42
SARAH BENEDICT Der Duft der grünen Papaya

SARAH BENEDICT Der Duft der grünen Papaya - bilder.buecher.de · Buch Auf der Flucht vor schmerzhaften Erinnerungen reist Evelyn Braams auf die exotische Südseeinsel Samoa. Sie

Embed Size (px)

Citation preview

SARAH BENEDICT

Der Duft der grünen Papaya

Buch

Auf der Flucht vor schmerzhaften Erinnerungen reist EvelynBraams auf die exotische Südseeinsel Samoa. Sie mietet sichbei den Cousinen Ili und Maona ein, zwei älteren Damen,die ein traumhaftes Haus an einer einsamen Bucht besitzen.Evelyn scheint dort ihre Sorgen zumindest vorübergehendvergessen zu können … Doch das Idyll ist trügerisch: DieCousinen haben seit vielen Jahren kein Wort mehr miteinan-der gewechselt. Nun will Maona das Land, auf dem sie leben,an einen amerikanischen Investor verkaufen – aus Rache. Beidem Versuch Ili zu helfen ihr Paradies zu retten, verstrickt sichEvelyn bald tief in eine alte Geschichte von Liebe und Hass …

Autorin

Sarah Benedict lebt und arbeitet in Deutschland und auf GranCanaria. Sie hat bereits einige sehr erfolgreiche historische

Romane unter anderem Namen veröffentlicht.

Sarah Benedict

Der Duft dergrünen Papaya

Roman

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC®-zertifizierte Papier Holmen Book Cream

für dieses Buch liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden

1. AuflageTaschenbuchausgabe Januar 2013 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © der Originalausgabe 2006 by Sarah Benedict und

by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDas Buch ist bereits 2006 unter dem Titel »Der Papaya-Palast« (36482)

bei Blanvalet erschienen.Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel|punchdesign

Umschlagmotiv: © Johannes Wiebel|punchdesign,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Ilse WagnerES ∙ Herstellung: sam

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN: 978-3-442-38056-5

www.blanvalet.de

5

»Ich liebe das Land.Ich habe es erwählt als meine Heimat zu Lebzeitenund als Grabstätte nach meinem Tod.Und ich liebe die Menschen,und ich habe sie erwählt als mein Volk,mit dem ich leben und sterben will.«

Robert Louis Stevenson, 1894, über Samoa

1

Samoa, November 2005

Ili Valaisi fragte sich manchmal, was die Leute an Papayasfanden. Papayas waren launisch. Sie wuchsen, wie undwann sie wollten. Der Erntezeitpunkt lag normalerweisezwischen Juli und Oktober, aber gab es ein bisschen mehroder weniger Regen, ein bisschen mehr oder wenigerWind, ein bisschen mehr oder weniger Celsiusgrade hinterdem Komma, ließen die Papayas sich Zeit oder reiften imGegenteil besonders schnell heran. Ili hatte einmal eine Pa-paya im Mai vom Stamm geholt, ohne zu wissen, ob dieFrucht nun ein Nachzügler der letzten Ernte oder ein Vor-bote der kommenden war. Papayas waren angeberisch.Größer als die meisten anderen Tropenfrüchte, schienensie hinter ihren weichen grüngelben Schalen eine saftigeVerheißung zu verbergen.

Ilis alte und geübte Hand zerteilte die Frucht mit einemkonsequenten Messerschnitt, so dass die Papayahälftennach beiden Seiten auseinander fielen. Die Hälfte des In-neren füllten Hunderte schwarzer Kerne; ein Zeichen, wiestark der Drang der Papaya nach Fortpflanzung war.

6

Schabte man die Kerne aus, was einige Mühe machte,blieb nur allzu wenig des hellroten Fruchtfleisches übrig,und da die Schale ungenießbar war und sich zudem nichtabschälen ließ, musste sie mit einem Messer abgetrenntwerden, was weitere Verluste an Fruchtfleisch zur Folgehatte. Übrig blieb ein kläglicher Rest, weniger saftig alseine Melone und weniger süß als eine Mango.

Mehr als einmal hatte sie sich die Frage gestellt, warumsie ausgerechnet eine Papayaplantage betrieb. Alle ande-ren Plantagenbesitzer bauten Kokosnüsse an, Ananas, Ba-nanen, Mangos oder Taro, die Südseekartoffel. In letzterZeit verlegten sich immer mehr Landbesitzer auf den An-bau von Kaffee, angelockt von großartigen Versprechun-gen der amerikanischen und europäischen Kaffeekonzer-ne. So weit Ili wusste, war sie die einzige Plantagenbesitze-rin Samoas, die ausschließlich Papayas anbaute. Vielleichtlag darin schon die Antwort. Sie war seit jeher gern aus derReihe getanzt. In ihrer Kindheit hatte man sie spüren las-sen, dass sie anders war als die übrigen Kinder, doch stattsich davon kränken zu lassen, betrachtete sie dieses An-derssein als Vorteil. Sie erlaubte sich, Fragen zu stellen,quer zu denken und offen ihre Meinung zu äußern, selteneEigenschaften im kleinen und konservativen KönigreichSamoa. Außerdem war sie mit Papayas aufgewachsen. Dererste Duft, an den sie sich erinnerte, war der von Papayas,und das erste Bild, wie ihre Mutter sie mit einer riesigenPapaya in der Hand anlächelte. Irgendwie hätte sie die lau-nischen, angeberischen Früchte vermisst.

Trotzdem betrachtete Ili es als eine Art Rache an der wi-derspenstigen Frucht, dass sie jene, die sie nicht für denExport nach Australien, Neuseeland und Europa verkauf-te, sondern zum Eigenbedarf zurückbehielt, optimal nutz-te. Die Kerne trocknete sie in der Sonne; sie gaben einenwürzigen Pfefferersatz ab. Und die Schalen legte sie für die

7

Vögel zurecht, die mit ihren Schnäbeln die Fruchtfleisch-fetzen abpickten. Die ersten kamen bereits herangehüpft,vier Loris und ein Singstar. Ili begrüßte sie mit einem brei-ten Lächeln. Es würden noch mehr werden.

Schon als Kind liebte sie es, Vögel zu füttern, und hattenie mehr damit aufgehört. Bereits in der sechzigsten odersiebzigsten Generation holten ihre fliegenden Freunde sichjeden Morgen und jeden Abend einige Leckerbissen bei ihrab. Tausende Loris und Papageien hatte sie kommen undverschwinden sehen; sie wurden geboren, bekamen von ih-ren Eltern die Futterplätze gezeigt, fassten Vertrauen zu Ili,wurden selbst Eltern und führten ihrerseits wieder die Jun-gen zu Ilis Futterplatz hinter dem Haus, im Schatten derPapayas. So ging es viele Jahre, bis sie alt wurden und einesTages ausblieben. Aber ihre Kinder und Kindeskinder wa-ren bis dahin längst Stammgäste geworden.

Die Vögel waren ein Symbol für das, was Ili unter Glückverstand. Für sie hatte der Lauf der Natur etwas wunder-bar Beruhigendes, ja auch Tröstliches, und sie konnte sichnicht vorstellen, ohne die immer gleiche Abfolge von Wer-den, Leben und Vergehen zu sein, ohne die Erinnerung anVergangenes und ohne die Freude am Augenblick. Sie ge-noss es, wenn alljährlich ab Mai Passatwinde durch dieBlätter des bergigen Tropenwaldes rauschten oder wennim Gebüsch am Haus eine Zikade sang, sie genoss das wei-te Feld des Pazifischen Ozeans, die Fontänen vorbeizie-hender Wale, den Duft brennender Kokosschalen im Erd-ofen und das Gelächter junger Leute, wenn sie, bunte Tü-cher um die Hüften, vom Baden kamen. Mondlicht, wennes schräg durch die Blätter der Papayabäume fiel. Bienen-gesumme. Das Vorbeihuschen eines neugierigen Geckos.Von der Veranda aus in den Sommerregen zu lauschen.Das alles bedeutete wahres Glück für sie.

Sie kannte nur Savaii, die größte der vier Inseln Samo-

8

as, ein verlorener Punkt von vierzig mal sechzig Kilome-tern im unendlichen Pazifik, aber sie war sich sicher, dasses keinen zweiten Platz wie diesen auf der Welt gab. Nir-gendwo sonst war die Unveränderlichkeit der Natur stär-ker zu spüren als hier – unveränderlich im Laufe einesMenschenlebens.

Ein samoanisches Sprichwort besagte, dass ein Menschmehr Wurzeln hat als ein Baum. So war es. Mit vielen Or-ten auf der Insel verband sie eine spezielle Erinnerung, jedeeinzelne wie eine Wurzel, die ihr Kraft gab: die mächtigegrüne Kappe des Mafane, auf den ihre Mutter sie als Mäd-chen hinaufgeführt hatte, die heiteren Feste in Palauli, demDorf ihrer Vorfahren, wo sie zum ersten Mal tanzen durf-te, oder die kantigen Lavafelder im Norden, über die siebarfuß mit Senji spazieren gegangen war. Aber noch wich-tiger als diese einzelnen, lebendigen Erinnerungen warendie Farben, Gerüche und Geräusche, die so alltäglich wa-ren, dass selbst sie sie manchmal nicht mehr wahrnahm,und die doch unbewusst dieses starke Band zwischen ihrund der Insel bildeten. Da war die riesige rote Blüte desFlamboyantstrauches, die oft ganz unerwartet aufleuchte-te. Der Anblick der gewaltigen Wolkentürme, die imAbendrot glühten, während von ferne die Gesänge derMänner durch den Wald hallten. Die kalten Bäche aus denBergen, die über Felsentreppen hinab zur Küste plätscher-ten. Der schmale Pfad zum Mount Mafane hinauf, über-dacht von den gewaltigen Riesenfeigen, den Muskatbäu-men und grazilen Myrtazeen. Und natürlich gehörte auchihr hölzernes Haus an der Palauli Bay dazu. Es war viel zugroß für die drei Frauen, die es bewohnten, es war ein Pa-last, auch wenn Ili dieses Wort ungern benutzte, das dieSamoaner ihm gegeben hatten: faletele papaia, der Papaya-Palast. Hier war der Ort ihrer Kindheit, ihrer Ehe, ihrer gu-ten und schlechten Tage seit mehr als neunzig Jahren.

9

Wenn Ili ihr Leben auf diese Weise betrachtete, fand sie,dass sie es nicht schlecht getroffen hatte. Gewiss, zu ofthatte sie kämpfen müssen, sogar um die selbstverständ-lichsten Dinge wie ihren Namen. Manches war ihr allzufrüh abhanden gekommen, anderes immer versagt geblie-ben, vor allem Kinder, die sie gerne gehabt hätte. Viel, vielzu lange schon fehlte ihr ein Mensch, dem sie eine Stützehätte sein können, was wiederum ihr selbst eine Stütze ge-wesen wäre und ihrem Leben eine Richtung gegeben hät-te. Aber wenn sie wie jeden Tag die hundert Schritte zumSand der Palauli Bay machte, das Meer sanft an die Buchtbranden sah und die Südseesonne auf ihrer Haut spürte,wenn sie sich dann anschließend hinter das Haus setzte, dieVögel aus dem nahen Tropenwald lockte und ihnen beimSchnäbeln zusah, dann wusste sie, dass es ungerecht wäre,mit ihrem Leben zu hadern.

Trotzdem kam es vor, dass sie dem eigenen SchicksalFragen stellte: Was wäre geschehen, wenn meine Großel-tern mich damals nach Deutschland geholt hätten? Oderwenn es Moana nicht gäbe?

Sie wurde von Moana seit achtzig Jahren gehasst undhasste sie seit mindestens sechzig Jahren. Ihr gegenseitigerHass hatte schleichend begonnen, hatte Schritt für Schrittgenommen und sich in jener schrecklichen Oktobernacht1942 vollendet. Seither sprachen sie kein einziges Wortmehr miteinander.

Dennoch lebten sie im gleichen Haus.Plötzlich schreckte die bunte Vogelschar auf und flüch-

tete sich auf die nächsten Äste. Ili wusste sofort, was dasbedeutete.

»Talofa, Ane«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.»Ich dachte, dein Gehör ist nicht mehr so gut.« Ane gab

ihr einen Kuss auf die Wange, und Ili spürte den Abdruckdes frisch aufgelegten Lippenstiftes. »Talofa, Großtante.«

10

Im Grunde war sie nicht ihre Großtante. »Du hast dieVögel aufgeschreckt.«

»Die kommen wieder.«Nicht, solange Ane da war. Es war seltsam, dachte Ili,

dass die wilden Vögel sich bis heute nicht an den AnblickAnes gewöhnt hatten, obwohl sie hier im Haus lebte undimmer schon hier gelebt hatte. Die Vögel misstrauten Ane.Es war, als spürten sie, dass Ane als Kind, also vor gar nichtso langer Zeit, jeden Vogel zu fangen versucht hatte, derauf dem Boden herumlief. Ili war nicht bekannt, dass Anejemals Erfolg gehabt hätte, aber sie fragte sich manchmal,was Ane mit einem gefangenen Vogel getan hätte.

»Möchtest du dich zu mir setzen?«, bot Ili ihrer jungenVerwandten an, obwohl sie wusste, dass Ane es ablehnenwürde. Ili saß nach samoanischer Art auf einer Matte aufdem Boden, im Schatten der Papayabäume, und Ane warnicht der Typ von Frau, der sich auf den Boden setzte.Man musste sie sich nur ansehen: die langen Haare seidigschwarz, klimpernde Armreifen, die Hände elegant in dieTaschen knapper Shorts gesteckt, und die dunkel lackier-ten Fußnägel lugten aus Sandalen, die der goldene Schrift-zug eines italienischen Modehauses zierte. In einer Pa-payaplantage wirkte die Zweiundzwanzigjährige so fremdwie auf dem Mond.

»Nein, danke«, lehnte Ane ab. »Ich muss die Fähre krie-gen. Ich bin nur gekommen, um dich zu fragen, ob ich diretwas aus Apia mitbringen soll.«

Ili warf Ane einen kurzen Blick zu und verstand sofort.»Also schön, was willst du?«, fragte sie.

»Was ich will? Ich bin gekommen, um zu fragen, was duwillst.«

»Du hast mich nie gefragt, was ich will, Ane.« Ili konnteden leichten Vorwurf in ihrer Stimme nicht verbergen. Sieseufzte: »Raus damit. Was soll ich für dich tun?«

11

Ane kapitulierte schnell. Sie hätte es bestimmt lieber ge-habt, nicht durchschaut zu werden, andererseits bliebenihr nun komplizierte rhetorische Überleitungen erspart.

»Ich könnte in Apia dein Gästezimmer anbieten.«»Es ist keine Saison, jetzt, wo die Regenzeit beginnt.«»Ich hätte da schon einen Interessenten.«Ein fast unmerkliches Lächeln umspielte Ilis alten

Mund. Ane war durchschaubar wie das Wasser um Samo-as Küsten. »Einen Mann natürlich.«

»Spielt das eine Rolle?«»Der letzte Mann, den du mir als Gast vermittelt hast,

verlief sich nachts im Haus und kroch in mein Bett – wassicherlich für ihn ein noch größerer Schreck war als fürmich.«

»Er hat sein Zimmer nicht gefunden, das kann jedempassieren.«

»Er hat dein Zimmer nicht gefunden, Ane. Bitte, ich bineine alte Frau, aber ich bin nicht dumm.«

Ane schwieg.»Ist dein neuer Wunschgast auch derjenige, der dir in

letzter Zeit die teuren Geschenke macht und den gemiete-ten Jeep bezahlt?«

Ane schwieg weiter und malte mit ihrer Sandale sinnlo-se Muster in den Sand.

Ili hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen. Anewar nicht ihr Kind, nicht ihre Enkelin, sondern die Enke-lin ihrer Cousine. Es gab eine Zeit, da sie versucht hatte,sich um das Mädchen zu kümmern, vielleicht sogar mehrum ihrer selbst willen als wegen Ane. Da war ein jungesGeschöpf gewesen, das jemanden brauchte, und ihre Brustquoll zu dieser Zeit über von Liebe und Fürsorge, die sieniemandem sonst schenken konnte. Aber Moana, instinkt-sicher darin, sie dort zu treffen, wo es wehtat, hatte ihr ei-nes Nachts eine Warnung an die Tür geheftet und darin

12

jede Einmischung verboten. »Du hast meine Familie zer-stört, Ili Valaisi. Ich schwöre dir, der Tag, an dem du dichin das Leben meiner einzigen Enkelin einmischst, wirddein letzter sein.«

Ili fragte sich manchmal, wie viel Moana eigentlich vonihrer Enkelin wusste. Gar nicht sosehr von dem Leben, dassie führte – obwohl auch das kapriziös genug war –, son-dern von dem, was in Ane vorging. Von ihrer Seele.

»Also, was sage ich nun dem Interessenten?«, wollte Anekleinlaut wissen. »Mir liegt etwas an ihm.«

»Nichts gegen deine Bekanntschaften, Ane. Aber mirwäre das momentan zu viel Aufwand. Warum fragst dunicht deine Großmutter? Sie hat genug Platz.«

Der Vorschlag war lächerlich, das wusste auch Ili.Sie lehnte die dargebotene Hand dankend ab und rap-

pelte sich allein hoch. Sie war nicht mehr so schlank wie inihrer Jugend, und es gab viele Bewegungen und Tätigkei-ten, die sie nicht mehr ohne weiteres ausführen konnte,aber sie wollte sich auf keinen Fall davon bezwingen lassen.Ihre glatten, vollen Wangen und ihr noch immer aufrech-ter Gang ließen ihr wahres Alter nicht vermuten, und ihreschwarzen Augen hatten die Fähigkeit nicht verloren, so-wohl scharfsichtig als auch rebellisch oder neugierigblicken zu können. Fremde, die ihr bei der Gartenarbeitoder dem Kochen zusahen, schätzten sie stets auf Anfangbis Mitte siebzig. Trotzdem konnte es auch ihr zu viel wer-den, vor allem, wenn Fremde im Haus waren. Gäste mach-ten Arbeit und waren auch sonst anstrengend. Vor allemEhepaare. Ehepaare stritten entweder miteinander oderquasselten einem das Ohr ab. Das letzte Paar, dem sie dasZimmer vermietet hatte – zum Ende der letzten Saison An-fang Oktober –, war tagelang mit einem Fotoapparat umsie herumgelaufen und hatte am Ende sogar die Dreistig-keit besessen, sie zu fragen, ob sie sich nicht ein wenig »ur-

13

sprünglicher« zurechtmachen könnte, sprich, ihr Oberteilausziehen würde. »Früher liefen Samoaner oben ohneherum«, hatte der Mann gesagt. Und seine Frau fügte hin-zu: »Sie haben sich zu sehr verwestlichen lassen, meine Lie-be.« Ili antwortete ihnen: »Sobald Sie beide nur mit Hirsch-fell bekleidet herumlaufen wie Ihre Ahnen, ziehe ich auchmeine Bluse aus.« Das Ehepaar verließ am nächsten Mor-gen ihr Haus.

Und nun sollte einer von Anes ausländischen Liebha-bern ihr auf die Nerven gehen? »Bitte versteh mich«, sagteIli und überging ihren eigenen Vorschlag, den Gast beiMoana einzuquartieren. »Die Ernte war anstrengend. DieArbeiter mussten beaufsichtigt werden, die Verkäufe über-wacht, Konditionen ausgehandelt …«

»Vielleicht sollten wir verkaufen.«»Wie bitte?«»Es gibt in Apia jetzt ein schönes Heim, wo Großmutter

und du eure letzten Jahre genießen könntet.«»Ich kann sie auch hier genießen«, gab Ili ärgerlich zu-

rück.»Aber dort würdest du betreut werden. Sieh mal, hier

musst du kochen, dich um die Plantage kümmern, dasHaus fegen und alle diese Dinge.«

»Diese Dinge machen mir Freude. Ich koche gerne.«»Und was ist, wenn du das eines Tages nicht mehr

schaffst? Du könntest ja auch unglücklich stürzen oderdich an deinem alten Ofen verbrennen oder …«

»Oder von Marsmenschen entführt werden«, ergänzte Ilibissig. Sie konnte nicht glauben, dass Ane mit einem sol-chen Vorschlag ankam. Sie konnte das alles einfach nichternst nehmen.

»Jetzt machst du Scherze darüber, Großtante, aber eskönnte so kommen. Und wenn niemand in der Nähe ist?Was dann?«

14

»Dann«, seufzte Ili, »liege ich lieber eine Stunde unterSchmerzen dort, wo ich mein ganzes Leben verbrachthabe, als fünf Jahre in einem Heim, in dem es nach Putz-mittel und Creme riecht.«

»Trotzdem«, beharrte Ane. »Wir sollten ernsthaft überle-gen, ob wir unser Haus und die Plantage nicht verkaufen.Und unser übriges Land auch.«

Ili presste die Lippen zusammen.Es ist mein Haus und mein Land, dachte sie. Sie haben

es mir gestohlen, deine Großmutter, deine ganze Familie.Und du irgendwie auch.

Ilis Kopf zitterte. Ihr lagen eine Menge Erwiderungenauf der Zunge, aber stattdessen sagte sie: »Du verpasst dei-ne Fähre, Ane. Es ist besser, du gehst jetzt.«

Es verging kein Tag in Ilis Leben, an dem sie nicht wenigs-tens einmal durch die Papayaplantage streifte. Für jeman-den, der für diese Früchte so wenig Sympathie aufbringenkonnte wie sie, war das ein ziemlich ungewöhnliches Ver-halten, zumindest außerhalb der Reifungszeit oder Ernte.Jetzt, wo die Papayas gepflückt waren, hätte sie die Plan-tage ohne weiteres sich selbst überlassen können. In dennächsten Monaten würde ausreichend Regen fallen, jedenTag drei bis vier Stunden, manchmal sogar ganze Tagehindurch. Die warmen Schauer reinigten die Luft, tränk-ten den Boden und hielten die Bäume sattgrün. Die Papa-yas ruhten.

Ili jedoch ruhte nie. Nicht, dass sie große Eile an denTag gelegt hätte, dies oder jenes zu erledigen, so wenig wieman einem Uhrwerk Eile unterstellen würde. Sie konntenur nicht ohne Beschäftigung sein. Nachdem sie die Vögelversorgt hatte, bereitete sie gewöhnlich ihr Frühstück zu,meistens aus Brotfrüchten, die in Kokosmilch getunkt wur-den, etwas Ananas und eine Tasse Tee. Sie liebte jedoch

15

auch französische Mirabellenmarmelade, seit ein Gast ihrvor Jahren diese geschenkt hatte, und wann immer sie sieirgendwo ergattern konnte, kaufte sie sich zwei oder dreiGläser. Die kleinen Einkäufe erledigte sie immer nochselbst. Dazu schnürte sie sich einen Korb auf den Rückenund machte sich gemächlich auf den Fußmarsch nach Sa-lelologa, einem größeren Dorf an der Ostseite, wo auch dieFähren nach Apia an- und ablegten. Vor einigen Gebäu-den, die teils verfallen und teils wieder aufgebaut waren,blieb sie stehen und dachte kurz an ihre Mutter und an ih-ren Vater, den sie nie kennen gelernt hatte. Zu behaupten,sie bekomme beim Anblick dieser Orte einen Stich in derBrust, wäre übertrieben, aber ein Gefühl von Beklommen-heit erfasste sie doch. Sie hatte nie ganz verwunden, wedereine Erinnerung noch ein Bild von ihrem Vater zu haben.Sie wusste alles über sein Leben, sogar Kleinigkeiten, dennihre Mutter war, wenn sie von ihm angefangen hatte, ausdem Erzählen kaum noch herausgekommen. Doch von ei-nem Dritten eine Darstellung und eine Geschichte überlie-fert zu bekommen, ist nicht dasselbe, wie jemanden mit ei-genen Augen vor sich zu sehen, und sei es in einer ver-schwommenen Erinnerung an längst vergangene Zeiten.So hatte sich Ilis Bild ihres Vaters im Laufe der Jahrzehntemehrfach verändert – in jeder Hinsicht. In ihrer Jugend sahsie ihn als Helden, später, nach dem Tod ihrer Mutter, ent-wickelte sie eine gewisse Skepsis ihm gegenüber, fand ihnungeschickt, ja, feige, und heute kam es ihr vor, als sei erein trauriger Mensch gewesen, der einfach nicht in seineZeit passte. Im gleichen Maße, wie sich ihr Charakterbildvon ihm veränderte, wandelte sich auch ihre physischeVorstellung, weg vom strahlenden Ritter, hin zum melan-cholischen, gedankenverlorenen Typ. Er war einfach keinefeste Größe in ihrem Leben, und das war unbefriedigend,denn obwohl er ihr Leben mehr noch als ihre Mutter be-

16

stimmt hatte, war er aufgrund seiner für Ili schattenhaftenExistenz nie ein wirklicher Teil davon geworden.

Während des Fußmarsches nach Salelologa und wiederzurück überlegte Ili sich bereits, was sonst noch im Hausoder im Garten zu tun sein könnte. Sie legte fest, wann sieden Holzboden fegen, das kleine Fischnetz in die PalauliBay auswerfen oder den Erdofen reinigen würde. Wenn eseinmal nichts mehr zu tun gab, schnitt sie Blumen und gabihren Räumen damit neue Farbe.

Aber für die Plantage war immer Zeit. Sie redete sichzwar gerne ein, dass es Pflichtbewusstsein war, das sie zwi-schen die Papayas trieb, selbst wenn es nichts zu sehen gab.Tatsächlich jedoch bewegte sie sich gerne zwischen ihrenBäumen. So wenig sie die Früchte leiden konnte, so sehrliebte sie die Bäume an sich, die dünnen, hellgrünen Stäm-me, die Blätter, die in drei bis vier Metern Höhe wie über-dimensionale Eichenblätter sternförmig vom Stamm weg-strebten, und die grünlich weißen Blüten. Die Gestalt unddas Blattwerk der Papayas ließen die Sonnenstrahlen kaumdurch und tauchten den Boden in ein diffuses, beinahe un-wirkliches Licht. Während in den Wäldern um die Planta-ge herum turbulentes Treiben herrschte, blieben die Papa-yas stumm. Nur wer genauer hinsah, konnte auch hier ver-einzelt Loris in den Baumkronen entdecken und Geckos,wenn sie die Stämme hinaufflitzten. Ansonsten war diePlantage eine Oase der Ruhe.

An diesem Vormittag unterbrach die Hupe von Ben Opa-lanis Lieferwagen die Stille. Der alte Ben – jeder nannte ihnso, sogar Ili, die zwanzig Jahre älter war als er – versorgtedie Inselbewohner seit einem halben Jahrhundert mit allenLebensmitteln, die entweder in den Wäldern nicht zu fin-den oder die zu schwer waren, um sie lange Strecken vonden Läden in die Häuser zu tragen. Heutzutage, wo fast

17

jede Familie ein Pferd mit Wagen besaß und manche garein Auto, gingen seine Geschäfte schlechter, aber Ili, diezwei Meilen vom nächsten Dorf entfernt lebte, war zu ei-ner seiner besten Kundinnen geworden.

»Ben, du bist früh dran heute.« Sie öffnete ihm die Fah-rertür, weil sie wusste, dass sie von innen klemmte, schonseit Jahren.

Er wuchtete seinen massigen Körper aus dem Wagenund streckte sich. Unter dem bunten Hemd wölbte sichsein Bauch wie eine Melone. »Ich habe in letzter Zeit wenigzu tun«, sagte er. »Zu wenig.«

Ili nickte verständig. Die meisten der älteren Inselbe-wohner besannen sich wieder auf frühere Zeiten und ver-sorgten sich mehr und mehr von den Früchten und Tierendes Waldes, die nichts kosteten, und kauften so wenige Le-bensmittel wie möglich hinzu. Die jungen Insulaner wiede-rum, die wenig Lust auf Jagd und Ernte hatten, gingen ent-weder in die Hauptstadt Apia oder verließen Samoa.

Ili beobachtete, wie Ben die Kisten mit Gemüse einenach der anderen in die Küche trug und dabei sein Gesichtunter den Anstrengungen zu einer Fratze verzog. Durchseine Nase, die noch viel platter war als die der meisten an-deren Samoaner, schnaufte er kräftig und tief. Obwohl erwegen seiner Körpermasse und dem großen, runden Kopfimmer ein wenig bedrohlich wirkte, war er die Sanftmut inPerson.

Er war einsilbiger als sonst. Normalerweise brauchte erfünf Minuten für das Abladen und eine halbe Stunde, umIli den neuesten Tratsch zu erzählen, angefangen bei ge-planten Beschlüssen des Fono, des samoanischen Parla-mentes, über skandalöses oder lustiges Betragen von Tou-risten bis hin zu Von-wem-ist-sie-schwanger-Klatsch. Dasser in den letzten Jahren allerdings bewiesen hatte, dass erGeheimnisse auch für sich behalten konnte, insbesondere

18

einige Geheimnisse der Familie Valaisi, rechnete Ili ihmhoch an.

»Ach, komm schon«, munterte Ili den alten Ben auf. »Diepaar Jahre, die wir noch haben, überstehen wir auch noch.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Ili. Ich höre auf.«»Das sagst du schon, seit ich dich kenne«, erwiderte sie

schmunzelnd.Er schüttelte noch beharrlicher den Kopf. »Diesmal mei-

ne ich es ernst, Ili. Es geht nicht mehr. Die Kisten, die hät-te ich auch noch mit achtzig geschleppt. Das Schlimme ist,dass es nichts mehr zu schleppen für mich gibt. Weißt du,wie viele Kunden ich noch habe? Neununddreißig.«

Ili biss sich auf die Lippe. Dass es so schlimm stand, hat-te sie nicht gewusst. »Und deine Kaffeeplantage?«

»Die bringt mir nichts ein. Die Preise decken so geradedie Kosten. Da ist noch nicht die Arbeit mitgerechnet, dieich hineinstecke.«

Ili ging es kaum anders. Die Preise für Tropenfrüchtesanken seit zwanzig Jahren beharrlich, während die Anbau-kosten gleich blieben. Wenn sie den Großhändler daraufansprach, zog der nur eine gleichgültige Miene und sagtedas alles erklärende und alles entschuldigende Zauberwort:der Weltmarkt. Der Weltmarkt war eben so. Mittlerweilewar es so weit gekommen, dass Ili für jedes winzige StückTechnik, das von Neuseeland, Amerika oder Europa ge-kauft werden musste, umgerechnet sechshundert Papayasbezahlte. Eine Schraube kostete umgerechnet fünf Papayas.

Bei Kaffee war es noch schlimmer. Der wurde ja fast mo-natlich billiger.

Ben unterbrach den Kistentransport für einen Moment,stemmte seine schweren Arme in die Hüften und sah sichum. Ili konnte erkennen, dass er nur mühsam die Tränenzurückhalten konnte. »Ich werde mein Land verkaufen, Ili.«

Ili presste sich überrascht die Hand auf den Mund. »Ben,

19

du … Du bist dort geboren worden. Du hast dein ganzes Le-ben dort verbracht. Deine Tochter und die Enkel ebenso.«

Er schluckte und sah zu Boden. »Meine Tochter istdurch ihren Mann versorgt und die Enkel … Was bedeutetdenen noch das Land? Da ist ein Mann, Ili …, ein Ameri-kaner, der hat mir einen akzeptablen Preis geboten. Willein Hotel bauen. Warum nicht? Und ich … ich wäre alleSorgen mit einem Schlag los.«

»Du wärst auch deine Freude mit einem Schlag los. Daskannst du nicht ernst meinen. Versprich mir, dass du es dirnoch einmal überlegst. Vielleicht, wenn du etwas anderesanbaust oder …«

»Ich habe mich schon entschieden«, sagte er knapp, dochschon einen Moment später verbarg er das Gesicht in denHänden, und sein massiger Körper zuckte unter den feinenStößen aus seinem Innern. Ili rieb ihm schweigend denRücken. Was hätte sie noch sagen können, welchen Trostkonnte sie geben? Jedes Wort wäre hohl gewesen.

Eine Weile standen sie so da, bis Ben sich einen Ruckgab, mit den Ärmeln seines Hemdes etwas wegwischte, daskeiner sehen sollte, und mit schweren Schritten wieder zurLadefläche stapfte.

Er hielt zwei tote Hühner an den Füßen hoch.»Moana hat die für heute bestellt. Bringst du sie ihr oder

soll ich?«Was will sie denn mit zwei Hühnern auf einmal?, dachte

Ili. Hühner waren teuer, hielten sich nicht lange frisch, undfür Ane und sie waren zwei ganze Hühner viel zu viel. Essei denn, sie erwartete einen Gast. Aber das war absurd.Moana hatte seit zehn Jahren keinen Gast mehr empfan-gen, seit dem Tod ihres Sohnes …

Ein kalter Schauer jagte Ili über den Rücken, und sieschüttelte den Gedanken an diesen entsetzlichen Tag ab.

»Bitte bringe du sie ihr«, sagte Ili. »Außer dir und Ane hat

20

sie ja niemanden, mit dem sie reden kann. Sie wird sichfreuen.«

Was kümmert es mich eigentlich, ob Moana sich freut,warf Ili sich sogleich selbst vor. »Außerdem muss ich wie-der in die Plantage«, redete sie sich heraus.

»Ili«, rief er ihr hinterher, und sie wandte sich noch ein-mal um.

»Ja?«»Der Mann, der Amerikaner …«»Was ist mit ihm?«»Er hat gesagt, dass er sich auch für Land im Süden von

Savaii interessiert, also hier. Lass es dir mal durch denKopf gehen.«

Ili ging über die Plantage hinaus ins Innere der Insel. Sieging schnell, viel zu schnell. Der Weg zum Mount Mafanewar verschlungen, und die Mangroven und Brotfruchtbäu-me standen manchmal so dicht, dass ein Ortsfremder sichleicht verlaufen konnte. Sie jedoch kannte hier jeden Ast.Schon als kleines Kind war sie den Pfad entlangspaziert,ebenso allein wie jetzt. In Samoas Wäldern lebten keine ge-fährlichen Tiere, weder Raubkatzen noch Giftschlangen,und wenn sich im Gebüsch manchmal die Zweige bogenoder ferne Schritte zu hören waren, erkannte sie dahintersofort ein scheues Wildschwein, einen Flughund oderWildhühner. Normalerweise wanderte sie den Weg biszum Ende, ganz langsam, auf jeden Schritt und jede Pflan-ze achtend. Heute jedoch nicht. Sie war erregt. Achtlosstieß sie Äste beiseite und trampelte über Farne hinweg. IhrHerz raste. Sie nahm es dem alten Ben übel, was er zuletztgesagt hatte. Nur, weil er selbst aufgab, hatte er kein Recht,andere zum Aufgeben zu verleiten! Und Ane auch nicht. Ja,wenn sie wenigstens aus ehrlicher Sorge gesprochen hät-te …

21

Ein Stich durchfuhr ihre Brust, gleich danach ein zwei-ter. Ili blieb stehen und seufzte. Wenn ihr Herz jetzt aufhör-te zu schlagen, wäre es ein schöner Tod an einem vertrau-ten Ort. Die Südseesonne stand an einem klaren Himmel,und das Konzert des Waldes erfüllte den Raum um sieherum. Sie war reich, nicht an Geld, sondern an Schätzender Natur. Unter ihr lag das grüne Land, so weit das Augereichte. Ein Viertel des Inselsüdens gehörte ihr, bedecktvon Tropenwald, zerklüfteten grünen Hügeln, engen Tä-lern mit Bächen und von Vögeln besetzten Felsen. Die Pa-payaplantage nahm sich dagegen nur wie ein Klecks aus,kaum ein Zehntel des Besitzes, und das Haus und der bun-te Garten waren von hier oben nur Punkte. Dahinter brei-tete sich der Ozean aus, eine unendliche, milchig blaue,sich wölbende Fläche.

Die Erschöpfung drückte Ili zu Boden. Sie ließ sich zwi-schen Halmen und Farnen nieder, roch die Feuchtigkeitund schloss die Augen. Ein Vogel flatterte vorbei, vielleichteiner von denen, die sie immer fütterte.

Sie war einundneunzig Jahre alt, hatte eine große Seu-che, zwei Weltkriege und drei Währungen überlebt, Schi-kanen und Wirtschaftskrisen durchgestanden, furchtbareVerluste erlitten und menschliche Enttäuschungen einge-steckt. Sie war geliebt worden und hatte geliebt – ihre Mut-ter, Senji und jeden einzelnen Tag ihres Lebens das Land,das Papayaland. Aber einmal musste Schluss sein. Einmalmusste die Nacht kommen.

Moana wird sich freuen, dachte sie.Und Ane? Ane vielleicht auch.Aber die Nacht ließ auf sich warten. Der Schmerz in der

Brust verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Ililag noch einen Moment mit geschlossenen Augen auf demBoden, bevor sie sich langsam aufrichtete. Alles war wiezuvor: die Sonne, der Wald, die Weite, das Leben … Die

22

Natur überging einzelne Schicksale. Was hätte sie auchsonst tun sollen?

Ili atmete durch. An einem tief hängenden Ast zog siesich wieder auf die Beine. Sie klopfte ihr einteiliges, rot undweiß gemustertes Tuch von den Schultern bis zu den Knö-cheln ab und schaute wieder hinunter auf den Papaya-Pa-last, wie er, halb verborgen unter Palmen, in der Sonneruhte.

Solange ich atme, werde ich hier bleiben, versprach siesich. Und der Tag, an dem ich dich verlasse, wird meinletzter sein.

Diese Aussicht gab ihr die Stärke weiterzuleben.Als sie ein paar Schritte zurückgegangen war, hörte sie

das Geräusch einer Propellermaschine und blickte auf denHimmel über dem Meer. Das zweimotorige Wasserflug-zeug bereitete soeben den Anflug auf die Küste der Nach-barinsel Upolu vor.

Zehn Uhr, dachte Ili. Noch nicht Mittag, und man hat-te sie schon zweimal aufgefordert, das Land herzugeben.Und einmal ihr Leben, was auf das Gleiche hinauskam.

Was konnte ein solcher Tag wohl noch an Überraschun-gen bringen!

2

Ein Blick auf das Ufer genügte, und Evelyn kam es vor, alssei sie von der Hölle direkt ins Paradies geraten. Als sie vorneunundzwanzig Stunden in die Maschine am FrankfurterFlughafen gestiegen war, hatte sie den Rest dessen zurück-gelassen, was ihr noch etwas bedeutete, und der kleineKoffer, den ihr ein Junge nun abnahm und sorgsam in dasBoot legte, war alles, was sie mit sich führte.

23

Das Wasserflugzeug schaukelte auf den sanften Wellen,aber mehr noch wurde Evelyns Standfestigkeit durch diezwei Martinis erschüttert, die sie vor einigen Stunden aufnüchternen Magen getrunken hatte.

»Talofa«, begrüßte der Junge sie und half ihr mit seinerbronzefarbenen Hand, den Schritt auf das geräumige, vomSonnendach beschirmte Boot zu wagen. Ihr folgten nochvier weitere Passagiere, doch Evelyn achtete nicht auf sie.Wieso auch, angesichts dieser farbigen, duftenden, unbe-kannten Welt! In Scharen jagten fliegende Fische dahin,die im Gegenlicht funkelten wie Wasserstrahlen, und nurwenige Meter über ihnen schlugen schreiende Seeschwal-ben wilde Kapriolen. Die Küste, ein smaragdgrüner Blät-termantel hinter einem Geflecht aus Sand, Felsen und um-gestürzten Bäumen, war nur zwei Steinwürfe entfernt.Hier und da schimmerte das Weiß der Häuser hindurch.

Das Handy meldete sich mit den ersten Takten vonBeethovens fünfter Sinfonie. Dazu blinkte die Anzeige auf:Carsten. Evelyn zuckte kurz zusammen. Ihr erster Impulswar, das Gespräch anzunehmen und Carsten alles zu erklä-ren. Er war geduldig. Er würde ihr keine Vorwürfe ma-chen, nicht, wenn sie ihm alles sofort erklärte. Aber dannerinnerte sie sich an das Versprechen, das sie sich selbst ge-geben hatte: Du darfst auf keinen Fall mit ihm sprechen.Wenn du es trotzdem tust, gehst du vor die Hunde. Duhast nur noch diese eine Chance.

Nach kurzem Zögern drückte sie seinen Anruf einfachweg. Die Anzeige ließ sich noch einen Moment Zeit, dannverblasste sie ganz langsam, und für Evelyn war es, als stür-be ihre Ehe in diesem Moment.

Sie seufzte erschöpft, lehnte sich an die Bootswand undtauchte ihren Arm in das warme Wasser. Es war so klar,dass die bizarren Tupfer der Korallen bis zur Oberflächeleuchteten, und vereinzelt ragten die Buckel der Riffe aus

24

diesem bunten Teppich hervor, gekrönt von Kindern, diegeduldig auf ihre Angelschnur schauten. Je näher das Bootseinem Bestimmungsort kam, desto durchscheinenderwurde der Küstenwald und gab den Blick frei auf Villenmit Spitzgiebeldächern im Kolonialstil, von schlankenHolzsäulen umgürtete Veranden, auf runde Pavillons in-mitten satter Rasenflächen …

Erneut meldete sich das Handy, diesmal mit einem ein-fachen lauten Piep. Eine Nachricht von Carsten erschienauf der Anzeige, nur drei Worte: Wo bist du?

Sie schluckte, zitterte. Diesmal drückte sie die Botschaftnicht weg, sondern ließ das Handy einfach ins Wasser fal-len. Der Passagier neben ihr sah sie wie eine Verrückte an,der samoanische Junge hingegen strahlte und beobachtetemit ihr zusammen, wie das Ding, angestupst von neugieri-gen Fischen, langsam vom Türkis der Lagune verschlucktwurde.

Der Junge nickte ihr anerkennend zu und lobte auf Eng-lisch: »Bravo. Sie sind die erste Touristin, die so etwasmacht.«

»Ich bin keine Touristin«, sagte sie. Sie war keine Touris-tin. Sie war auf der Flucht.

Die Südsee. Evelyn hatte sich nie wirklich ein Bild von die-ser riesigen Region gemacht, in die Europa gewiss dreißig-mal hineinpasste. Sie musste an einige Bücher denken, diesie vor vielen Jahren gelesen hatte, zum Beispiel an Somer-set Maughams Erzählungen, an Defoes Robinson Crusoeund an die Meuterei auf der Bounty. Holländische Seefahrermit Abenteurerblut hatten vor vier Jahrhunderten erste Be-richte über diese Welt geliefert, und etwas später kreuzteKapitän Cook zwischen den Hunderten kleiner Inseln desPazifiks – und fand hier den Tod. Und hatte Astrid Lind-gren ihre Pippi Langstrumpf nicht zeitweise in die Südsee

25

geschickt? Aber was war die Südsee? Tahiti, fiel ihr ein, Fi-dschi vielleicht noch. Paul Gauguin hatte die Südsee ge-malt, irgendein Schlagersänger hatte sie in den Siebzigernmit »Bora, Bora« besungen, wo immer das genau lag.Klischees bestimmten ihre Vorstellung: scheu kicherndeMädchen in Baströckchen, Trommeln, Menschenfresser.Die gab es heute natürlich nicht mehr, so viel war Evelynklar, dennoch führte sie diese Reise auf unbekanntes, un-vertrautes Terrain.

»Aggie Greys?« Kaum hatte Evelyn das Boot verlassenund die Hafenmole der samoanischen Hauptstadt Apia be-treten, sprach sie ein Mann an. Er wies auf ein Cabrio-Taxiund wiederholte seine Frage: »Aggie Greys?«

Sie schüttelte den Kopf. »Evelyn Braams«, stellte sie rich-tig, was sie im nächsten Moment blödsinnig fand, weil ihrName für einen samoanischen Taxifahrer absolut uner-heblich war.

Er dachte offenbar genauso darüber, denn er fragte ki-chernd: »Ob Sie zum Aggie Grey’s wollen, meinte ich. Daserste Hotel in Apia. Sie sehen aus, als würden Sie dort lo-gieren wollen.«

Evelyn konnte sich nicht vorstellen, dass die weiblichenGäste des ersten Hotels am Ort allesamt übernächtigt, ver-heult und angetrunken aussahen, denn das war sie an die-sem späten Vormittag. Sie hatte von den letzten neunund-zwanzig Stunden vielleicht vier geschlafen. Und fünf ge-weint, jene fünf in Sydney, wo sie sich vor den Blicken derLeute verbergen konnte und in einer Flughafenlounge zweiMartinis getrunken hatte. Angesichts ihrer Verfassung wa-ren zwei Cocktails geradezu lächerlich wenig gewesen, abersie hatten fürs Erste beruhigt.

Das Kompliment des Taxifahrers bezog sich wohl aus-schließlich auf ihre Kleidung. Sie hatte zwar in Windeseilegepackt, unbewusst aber eines ihrer schönsten Stücke an-

26

gezogen, ein hellblaues Kostüm, das besonders gut zu ih-ren blonden Haaren und graublauen Augen passte. Auchihr blasser Teint bot sich für leuchtende, helle Farben an.Sie sind ein Frühlingstyp, hatte eine Kosmetikerin EvelynsAussehen vor einigen Jahren zusammengefasst. Heutefühlte sie sich eher wie der Typ »Spätherbst«.

»Warum nicht?«, sagte sie schulterzuckend. Sie hattekein Zimmer reserviert, und es war schwül und windstill,ein Klima, in dem man sich nicht wünscht, einen Kofferdurch ein Gewirr von Gassen zu schleppen. Vermutlichwar es das Beste, sich der Obhut eines Taxifahrers anzu-vertrauen.

Die Fahrt im offenen Wagen entlang der Hafenstraßewar erholsam, vorbei an einer blitzsauberen Holzkathedra-le und einem Glockenturm. Vor einigen Regierungsgebäu-den hing die samoanische Flagge schlapp an riesigen Fah-nenmasten herunter. Apia war nicht das, was man sich inDeutschland unter einer Hauptstadt vorstellte, es war kleinund wenig geschäftig. Einige Radfahrer kreuzten die Fahr-bahn. Ein paar Frauen erledigten Einkäufe auf dem Fisch-markt, begleitet von Kindern, die zwischen den StändenVersteck spielten, während die Männer hinter dem Steuerrostiger Lieferwagen mit Getriebeproblemen saßen, dieRadios mit Südseemusik laut aufgedreht, und noch rosti-gere Gegenstände von A nach B fuhren. Die meisten Leu-te unterhielten sich einfach miteinander und lachten in ei-ner Weise, als sei es ihre liebste und häufigste Beschäfti-gung.

Neidisch blickte Evelyn auf diese freudetrunkenen Men-schen.

Das Aggie Grey’s lag an der Küstenpromenade, mit Blickauf die Bucht von Apia. Cremefarben, zweistöckig und mitzahlreichen Holzveranden im Kolonialstil versehen, sah es

27

aus, als könne einem Somerset Maugham, der Schriftstel-ler des britischen Empire, jederzeit entgegenkommen undseinen Sonnenhut höflich lüpfen. Im Foyer verstärkte sichEvelyns erster Eindruck noch. Von einem Bild an derWand lächelte Aggie Grey höchstselbst herab, eine alteDame mit Blume im Haar, Rüschenbluse und gelblichenZähnen, porträtiert wie eine Lady. Darunter war einSchild angebracht: 1897–1988. Obwohl Mrs. Grey seitnunmehr siebzehn Jahren tot war, spürte man in ihremHotel noch immer den angestaubten Charme jener Zeit,in der sie groß geworden war. Wer hier abstieg, hatte ent-weder keine Geldsorgen oder ein Faible für Kolonialro-mantik.

»Talofa. Herzlich willkommen«, begrüßte eine samoani-sche Rezeptionistin Evelyn. Sie war dezent geschminkt undbewegte ihre Hände mit größter Eleganz, als sie das riesigeBuch vor sich aufschlug. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte ein Zimmer, möglichst mit Blick auf dieBucht. Geht das?«

»Sie haben reserviert?«»Nein.«»Sie haben nicht vorbestellt?«»Nein.«»Das ist …« Die Rezeptionistin zögerte einen Augen-

blick, blätterte in dem Buch und fügte hinzu: »… bedauer-lich.«

Dumm traf es eher, dachte Evelyn. Mitten in der Nachtund angetrunken einen folgenschweren Entschluss zu fas-sen ist noch verständlich, aber ihn gleich bei Sonnenauf-gang in nüchternem Zustand in die Tat umzusetzen, daskonnte man mit einigem Recht dumm nennen. Vor allem,wenn er ans andere Ende der Welt führte.

Andererseits, sie würde vielleicht nicht mehr leben,wenn sie in Frankfurt geblieben wäre.

28

Die Rezeptionistin klappte das Buch vor sich langsamzu. »Ich bedaure außerordentlich«, entschuldigte sie sichumständlich und faltete die graziösen Hände wie zum Ge-bet. »Wir sind die nächsten vier Nächte ausgebucht. EineKonferenz der Südpazifikstaaten, Sie verstehen.«

»Oh«, sagte Evelyn und verstand tatsächlich: Dutzendevon Delegierten, deren Assistenten und die Assistentendieser Assistenten, würden mit schwarzen Aktenkofferndurch die Hotelhallen ganz Apias strömen. In dieser Hin-sicht war Samoa wohl wie die übrige Welt auch. »Dannwerden wohl die anderen Hotels ebenfalls keine freienZimmer mehr haben, oder?«

»Ich fürchte, nein. Zumindest nicht in Apia.«»Wie heißt die nächste Stadt, und wie weit ist sie ent-

fernt?«Die Rezeptionistin lächelte mild. »Apia ist die einzige

Stadt Samoas.«Die Rezeptionistin reichte ihr geduldig ein Faltblatt mit

einer Landkarte und einigen Informationen darauf. Da-nach befand Evelyn sich auf der Hauptinsel Upolu, fünf-tausend Kilometer östlich von Australien. Die noch etwasgrößere Schwesterinsel Savaii war nur wenige Kilometerentfernt, und beide Inseln waren zusammengenommenetwa so groß wie Luxemburg. Apia mit seinen dreißigtau-send Einwohnern war tatsächlich die einzige Stadt, die üb-rigen hundertsiebzigtausend Samoaner lebten glücklichauf viele Dörfer verteilt, die vornehmlich die Küsten säum-ten. Touristisch war Samoa wenig erschlossen, das hieß:kaum Hotels. Einziger Lichtblick für Evelyn war, dass –laut Faltblatt – die meisten Samoaner Englisch sprachenund der Alphabetisierungsgrad fast achtundneunzig Pro-zent betrug.

Wenigstens, so spottete sie im Stillen über ihre Lage,würde man sie in Wort und Schrift verstehen, wenn sie

29

hungrig und durstig über die Insel zog und um Nahrungund Obdach bettelte.

Natürlich konnte sie sofort wieder abfliegen. Aber siewar müde, nicht nur vom Flug, sondern noch mehr vonden schrecklichen Ereignissen am Vorabend ihres Fluges.

Und sie brauchte endlich etwas zu trinken.»Wenn es Ihnen weiterhilft«, meinte die Rezeptionistin,

»dann telefoniere ich ein bisschen auf der Insel herum. Ir-gendwo gibt es bestimmt noch freie Zimmer.«

Einen solchen Service war Evelyn von deutschen Hotelsnicht gewohnt, außer gegen Gebühr – im Voraus selbstver-ständlich. Doch die samoanische Rezeptionistin machtenicht den Eindruck, als verlange sie eine Gegenleistung.Sie blinzelte Evelyn freundlich zu, griff nach dem Telefonund wählte die erste Nummer.

»Sie müssen nicht hier in der Halle warten«, sagte sie, alsahne sie Evelyns Drang nach einem weiteren Martini.

»Haben Sie eine Bar?«»Die Bar ist um diese Uhrzeit leider geschlossen, doch in

der Teelounge bedient man Sie gerne. Diesen Gang ent-lang, immer geradeaus. Ich passe solange auf Ihr Gepäckauf.«

Evelyn atmete tief durch.»Danke«, sagte sie. Sie fühlte sich elend, elend wie nie.

Marlon Brando sah Evelyn mit durchdringendem Blick an.Neben ihm zeigte David Niven sein süffisantes Lächeln,und Gary Cooper sah aus, als würde er sie im nächstenMoment über den Haufen schießen wollen. Die tropengel-ben Wände der Teelounge waren gespickt von signiertenFotos berühmter Schauspieler, die irgendwann einmal imAggie Grey’s Tage und Nächte verbracht hatten.

Der samoanische Kellner verbeugte sich leicht. Seinrundes, braunes Gesicht hob sich von der weißen Uniform

30

ab. Ein kleines Schild mit einem für Evelyn unaussprechli-chen Namen darauf klemmte wie mit der Wasserwaageausgemessen auf seiner Brusttasche. »Talofa. Was darf ichIhnen bringen, Madam?«

»Talofa«, erwiderte sie höflich. »Einen Tee, bitte.«»Sehr gern.«»Oder warten Sie. Mit einem Schuss Rum, bitte.«»Ein Sandwich dazu?«»Nein, danke.«Für den Bruchteil eines Moments schien es ihr so, als

überlege er, wie hoch er den Schuss Rum in einem Elf-Uhr-Tee dosieren solle, der noch dazu ohne etwas zu essengetrunken wurde, aber das war wohl nur Einbildung. Erverbeugte sich neuerlich. Das Geräusch seiner Schrittewurde vom dicken Teppichläufer verschluckt.

Außer ihr saßen nur noch vier andere Gäste im Raum.Zwei ältere weiße Damen unter rosa Hüten fütterten ihrenTerrier mit Kekskrümeln, und ein ebenso alter Mann hobzwischendurch das Gesicht aus der Zeitung, beobachtetedie Damen dabei und schüttelte verständnislos den Kopf.An Evelyns Nachbartisch schließlich saß ein Mann ihresAlters, Mitte dreißig, dessen Finger leise auf die Tischplat-te trommelten. Er war der Kontrapunkt in diesem harmo-nischen Ensemble der Lounge, denn er schien mit seinemunrasierten Kinn und den aufgekrempelten Hemdsärmelnirgendwie nicht hierher zu gehören.

Das Handy klingelte. Instinktiv griff Evelyn in die Hand-tasche, bevor ihr klar wurde, dass ihr eigenes Handy allen-falls noch in der Lagune vor Apia klingeln konnte und au-ßerdem nicht die amerikanische Nationalhymne als Ruf-ton hatte.

Der Mann an ihrem Nachbartisch zog das Handy mitruhiger Hand aus der Gürteltasche seiner Jeans und sagte:»Ray Kettner. Hallo, George, Sie sind schwer zu verstehen,

31

Philadelphia ist weit weg. Ja, legen Sie los.« Er hatte einedunkle, entschlossene Stimme, die gut zu seinem leichtcowboyhaften Aussehen passte.

Schweigsam hörte er zu, was sein Gesprächspartner zuerzählen hatte, gab keinen Laut von sich, wippte aufgeregtmit den Beinen und trank in fast exakten Abständen von ei-nigen Sekunden aus der Kaffeetasse, die er jedesmal etwaszu laut aufsetzte. Sobald er eine Hand frei hatte, fuhr ersich durch die kurzen Haare.

Auf Evelyn, die nur einen Schritt von ihm entfernt saß,wirkte er wie das männliche Pendant zu ihrem eigenen Zu-stand.

Als der Kellner kam, nickte sie ihm dankbar zu. Nachei-nander platzierte er die weiße Wedgwood-Tasse, die Zu-ckerdose und das Silberkännchen vor ihr, in einer Weise,als sei eine andere Formation des Geschirrs undenkbar.Dann fügte er noch einen kleinen Teller mit einer Handvoll Biskuits hinzu. »Eine Empfehlung des Hauses.«

Sie wartete, bis er gegangen war. Die Biskuits ignorie-rend, griff sie sofort nach dem Tee und schenkte sich eiligein. Sie führte die randvolle Tasse mit beiden Händen zumMund und schluckte den heißen, dampfenden Inhalt hi-nunter.

Endlich, war das Erste, das sie dachte, obwohl es nocheinen Moment dauern würde, bis es ihr spürbar besser gin-ge. Der Rum kam nur schwach zur Geltung; offenbar hat-te der Kellner sich für eine sparsame Dosierung entschie-den.

Evelyn ärgerte sich. Sie ärgerte sich über den Tee, denKellner und über sich selbst. Konnte sie nicht einfach ih-ren Aufenthalt in diesem Südseeparadies genießen? Konn-te sie – und dabei fielen ihr die Beschimpfungen ihrerSchwiegermutter wieder ein –, konnte sie sich nicht einfachzusammenreißen? Doch wie oft hatte sie das schon versucht!

32

Und war immer gescheitert. Sie hatte von Schmerzpatien-ten gehört, die sich narkotisieren ließen, bis sie ihren Kör-per nicht mehr spürten, so als sei er ein Feind, den man los-werden müsse. Manche von ihnen hassten ihren Körper.So ähnlich wie jenen kranken Menschen erging es ihr, nurdass sie nicht ihren Körper hasste, sondern ihre Gedankenund Gefühle. Sie ertrug sie nicht. Sie ertrug nicht, dass sieimmer nur an eines denken konnte, an jedem Tag, zu bei-nahe jeder Stunde. Sie konnte dem Unerträglichen nichtentgehen, niemals, es war immer präsent – es war jetzt prä-sent.

»Oh, mein Gott«, flüsterte sie vor sich hin und um-krampfte die Armlehnen des Sessels. Sie lehnte sich zurückund japste nach Luft. Rasch wollte sie sich einen weiterenTee einschenken, doch ihre Hände zitterten so stark, dassder Mund des Kännchens hin und her wackelte wie einSeismograph. Selbst als sie beide Hände zu Hilfe nahm,wurde es nicht besser.

Schließlich war es ihr egal. Sie goss sich den Tee ein,ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ein guter Teil aufdie Untertasse und sogar das Tischtuch tropfte, und trankdie Tasse in einem Zug leer. Es half nichts. Nicht einmaldas half ihr noch. Gegen die Erinnerung war man macht-los.

Wie von ferne, wie aus einem Traum mit gebremster Ge-schwindigkeit, hallte die Stimme ihres Tischnachbarn he-ran.

»Ich weiß, dass diese Erhöhung nicht geplant war,George. Hier haben sich neue Umstände ergeben. Ich habejetzt ein geeignetes Areal gefunden. Sogar ein größeres alserwartet. Deswegen brauche ich die Erhöhung. Ja. Ja, na-türlich gab es in der Vergangenheit Probleme, aber dochkeine großen, und bisher hat die Bank ihr Geld noch im-mer … Das ist mir doch klar, George, und ich würde Sie

33

doch nicht um … Okay, vielen Dank. Ab morgen zur Ver-fügung? Danke nochmals. Wiederhören.«

Und mit einer Sekunde Verzögerung, die Evelyn wieeine Stunde vorkam, sagte er: »Scheißkerl.«

Die Welt drehte sich. Evelyns Kopf wackelte. Die Tränenund die Übelkeit stiegen in ihr hoch. Dann die Wut. DieWut auf alle, die Schuld hatten. Die Wut auf sich selbst.

»Madam?«Jemand rüttelte sie.»Madam? Geht es Ihnen nicht gut?«Als sie Ray Kettner wahrnahm, kniete er neben dem Ses-

sel und befühlte mit seiner schmirgelrauen Hand ihre Stirn.»Sie sind ganz nass. Sieht aus, als hätten Sie einen Anfall

gehabt. Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Sind SieDiabetikerin?«

Sie lächelte kurz. Seine besorgte Stimme tat ihr gut.»Nein, ich … Es geht schon wieder. Danke für Ihre Hil-

fe, Mr. …«»Ray.«Evelyn lächelte erneut, und Rays Augen, die klein und

hell wie weiße Pfefferkörner waren, strahlten sie an. Siefand, dass die extrem kurz geschnittenen, braunen Haareihm etwas unnötig Hartes verliehen, denn in ihm stecktescheinbar ein Gentleman. Er band das Halstuch ab, das sieaus alten Westernfilmen kannte und das dem von GaryCooper auf dem Foto an der Wand ähnelte, tauchte es inein Glas Mineralwasser und betupfte damit ihre Stirn undWangen.

»Danke, aber das ist nicht nötig«, wehrte sie höflich ab.»Mir geht es schon wieder sehr gut. Alles in Ordnung. Dan-ke.«

»Gerne geschehen, Madam.«»Ihr Tuch …«»Bitte behalten Sie es«, sagte er.

34

»Aber ich …«Eine junge Frau in Shorts ging auf Ray Kettner zu, be-

äugte Evelyn kurz und drückte ihm einen Kuss auf die Lip-pen, wobei sie sich auf seinen Schultern abstützte. Sie warzierlich und ausgesprochen hübsch, und sie hätte prob-lemlos in einer Neuverfilmung der »Bounty« mitspielenkönnen. Doch schien sie mehr an westlichem Chic interes-siert zu sein, wozu allerdings ihre flache, typisch polynesi-sche Nase nicht recht passte.

Während Evelyn sich erholte, unterhielten sich die bei-den.

»Alles in Ordnung, Raymond?«, fragte sie. »Du siehst ir-gendwie abgespannt aus.«

»Alles in Ordnung, Ane!«, erwiderte er und zog eine Zi-garette aus der Brusttasche seines knittrigen Karohemdes.»Ich hatte ein paar geschäftliche Probleme, aber alles ist ge-klärt. Wo warst du so lange?«

»Ich habe die Fähre von Savaii verpasst und musste aufdie nächste warten.«

Er fragte ungeduldig: »Und? Hast du mit ihr gesprochen?«Sie nickte. »Vorhin. Aber sie will nicht, dass du bei uns

wohnst. Schade. Es wäre einfach super gewesen.«»Schon«, räumte er ein. »Aber was ich meinte, ist: Ver-

kauft sie an mich?«»Ach so. Nein. Sie will nicht verkaufen.«Er drückte die eben erst angezündete Zigarette aus, als

wolle er einen Nagel mit bloßen Fingern in die Wand pres-sen. »Mist.«

»Was macht das schon?«»Überall Ärger und Verzögerungen.«»Wichtig ist, dass meine Großmutter Moana an dich ver-

kauft.«»Und das ist juristisch nicht anfechtbar?«Die junge Frau schüttelte sanft den Kopf. »Nein, nein.

35

Das Land einschließlich Haus und Plantage gehört bei-den zu gleichen Teilen, Ili und Moana. Wenn Moana ver-kaufen will, darf sie das nach unserem Recht tun, und daIli sie nicht auszahlen kann, wird auch ihr Anteil mit ver-kauft.«

»Ob sie will oder nicht?«Ane nickte. »Ich hoffe noch immer, dass Ili zur Besinnung

kommt, aber ich rechne kaum damit. Moana und sie hassensich. Und ich habe auch nicht das beste Verhältnis zu ihr.«

»Zu dieser Ili? Warum?«»Ach«, seufzte Ane, »da gibt es eine unschöne Geschich-

te, die mit meinem toten Vater zu tun hat. Das ist jetzt nichtwichtig.«

»Warte, wenn sie erst mein Angebot hört, dann wird siees sich schon noch überlegen.«

Ane seufzte. »Sie lebt in einer anderen Welt, Ray. Siehängt an dem Land.«

»Würde doch uns allen so gehen mit dem Land, auf demwir unser Leben verbracht haben. Aber ich kümmere michja gut darum. Das Hotel wird kein Betonklotz oder so. Eswird sich wunderbar in die Landschaft einfügen, man wirdes kaum sehen. Und der größte Teil des Landes bleibt völ-lig unberührt. Ein paar Wanderpfade werde ich anlegen,das ist alles. Am Ende wird es deiner Ili so gut gefallen, dasssie ein Zimmer will.«

Er lachte und stieß Ane aufmunternd an. »So, und jetztzeig mir dein wunderschönes Lächeln und sag mir, wannich deine Oma treffen kann, um die Konditionen zu be-sprechen.«

Sie lächelte tatsächlich. »Moana? Schon morgen Mittag.Sie kocht sogar für dich.«

»Na, hoffentlich macht mein Magen das mit«, scherzte er.Ihre Laune besserte sich zusehends. »Wenn es etwas gibt,

das ich an Samoa mag, dann die Küche. Papageifische, ge-

36

schmorte Früchte, Limetten, etwas Huhn, wenig Gewür-ze – und alles frisch. Um deinen Magen brauchst du dirkeine Sorgen zu machen.«

Er stand auf. »Dein Wort in Gottes Gehörgang. Alsomorgen Mittag, ja?«

»Wo willst du hin? Ich dachte, wir amüsieren uns nochein bisschen.« Sie lächelte. »Ich kenne die schönsten undeinsamsten Strände auf der Insel. Den ›Return to ParadiseBeach‹, zum Beispiel, wo Gary Cooper und Roberta Hayes1952 den gleichnamigen Spielfilm gedreht haben.«

»Tja, weißt du«, sagte er, »Paradise Beach klingt wirklichtoll, und Roberta Hayes habe ich immer schon gemocht,aber leider habe ich noch viel zu erledigen, Telefonate undso. Eine Firma leitet sich nicht von allein.«

Sie akzeptierte die Absage. »Na schön, dann verbumme-le ich eben den restlichen Tag, auch wenn ich nicht weiß,womit. Ich bin mal wieder völlig blank.«

»Was ist mit dem Vorschuss, den ich dir gestern gegebenhabe?«

Sie streckte die von Sandalen eingefassten Füße unterdem Tisch hervor. »Das«, sagte sie.

»Wo ich herkomme, reichen zweihundert Dollar für vier-zehn Tage.«

»Und wo ich hinwill, gerade mal eine Stunde.«Mit leichtem Kopfschütteln drückte er ihr einen grünen

Dollarschein in die Hand. Sie betrachtete die Banknote ineiner Weise, als sehe sie darin ein Paar Ohrringe schim-mern oder vielleicht das Pflegeset, auf das sie schon seitWochen scharf war.

»Schönen Tag noch«, sagte er, und warf Evelyn einenkurzen Blick zu, bevor er die Lounge verließ.

In diesem Moment betrat die Rezeptionistin den Raumund kam mit eleganten Schritten auf Evelyns Tisch zu.

»Ich habe ein Zimmer für Sie gefunden, das einzige freie

37

auf ganz Upolu, wie es scheint. Es ist auf der Südseite derInsel, im Bongo Beach Club. Die vermieten Zimmer nor-malerweise nur per Pauschalbuchung, aber ich habe IhreSituation erklärt, und nun machen sie eine Ausnahme.«

Bongo Beach Club, wiederholte Evelyn im Geiste. Dashörte sich nach einem Hotel an, in dem von früh bis spätAnimationsprogramme abliefen und laute Hulamusik amPool gespielt wurde – nicht gerade das, was sie sich erhoffthatte. Aber was war das überhaupt? Was brauchte sie ei-gentlich? Es gab nur eine ehrliche Antwort darauf: Siewusste es nicht. Sie hatte sich noch keine Gedanken darü-ber gemacht. Sie war aus einem Zuhause geflohen, das ihrkeine Sicherheit mehr gab, sondern sie nach und nach zer-störte, einem Zuhause, wo sie nicht umschlossen und be-schützt war, sondern wo sich alle davongestohlen und sieallein zurückgelassen hatten, einem Zuhause, das voll warvon stummen Vorwürfen, verstohlenen Blicken und Men-schen, die sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlten, von ei-nem Zuhause, das sie in einen bleiern schweren Alltagzwingen wollte, den sie nicht mehr ertragen konnte oderwollte. Vielleicht konnte man sagen, dass sie das Gegenteildessen brauchte, was sie in Frankfurt zurückgelassen hat-te: Stärke, Geborgenheit, Mut. Doch das war schon zu vielverlangt. Sie war eine Ertrinkende gewesen, die sich imletzten Moment auf eine Insel hatte retten können und diefroh war, etwas zu haben: eine Zukunft.

Aber ob der Bongo Beach Club das Richtige für den An-fang dieser Zukunft war?

»Wenn Sie sich dafür entscheiden«, fuhr die Rezeptionis-tin fort, die auf eine Antwort wartete, »kommen Sie zu mirnach vorn, dann rufe ich Ihnen ein Taxi.«

Lächelnd ging sie davon.Über die Ablenkung durch Ray Kettner und dessen an-

schließendes Gespräch mit der jungen Frau hatte Evelyn

38

völlig ihren Zustand vergessen. Ihre Hände zitterten nichtmehr.

Sie nahm zehn Tala, die samoanische Währung, die siebeim Zwischenstopp in Australien getauscht hatte, aus ih-rer Handtasche und legte sie auf das Silbertablett. Tiefdurchatmend und sich in das Schicksal fügend, dass sienicht in diesem schönen Hotel bleiben konnte, sondern ineinen lauten Strandclub ziehen musste, stand sie auf.

Die junge Frau, mit der Ray Kettner gesprochen hatte,trat in diesem Moment an sie heran. »Entschuldigung«, be-gann sie. »Ich habe eben zufällig gehört, dass Sie ein Zim-mer suchen. Ich könnte Ihnen eines vermitteln.«

»Tatsächlich?«»Es ist allerdings in einem Privathaus auf der Nachbar-

insel Savaii. Sehr ruhig, wenig Komfort, dafür mit Blick aufdie Palauli Bay. Wir leben zu dritt im Papaya-Palast, dreiFrauen, und Sie wären der einzige Gast.«

»Papaya-Palast? Ein schöner Name.«»Also, was ist nun mit dem Zimmer?«Evelyn fand, dass alles besser als der Bongo Beach Club

wäre. »Ich nehme es.«Die junge Frau lächelte zufrieden und streckte Evelyn

die Hand hin. »Super. Ich bin Ane.«»Evelyn.«»Super. Ach übrigens, bevor ich es vergesse, ich müsste

Ihnen eine Vermittlungsgebühr berechnen. Sagen wirzwanzig … äh … fünfundzwanzig Dollar.«

»Ich habe nur Euro oder Tala«, erwiderte Evelyn.»Euro klingt gut«, sagte Ane und zog Evelyn die Geld-

scheine aus der Hand. »Dann holen wir noch Ihr Gepäckund können gehen.« Ihr Blick fiel auf Evelyns fleckigesKostüm und den verschütteten Tee auf dem Tisch. »EinMissgeschick?«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte Evelyn zögerlich. »Ein Missgeschick.«

39

Überwältigend!Das war das erste Wort, das Evelyn einfiel, als sie aus

Anes Jeep stieg. Vor ihr erstreckte sich sattgrüner Rasenvon der Größe eines halben Fußballfeldes, umsäumt vonFliederbüschen, gelben Rosen und Riesenfarnen. Ginster-sträucher wuchsen in Abständen auf der hügeligen Fläche,die sanft zur Küste abfiel, und die Bucht war von einer Ko-lonie schlanker, teils lustig verbogener Kokospalmen ver-deckt. Das Meer war von hier aus nur eine rauschende Ah-nung, doch manchmal blitzte vom Wasser reflektiertesSonnenlicht zwischen den Stämmen hindurch. Das Hausselbst verdiente seinen Namen zu Recht. Der Papaya-Pa-last war gewiss zehnmal größer als die Häuser, die Evelynauf der Fahrt hierher in den Dörfern gesehen hatte. Er be-stand nur aus dem Erdgeschoss und hatte eine lang ge-streckte, rechteckige Form. Von drei Seiten abgeschirmtvon Bäumen und Sträuchern, fügte er sich wunderbar indie üppige Landschaft ein. Obwohl er stark an die samoa-nische Bauweise erinnerte, vollständig aus dunkelbraunemHolz gebaut und mit einer dicken Schicht getrockneterPalmwedelblätter abgedeckt war, schien er dennoch einenkolonialen Einschlag zu haben. Die Pfosten, welche dieÜberdachung rund um das Haus stützten, ragten, andersals bei den üblichen samoanischen Konstruktionen, zuviert aneinander gebunden auf, was sie eher wie Säulen er-scheinen ließ. Jede dieser Säulen war mit Kokosfaser um-wickelt, und an jeder zweiten rankten sich orangefarbeneoder dunkelrote Bougainvilleen empor, deren Verästelun-gen bis zum Dach reichten und bei jedem Luftzug munterwippten.

Insgesamt, resümierte Evelyn, wirkte das Anwesen wiedie Südseevariante einer prächtigen Villa.

»Sie müssen sehr froh sein, hier zu leben«, sagte Evelyn,ohne den Blick vom Gebäude zu nehmen.

40

»Es ist nett«, seufzte Ane. »Jedenfalls schöner als die offe-nen Hütten, die hier sonst stehen.«

Evelyn war aufgefallen, dass die Samoaner ihre Häuserrund und offen bauten, ohne Wände und Türen, was be-deutete, dass jeder Einblick in das Familienleben derNachbarn bekommen konnte. Zwar gab es Matten, die wieRollos heruntergelassen werden konnten, aber sie decktennur die Intimbereiche ab, das übrige Haus blieb offen. DerPapaya-Palast hingegen hatte zwar einen offenen Mittel-teil, durch den man bis zur Rückseite des Hauses blickenkonnte und der den rechten und linken Flügel voneinandertrennte. Die beiden Flügel jedoch waren mit Wänden undTüren versehen.

In der rechten Flanke öffnete sich eine Tür, und eineFrau trat heraus. Evelyn schätzte sie auf Mitte siebzig. Siewar füllig, aber nicht dick, und obwohl sie ihre schwarz-grau melierten Haare wie ein Schneckenhaus hochgesteckttrug, war sie einen halben Kopf kleiner als Evelyn. Die Far-be ihrer Haut erinnerte eher an die von Spaniern oderGriechen als an das Bronze der Einheimischen. Noch ir-gendetwas anderes an ihr wirkte europäisch, doch Evelynkonnte auf die Schnelle nicht bestimmen, was es war.

»Großtante«, sagte Ane und ging auf sie zu. »Darf ich dirEvelyn vorstellen. Ich habe sie getroffen, als sie auf der Su-che nach einem Zimmer durch Apia irrte.«

Evelyn fand diese Beschreibung reichlich übertrieben.Sie war nicht durch Apia geirrt, sondern hatte Tee in einemLuxushotel getrunken, als sie Ane begegnet war. Aber ihrkam der Gedanke, dass die alte Großtante vielleicht erstüberzeugt werden musste, einen Gast aufzunehmen, undda Evelyn nicht die Absicht hatte, zum zweiten Mal an die-sem Tag einen Ort, der ihr gefiel, zu verlassen, grinste sielieber verschmitzt zu der dramatischen Erklärung Anes, alsihr zu widersprechen.

41

»Alle Hotels sind ausgebucht, stell dir das vor«, fuhr Anefort. »Irgendeine Konferenz. Und Evelyn hat kein Zimmerreserviert. Ich weiß, du wolltest eigentlich niemanden auf-nehmen, aber was hätte ich tun sollen, als sie mich an-sprach? Natürlich habe ich sofort an dein Gästezimmer ge-dacht.«

»Natürlich«, erwiderte die Großtante und bedachte Anemit einem halb ärgerlichen, halb nachsichtigen Blick.Dann reichte sie Evelyn die Hand und lächelte.

»Ich bin Ili Valaisi«, stellte sie sich selbst vor. »Einfach Ilifür Sie. Und jetzt gehen wir erst einmal hinein. Ich zeige Ih-nen, wo Sie wohnen werden.«

Evelyn blickte noch einmal zur verschlossenen Tür ihresGästezimmers, bevor sie den Koffer öffnete. Vier Flaschengoldgelben Weißweins, den sie noch schnell in Apia an derAnlegestelle gekauft hatte, funkelten sie an, doch sie ver-suchte, sie zu ignorieren, und widmete sich erst dem übri-gen Inhalt.

Sie packte nacheinander alle Kleidungsstücke aus undsortierte sie in die Regale und Schränke. Es waren schöneMöbel, die meisten aus dunklem Holz mit alten Narben,die darauf hinwiesen, dass diese Gegenstände schon einelange Geschichte hinter sich hatten. Lange brauchte sie da-für nicht: eine weiße Jeans, eine dunkle Stoffhose, T-Shirts,zwei Blusen, Wäsche, sogar ein eisgrünes Herrenhemd vonCarsten, das sie versehentlich gegriffen haben musste.Nach wenigen Handgriffen war der Koffer leer – bis auf dievier Flaschen. Kurz blieb ihr Blick auf ihnen haften, dannsah sie sich unruhig in dem kleinen quadratischen Raumum, betrachtete zum dritten und vierten und fünften Maldas Rattanbett mit dem geschwungenen Kopfteil, das Mos-kitonetz, das sich wie ein Baldachin darüber wölbte, dieSchubladenkommode und den breiten Armlehnstuhl, der

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Sarah Benedict

Der Duft der grünen PapayaRoman

Taschenbuch, Broschur, 576 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-38056-5

Blanvalet

Erscheinungstermin: Dezember 2012

Sie floh vor der Vergangenheit und fand das Paradies … Unter gleißendem Sonnenlicht steigt Evelyn Braams auf Samoa aus einer Propellermaschine.Sie hat ihr Leben in Deutschland zurückgelassen, um schmerzhaften Erinnerungen zuentkommen. In einer einsamen Bucht mietet sie sich bei zwei alten Damen ein und freundet sichschnell mit der herzlichen Ili an. Doch diese bangt um ihren Besitz, den ihre Cousine Moanaan einen amerikanischen Investor verkaufen will – aus Rache. Evelyn versucht zu helfen undverstrickt sich dabei immer tiefer in Ereignisse, die zurückgehen auf eine alte Geschichte vonLiebe und Hass … Eine mitreißende Familiensaga in der Südsee zwischen Kolonialzeit und Gegenwart.