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«Babys drücken ihre Gefühle unmittelbar aus und verstecken nichts.» Miriam Stieger, erapeutin von Roots of Empathy UNTERRICHT in Mitgefühl Spüren, was andere spüren. Dazu braucht es EINFÜHLUNGSVERMÖGEN. Mit einem Baby als Lehrer lernen Kinder, eigene und fremde Emotionen wahrzunehmen. Text Angela Lembo Fotos Esther Michel H eute hat Lenny keine Lust zu unterrichten. Träge hockt der Lehrer da. Ein Seufzen. Ein Gäh- nen. Dann ein Schrei aus tiefer Kehle. Die Schüler schauen ihn besorgt an. «Viel- leicht hat er Hunger», sagt ein Mädchen. «Oder er ist müde», meint ein anderes. «Ich glaube, er hat Angst vor uns, weil wir so viele sind», schliesst ein Junge. Was wie eine absurde Filmszene er- scheint, ist im Schulhaus Stigeli in Aol- tern am Albis ZH Realität. Aber: Lenny ist kein normaler Lehrer. Er ist ein Baby. Neun Monate alt, grosse Augen, dunkles Haar, Pausbacken und Babyspeck. Mit sei- ner Mutter Lilian Klaus, 32, besucht er einmal pro Monat die vierte Klasse von Claudia Bachmann, 39. Sein Lehraurag: das Fördern von Empathie. Roots of Empathy – Wurzeln des Mit- gefühls –, so heisst das 1996 in Kanada ent- wickelte Programm, bei dem Primarschul- kinder lernen, sich in ihre Mitmenschen einzufühlen. Dadurch, so haben Forscher festgestellt, entsteht im Klassenzimmer ein fürsorgliches Klima. Schüler, die am Programm teilgenommen haben sind we- niger aggressiv, kümmern sich vermehrt umeinander, und die Fälle von Mobbing nehmen ab. Das Besondere an der Me- thode: Dozenten sind Säuglinge und deren Eltern. «Babys sind grossartige Lehrer für Empathie, weil sie ihre Gefühle unmittel- bar ausdrücken und nichts verstecken», sagt Miriam Stieger, die in der Schweiz für Roots of Empathy zuständig ist. Nötige Überzeugungsarbeit 800 000 Schülerinnen und Schüler aus Kanada, den USA, Neuseeland, Irland, Grossbritannien und Deutschland haben in den letzten 20 Jahren am Programm teilgenommen. Vor zwei Jahren hat Roots of Empathy auch die Schweiz erreicht. In diesem Schuljahr haben 16 Primar- schulklassen aus dem Kanton Zürich die Babybesuche in ihren Stundenplan aufgenommen. Dafür war beim einen oder anderen Schulleiter Überzeugungsarbeit nötig. Auch bei Arthur Krienbühl, 61, in Aol- Kontaktauf- nahme: Ob sich Baby Lenny und die Schüle- rin verstehen werden? Inmitten der Kinder: Mutter Lilian Klaus mit Baby Lenny und Miriam Stieger von Roots of Empathy. Miriam Stieger mit einer Puppe auf dem Weg in die Klasse. 54 55 Schweizer Familie 25/2016 Schweizer Familie 25/2016 FAMILIENLEBEN FAMILIENLEBEN

Roots of Empathy · 2020. 7. 28. · hrzu-t we k-.È ei e er $ u-. denÈ, % e gt g n tÈ, ldet -h .È en, p % ein-t Ein-ei p # g-zu er-ein d em l: ld t-en. en s t , s a-r d en-. t-ei

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    efühle unmittelbar aus

    und verstecken nichts.» M

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    Text Angela Lembo

    Fotos Esther Michel

    Heute hat Lenny keine Lust zu unterrichten. Träge hockt der Lehrer da. Ein Seufzen. Ein G

    äh-nen. D

    ann ein Schrei aus tiefer Kehle. Die

    Schüler schauen ihn besorgt an. «Viel-leicht hat er H

    unger», sagt ein Mädchen.

    «Oder er ist m

    üde», meint ein anderes.

    «Ich glaube, er hat Angst vor uns, weil wir so viele sind», schliesst ein Junge.

    Was wie eine absurde Film

    szene er-scheint, ist im

    Schulhaus Stigeli in Affol-tern am

    Albis ZH Realität. Aber: Lenny ist

    kein normaler Lehrer. Er ist ein Baby.

    Neun M

    onate alt, grosse Augen, dunkles H

    aar, Pausbacken und Babyspeck. Mit sei-

    ner Mutter Lilian Klaus, 32, besucht er

    einmal pro M

    onat die vierte Klasse von

    Claudia Bachmann, 39. Sein Lehrauftrag:

    das Fördern von Empathie.

    Roots of Empathy – W

    urzeln des Mit-

    gefühls –, so heisst das 1996 in Kanada ent-wickelte Program

    m, bei dem

    Primarschul-

    kinder lernen, sich in ihre Mitm

    enschen einzufühlen. D

    adurch, so haben Forscher festgestellt, entsteht im

    Klassenzimm

    er ein fürsorgliches Klim

    a. Schüler, die am

    Programm

    teilgenomm

    en haben sind we-niger aggressiv, küm

    mern sich verm

    ehrt um

    einander, und die Fälle von Mobbing

    nehmen ab. D

    as Besondere an der Me-

    thode: Dozenten sind Säuglinge und deren

    Eltern. «Babys sind grossartige Lehrer für Em

    pathie, weil sie ihre Gefühle unm

    ittel-bar ausdrücken und nichts verstecken»,

    sagt Miriam

    Stieger, die in der Schweiz für Roots of Em

    pathy zuständig ist.

    Nötige Überzeugungsarbeit800 000 Schülerinnen und Schüler aus Kanada, den U

    SA, Neuseeland, Irland,

    Grossbritannien und D

    eutschland haben in den letzten 20 Jahren am

    Programm

    teilgenom

    men. Vor zwei Jahren hat Roots

    of Empathy auch die Schweiz erreicht.

    In diesem Schuljahr haben 16 Prim

    ar-schulklassen aus dem

    Kanton Zürich die Babybesuche in ihren Stundenplan aufgenom

    men.

    Dafür war beim

    einen oder anderen Schulleiter

    Überzeugungsarbeit

    nötig. Auch bei Arthur Krienbühl, 61, in Affol-

    Kontaktauf-nahm

    e: Ob sich Baby Lenny und die Schüle-rin verstehen w

    erden?

    Inmitten der

    Kinder: Mutter

    Lilian Klaus m

    it Baby Lenny und M

    iriam

    Stieger von Roots of Em

    pathy.

    Miriam

    Stieger m

    it einer Puppe auf dem

    Weg

    in die Klasse.

    5455

    Schweizer Familie 25/2016

    Schweizer Familie 25/2016

    FAMILIEN

    LEBENFAM

    ILIENLEBEN

  • tern am Albis. Lehrerin Claudia Bach-

    mann, die in N

    euseeland gelebt hatte und das Program

    m von dort kannte, hatte ihm

    von Roots of Em

    pathy berichtet. «Babys im

    Klassenzimm

    er – das klang für mich

    absurd», sagt der Schulleiter. «Ich hatte den Verdacht, es handle sich um

    eine Sekte.» Seine Zweifel waren schnell aus-geräum

    t, als ihm die Program

    m-M

    anage-rin und Psychologin M

    iriam Stieger die

    Hintergründe erklärte.

    Neunm

    al innert eines Schuljahres be-suchen M

    utter oder Vater und Baby die Klasse. D

    avor und danach gibt es eine vor- und eine nachbereitende Lektion. Eine ausgebildete Roots-of-Em

    pathy-Trainerin leitet die Kinder an, die Entwicklung des Babys zu beobachten und seine G

    efühle zu benennen. «So lernen die Kinder, Em

    o-tionen – frem

    de und eigene – wahrzu-nehm

    en und darüber zu reden», erklärt

    Miriam

    Stieger. «Das fördert die Entwick-

    lung von Mitgefühl.»

    Lenny ist heute zum siebten M

    al bei seinen Viertklässlern. D

    ie schlechte Laune von vorhin ist verflogen. M

    it grossen Au-gen schaut das Baby jetzt in die Runde.

    «Er ist grösser geworden», findet eine Schülerin. «Und er hat m

    ehr Haare», sagt

    ein Junge. Einen Zahn hat der Säugling inzwischen auch. D

    en müssen die Eltern

    täglich putzen. «Das m

    ag er gar nicht», sagt M

    utter Lilian Klaus. Ein Junge meldet

    sich und sagt: «Das kann ich gut ver-

    stehen, ich erinnere mich, dass ich m

    ich früher auch gewehrt hatte.»

    Empathie – die Fähigkeit zu verstehen,

    was andere empfinden, und sich in sie ein-

    zufühlen – steckt in jedem von uns. Sie ist

    angeboren. Bei den einen wächst das Ein-fühlungsverm

    ögen nach der Geburt, bei

    den anderen schrumpft es. «Ausschlag-

    gebend dafür ist die sichere Bindung zu den Eltern oder den nächsten Bezugsper-sonen», erklärt M

    iriam Stieger. «W

    as ein Kind in seinem

    Elternhaus an Liebe und M

    itgefühl erfährt, prägt sich in seinem

    Gehirn ein.» Ebenso wie das G

    egenteil: Kinder aus einem

    verwahrlosten Umfeld

    werden ihre angeborene Fähigkeit zu Mit-

    gefühl vergessen.

    Babys beobachtenEm

    pathie ist nichts, was ein Mensch aus

    einem Schulbuch lernen kann. Es braucht

    Erfahrungen. Wer Em

    pathie lernen will, m

    uss sie erleben. Auf dieser Erkenntnis beruht die M

    ethode von Roots of Empa-

    thy. Im Klassenzim

    mer erleben die Schüler

    hautnah die Gefühlswelt in der ersten und

    wichtigsten aller Beziehungen unter Men-

    schen, jener zwischen Eltern und Baby. Lenny sitzt auf dem

    Schoss seiner Mut-

    ter und greift nach einem bunten Stoff-

    fisch. «Der hat ihn vor ein paar M

    onaten noch gar nicht interessiert», erinnert sich ein M

    ädchen. «Jetzt findet er den Fisch offenbar spannend.» Aber nicht lang. Len-ny lässt das Tier aus den Fingern gleiten. Atm

    et schwer. Verzieht das Gesicht und

    legt die Stirn in Falten. «Wie fühlt sich

    «Ich w

    einte u

    m d

    ie Kin

    der»

    Mary Gordon, Sozialunternehm

    erin und Pädagogin, 68, ist Gründerin und Präsidentin von Roots of Em

    pathy. Die Kanadierin hat zwei

    Kinder und drei Enkel.

    Ma

    ry G

    ord

    on

    , 800 000 Kin

    der

    ha

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    r 20 Jah

    ren m

    it diesem

    E

    rfolg gerech

    net?

    So weit konnte ich gar nicht denken, als ich das Program

    m ins Leben

    rief. Den Entschluss dazu hatte ich aus dem

    Bauch heraus gefasst. W

    ie wa

    r es da

    zu gek

    om

    men

    ?Ich arbeitete dam

    als bei einem So-

    zialprojekt und kümm

    erte mich

    um Fam

    ilien mit schw

    ierigem Hinter-

    grund. Der Besuch bei einer Teen-ager-M

    utter hatte mich derart m

    it-genom

    men, dass ich danach im

    Auto sass und die Tränen nicht zurückhal-ten konnte. Da sagte ich m

    ir: «Mary,

    jetzt musst du etwas unternehm

    en.»W

    as w

    ar b

    ei jenem

    Besu

    ch

    gescheh

    en?

    Die Mutter hatte über dem

    Auge eine tiefe Schnittw

    unde. Ich wusste, dass

    ihr Mann sie wieder geschlagen hatte.

    Doch sie stand nur da, im Arm

    ihr N

    eugeborenes, am Bein ein Kleinkind,

    und versicherte mir, er w

    ürde es nie w

    ieder tun. Er habe sich entschuldigt, sie glaube ihm

    und wolle bleiben. Ich ging zurück zum

    Auto und weinte um

    die beiden Kinder, die wie ihre

    Eltern und Grosseltern vor ihnen ler-nen w

    ürden, dass es in Ordnung ist, wenn der Vater die M

    utter schlägt. W

    ie ka

    men

    Sie d

    ara

    uf, d

    ass

    Em

    pa

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    chlü

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    esseren W

    elt sein k

    ön

    nte?

    Ich hatte in den Jahren zuvor viele Fam

    ilien mit ähnlichen Problem

    en begleitet, und m

    ir war aufgefallen, dass es bei allen eine Gem

    einsamkeit

    gab: das Fehlen von Mitgefühl – ge-

    genüber anderen, aber auch ge gen-über sich selber. Es erschien m

    ir logisch, wer sich selbst und andere nicht spürt, w

    ird keinen sorgfältigen Um

    gang pflegen.B

    ei Ihrem

    Progra

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    lassen

    zimm

    er. Wa

    rum

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    eil die Kinder so die Bindung und die Gefühle in der ersten und w

    ich-

    tigsten Beziehung im Leben – jener

    zwischen M

    utter und Kind – hautnah m

    iterleben.E

    inem

    Sch

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    ber k

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    m d

    ie Mu

    tterliebe

    ersetzen.

    Nein. Aber im

    geschützten Rahmen

    des Klassenzimm

    ers wird er eine

    wohlwollende Umgebung antreffen.

    Er wird lernen, seine eigenen Ge-

    fühle zu deuten. Und er wird erfah-

    ren, dass er mit seinen Ängsten,

    seiner Verzweiflung, aber auch mit

    seiner Freude nicht alleine ist, weil es den anderen ähnlich geht. W

    as ist a

    us d

    er Teen

    ager-Mu

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    gewo

    rden

    ?Ich weiss es nicht. Sie ist m

    ehrfach um

    gezogen, und wir haben den

    Kontakt verloren. Aber es gab und gibt bis heute andere Teenager- M

    ütter, die ihren Weg m

    achten, die Schule abschlossen und heute ein glückliches Leben führen. Sie geben m

    ir die Kraft, mit Roots of Em

    pathy weiterzum

    achen.

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    Berühren erlaubt: So lernen die Kinder Em

    pathie.

    Fortschritte: Vor ein paar M

    onaten hat sich Lenny noch nicht für den

    Stofffisch interessiert.

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    ilie 25/2016

    FAMILIEN

    LEBENFAM

    ILIENLEBEN

  • Lenny wohl gerade?», fragt Miriam Stie-ger in die Runde. Die Kinder betrachten das Baby genau. «Er hat keine Lust mehr», sagt ein Schüler. «Ich glaube, ihm ist lang-weilig», meint ein anderer.

    Miriam Stieger greift in ihre grosse Stofftasche und sucht nach einem weite-ren Spielzeug. «Probieren wir es damit, das kennt Lenny noch nicht», sagt sie und holt eine lebensechte, dunkelhäutige Baby-puppe hervor. Die hat sofort Lennys Auf-merksamkeit. Er schaut sie an. Greift nach ihren Armen, dem Kopf. Er erforscht das neue Spielzeug. Doch dann, plötzlich, be-ginnt er zu weinen. «Er hat Angst», ver-mutet ein Mädchen. «Vielleicht, weil sich die Puppe nicht anfühlt wie ein Baby.» Miriam Stieger greift das Thema auf: «Wer hat sich auch schon so gefühlt, wenn etwas neu und ungewohnt war?» Die Hände gehen in die Höhe.

    Brücke zur GefühlsweltIm Roots-of-Empathy-Unterricht lernen die Kinder nicht nur, die Gefühle des Babys zu deuten. Die Trainerin leitet sie auch dazu an, eine Brücke zur eigenen Gefühlswelt zu schlagen. «So lernen sie, in Worte zu fassen, was sie fühlen», erklärt Miriam Stieger. Das ist wichtig, denn «wer seine Gefühle ausdrücken kann, wird weniger den Drang verspüren, sie auch auszuleben». Damit sei die Wahrschein-lichkeit geringer, dass sich die Kinder

    gegenseitig körperlich, psychisch und emotional verletzten.

    Im Klassenzimmer von Claudia Bach-mann herrschte schon immer ein gutes Klima. Gewalt und Mobbing waren hier noch kein Thema, weshalb die Lehrerin

    diesbezüglich den Erfolg des Baby-Unter-richts schwer einzuschätzen vermag. Und doch stellt sie eine Veränderung fest, vor allem bei jenen Kindern, die bislang sehr verschlossen waren: «Es ist erstaunlich, wie sie sich heute den anderen gegenüber im Unterricht öffnen und sich vermehrt zutrauen, etwas zu sagen.»

    Jetzt ist es ruhig. Lenny weint nicht mehr und lehnt den Kopf an die Schulter seiner Mutter. Sie hat den Kleinen an sich gedrückt und ihm sanft den Rücken ge-tätschelt. Die Nähe hat ihn beruhigt. «Wie ist das bei euch?», will Miriam Stieger wis-sen. «Was tut ihr, wenn ihr traurig oder wütend seid?» Wieder gehen die Hände in die Höhe. Die Kinder berichten von ihren Strategien: spazieren, Musik hören, eine Türe zuschlagen, mit einem Ball jonglie-ren oder in den Boxsack kicken.

    Zum Schluss der heutigen Unterrichts-stunde singen die Kinder ein Abschieds-lied. «Bis bald, Baby Lenny, auf Wieder-sehen», klingt es aus hellen Kehlen. Kaum ist der letzte Ton erklungen, besteht kein Zweifel mehr an Lennys Gefühlszustand, denn jetzt fallen dem Baby vor Müdigkeit die Augen zu.

    Zum VertiefenWeitere Informationen zum Programm in der Schweiz finden interessierte Schulen und Eltern auf der Website von Roots of Empathy, www.rootsofempathy.ch

    ●«Verschlossene Kinder haben sich im

    Unterricht geöffnet.» Claudia Bachmann, Lehrerin

    Der Baby-Lehrer, ganz ruhig: Ist er müde, oder ist ihm langweilig?

    Ein neues Spielzeug: Die dunkelhäutige Puppe weckt sofort die Aufmerksamkeit von Lenny.

    58 Schweizer Familie 25/2016

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