Weltkonstitution expliziert werden knnen, nichtaber bereits inhaltlich der Wirklichkeitszusammenhang selbst, in den wir alserkennende Subjekte gleichwohl einbezogen sind. Daher wendet sich Schel-ling in der Natur- und Freiheitsphilosophie dieser zweiten Problemstellungzu. Es geht ihm hier um ein Begreifen von Natur und Geschichte aus ihreneigenen Potenzen des Wirklichseins und Werdens.17

    Diese Hinwendung zur Natur- und Praxisphilosophie erfolgt nach An-sicht von Schmied-Kowarzik bei Schelling aus zweierlei Grnden: er strebteinerseits, die Natur so aus ihren produktiven Krften heraus zu begreifen,dass die Entstehung des organischen Lebens und des menschlichen Bewusst-seins daraus erklrbar wird; andererseits hat die Natur mit dem menschlichenBewusstsein eine Gestalt der freien Selbstproduktion hervorgebracht, dienicht nur in der Potenz steht, sich selbst ihre eigene geschichtliche Welt auf-zubauen, sondern auch immer in der Gefahr befindet, sich aus ihrem krea-trlichen Zusammenhang zu verlieren.18 Gerade an den letzten Punkt knpftSchmied-Kowarzik an, um den Bezug Schellings zur kologie und zurVerantwortung des Menschen fr seine natrliche Umwelt herzustellen. Frihn gilt es, diesen Entwurf aufzunehmen und weiter zu entwickeln.

    Es fragt sich dennoch, ob Schelling bei seiner Umorientierung zur Natur-philosophie diese Absicht gehegt hat, oder nicht vielmehr einen Gegenent-wurf zu dem Weltbild der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts19 liefernwollte, wie W. G. Jacobs vermutet. Dieser Frage kann hier allerdings nicht

    17 Ibid., 3318 Ibid.19 Wilhelm G. Jacobs, Das Weltbild der modernen Wissenschaften und die Schellingsche

    Naturphilosophie, in: Istvn M. Fehr/Wilhelm G. Jacobs (Hg.), Zeit und Freiheit, Schel-ling Schopenhauer Kierkegaard Heidegger, Budapest 1999, 38.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 23

    weiter nachgegangen werden. Dennoch deuten beide Anstze auf eine neueWahrnehmung der Natur bei Schelling hin, die dem vorherrschenden Welt-bild der damaligen Naturwissenschaft widerspricht. Schelling denkt nmlichdie Natur einheitlich, d.h. sowohl als Produkt wie auch als Produktivitt. Erformuliert es folgendermaen: Die Natur als bloes Produkt [] nennenwir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Pro-duktivitt [] nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alleTheorie).20 Doch aus dieser letzten Aussage ist ein Missverstndnis entstan-den, wonach die Natur als Lebendige und Ttige bzw. als Wertschaffendeeinen personifizierten Charakter erhlt. An der Subjektivierung der Natur hatsich auch der Streit zwischen Immler und Schmied-Kowarzik in den achtzi-ger Jahren entzndet.

    Trotz seiner Abneigung gegenber einer an sich ttigen und Wert pro-duzierenden Natur vertritt Schmied-Kowarzik im Gegensatz zu Hans Immlerden Standpunkt, dass die Naturfrage nicht losgelst von der gesellschaft-lichen Produktion und der menschlichen Praxis betrachtet und behandeltwerden darf. Fr ihn sind weder Arbeit noch Natur wertbildend, aber siesind die Quellen allen Reichtums.21 Ferner stellt er der Behauptung vonImmler, wonach die Marxsche und erst recht die marxistische Kritik derpolitischen konomie in der Naturfrage unzureichend geworden ist, insbe-sondere was die Bestimmung des Verhltnisses von Wert und Natur anbe-langt,22 seine eigene These entgegen. Diese besagt dass nur die weiter-entwickelte Marxsche Theorie uns ermglicht, die kologische Krise alseinen grundlegenden Widerspruch zwischen der wertbestimmtem industriel-len Entwicklung und der Naturvermitteltheit alles menschlichen Lebens zudenken.23 Dabei erinnert Schmied-Kowarzik daran, dass Marx gerade nichtwie Hegel die menschliche Praxis allein aus der Negation zur Natur be-stimmt, also als grundstzliche Antinomie begreift, sondern mit Schellingaufdeckt, dass sie nicht nur ursprnglich mit der Natur verknpft ist, sondernihre Erfllung nur erreichen kann, wenn wir sie im Einklang mit der Natur zugestalten vermgen.24 Von hier aus erfolgt also der Schritt zu Marx, dernach Schmied-Kowarzik den Entwurf der Schellingschen Naturphilosophiekonsequent bernimmt und in ein Programm der Kritik der politischen ko-nomie umsetzt.

    20 Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, III, 284.21 Immler/Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage, 46 ff.22 Ibid., 21.23 Ibid., 46.24 Ibid., 19

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    Nach dem Fall der Berliner Mauer und nach der Auflsung des real exis-tierenden Sozialismus wirkt der Streit zwischen Schmied-Kowarzik undImmler um das Verhltnis von Naturproduktivitt und Wertkonomie ausheutiger Sicht zunchst fast anachronistisch und fern jeglicher Realitt. Aberangesichts der Finanz- und Weltwirtschaftskrise, die nun ein globales Aus-ma erreicht und im Zuge der fortschreitenden Umweltzerstrungen, die zumKlimawandel erheblich beitragen, gewinnen solche Diskussionen immer mehran Aktualitt. Die Herausforderung, die der gegenwrtigen politischen ko-nomie durch die Naturfrage gestellt wird, wiegt heute mehr denn je. WieImmler damals formulierte, zwingt die Naturfrage die wissenschaftlichekonomie, die Probleme der gesellschaftlichen Wertbildung, Wertenstehungund Wertbestimmung von Grund auf neu zu diskutieren, Positive wie kriti-sche konomie werden sich gezwungen sehen, ihre Axiomatik zu ndern.25

    Ob sich diese Forderung heute Gehr verschafft, bleibt dahin gestellt, aberdie Tatsache, dass Schmied-Kowarzik und Immler vor drei Jahrzehnten dieseProblematik bereits thematisiert und diskutiert haben, zeigt, wie besorgt undweitsichtig beide um die Naturfrage gewesen sind, wenngleich sie sie ausunterschiedlicher Perspektive betrachtet haben. Fr Immler soll die Natur-produktivitt innerhalb der Kritik der politischen konomie einen gebh-renden Platz einnehmen. Hingegen setzt Schmied-Kowarzik mehr auf dengesellschaftlichen Charakter der Produktion und erkennt in ihren entfrem-denden Mechanismen die Ursache fr die kologiekrise.

    Ttige Natur oder ttiger Mensch, das war die Grundfrage. Doch es be-steht hier kein Entweder-Oder, wie Ulrich Sonnemann in seinem Beitrag zudieser Kontroverse richtig feststellt. Es knnte hchstens um eine Korrekturin der wissenschaftlichen Erkenntnis gehen bzw. um eine Vernderung vonNatur-Qualitten [], fr die es in der Tat kein bekanntes historisches Pr-zedenz gibt.26 Sonnemann fgt hinzu: offenbar kann dem Naturverhltnisder Menschen gar nicht nachgesprt werden, ohne da das Thema so vonselber in eins von Geschichte gleich umschlgt wie ja auch umgekehrt Ge-schichtsbetrachtungen immer zuletzt, in Fragen nach der Natur ihres []Gegenstands.27 Damit kann der Bezug zum nchsten Punkt, nmlich zumParadigma der Geschichte hergestellt werden.

    25 Ibid., 3926 Ulrich Sonnemann, Beitrag zur Kontroverse zwischen Hans Immler und Wolfdietrich

    Schmied-Kowarzik, in: Immler/Schmied-Kowarzik, Natur und marxistische Werttheo-rie, 10.

    27 Ibid., 11.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 25

    2. Die Geschichte als Werdeprozess

    Schon in seiner Schrift Einleitende Bemerkungen zur Naturphilosophie Schel-lings weist Schmied-Kowarzik auf die enge Verbindung zwischen der Naturund der Geschichte in der Naturphilosophie Schellings hin. Fr ihn bildetdiese das Programm, worin die Natur unter Einschluss der geschichtlichenWelt des Menschen in ihrer Wirklichkeit aus sich selber zu erfassen28 sei.Seine Ausfhrungen in diesem Rahmen zeigen, wie der Ariadnefaden vomSystem des transzendentalen Idealismus ber die Naturphilosophie bis hinzur Philosophie der Geschichte als Endpunkt praktischer Philosophie fhrt.Dieses Programm steht nach seiner Ansicht sogar als Grundlage fr Marx beiseiner Erluterung des Verhltnisses von Natur und gesellschaftlicher Praxis.Hier wie dort setzt Schmied-Kowarzik auf das Primat der Praxis, die ebensogrundlegend fr die Naturerkenntnis als auch fr den Umgang des Menschenmit der Natur und im gesellschaftlichen Handeln ist.

    Bei Schelling stellt sich bereits im System des transzendentalen Idealis-mus die Frage, ob die Geschichte als Realisierung des Ideals einer Synthesisvon individueller Freiheit und allgemeiner Rechtsordnung gedacht werdenkann. Entsprechend erklrt er, da Geschichte weder mit absoluter Gesetz-migkeit, noch mit absoluter Freiheit besteht, sondern nur da ist, wo EinIdeal unter unendlich vielen Abweichungen so realisiert wird, da zwar nichtdas Einzelne, wohl aber das Ganze mit ihr congruiert.29 Daraus geht deut-lich hervor, dass Schelling bei der Bestimmung der Geschichte auf einenWiderstreit stt, der die Modalitt ihrer Realisierung betrifft, d. h. ob sievom einzelnen Individuum oder von der allgemeinen Menschheit gemachtund getragen wird. Dieser Widerstreit um das Verhltnis von individuellerFreiheit und allgemeiner Notwendigkeit innerhalb einer Rechtsordnung be-stimmt im Grunde auch die Zielsetzung von Geschichte beim jungen Schel-ling. Doch fr ihn scheint die Sache geklrt zu sein, da er sieht, dass es nureine Geschichte solcher Wesen gibt, welche ein Ideal vor sich haben, das niedurch das Individuum, sondern allein durch die Gattung ausgefhrt werden

    28 Schmied-Kowarzik, Die existentielle Grundlage unserer Naturerkenntnis und die Pro-duktivitt der wirklichen Natur, 25; siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Pro-ze und Vollendung. Wir und die unabgeschlossene Ganzheit der Natur, in: KristianKchy/Martin Norwig (Hg.), Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilo-sophie und Umweltethik, Freiburg/Mnchen 2006.

    29 Schelling, System des transzendentalen Idealismus, III, 588.

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    kann.30 Diese Aussage wird im brigen in den spten Werken noch einmalwiederholt.31

    Die Entscheidung zugunsten der Gattung bedeutet allerdings keineswegsdie Preisgabe der individuellen Freiheit, sondern vielmehr ihre Einbettung ineinen greren Rahmen, der selber die Bedingung der Freiheit darstellt. Eshandelt sich um die allgemeine Rechtsordnung, die zwar zunchst alsuere Notwendigkeit erscheint, aber dann wie eine zweite Natur erfasst undangeeignet wird. Fr Schelling ist es also eine Voraussetzung, die selbstzum Behuf der Freiheit notwendig ist, da der Mensch was das Handeln selbstbetrifft, frei, was das endliche Resultat seiner Handlungen betrifft, abhngigsey von einer Notwendigkeit die ber ihm ist, und die selbst im Spiel seinerFreiheit die Hand hat.32 Es fragt sich jedoch, ob mit einem solchen Argu-ment der Widerstreit zwischen individueller Freiheit und uerer Notwendig-keit tatschlich beendet werden kann, oder zu einem Weg, der zwischen derScylla einer vlligen Vorherbestimmtheit (Prdetermination) der Geschichteund des daraus folgenden Fatalismus und der Charybdis des mit verabso-lutierter Subjektivitt einhergehenden System[s] der absoluten Gesetzlosig-keit 33 fhrt. Denn die teleologische Zielsetzung bleibt ihrerseits denMenschen verborgen und erreicht erst in der absoluten Identitt als End-resultat ihre Vollendung.

    Schmied-Kowarzik, der in seinem Beitrag Schelling Freiheit, Rechtund Geschichte34 diese Problematik ausfhrlich behandelt, unterstreicht denpositiven Charakter der Geschichtsauffassung vom jungen Schelling. Er siehtdarin die grundstzlichsten und geschlossensten Darlegungen Schellings zurpraktischen Philosophie und damit zu Recht und Staat vermittelt zwischender Freiheit des menschlichen Handelns und der Geschichte vorliegen35,und bringt sie trotz des idealistischen Ansatzes sogar in die Nhe von Marx,der ebenfalls die Geschichte als eine Gattungsgeschichte erfasst. Beidenschreibt er, ist gemeinsam und hierin unterscheiden sie sich von Hegel dass sie die Geschichte als eine praktische gesellschaftspolitische Aufgege-benheit begreifen, dass sie die bestehenden Ordnungsverhltnisse nicht alsfr sich seienden allgemeinen Willen, sondern als von Menschen gemachte

    30 Ibid.31 Siehe hierzu: Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, X, 115.32 Ibid., III, 594.33 Hans Jrg Sandkhler, F. W. J. Schelling, ein Werk im Werden. Zur Einfhrung, in:

    H. J. Sandkhler (Hg.), F. W. J. Schelling, Stuttgart/Weimar, 1998, 19.34 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Schelling Freiheit, Recht und Geschichte, in: W.

    Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 67.35 Ibid., 69.

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    und vorlufig notwendige Zwangverhltnisse begreifen36. Doch in der Ziel-setzung treten eindeutig die Unterschiede zwischen den beiden Denkern zuTage. Fr Schelling ist die Geschichte als Ganzes eine fortgehende all-mhlich sich enthllende Offenbarung des Absoluten37, das sich als Be-weis vom Dasein Gottes38 kundtut. Hingegen spricht Marx in diesem Zu-sammenhang eher von einem Ende der Vorgeschichte die durch dieAusbeutung und Unterdrckung der Menschen gekennzeichnet ist und vomBeginn der wahren Geschichte mit der klassenlosen Gesellschaft, in derder Mensch vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheitbergeht.

    Bevor man auf die Interpretation der Marxschen Konzeption von Ge-schichte bei Schmied-Kowarzik eingeht, ist es aber notwendig, sein Ver-stndnis von Hegels Geschichtsauffassung in Erinnerung zu rufen. Demnachzeichnet sich das Problem der Geschichte bei Hegel durch seine eher logi-sche als vielmehr historische Konstitution ab. Entsprechend wird der dia-lektische Prozess als ein Zusichselberkommen des Weltgeistes erfasst, aberdieses Zusichselberkommen (ist) zunchst nicht als geschichtlicher Prozess,sondern als konstitutionslogischer Prozess konzipiert.39 Hier wird jede Folgeder historischen Wirklichkeit ebenso wie jede Gestalt der Sittlichkeit in derdarauf folgenden Stufe aufgehoben, sodass die letzte als das Zusichselber-kommen des Weltgeistes in die Philosophie der Weltgeschichte notwendiger-weise mndet.

    Die Geschichte wird zwar von Hegel als Fortschritt im Bewusstsein derFreiheit40 begriffen, aber nicht durch die Taten der Vlker wird dieser Fort-schritt vorangebracht, denn die Vlker treten in die Geschichte ein, reifen zuihrer Sitte heran und scheiden aus der Geschichte wieder aus, ohne Einflussnehmen zu knnen auf die Sitte der nach ihnen in die Geschichte eintre-tenden Vlker.41 Die Geschichte spiegelt also keineswegs die Wirklichkeitin ihrer Mannigfaltigkeit wider, sie entspricht vielmehr als Werdeprozess einerlogischen Konstitution, bei der alle Eigenschaften des Geistes durch dieFreiheit42 auf den Begriff gebracht werden. Somit ist sie nur eine Rechtfer-tigung der Vernnftigkeit des immer bereits vorgngigen Praxis- und Bil-

    36 Ibid.37 Schelling, System des transzendentalen Idealismus, III, 603.38 Ibid., III, 604.39 Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 89.40 Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, 12, 32.41 Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 97.42 Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, 12, 30.

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    dungsprozesses, d. h. der Geschichte.43 Deshalb stellt Schmied-Kowarzikauch die Frage, ob dieser Prozess der bewusst werdenden Freiheit tatschlichden Fortschritt in der Geschichte vollbringt und nicht blo eine Legitimationdes Bestehenden darstellt. Hegel war nmlich der Meinung, dass in seinerZeit und besonders in seiner Philosophie diese Tatsache der Vernnftigkeiteindeutig sichtbar und zu ihrem endgltigen Abschluss gefhrt wrde.

    Doch das Eigentmliche am Begriff der Geschichte bei Hegel ist jedoch,dass in ihr die Dimension der Zukunft fehlt; Geschichte tritt hier immer nur alsGewordene auf, die somit bestenfalls an die Gegenwart, insofern sie eineGewordene ist, heranreicht.44 Mit dem Abschneiden der Geschichte vonihrer Zukunftsdimension schaltet Hegel eigentlich jegliche Orientierung wieauch jede Perspektive auf eine Vernderung des weiteren Verlaufes aus. Dasbedeutet, dass er die Geschichte fr abgeschlossen erklrt und dass er ihrkeine Entwicklung mehr beimisst. Folglich verliert auch die Praxis, die zurBefrderung und Verbesserung der historischen und gesellschaftlichen Wirk-lichkeit beitrgt, ihre Relevanz. So bricht Hegel nach der Ansicht vonSchmied-Kowarzik mit der Tradition der praktischen Philosophie seit So-krates, die sich immer in den Primat der Praxis gestellt verstand.45

    Nun liegt es aber nicht im Belieben von Hegel, die Geschichte allein ausder Vergangenheit zu betrachten, und ihr somit jegliche Dimension fr dieZukunft abzusprechen. Wir knnen die innere Logik der Wirklichkeit vonGeschichte nicht einfach umschreiben. Sie ist ein durch gesellschaftlichePraxis bestimmter Proze, der jeweils durch unsere Gegenwart hindurchgeht,welche sich als aus der Vergangenheit gewordene und auf die Zukunft ge-richtete wei,46 schreibt Schmied-Kowarzik kritisch und weist in Anschlussan Marx besonders auf die antizipatorische Perspektive der Zukunft im ge-sellschaftlichen und historischen Prozess hin. Diese bildet nmlich den Hori-zont, worauf sich die Praxis richtet und dessen Erfllung erst in der Eins-werdung von individuellem und allgemeinem Willen im menschheitlichen

    43 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das Prospektive der Marxschen Theorie, in: MichaelGrauer/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Grundlinien und Perspektiven einer Phi-losophie der Praxis, (Kasseler Philosophische Schriften 7), Kassel 1982, 11.

    44 Ibid., 90; vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Heinz Eidam (Hg.), Anfnge bei Hegel,(Kasseler Philosophische Schriften Neue Folge 2), Kassel 2009.

    45 Ibid. Vgl. auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Aufhebung Gedanken zu einerGrundkategorie dialektischer Philosophie, in: Sven Kramer (Hg.), Bild Sprache Kultur. sthetische Perspektiven kritischer Theorie. Hermann Schweppenhuser zum80. Geb., Wrzburg 2009.

    46 Ibid., 91.

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    Mastab47 bzw. in der menschheitlichen Gesellschaft erreicht wird. Damitbringt er neben Schelling auch Marx in die Auseinandersetzung und Kritikder Geschichtsauffassung Hegels. Seine Ausfhrungen diesbezglich tauchenin mehreren Aufstzen und Schriften auf, die hier nur ansatzweise erwhntoder herangezogen werden.48 Doch alle verbinden die Marxsche geschichts-philosophische Grundlegung mit seinem Begriff der gesellschaftlichen Pra-xis, der die Basis und die Triebkraft des geschichtlichen Prozesses bildet,denn es sind die Menschen selbst, die, indem sie gesellschaftlich ihr Lebenerhalten, zugleich ihr gesellschaftliches Leben gestalten in all seinen sozialenund kulturellen, praktischen und theoretischen Formen.49

    3. Die Aufgabe der gesellschaftlichen Praxis

    Schon in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wen-det sich Marx gegen den idealistischen Ansatz von Hegel und stellt eine ganzandere Zielsetzung fr die Philosophie entgegen, die im Dienst der Ge-schichte steht und ihre Aufgabe und Wrde nicht in sich selbst als theo-retische Erkenntnis, sondern in der bewusst gesellschaftlichen Praxis derhandelnden Menschen in der Geschichte hat.50 Fr Schmied-Kowarzik be-deutet dies, dass die Funktion der Philosophie nach Marx sich nicht blo aufdas Begreifen und Interpretieren der Welt beschrnken soll, sondern direktals Kritik an den bestehenden Verhltnissen ausgebt wird und auf derenVernderung und berwindung hinarbeitet. Marx fordert eine Umstlpungder Hegelschen Dialektik und ihre Aufhebung in eine auf Praxis bezogeneGeschichtsentwicklung, die sich nun prospektiv auf die Zukunft richtet undnicht allein der Vergangenheit verhaftet bleibt.

    Das Prospektive der Marxschen Theorie hebt Schmied-Kowarzik be-reits in seinen einfhrenden Bemerkungen zu einer Arbeitstagung 1982 ber

    47 Ibid.48 Siehe hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Pra-

    xis. Zur Genesis und Kernstruktir der Marxschen Theorie, Freiburg/Mnchen 1981;Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhltnis des Menschen zur Natur.Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx, Freiburg/Mn-chen 1984; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Dialektik im Primat der Praxis, in: MargotFleischer/Jochem Hennigfeld (Hg.), Philosophen des 19. Jahrhunderts, Darmstadt1998.

    49 Schmied-Kowarzik, Marx Philosophie der menschlichen Emanzipation, 113.50 Ibid., 107.

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    die Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis hervor. Darinstellt er die wesentlichen Aspekte dieser Theorie heraus und weist auf derenBedeutung als Philosophie der gesellschaftlichen Praxis hin, der es um dieAufklrung der handelnden Subjekte ber ihre Praxis geht, um sie dadurchzur Bewltigung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben zu befhigen.51 Einerdieser Aspekte besteht in der Aufhebung und Verwirklichung der Philoso-phie in die Praxis, die Marx programmatisch schon frh formulierte. Dieseerfolgt nach Schmied Kowarzik zunchst in einer Einbeziehung der Philo-sophie in die gesellschaftliche Praxis als einem geschichtlichen Proze, des-sen bewut werdenden Ausdruck sie darstellt.52 Das impliziert, dass dieseTheorie eine doppelte Funktion zu erfllen hat: als Kritik am Bestehenden,das sie nicht mehr rein theoretisch erfasst und affirmativ vermittelt, und alsMoment einer praktisch verndernden Aufgabe, die in die Wirklichkeit selbsteingreift.

    Als nchster Aspekt wird vor allem die menschliche Emanzipation vonder Entfremdung und die Errichtung des Sozialismus als einer solidarischenGesellschaft53 angesprochen. Schmied-Kowarzik zeigt in Anschluss an Marx,wie der Prozess der Entfremdung naturwchsig im Zuge der Arbeitsteilungentsteht, d. h. dass er nicht erst mit dem Kapitalismus in die Geschichte ge-treten ist, sondern in sich wandelnden Formen zwar das bisherige gesell-schaftliche Zusammenleben der Menschen beherrscht.54 Solange die Men-schen als Produzenten ihrer Lebensverhltnisse von irgendwelchen uerenKrften fremdbestimmt werden, knnen sie sich nicht selbst verwirklichen.Aber mit dem Kapitalismus werden die Widersprche in Bezug auf die Ent-fremdung sichtbar. In den konomisch-philosophischen Manuskripten gehtMarx besonders auf die entfremdete Arbeit ein und beschreibt, wie die Na-tionalkonomie diese Erscheinung zwar festgestellt, aber nicht richtig inihren politkonomischen Kontext eingebettet hat. Sie vermag nicht den we-sentlichen Zusammenhang zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, derTrennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Kon-kurrenz, von Wert und Entwertung der Menschen, von Monopol und Kon-kurrenz etc., von dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begrei-fen.55 Darum bleibt ihr die Bewegung dieser in Widerspruch tretenden

    51 Schmied-Kowarzik, Das Prospektive der Marxschen Theorie, 7.52 Ibid., 1053 Ibid., 15.54 Ibid., 12.55 Karl Marx, konomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Marx-Engels Werke in

    42 Bden., Berlin 1974, MEW 40, 511.

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    Elemente verborgen. Es bedarf also einer Praxis, die Kritik an der Theorieder Nationalkonomie ausbt und einen Prozess der Emanzipation des Men-schen von der Entfremdung und Ausbeutung in Gang setzt.

    Zur Verwirklichung dieser Zielperspektive bezieht sich Schmied-Kowar-zik auf den jungen Marx, der den Kommunismus als die wirkliche Bewe-gung, welche den jetzigen Zustand aufhebt nennt.56 Er zitiert weiterhinMarx, der in der Deutsche Ideologie schreibt: Der Kommunismus unter-scheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, da er die Grundlagealler bisherigen Produktions- und Verkehrsverhltnisse umwlzt und alle na-turwchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewutsein als Geschpfeder bisherigen Menschheit behandelt, ihrer Naturwchsigkeit entkleidet undder Macht der vereinten Individuen unterwirft.57 Dabei soll vor allem dieBetonung auf zum ersten Mal mit Bewutsein gelegt werden, denn Marxverkennt nicht den Beitrag seiner Vorgnger bei der Herausstellung der Ent-fremdung.

    In seiner Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie berhaupt hebter diesen Aspekt besonders bei Hegels Phnomenologie des Geistes hervor.Darin heit es: Das menschliche Wesen, der Mensch, gilt fr Hegel = Selbst-bewusstsein. Alle Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts alsEntfremdung des Selbstbewusstseins.58 Aber Marx rumt gleichzeitig ein,dass Hegel nicht erkannt hat, dass die Entfremdung des Selbstbewusstseinsnichts anders sei als ein im Wissen und Denken sich abspiegelnder Aus-druck der wirklichen Entfremdung des menschlichen Wesens.59 Damit ent-hllt er die Grenze des Hegelschen Denkens und setzt ihm seine Konzeptionvon Praxis entgegen, die zur Bewusstwerdung beitrgt und den Weg fr diewirklich menschliche Emanzipation vorweist.

    Wie bereits erwhnt, erfllt der Kommunismus diese Voraussetzungen,weil er nach Marx kein Ideal darstellt, woran sich die Wirklichkeit orientiert,sondern vielmehr die revolutionre Bewegung der sozial Unterdrckten undBenachteiligten verkrpert, die ihre Freiheit und Sittlichkeit durch den Um-sturz der kapitalistischen Produktionsverhltnisse zu erkmpfen suchen.

    In seinem Aufsatz Marx Philosophie der menschlichen Emanzipationversucht Schmied-Kowarzik noch einmal das Innovative an der MarxschenTheorie der Revolution im Vergleich zur brgerlich- kapitalistischen Eman-zipationsbewegung herauszustellen. Dabei erkennt er, dass diese letzte zwar

    56 Karl Marx, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 35.57 Ibid., 7058 Marx, konomisch-philosophische Manuskripte, 40, 575.59 Ibid.

  • Mohamed Turki32

    die politische Emanzipation der Individuen und die rechtliche Verfassung derStaaten durchgesetzt und realisiert, jedoch nicht den Zusammenhang vonpolitischer Emanzipation und konomischer Entwicklung reflektiert60 hat.Hingegen verfolgt Marx dieselben Ziele und bersieht dabei nicht die Wider-sprchlichkeit zwischen Basis und berbau innerhalb der kapitalistischenProduktionsweise. Seine kritische Analyse der politischen konomie er-mglicht ihm aufzuzeigen, dass die politische konomie der brgerlichenGesellschaft keineswegs eine anthropologisch festsitzende Gegebenheit ist,sondern vielmehr durch gesellschaftliche Praxis wenn auch bewutlos hervorgebracht ist und daher auch grundstzlich durch eine bewute undsolidarische Praxis der Individuen revolutioniert werden kann.61 Deshalbpldiert Marx fr eine revolutionre Umwlzung, die ber die Grenze derbrgerlich-politischen Emanzipation hinausgeht und auf die Errichtung einersolidarischen Gesellschaft freier Individuen, eine menschliche und mensch-heitliche Weltgemeinschaft.62 zielt. Dabei bezieht sich Schmied-Kowarzikdirekt auf Marx, der schreibt: Alle Emanzipation ist Zurckfhrung dermenschlichen Welt, der Verhltnisse, auf den Menschen selbst. () Erstwenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbrger in sichzurcknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, inseiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhltnissen, Gattungs-wesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres als gesell-schaftliche Krfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftlicheKraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erstdann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.63

    Aus den bisherigen Ausfhrungen wird noch einmal ersichtlich, wieSchmied-Kowarzik der Marxschen Theorie der Revolution als Ergebnis einerBewusstwerdung und berwindung der brgerlichen Emanzipationsbewe-gung folgt. Fr ihn kann die menschliche Emanzipation nur ber eine Re-volutionierung der entfremdeten Gesellschaftsverhltnisse durch die von derEntfremdung Betroffenen, durch die eigentlichen Trger der gesellschaftli-chen Produktion selbst vollzogen werden.64 Doch Marx grenzt aufgrund derAnalyse der kapitalistischen Produktionsweise und deren innewohnendenWidersprche den Radius der Trger der Emanzipationsbewegung auf das

    60 Schmied-Kowarzik, Marx Philosophie der menschlichen Emanzipation, in: W.Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 112.

    61 Ibid.62 Ibid.63 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie, MEW 1, 370.64 Schmied-Kowarzik, Marx Philosophie der menschlichen Emanzipation, 119.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 33

    Proletariat ein, da dieses die grere Last der Ausbeutung der lebendigenArbeit trgt und am meisten die Widersprche der kapitalistischen Produk-tion am eigenen Leibe erfhrt. So gert seine Theorie der menschlichenEmanzipation in den Strudel des Klassenkampfes und der ideologischen Aus-einandersetzungen, die gerade dieses Ziel aus dem Auge verloren haben.

    Hier erkennt Schmied-Kowarzik eine der Schwchen der Marxschen Re-volutionstheorie, die allzu selbstverstndlich davon ausgeht, dass die sichzuspitzenden Krisen der kapitalistischen Produktionsweise und das dadurchhervorgerufene Elend unter der arbeitenden Bevlkerung diese von sich auszur revolutionren Bewegung treiben werden.65 Auerdem habe Marxversumt, sich mit der Frage der Bildung eines revolutionren Klassenbe-wusstseins intensiver zu befassen, was mglicherweise zur spteren Umfor-mung des Marxismus beigetragen hat. Die Auflsung des real existierendenSozialismus, der von einem dogmatischen Marxismus geleitet und mit blu-tiger Gewalt durchgesetzt wurde, bietet hierfr den traurigen Beweis. Den-noch besteht nach Schmied Kowarzik noch Grund zur Hoffnung, dass diemenschliche Praxis die unheilvollen Entwicklungen der kapitalistischen Pro-duktionsweise und ihre entfremdenden staatlichen, ideologischen und wissen-schaftlich-technischen Mechanismen stoppen und umleiten wird. Das setztallerdings, wie er zu Recht andeutet, Subjekte voraus, die sich ihrer gegen-wrtigen gesellschaftlichen Situation und ihrer weltgeschichtlichen Verant-wortung bewut geworden sind und die daher bereit sind, je in ihren Be-reichen gemeinsam mit anderen dieses gefhrliche Getriebe anzuhalten undauf ein sittliches Zusammenleben der Menschen hin umzuwenden.66 Da-rber hinaus erfordert dies auch eine grundstzlich andere Philosophie, diesich in den Dienst der menschlichen Emanzipation stellt und zugleich eineZukunft versprechende Perspektive anvisiert, bevor sie unmittelbar in diegesellschaftlichen und politischen Kmpfe der Gegenwart Partei ergreift.

    4. Utopie als Horizont der Zukunft

    Eine solche Philosophie bietet bisher nur Bloch, der auf das Prinzip Hoff-nung setzt und sich an einer zuknftigen Utopie orientiert.67 Darin findet

    65 Ibid., 120.66 Ibid., 122.67 Mohamed Turki, Von der Existenz- zur Hoffnungsphilosophie, Bloch und Sartre auf

    dem Weg des Utopischen ins Reich der Freiheit, in: P. Knopp/V. von Wroblewsky (Hg.),Die Freiheit des Nein, Jean-Paul Sartre Carnets 2001/2002, Berlin 2003, 129-150.

  • Mohamed Turki34

    auch Schmied-Kowarzik die Antwort auf die Frage nach den Bedingungender Mglichkeit zur berwindung des Bestehenden und zur Verwirklichungder Freiheit und Sittlichkeit im Rahmen einer historischen und gesellschaft-lichen Praxis. Diese Philosophie hat sich nmlich zur Aufgabe gemacht,schreibt er in Ernst Bloch Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte undNatur das uns existentiell betreffende und angehende Problem der Zukunftin all seinen Aspekten und Schattierungen68 zu erhellen. Blochs gesamtesWerk, angefangen beim Geist der Utopie ber das Prinzip Hoffnung bis hinzu Experimentum Mundi scheint sich gerade diesem Auftrag zu widmen.

    In mehreren Aufstzen zu Blochs Philosophie versucht Schmied-Kowar-zik die in der vorhergehenden Philosophie vernachlssigte Perspektive aufdie Zukunft hin denkend69 herauszustellen. Bei Bloch tritt eben diese bisherverdrngte Seite des geschichtlichen Denkens deutlich zum Ausdruck. Dem-nach ist das Wirkliche [...] Proze; dieser ist die weit verzweigte Vermittlungzwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: mglicherZukunft.70 Das bedeutet, dass der gesamte Prozess der Welt eine Zukunftvor sich hat, die noch nicht festgestellt ist, und dass Vieles in der Welt nochunabgeschlossen ist. Mit anderen Worten, in diesem offenen Prozess, sagtBloch liegen Latenzen und wirken Tendenzen, zu denen die Menschheits-geschichte als eine gehrt, die aber insgesamt noch nicht entschieden sind.71

    Damit weist er auf die Unabgeschlossenheit der existierenden Wirklichkeithin und betont im Hinblick auf die Rolle und Bedeutung des Menschen indiesem Prozess: Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischenWeltvorgang ein Entscheidendes geworden; mit der Arbeit als Mittel zurMenschwerdung, mit den Revolutionen als Geburtshelfern der knftigen Ge-sellschaft, womit die gegenwrtige schwanger ist [...]. [Er steht] an der Frontdes Weltprozesses, wo die Entscheidungen fallen, neu Horizonte aufgehen.72

    Doch fr Bloch beschrnkt sich der Werdegang der Welt nicht allein aufden Beitrag des menschlichen Handelns, sondern umfasst die gesamte Ent-faltung und Entwicklung der Materie, die sich durch den Menschen als ihrerhchsten Blte zusammenfat und zu Ende bringt.73 Hier wird der Mensch

    68 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Ernst Bloch Hoffnung auf eine Allianz von Ge-schichte und Natur, in: Gvozden Flego/W. Schmied-Kowarzik (Hg.) Ernst Bloch Utopische Ontologie, Band II des Bloch-Lukcs-Symposiums 1985 in Dubrovnik,Bochum 1986, S.219.

    69 Ibid.70 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, (Gesamtausgabe Bd. 5), Frankfurt am Main 1977, 225.71 Ibid., 221.72 Ibid., 285.73 Ibid.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 35

    in einen viel greren Zusammenhang eingebettet und tritt als Teil einesNaturprozesses in Erscheinung. Das unterstreicht er noch einmal, wenn ersagt: Ohne Materie ist kein Boden der Antizipation, ohne Antizipation keinHorizont der Materie erfassbar. Die reale Mglichkeit wohnt derart in keinerfertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in derstets neu zu begrndenden Ontologie des Seins des Noch-nicht-Seienden,wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzenNatur.74 Somit verankert Bloch nach Schmied-Kowarzik das antizipierendeBewusstsein als konkret utopische Potenz, die ber das Schlecht-Bestehendeauszugreifen sucht, im geschichtlich Vorwrtstreibenden der gesellschaft-lichen Praxis, diese aber darber hinaus in der Produktivitt des offenen Pro-zesses der Natur, dem prozessierenden Da-Grund der Materie.75

    Diese Vorstellung erinnert zweifellos an Schellings Naturphilosophie, dersich Bloch als einer der wenigen Denker der Gegenwartsphilosophie unmit-telbar anschliet und sie im Sinne einer materialistischen Auffassung inter-pretiert. Aber Bloch betont Schmied-Kowarzik zufolge mehr als Schelling,dass dieser Gesamtprozess der Natur als hervorbringendes Existieren undWerden auch naturhaft noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern nochMglichkeiten, Latenzen und Tendenzen in sich birgt, die ihr einen offenenZukunftshorizont verleihen.76 Es bedarf deshalb eines Entzifferns der Real-Chiffern dieses Prozesses, um die utopische Funktion der darin enthaltenenmenschlichen Planung und Vernderung zu enthllen.

    In diesem Zusammenhang unterstreicht Schmied-Kowarzik auch das Pro-blem einer Allianz zwischen Mensch und Natur,77 denn bereits im PrinzipHoffnung verweist Bloch frhzeitig auf die verheerenden Auswirkungeneiner vom Menschen nicht richtig beachtete und ber das Ma ausgebeuteteNatur. Dabei fordert er, dass an Stelle des Technikers als bloen berlistersoder Ausbeuters [...] konkret das gesellschaftliche mit sich selbst vermittelteSubjekt [steht], das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsendvermittelt.78 Damit gehrt Bloch wie Schmied-Kowarzik betont zu denPionieren im Bereich einer kritischen kologie.

    Bloch sieht allerdings im Marxismus die Mglichkeit einer fundiertenHoffnung zur Aufhebung des vorhandenen Widerspruchs zwischen dem mit

    74 Ibid., 274.75 Schmied-Kowarzik, Das Prospektive der Marxschen Theorie, 19.76 Schmied-Kowarzik, Ernst Bloch Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Na-

    tur, 222.77 Ibid., 228.78 Bloch, Prinzip Hoffnung, 787.

  • Mohamed Turki36

    der Naturwissenschaft positivistisch gesteuerten Fortschritt und dem natr-lichen Lebenskreislauf. So meint er, dass wie der Marxismus im arbeitendenMenschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wieer es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen lt, so ist eswahrscheinlich, da der Marxismus in der Technik auch zum unbekannten,in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgnge vordringt:die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd.79

    Diese dialektisch geschaffene Allianz von Geschichte und Natur nennt Blochin Anschluss an Marx Humanisierung der Natur und Naturalisierung desMenschen.

    Rckblickend wird man natrlich Bloch schnell den Vorwurf machen,sich bei der Einschtzung des Marxismus als Hoffnungsperspektive zur Auf-hebung der Entfremdung und zur Verwirklichung einer Allianz des Men-schen mit der Natur geirrt zu haben. Aber Bloch rechnete, worauf Schmied-Kowarzik zu Recht hinweist, tatschlich nach dem 2. Weltkrieg mit einerrascheren Expansion des Sozialismus und hoffte vor allem auf eine Wand-lung der sozialistischen Gesellschaften bis hin zur Konzeption einer neuenkonkreten Technik ohne Vergewaltigung.80 Diese beiden Tendenzen habensich jedoch nicht erfllt, stattdessen hat sich in immer rasender Entwicklungweltweit eine industrielle Produktionsweise durchgesetzt, deren Folgeer-scheinungen immer bengstigender werden, da sie die Grundlage unseresund allen hheren Lebens auf dieser Erde bedrohen.81 Dennoch scheint esfr Bloch keinen Grund zur Enttuschung oder gar zur Verzweifelung zugeben, da die Enttuschung selber zur Grundlage der Hoffnung gehrt unddiese immer wieder auf die Probe gestellt werden soll, denn das Hoffen gibtkeineswegs die Gewissheit, dass die Realisierung einer besseren Zukunftjemals erreichbar sein wird. Bezug nehmend auf den Patmos-Vers von Hl-derlin: Wo aber Gefahr ist, wchst das Rettende auch, lsst er wieder dieHoffnung am Horizont leuchten. So betont er im Prinzip Hoffnung: Gefahrund Glaube sind die Wahrheit der Hoffnung, dergestalt, dass beide in ihr ver-sammelt sind und die Gefahr keine Furcht, der Glaube keinen trgen Quietis-mus in sich hat. Die Hoffnung ist derart zuletzt ein praktischer, ein militanterAffekt, sie wirft Panier auf.82 Damit bleibt Bloch nach der Einschtzung von

    79 Ibid.80 Schmied-Kowarzik, Ernst Bloch Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Na-

    tur, 231.81 Ibid.82 Bloch, Prinzip Hoffnung, 127.

  • Zur Entwicklung des Denkens von W. Schmied-Kowarzik 37

    Schmied-Kowarzik ein visionrer Denker, ein Apologet der positiven Hoff-nungsbilder und Sinnstiftungen.83

    Schlussbemerkung

    Trotz des Bemhens um eine sachliche Darstellung der Paradigmen: Natur,Geschichte, Praxis und Utopie, die das Denken von Schmied-Kowarzik ma-geblich prgen, kann man ihm und seinem Werk sicherlich in diesem kurzenAufsatz nicht gerecht werden. Es wurde notwendigerweise dabei auf vielesystematische Bezge und Begriffe verzichtet, die sein Denken weitgehendbestimmen. Hier sei beispielhaft nur an die Anstze zu einer kritischen Bil-dungsphilosophie, sowie an die kulturphilosophischen Beitrge erinnert.84

    Auerdem konnte die kritische Auseinandersetzung mit diesen Paradig-men in Bezug auf wesentliche Denker innerhalb der Philosophiegeschichte wie etwa Kant, Nietzsche, Hnigswald, Heidegger oder Rosenzweig nichtfortgesetzt werden, obwohl sie fr die Entwicklung des Denkens von Schmied-Kowarzik relevant sind. Dennoch hat dieser Beitrag die Grundlinien seinesWerkes zu erfassen versucht. Dabei lsst sich eine Dialektik von Bruch undKontinuitt erkennen, die den Prozess der geistigen Objektivation begleitetund durchdringt. Von Schellings Ansatz zur Natur und Geschichte berHegels und Marx Begreifen der Praxis bis hin zur Utopie und Hoffnungs-philosophie bei Bloch entfaltet sich das Denken von Schmied-Kowarzik durchKritik, Negation und Aufhebung. Hier vollzieht sich wie bei Kant eine ArtDialektik der Aufklrung, die nicht nur durch die immer wieder zu er-neuernde Negation von Barbarei hindurch die Verwirklichung von Verstndi-

    83 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bloch Suche nach uns selbst ins Utopische, in:Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, 230.

    84 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie und revolutionre Praxis. Konzepteund Perspektiven marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorie, Bochum 1988; Wolf-dietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhltnis von Theorie und Praxis in derPdagogik, (Kasseler Philosophische Schriften Neue Folge 1), Kassel 2008; Wolf-dietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beitrgezur gegenwrtigen Theorie-Diskussion, 2. Aufl. Berlin 1993; Heinz Paetzold/Wolfdiet-rich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philosophie (Philosophische Diskurse 9),Weimar 2007.

  • Mohamed Turki38

    gung85 ermglicht, sondern auch positiv durch Toleranz und Respekt gegen-ber Andersdenkenden sowie mit Optimismus und Hoffnung auf eine bes-sere Welt wirkt.

    85 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Ethnologie Xenologie Interkulturelle Philoso-phie, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verstndigung. Ethno-logie Xenologie interkulturelle Philosophie, Wrzburg 2002, 16.

  • I. Freiheit und Natur

  • Heinz Eidam

    Das Wissen und seine RealittAnmerkungen zu Schelling1

    I. Schelling und Fichte

    Schellings Abhandlung Vom Ich als Princip der Philosophie oder ber dasUnbedingte im menschlichen Wissen von 1795 beginnt mit den Stzen: Weretwas wissen will, will zugleich, da sein Wissen Realitt habe. Ein Wissenohne Realitt ist kein Wissen. Und, so fragt er, was folgt daraus? (I/1, 162)2

    Selbstverstndlich, so wrde man dem jungen, gerade einmal zwanzig-jhrigen Schelling sofort zugeben, will jeder, da sein Wissen Realitt habe,also berhaupt ein Wissen sei. Wer etwa nicht wei, ob er beim Verlassen desHauses auch seine Schuhe angezogen hat, der kann sich dessen mit einemkurzen Blick versichern. Mit dieser empirischen Realittsprfung knnte mansich hier zufrieden geben. In diesem eher banalen Fall wie auch in wis-senschaftlich anspruchsvolleren Fllen knnte man schlicht und einfachnachsehen, was, wie man so sagt, der Fall ist. Man knnte aus weiteren undverschiedensten Fllen allgemeine Gltigkeitskriterien abstrahieren sowieVerifikations- oder Falsifikationstheorien fr alle mglichen Flle entwickeln.Die Realitt des Wissens bliebe in allen diesen Fllen jedoch abhngig voneiner anderen Autoritt: von dem Zeugnis der Sinne, wie Kant es nannte. Nunsollte man dieses Zeugnis keineswegs gering schtzen, doch mu man zu-gleich zugestehen, da eine empirische Realittsprfung des Wissens immerabhngig bleibt von seiner prfenden und bezeugenden Autoritt. Mithinwird eine sinnlich bedingte Gewiheit dem Wissen niemals eine unbedingteRealitt oder eine absolute Gewiheit verschaffen knnen. Entweder, so fol-gert nun Schelling, bleibt unser Wissen ein bestndiges Weitergetriebenwer-den von einem aufs andere, von einem bedingten Wissen zu einem anderen,wiederum nur bedingten Wissen, oder aber es msse einen letzten Punkt derRealitt geben, an dem alles hngt, einen Punkt, von dem aller Bestand

    1 Zuerst verffentlicht in: Heinz Eidam, Kausalitt aus Freiheit. Kant und der DeutscheIdealismus, Wrzburg 2007, S. 75-92. Ich danke dem Verlag Knighausen & Neumannfr die Erlaubnis des Wiederabdrucks.

    2 Schellings Schriften werden zitiert nach der Ausgabe Friedrich Wilhelm JosefSchelling, Smtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, I. Abt. Bd. 1-10, II. Abt. Bd. 1-4,Stuttgart/Augsburg 1856 1861.

  • Heinz Eidam42

    und alle Form unseres Wissens ausgeht. Im gesamten Kosmos unseres Wis-sens mte dieser Punkt, mte dieses Etwas der Urgrund aller Realittund zugleich der Realgrund alles unseres Wissens sein (I/1, 162 f.) Ohnediesen wre der Kosmos unseres Wissens nur ein Chaos.

    Gibt es berhaupt ein Wissen, so mu es ein Wissen geben, zu dem ichnicht wieder durch ein anderes Wissen gelange, und durch welches alleinalles andere Wissen Wissen ist. [...] Dieses Letzte im menschlichen Wis-sen kann also seinen Realgrund nicht wieder in etwas anderem suchenmssen, es ist nicht nur selbst unabhngig von irgend etwas Hherem,sondern, da unser Wissen nur von der Folge zum Grund aufsteigt undumgekehrt vom Grund zur Folge fortschreitet, mu auch das, was dasHchste und fr uns Princip alles Erkennens ist, nicht wieder durch einanderes Princip erkennbar seyn, d. h. das Princip seines Seyns und dasPrincip seines Erkennens mu zusammenfallen, mu Eins seyn, denn nur,weil es selbst, nicht weil irgend etwas anderes ist, kann es gedacht wer-den. (I/1, 162 f.)

    Der junge Schelling betreibt von seinen frhen Platon-Studien abgesehen seine Suche nach dem Unbedingten im menschlichen Wissen zunchst nochganz im Rahmen der von Fichte vorgegebenen Wissenschaftslehre und ihrerTerminologie. Fichte hatte seinen kritischen Idealismus dadurch definiert undbegrndet, da der Grund der Realitt alles Wissens nur in demjenigen liegenkann, in dem das Wissen und seine Realitt ursprnglich zusammenfallenbzw. identisch sind. So heit es in der nur ein Jahr vor Schellings Schriftverfaten Wissenschaftslehre Fichtes: Ideal- und Realgrund sind im Begriffeder Wirksamkeit (mithin berall, denn nur im Begriffe der Wirksamkeit kommtein Realgrund vor) Eins und Ebendasselbe. Das Wesen des absoluten Ichbesteht fr Fichte gerade darin, da in ihm Sich-Setzen und Sein Eins undEbendasselbe sind: In ihm ist Real-Grund und Ideal-Grund Eins.3 Analogformuliert Schelling. Der letzte Grund aller Realitt sei etwas, das nurdurch sich selbst, d. h. durch ein Seyn denkbar ist, und das auch nurinsofern gedacht wird, als es ist. Kurz, dieser letzte Grund sei dasjenige, indem das Princip des Seyns und das Prinzip des Denkens zusammen-fallen (I/1, 163), in dem Sein und Denken dasselbe ist.4

    3 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschriftfr seine Zuhrer (1794), Hamburg 1988, 95 f. (GA I/2, 326).

    4 Nun knnte es nahe liegen zu vermuten, da in dieser Ununterscheidbarkeit weder un-ter Sein noch unter dem Denken noch etwas Bestimmtes gedacht werden kann. Es stellt

  • Das Wissen und seine Realitt 43

    Soll nun das Unbedingte in allem Wissen, der Punkt, an dem alles hngt,nicht wiederum als etwas Bedingtes, mithin als Objekt gedacht werden, dannmu es als Subjekt gedacht werden. D. h. es mu als Etwas gedacht werden,das als letzter, absoluter Grund (I/1, 163) den Grund seines Seins (ratioessendi) und Wissens (ratio cognoscendi) nur in und aus sich selbst habenkann. Weil dieses gesuchte Unbedingte, von dem aller Bestand und alle Formdes Wissens ausgehen soll, nicht durch ein ihm uerliches bedingt seinkann, so kann es das, was es ist, nur sein, insofern es sich selbst hervorbringt,sich selbst in seinem Sein konstituiert, mithin nur wenn hier berhaupt voneinem Bedingtsein die Rede sein kann durch sich selbst bedingt ist. AlsSubjekt mu dieses Unbedingte als etwas Ttiges gedacht werden. Es mu inseiner reflexiv auf sich selbst bezogenen Ttigkeit sich selbst hervorbringenals das, was es ist, also als etwas, das nur das Produkt seiner eigenen T-tigkeit ist, aber auch nur insofern ist, als es ttig ist. Fichte nannte diesesallem Wissen zugrunde liegende Ttigsein des Subjekts die absolute Tat-handlung, um diesen doppelten Aspekt zum Ausdruck zu bringen, nmlichHandlung und Tat zugleich zu sein. Damit ist gemeint, da diese Identitt nurals Identifikation gedacht werden kann, mithin als eine Ttigkeit oder als einin sich reflexiver Proze. Diesen transzendentalen Konstitutionsproze derIdentifikation von Denken und Sein im Subjekt des Wissens beschreibtFichtes Wissenschaftslehre, indem sie die konstitutiven Grundlagen allesWissens rekonstruiert.

    Nun ergaben sich fr Fichte