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206 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988): Rezension Rezension Robert Michels: Masse, Fuhrer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsatze 1906-1933. Mit einer Einleitung von Joachim Milles. (Theorie und Gesellschaft, Bd 2) Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1987. 312 SS., DM 48,-. DaG und warum Robert Michels kein politik- und so- zialwissenschaftlicher Kirchenvater geworden ist, diirfte weniger an seinem umfanglichen Werk als vielmehr an seiner wandlungsfahigen Vita gelegen haben: 1876 in Ko1n als Sohn einer reichen Kauf- mannsfamilie geboren, Promotion 1900 in Halle bei Gustav Droysen, Lehr- und Wanderjahre in Frank- reich und Italien, dort Mitglied der Sozialistischen Partei (PSI), 1903 bis 1907 in Deutschland Propagan- dist eines aktivistischen Syndikalismus in der deut- schen Sozialdemokratie, 1907 aussichtsloser Kandi- dat der SPD zur Reichstagswahl in Marburg und 1911 mit seinem Buch Zur Soziologie des Parteiwe- sens. Untersuchungen uber die obligarchischen Tenden- Zen des Gruppenlebens ihr kundiger Kritiker, der zu- nachst von links den ,,furchtsamen Legalismus" der Fuhrer des biirokratischen Parteiapparats attackiert und die Intellektuellenfeindlichkeit der SPD an- spricht. Schliei3lich nach personlichen Enttauschun- gen im wilhelminischen Deutschland, in dem er kei- ne akademische Karriere machen konnte, Anhanger der soziologischen Elitekonzeption 6,cIassa politica 'y - und, ab Mitte der zwanziger Jahre, Parteiganger und Propagandist Benito Mussolinis, der ihn 1928 als Ordinarius fur Nationalokonomie an die faschisti- sche Universitat Perugia beruft. Zwolf Werkstiicke des 1936, 60jahrig, in Rom ge- storbenen Autors, Publizisren und Sozialwissen- schaftlers Robert(o) Michels sind im jetzt erschiene- nen Sammelband nachzulesen. Sie sind im Anschlui3 an ein Portrat von Joachim Milles systematisch in die fiinf Abschnitte ,Sozialismus und Syndikalismus", ,,Massenbewegung und Partei", ,,Demokratie und Oligarchie", ,,Intelligenz und politische Eliten" und ,,Faschismus und Konsensustheorie" gebiindelt und werden vom Herausgeber des Bandes als politisch-so- ziologische Publizistik eines ,,radikalen Intellektuel- len" prisentiert. Michels' Aufsatze verdeutlichen in der Tat dessen ,,politisch-intellektuelle Konversionen" vom radika- len Syndikalisten romanischer P ~ g u n g zum profa- schisrischen Ideologen des korporativ-repressiven Staates - ohne dai3 J. Milles diese Entwicklung schon schliissig deutet. Der Sammelband enthalt da- 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1988 zu auch einen - durchaus als autobiografische Selbststilisierung angelegten - Beitrag Robert Mi- chels' uber seine Arbeit in der SPD von 1903 bis 1907 aus dem Jahr 1932. Natiirlich konnte auch diese wie noch jede Textedi- tion und Werkauswahl kritisiert werden: Wenn es um politisch-soziologische Positionen und ihre Ent- wicklung geht - und daniit auch am Beispiel Robert Michels um ein furs erste Drittel des 20. Jahrhun- derts nicht uninteressantes ideengeschichtliches Kapi- re1 iiberhaupt -, dann hatte diesem zentralen Ge- sichtspunkt wohl eine chronologische Textmontage eher entsprochen. Und vielleicht hatten auch metho- disch grundlegende Abschnitte aus Michels' Biichern Soziologie als Gesellschafswtssenscha~ (1926) und Um- schichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege (1934) heutige Leser interessiert - gerade weil aus dem umfanglichen, mehrsprachigen und bis heu- te nur einmal vor fiinfzig Jahren italienisch aufbi- bliografiertem Werk (Studi in memoria di Roberto Michels. Padova 1937, S. 39-76: Opere di Roberto Michels) bis heute auch bei den meisten akademi- schen Fachvertretern nur Werkrudimente bekannt sind; und entsprechend Robert Michels' Bild als Er- finder des, am hisrorisch-empirischen Material der deutschen Sozialdemokratie vor dem I. Weltkrieg entwickelten, ,,Gesetz von der historischen Notwen- digkeit der Oligarchie" als ,,soziologischem Grund- gesetz, dem die politischen Parteien [. . .] bedingungs- 10s unterworfen sind". Und auch Michels 1925 verof- fentlichte Materialien zu einer Soziologte des Fremden konnten mit Blick auf (s)eine Entwicklung und diese Textedition heute noch von Interesse sein.. . Aber moglicherweise erschliek sich diese vie1 ein- facher und banaler als es die bisherige deutsche se- kundare Michels-Literatur - immerhin eine Heidel- berger Dissertation von Frank Pfetsch 1964 und eine Kieler Habilitation von Wilfried Rohrich 1972 - nahelegen; denn tatsachlich gab und gibt es wohl - SO Robert Michels in einer Randbemerkung seiner Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen (1926) - ,,keine pessimisrischen Redner, deren Exi- stenz ja eine contradictio in adjecto ware". Richard Albrecht, Bad Miinstereifel 0170-6233/88/3412-0206 $02.50/0

Robert Michels: Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze 1906–1933. Mit einer Einleitung von Joachim Milles. (Theorie und Gesellschaft, Bd 2) Frankfurt am

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206 Berichte z u r Wissenschaftsgeschichte 11 (1988): Rezension

Rezension

Robert Michels: Masse, Fuhrer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsatze 1906-1933. Mit einer Einleitung von Joachim Milles. (Theorie und Gesellschaft, Bd 2) Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1987. 312 SS., DM 48,-.

DaG und warum Robert Michels kein politik- und so- zialwissenschaftlicher Kirchenvater geworden ist, diirfte weniger an seinem umfanglichen Werk als vielmehr an seiner wandlungsfahigen Vita gelegen haben: 1876 in Ko1n als Sohn einer reichen Kauf- mannsfamilie geboren, Promotion 1900 in Halle bei Gustav Droysen, Lehr- und Wanderjahre in Frank- reich und Italien, dort Mitglied der Sozialistischen Partei (PSI), 1903 bis 1907 in Deutschland Propagan- dist eines aktivistischen Syndikalismus in der deut- schen Sozialdemokratie, 1907 aussichtsloser Kandi- dat der SPD zur Reichstagswahl in Marburg und 1911 mit seinem Buch Zur Soziologie des Parteiwe- sens. Untersuchungen uber die obligarchischen Tenden- Zen des Gruppenlebens ihr kundiger Kritiker, der zu- nachst von links den ,,furchtsamen Legalismus" der Fuhrer des biirokratischen Parteiapparats attackiert und die Intellektuellenfeindlichkeit der SPD an- spricht. Schliei3lich nach personlichen Enttauschun- gen im wilhelminischen Deutschland, in dem er kei- ne akademische Karriere machen konnte, Anhanger der soziologischen Elitekonzeption 6,cIassa politica 'y - und, ab Mitte der zwanziger Jahre, Parteiganger und Propagandist Benito Mussolinis, der ihn 1928 als Ordinarius fur Nationalokonomie an die faschisti- sche Universitat Perugia beruft.

Zwolf Werkstiicke des 1936, 60jahrig, in Rom ge- storbenen Autors, Publizisren und Sozialwissen- schaftlers Robert(o) Michels sind im jetzt erschiene- nen Sammelband nachzulesen. Sie sind im Anschlui3 an ein Portrat von Joachim Milles systematisch in die fiinf Abschnitte ,Sozialismus und Syndikalismus", ,,Massenbewegung und Partei", ,,Demokratie und Oligarchie", ,,Intelligenz und politische Eliten" und ,,Faschismus und Konsensustheorie" gebiindelt und werden vom Herausgeber des Bandes als politisch-so- ziologische Publizistik eines ,,radikalen Intellektuel- len" prisentiert.

Michels' Aufsatze verdeutlichen in der Tat dessen ,,politisch-intellektuelle Konversionen" vom radika- len Syndikalisten romanischer P ~ g u n g zum profa- schisrischen Ideologen des korporativ-repressiven Staates - ohne dai3 J. Milles diese Entwicklung schon schliissig deutet. Der Sammelband enthalt da-

0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1988

zu auch einen - durchaus als autobiografische Selbststilisierung angelegten - Beitrag Robert Mi- chels' uber seine Arbeit in der SPD von 1903 bis 1907 aus dem Jahr 1932.

Natiirlich konnte auch diese wie noch jede Textedi- tion und Werkauswahl kritisiert werden: Wenn es um politisch-soziologische Positionen und ihre Ent- wicklung geht - und daniit auch am Beispiel Robert Michels um ein furs erste Drittel des 20. Jahrhun- derts nicht uninteressantes ideengeschichtliches Kapi- re1 iiberhaupt -, dann hatte diesem zentralen Ge- sichtspunkt wohl eine chronologische Textmontage eher entsprochen. Und vielleicht hatten auch metho- disch grundlegende Abschnitte aus Michels' Biichern Soziologie als Gesellschafswtssenscha~ (1926) und Um- schichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege (1934) heutige Leser interessiert - gerade weil aus dem umfanglichen, mehrsprachigen und bis heu- te nur einmal vor fiinfzig Jahren italienisch aufbi- bliografiertem Werk (Studi in memoria di Roberto Michels. Padova 1937, S. 39-76: Opere di Roberto Michels) bis heute auch bei den meisten akademi- schen Fachvertretern nur Werkrudimente bekannt sind; und entsprechend Robert Michels' Bild als Er- finder des, am hisrorisch-empirischen Material der deutschen Sozialdemokratie vor dem I. Weltkrieg entwickelten, ,,Gesetz von der historischen Notwen- digkeit der Oligarchie" als ,,soziologischem Grund- gesetz, dem die politischen Parteien [. . .] bedingungs- 10s unterworfen sind". Und auch Michels 1925 verof- fentlichte Materialien zu einer Soziologte des Fremden konnten mit Blick auf (s)eine Entwicklung und diese Textedition heute noch von Interesse sein.. .

Aber moglicherweise erschliek sich diese vie1 ein- facher und banaler als es die bisherige deutsche se- kundare Michels-Literatur - immerhin eine Heidel- berger Dissertation von Frank Pfetsch 1964 und eine Kieler Habilitation von Wilfried Rohrich 1972 - nahelegen; denn tatsachlich gab und gibt es wohl - SO Robert Michels in einer Randbemerkung seiner Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen (1926) - ,,keine pessimisrischen Redner, deren Exi- stenz ja eine contradictio in adjecto ware".

Richard Albrecht, Bad Miinstereifel

0170-6233/88/3412-0206 $02.50/0