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Relative Marktmacht Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen Jörg Nothdurft 17. Januar 2015

Relative Marktmacht - faire-importpreise.ch · missbrauch und die Diskriminierung, zudem erfasst sie darüber hinaus zumindest mittel- ... Marktbeherrschung und relativer Marktmacht

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Relative

Marktmacht

Gutachten zu

Grundlagen,

Bedeutung,

Wirkung und Praxis

der deutschen

Missbrauchsverbote

gegenüber relativ

marktmächtigen

Unternehmen

Jörg Nothdurft

17. Januar 2015

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Auftraggeber und Zweck des Gutachtens:

Das Gutachten wurde erstellt im Auftrag des

KMU-Komitees für faire Importpreise, c/o

Herrn Maurus Ebneter, Vorstandsdelegierter

des Wirteverbands Basel-Stadt, Hasenrain 96,

CH-4102 Binningen, Schweiz.

Das Gutachten dient der wissenschaftli-

chen Begleitung der parlamentarischen

Initiative von Herrn Ständerat Altherr zur

Aufnahme einer Bestimmung über „relati-

ve Marktmacht“ ins schweizerische Kar-

tellgesetz (Pa.Iv. Altherr, Curia-Vista-

Nr. 14.449).

Autor:

Jörg Nothdurft kommentiert die Regelungen

des deutschen Gesetzes gegen Wettbe-

werbsbeschränkungen (GWB) über die Aus-

nutzung wirtschaftlicher Macht im Kommentar

von Langen/Bunte im Luchterhand-Verlag,

dessen 12. Auflage im Jahre 2014 erschienen

ist, einschließlich der deutschen Missbrauchs-

verbote gegenüber Unternehmen mit relativer

Marktmacht. Der Autor kommentiert weiterhin

die Regelungen des deutschen GWB über

das Rechtsbeschwerdeverfahren im Münche-

ner Kommentar zum Wettbewerbsrecht und

ist Autor einer Reihe weiterer Veröffentlichun-

gen zu kartellrechtlichen Themen. Ferner ist

er als Lehrbeauftragter an den Universitäten

Speyer und Lüneburg tätig.

Im Hauptamt ist Jörg Nothdurft Mitarbeiter des

deutschen Bundeskartellamts. Im Range ei-

nes Direktors leitet er dort die Abteilung Pro-

zessführung und Recht. Die in diesem Gut-

achten enthaltenen rechtlichen und

rechtspolitischen Auffassungen und Be-

wertungen sind persönlicher Natur und

damit allein solche des Autors, nicht sol-

che des Bundeskartellamts, seiner

Spruchkörper oder anderer öffentlicher

Stellen der Bundesrepublik Deutschland.

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Relative Marktmacht

Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis

der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ

marktmächtigen Unternehmen (§ 20 GWB)

Zusammenfassung der Ergebnisse

Das Gutachten dient der wissenschaftlichen Begleitung der parlamentarischen Initiative

von Herrn Ständerat Altherr zur Aufnahme einer Bestimmung über „relative Marktmacht“

ins schweizerische Kartellgesetz (Pa.Iv. Altherr, Curia-Vista-Nr. 14.449). Mit dieser Initiati-

ve wird zum einen vorgeschlagen, die Regelungen in Art. 7 des schweizerischen Kartell-

gesetzes1 (im Folgenden: KG) über unzulässige Verhaltensweisen marktbeherrschender

Unternehmen in ihrem persönlichen Anwendungsbereich auszudehnen auf „relativ

marktmächtige Unternehmen“ (Art. 7 Abs. 1neu KG). Zum anderen wird eine gesetzliche

Definition für in diesem Sinne „relativ marktmächtige Unternehmen“ vorgeschlagen (Art. 4

Abs. 2bisneu KG). Dieser Vorschlag lehnt sich an den Wortlaut des § 20 des deutschen

Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen2 (im Folgenden: GWB) an, der bereits seit

1973 seinerseits ebenfalls in gewissem Umfang die deutschen Missbrauchsverbote für

marktbeherrschende Unternehmen auf relativ marktmächtige Unternehmen erstreckt.

Teil A.: Aussagefähigkeit des deutschen Rechts

– Vergleich mit den Vorschlägen der Pa. Iv. Altherr

Vor diesem Hintergrund betrachtet diese Untersuchung in Teil A. die Aussagefähigkeit

des deutschen Rechts und der mit ihm gesammelten Erfahrungen für die parlamentari-

sche Diskussion der Pa.Iv. Altherr. Zu diesem Zwecke werden die Gemeinsamkeiten und

Unterschiede zwischen dem schweizerischen Recht – bei einer Umsetzung der Pa.Iv.

Altherr – und der Rechtslage in Deutschland herausgearbeitet und bewertet.

Dabei tritt hervor, dass sowohl im Hinblick auf die Anwendungsvoraussetzungen als auch

im Hinblick auf die an ihr Vorliegen anknüpfenden materiellen Verbotsnormen ein hoher

Grad an Übereinstimmung zwischen den von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagenen Ergän-

1 Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen Nr. 251 vom 06.10.1995 in

der Fassung vom 01.05.2013. 2 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom

26.06.2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 21.07.2014 (BGBl. I S. 1066).

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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zungen des schweizerischen Kartellgesetzes und den Regelungen des deutschen GWB

besteht.

Bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen stimmen die Regelungen bis in den Wort-

laut hinein überein, wobei die Anlehnung an den deutschen Rechtszustand bewusst er-

folgt. Bei einer Übernahme der Pa.Iv. Altherr durch den schweizerischen Gesetzgeber

müsste daher die schweizerische Anwendungspraxis bezüglich der zentralen Definition

der Normadressatenstellung nicht gleichsam bei Null anfangen, sondern könnte auf etwa

vier Jahrzehnte Konkretisierungsarbeit durch die deutsche Literatur, Gerichts- und Behör-

denpraxis zurückgreifen, was deren nähere Betrachtung im weiteren Gesetzgebungsver-

fahren nahelegt.

Eine Abweichung zum deutschen GWB liegt insofern vor, als dass § 20 Abs. 1 GWB eine

Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs in Fällen relativer Marktmacht auf „klei-

ne oder mittlere Unternehmen“ enthält, die Art. 4 Abs. 2 bisneu KG fehlt. Diese KMU-

Klausel fehlt jedoch auch in § 20 Abs. 2 GWB für den Bereich der Begrenzung von relati-

ver Nachfragemacht. Zudem ist die Begrenzung des Schutzbereichs in § 20 Abs. 1 GWB

rechtspolitisch fragwürdig (hierzu noch die Ausführungen zu Teil D).

Gegenüber den deutschen Regelungen in § 20 Abs. 1 und 2 GWB enthält Art. 4 Abs. 2

bisneu KG seinerseits eine Einschränkung insofern, als dass abhängige Anbieter und

Nachfrager von der Regelung nur hinsichtlich des Absatzes oder Bezugs von solchen

Waren oder Leistungen geschützt werden sollen, die sie hauptsächlich produzieren

oder für ihren Betrieb benötigen. Ob ein praktischer Bedarf für diese zusätzliche tatbe-

standliche Einschränkung besteht, bleibt im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu disku-

tieren. Soweit mit ihr eventuelle Überreichweiten der Norm verhindert werden sollen, hat

sich jedenfalls in der deutschen Fallpraxis ein entsprechendes rechtspolitisches Bedürfnis

in den zurückliegenden vier Jahrzehnten nicht ergeben. Zudem könnte der Passus bei

weiter Auslegung den praktischen Anwendungsbereich der Regelungen ganz wesentlich

reduzieren, was im Interesse der Ziele der Gesetzesinitiative seine Streichung nahe legen

mag.

Bezüglich der an das Vorliegen relativer Marktmacht anknüpfenden materiellen Ver-

botsnormen besteht ebenfalls ein hoher Grad an Übereinstimmung: Zwar bleibt die deut-

sche Verweisung auf § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 5 GWB eklektisch, indem sie nur einen

Teil der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen

auf relativ marktmächtige Unternehmen erstreckt. Sie erfasst jedoch mit § 19 Abs. 2 Nr. 1

GWB ein Regelbeispiel, das als Sitz des allgemeinen Behinderungs- und Diskriminie-

rungsverbots seinerseits wiederum als Generalklausel ausgestaltet ist. Diese General-

klausel adressiert von den drei Grundtypen des Missbrauchs direkt den Behinderungs-

missbrauch und die Diskriminierung, zudem erfasst sie darüber hinaus zumindest mittel-

bar auch Fallgruppen des Ausbeutungsmissbrauchs. Damit haben die deutschen Rege-

lungen für relativ marktmächtige Unternehmen ebenso wie die von der Pa.Iv. Altherr vor-

geschlagenen Regelungen einen überaus breiten materiellen Anwendungsbereich. Um-

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gekehrt werden alle von § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB erfassten Fälle auch von Art. 7

KG erfasst, dessen Tatbestand im Wortlaut der Generalklausel des Art. 7 Abs. 1 KG und

des Regelbeispiels des Art. 7 Abs. 2 lit. b KG Entsprechungen findet.

Damit besteht auch hinsichtlich der Art und der Relevanz der an das Vorliegen der An-

wendungsvoraussetzungen anknüpfenden materiellen Verbotsnormen ein so hoher Grad

an Übereinstimmung zwischen den von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagenen Ergänzungen

des schweizerischen Kartellgesetzes und den Regelungen des deutschen GWB, dass

auch insofern die nähere Betrachtung der deutschen Fallpraxis für die wettbewerbspoliti-

sche Bewertung der Pa.Iv. Altherr Aussagekraft besitzt.

Teil B.: Grundlagen der deutschen Regelungen

– Verfassungsrecht, Ermessen des Gesetzgebers, Systematik

und Verhältnis zum EU-Recht

In Teil B. werden dann – um die Hintergründe und den Normkontext der deutschen Verbo-

te gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen darzustellen – die Grundlagen und

das System aller Missbrauchsverbote des deutschen GWB insgesamt betrachtet.

Dabei zeigt sich zunächst, dass der deutsche Gesetzgeber mit den Missbrauchsverboten

des GWB einem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag nachkommt, der sich zum ei-

nen aus den Wirtschaftsgrundrechten (allgemeine Handlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Ei-

gentumsgarantie) herleiten lässt, zum anderen aus dem der Kompetenznorm des Art. 74

Abs. 1 Nr. 16 GG impliziten Schutzversprechen, Regelungen zur „Verhütung des Miss-

brauchs wirtschaftlicher Macht“ zu treffen. Weder die Grundrechte noch die Kompetenz-

norm differenzieren dabei zwischen absoluter Marktmacht erga omnes im Sinne einer

Marktbeherrschung und relativer Marktmacht inter partes. Weiter stehen nach der deut-

schen Gesetzgebungsgeschichte die machtbegrenzenden Regelungen der Missbrauchs-

verbote im Dienste der Sicherung der allgemeinen Akzeptanz der Rechts- und Wirt-

schaftsordnung, des Verbraucherschutzes und der volkswirtschaftlichen Optimierung der

Faktorallokation. Ein vergleichbarer Schutzauftrag wird sich aus den Art. 26 Abs. 1,

Art. 27, Art. 35, Art. 96 und Art. 97 der Schweizerischen Bundesverfassung herleiten las-

sen, zumal insbesondere Art. 96 und Art. 97 gegenüber dem Wortlaut des deutschen

Grundgesetzes die Problematik noch sehr viel direkter adressieren.

Bei der Umsetzung des verfassungsrechtlichen Auftrags, Regelungen zur Verhütung des

Missbrauchs wirtschaftlicher Macht zu treffen, hat der deutsche Gesetzgeber im Einzel-

nen ein weites Ermessen. Dieses hat er durch die als Generalklauseln ausgestalteten

Missbrauchsverbote genutzt, in deren Kern jeweils eine Abwägung der Interessen unter

dem Leitstern der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes

steht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat diesen Regelungsansatz sowohl unter

dem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als auch unter dem Aspekt des Be-

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stimmtheitsgrundsatzes akzeptiert.

Nach einer kurzen Darstellung der Systematik der deutschen Missbrauchsverbote insge-

samt, betrachtet die Untersuchung in Teil B. dann noch eingehender das Verhältnis der

Missbrauchsverbote im Bereich der relativen Marktmacht zum Wettbewerbsrecht der

Europäischen Union, das sich für einseitige Verhaltensweisen von Unternehmen auf das

allgemeine Missbrauchsverbot gegenüber Marktbeherrschern in Art. 102 AEUV be-

schränkt.

Die Betrachtung zeigt, dass das Unionsrecht für solche weitergehenden Regelungen aus-

drücklich Raum bietet. Ihre Zulässigkeit wird abgesichert durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 EU-

Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003, welcher lautet:

„Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Ho-

heitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung

einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.“

Diese Regelung ist genetisch auf die direkte Einflussnahme der Bundesrepublik Deutsch-

land im Zuge der Verabschiedung der Verordnung zurückzuführen, weswegen sie in der

kartellrechtlichen Literatur auch als „Deutsche Klausel“ bezeichnet wird. Grund für das

starke Engagement der Bundesrepublik Deutschland war das Bestreben, die deutschen

Regelungen und die deutsche Fallpraxis hinsichtlich der Missbrauchsverbote gegenüber

relativ marktmächtigen Unternehmen beibehalten zu können. Genutzt wird der unions-

rechtliche Spielraum dabei nicht nur von der Bundesrepublik Deutschland, sondern etwa

auch von den EU-Mitgliedstaaten Österreich und Italien (Gesetzestexte auf Seite 14).

Die Untersuchung behandelt an dieser Stelle auch die Frage des materiellen Verhältnis-

ses der Regelungen über relative Marktmacht zum EU-Kartellrecht, insbesondere zum

Kartellverbot des Art. 101 AEUV, das nach EU-Recht gegenüber dem nationalen Kartell-

recht der Mitgliedsstaaten grundsätzlich mit positivem und negativem Anwendungsvor-

rang ausgestattet ist. Wie eventuelle Konflikte aufzulösen sind, ist im deutschen Recht

noch nicht vollständig geklärt. Schon rein faktisch wird in den allermeisten Fällen die Ver-

einbarung und Durchsetzung eines unter dem Aspekt des Kartellverbots freigestellten

Vertriebssystems auch der Interessenabwägung bei der Anwendung der Missbrauchsver-

bote standhalten, weil in ihrem Rahmen die Wertungen von Art. 101 Abs. 1 und (insbe-

sondere) Abs. 3 AEUV von hoher Bedeutung sind. Das Potential für Konflikte ist dadurch

in der Praxis sehr begrenzt, weswegen die Frage auch noch nicht höchstrichterlich geklärt

werden musste.

Teil C.: Bedeutung und Wirkung von § 20 GWB

– für die deutsche Wettbewerbspolitik und für die Rechtspraxis

Darauf aufbauend wird dann in Teil C. – ausgehend von einer Darstellung der Gesetzge-

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bungsgeschichte der Missbrauchsverbote – die spezifische Bedeutung und Wirkung von

§ 20 GWB im System der Missbrauchsverbote des deutschen GWB herausgearbeitet.

Dabei zeigt sich an der Zahl und der Begründung der Gesetzesinitiativen deutlich die ho-

he Bedeutung des Instruments des § 20 GWB für die deutsche Wettbewerbspolitik.

Denn die Normgeschichte belegt eindrucksvoll, dass der deutsche Gesetzgeber keine

Scheu an den Tag gelegt hat, den ihm von der Verfassung erteilten Schutzauftrag und

Freiraum zu nutzen, wann immer er dies zur Lösung neuauftretender wettbewerbspoliti-

scher Problemstellungen für sachdienlich hielt.

Die Regelungen über das Verbot des Missbrauchs relativer Marktmacht in § 20 Abs. 1

und 2 GWB wurden zum einen als Reaktion auf den externen Schock der Ölkrise 1973

zum Schutz der inländischen Marktstrukturen erlassen, zum anderen flankierten sie die

Aufhebung der Freistellung der Preisbindung von Markenartikeln vom Kartellverbot. Die

damit einhergehende Verschiebung wirtschaftlicher Macht von der Herstellerebene auf die

Handelsebene schuf das neue wettbewerbliche Problem der Nachfragemacht des Han-

dels, auf das der Gesetzgeber danach in mehreren Novellierungsrunden reagieren muss-

te. Gleichwohl sorgte die Aufhebung der Preisbindung für einen Modernisierungsschub in

der Handelslandschaft und das Entstehen neuer Vertriebs- und Handelsformen, deren

wohlfahrtssteigernde Wirkungen für die allgemeine volkswirtschaftliche Effizienz wie auch

für den Verbraucher außer Frage stehen. Eine vergleichbare wirtschaftliche Umbruchsitu-

ation mit einer neuen Austarierung des Kräfteverhältnisses zwischen Handel und Industrie

bewirkt nunmehr die stetige Zunahme des Online-Handels seit Mitte des letzten Jahr-

zehnts. In dieser Situation stellt sich gleichfalls das Problem, inwiefern selektive Ver-

triebssysteme von den Herstellern dazu genutzt werden können, den Marktprozess in

ihrem Sinne und im Sinne der etablierten Handelsformen zu steuern. Auch hier spielen –

neben dem EU-Kartellverbot des Art. 101 AEUV – auch die Regelungen des § 20 Abs. 1

und 2 GWB erneut eine wichtige flankierende Rolle.

Anhand der – inhaltlich nicht im Fokus dieser Untersuchung stehenden – Regelungen

über das Verbot des horizontalen Missbrauchs überlegener Marktmacht in § 20 Abs. 3

und 4 GWB lässt sich weiterhin zeigen, dass § 20 GWB dem Gesetzgeber auch in ande-

ren Fällen als Instrument dafür diente, wettbewerbspolitische Einzelprobleme anzugehen

wie das Problem des Angebots unter Einstandspreis und das Problem der Preis-Kosten-

Scheren im Mineralölvertrieb, auch wenn die Regelungen die in sie gesetzten Erwartun-

gen z.T. nicht erfüllen konnten. Gleichwohl zeigt sich an diesen Regelungen gegenüber

Unternehmen mit überlegener Marktmacht ebenso deutlich wie an den Regelungen zu

Unternehmen mit relativer Marktmacht der Wille des deutschen Gesetzgebers, auch un-

terhalb der Ebene der Marktbeherrschung steuernd einzugreifen, wo ihm dies wettbe-

werbspolitisch geboten erscheint.

Die z.T. heftige Kritik, die die Verbotsregelungen zu Lasten nicht-marktbeherrschender

Unternehmen in Deutschland von Seiten der Wissenschaft erfahren haben, richtet sich

schwerpunktmäßig gegen bestimmte Einzelverbote wie das des Angebots unter Ein-

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standspreis oder das Anzapfverbot, die nicht Gegenstand der Pa.Iv. Altherr sind. Soweit

dabei auch die Notwendigkeit von Regelungen bezüglich relativ marktmächtiger Unter-

nehmen bezweifelt wird, ist diese Kritik indes auf die Prämisse gegründet, dass sich ent-

stehende Schutzlücken durch eine weitherzigere Bejahung des Vorliegens einer marktbe-

herrschenden Stellung wieder schließen lassen. Dass die Möglichkeit einer Flexibilisie-

rung des Marktbeherrschungsbegriffs im schweizerischen Recht nach der gegenwärtigen

Fassung des Art. 4 Abs. 2 KG nicht mit hinreichender Sicherheit besteht, ist indes gerade

einer der Auslöser der Pa.Iv. Altherr, so dass sie von dieser grundlegenden Kritik an den

deutschen Regelungen zur relativen Marktmacht nicht erfasst werden kann.

Soweit gegen Verbotsregelungen zu Lasten nicht-marktbeherrschender Unternehmen

eingewandt wird, dass damit meist ein nationaler Sonderweg beschritten wird, ist dies

zutreffend. An allen Formen internationaler „soft convergence“ im Kartellrecht durch Gre-

mien wie das International Competition Network oder durch internationale Organisationen

wie die OECD oder die UNCTAD wie auch an der zunehmenden ökonomischen Fundie-

rung der praktischen Missbrauchsaufsicht im Einzelfall haben die nationalen Regelungen

zu Lasten nicht-marktbeherrschender Unternehmen allenfalls am Rande und damit sehr

viel weniger Anteil, als die nationalen Regelungen zu Lasten von Marktbeherrschern.

Gleichwohl bleiben selbst in diesem internationalisierteren Bereich substanzielle und er-

gebnisrelevante Unterschiede zwischen den verschiedenen Jurisdiktionen erhalten, die

ihre Wurzeln ebenso in unterschiedlichen Rechts- und Anwendungstraditionen haben, wie

in unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen und unterschiedlichen

wettbewerbspolitischen Wertvorstellungen.

Vor diesem Hintergrund betrachtet auch der deutsche Gesetzgeber die Regelungen zu

Lasten marktbeherrschender Unternehmen in § 19 GWB der Sache nach eher als eine Art

Mindest-Acquis des Schutzes vor Ausnützung wirtschaftlicher Macht, der aber nach wie

vor der Ergänzung nach unten fähig und bedürftig ist. Insofern unterstreicht gerade der

Einsatz der Bundesrepublik Deutschland zum Schutz der Regelungen im Bereich der rela-

tiven Marktmacht gegenüber dem Vorrang des EU-Rechts die hohe wettbewerbspolitische

Bedeutung, die der deutsche Gesetzgeber der Möglichkeit zumisst, weitergehenden bzw.

komplementären Schutz vor dem Missbrauch von Marktmacht auch unterhalb der Schwel-

le der Marktbeherrschung erga omnes gewähren zu können. Dass dieser Schutz vor dem

Missbrauch relativer Marktmacht auch vierzig Jahre nach Einführung der ersten entspre-

chenden Regelungen ein prominentes Anliegen deutscher Wettbewerbspolitik bleibt, hat

die Regierungsbegründung zur letzten GWB-Novelle im Jahre 2013 noch einmal bekräf-

tigt (Zitat in Teil C. III. a.E., Seite 28).

Ob vor diesem Hintergrund der deutsche Gesetzgeber auch auf eine „Hochpreis-“ oder

„Hochkosteninsel“-Problematik, wie sie der Pa.Iv. Altherr zugrunde liegt und wie sie sich

nach Aufhebung der Eurountergrenze durch die Schweizerische Nationalbank noch ver-

schärfen dürfte, wettbewerbspolitisch durch eine Anpassung des geltenden Rechts rea-

gieren würde – etwa durch eine Ausweitung der Verweisung in § 20 Abs. 1 GWB auf das

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Preisspaltungsverbot des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB –, lässt sich nicht prognostizie-

ren, eine vergleichbare Problematik hat sich in Deutschland bislang noch nicht gestellt.

Sicher ist aber, dass der deutsche Gesetzgeber sich ausweislich der Regelungen des

§ 20 GWB einschließlich der Verbote des Missbrauchs relativer Marktmacht in der Ver-

gangenheit willens gezeigt hat, durch die Weiterentwicklung des Kartellrechts wettbe-

werbspolitische Antworten auf sich aus dem Wandel der Wettbewerbsverhältnisse erge-

bende Problemstellungen zu geben.

Das hohe rechtspolitische Interesse des deutschen Gesetzgebers insbesondere an den

Regelungen gegenüber Unternehmen mit relativer Marktmacht erklärt sich auch aus der

hohen praktischen Bedeutung dieser Regelungen.

Die praktische Bedeutung der Regelungen des deutschen GWB gegenüber Unternehmen

mit relativer Marktmacht (d.h. der heutigen § 20 Abs. 1 und 2 GWB) lässt sich indikativ

zunächst daran ablesen, dass hierzu seit ihrer Einführung 1973 mehr als 50 Entscheidun-

gen allein des letztinstanzlich entscheidenden Bundesgerichtshofs ergangen sind. Für die

unteren Instanzen lassen sich lediglich Näherungswerte anhand der Trefferzahlen der

Juris-Rechtsprechungsdatenbank bilden: Insgesamt listet Juris für die Zeit seit 1973 für

das allgemeine Behinderungs- und Diskriminierungsverbot und dessen Vorläufernormen

835 Entscheidungen auf, was in einer ähnlichen Größenordnung liegt, wie die Trefferzahl

für das Kartellverbot des § 1 GWB von mehr als 600 Entscheidungen. Welcher Anteil an

den Treffern zum allgemeinen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot dabei auf Ent-

scheidungen zu relativ marktmächtigen Unternehmen entfällt und welcher Anteil auf

marktbeherrschende Unternehmen, lässt sich der Datenbank nicht genau entnehmen.

Dass die zum allgemeinen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot ergangenen Ge-

richtsentscheidungen zum weit überwiegenden Teil Zivilverfahren und damit den Bereich

der privaten Kartellrechtsdurchsetzung betrafen, lässt sich aber daran ablesen, dass von

den 835 Entscheidungen lediglich 23 auf das deutsche Bundeskartellamt und eine auf die

Kartellbehörden der deutschen Bundesländer entfallen.

Belastbar ist daraufhin zunächst der Schluss, dass die 835 in Deutschland ergangenen

Entscheidungen zum allgemeinen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot insgesamt –

d.h. sowohl gegenüber marktbeherrschenden wie gegenüber relativ marktmächtigen Un-

ternehmen – zum weit überwiegenden Teil auf dem Zivilrechtsweg ergangen sind. Nahe-

liegend ist zudem der Schluss, dass die Mehrzahl dieser Entscheidungen jedenfalls auch

die Frage des Bestehens oder Nicht-Bestehens relativer Marktmacht behandelte, da die

Anforderungen an den Nachweis relativer Marktmacht inter partes tendenziell geringer

und in Ansehung der zivilprozessualen Beweislastregelungen für den Zivilkläger leichter

zu erfüllen sind, als die Anforderungen an den Nachweis einer marktbeherrschenden Stel-

lung erga omnes.

Die Durchsetzung der Missbrauchsverbote in Fällen relativer Marktmacht auf dem Zivil-

rechtsweg hat sich damit in Deutschland als hinreichend effektiv erwiesen. Nach einer

Umsetzung der Pa.Iv. Altherr und nach Vorliegen von ersten Leitentscheidungen der

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schweizerischen Wettbewerbskommission dürfte sich die Durchsetzung der Missbrauchs-

verbote in Fällen relativer Marktmacht auch in der Schweiz auf den Zivilrechtsweg verla-

gern. Hinreichend dafür erscheint ein Vorgehen der Kartellbehörde im Rahmen eines

Verwaltungsverfahrens zur Abstellung des Verstoßes. Ein weitergehendes Ahndungsinte-

resse an der Durchführung eines Bußgeldverfahrens hat sich in Deutschland – soweit

ersichtlich – seit über 30 Jahren nicht ergeben, so dass diese Spielart der behördlichen

Durchsetzung für eine Effektivierung der Regelungen entbehrlich erscheint.

Die Verbote des Missbrauchs relativer Marktmacht in § 20 Abs. 1 und 2 GWB leisten da-

nach in Deutschland einen auch quantitativ wesentlichen Beitrag zur privaten Durchset-

zung des Kartellrechts auf dem Zivilrechtswege. Sie entlasten dabei die kartellbehördli-

chen Ressourcen, ohne dass dadurch die Rechtsschutzmöglichkeiten im Einzelfall zu

weitgehend eingeschränkt würden. Die Verbote des Missbrauchs relativer Marktmacht in

§ 20 Abs. 1 und 2 GWB sind insofern in der deutschen Rechtspraxis eine auch quantitativ

bedeutsame Voraussetzung für eine effektive Lastenverteilung zwischen öffentlicher und

privater Kartellrechtsdurchsetzung und damit für eine Effektivierung der Kartellrechts-

durchsetzung insgesamt.

Teil D.: Praktische Erfahrungen mit relativer Marktmacht

– Begriff, Schutzbereich, Verbotsregelungen (jew. mit Fällen)

In Teil D. der Untersuchung wird dann ausgiebig die deutsche Praxis zur Auslegung und

Anwendung des Verbots des Missbrauchs relativer Marktmacht beleuchtet.

Dabei wird im ersten Schritt in Teil D. I. die Praxis zur Bejahung oder Verneinung der An-

wendungsvoraussetzungen in den Fällen relativer Marktmacht wiedergegeben und bewer-

tet.

Im Mittelpunkt steht dort naturgemäß die Handhabung des Begriffs der relativen

Marktmacht selbst. Dabei belegen die referierten Entscheidungen zur Definition der rela-

tiven Marktmacht in § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB, dass das Konzept der relativen Marktmacht

erprobt und ausgereift ist und weder unter dem Aspekt der Normklarheit zu beanstanden

ist, noch zu wettbewerbspolitisch nachteiligen Überreichweiten der Verbotsnormen führt.

Hinsichtlich der Normklarheit ist die Definition der relativen Marktmacht im deutschen

GWB durch mittlerweile vier Jahrzehnte der Rechtspraxis hinreichend konkretisiert wor-

den. Die unbestimmten Rechtsbegriffe der „ausreichenden“ und „zumutbaren“ Ausweich-

möglichkeiten wurden schon früh durch die Herausbildung der drei Fallgruppen der sorti-

mentsbedingten, der mangelbedingten und der unternehmensbedingten Abhängigkeit

handhabbar gemacht. Der Großteil der Anwendungsfälle entfiel dabei auf die Fallgruppen

der sortimentsbedingten Abhängigkeit und der unternehmensbedingten Abhängigkeit.

Die sortimentsbedingte Abhängigkeit des Nachfragers beruht in ihren beiden Spielar-

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ten der Spitzenstellungsabhängigkeit und der Spitzengruppenabhängigkeit auf der Erwar-

tungshaltung seiner eigenen Abnehmer an das Sortiment des Nachfragers („must stock

items“). Eine Spitzenstellungsabhängigkeit ist nach der deutschen Rechtsprechung anzu-

nehmen, wenn ein Hersteller aufgrund der Qualität und Exklusivität seines Produkts ein

solches Ansehen genießt und eine solche Bedeutung erlangt hat, dass der nachfragende

Händler in seiner Stellung als Anbieter darauf angewiesen ist, gerade (auch) dieses Pro-

dukt in seinem Sortiment zu führen, und sich daher vorhandene Möglichkeiten, auf andere

Hersteller auszuweichen, nicht als ausreichend und zumutbar erweisen. Hinweise für eine

solche Stellung im Markt können sich aufgrund der hervorragenden Qualität, der einmali-

gen technischen Gestaltung oder der exponierten Werbung ergeben. Eine Spitzengrup-

penabhängigkeit liegt vor, wenn ein Handelsunternehmen eine bestimmte Anzahl allge-

mein anerkannter Marken aus einer Spitzengruppe im Sortiment benötigt, um wettbe-

werbsfähig zu sein (Beispielsfälle ab Seite 37).

Der Überblick über die höchstrichterlichen Entscheidungen zeigt deutlich, dass zur sorti-

mentsbedingten Abhängigkeit die wesentlichen Rechtsfragen bereits durch die Spruch-

praxis des deutschen Bundesgerichtshofs in den 1970er und 80er Jahren geklärt wurden.

Die nachgehende Rechtsprechung rekurriert bis in die Gegenwart auf die in diesen Jahr-

zehnten gebildeten Fallgruppen und die entsprechenden Obersätze. Zudem weisen in

diesen beiden Jahrzehnten die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs noch eine recht

hohe Dichte auf, während die Zahl seiner Entscheidungen in den nachfolgenden Jahr-

zehnten deutlich zurückgeht. Dies verdeutlicht, dass ein größerer Bedarf zur höchstrich-

terlichen Klärung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung bzw. zur Rechtsfort-

bildung nicht mehr bestand.

Die unternehmensbedingte Abhängigkeit ist eine Pfadabhängigkeit, die ihre Ursache in

vorangegangenen eigenen Entscheidungen des Nachfragers – oder seiner Kunden – hat,

welche sich im Nachhinein nicht ohne weiteres korrigieren lassen bzw. ein Ausweichen

auf im Grunde vorhandene vergleichbare Produkte anderer Anbieter erschweren („lock-in-

Effekt“). Eine unternehmensbedingte Abhängigkeit kann auch dadurch eintreten, dass ein

Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb so stark auf ein anderes Unternehmens ausgerich-

tet hat, dass es nur unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsnachteile auf die Zusam-

menarbeit mit einem anderen Unternehmen überwechseln kann (Beispielsfälle ab

Seite 47). Solche Abhängigkeitsverhältnisse zu erfassen ist ein Hauptanliegen der Pa.Iv.

Altherr.

Im Mittelpunkt der Anwendungspraxis der Regelungen über relative Marktmacht stehen in

dieser Fallgruppe die Vertragshändlerfälle. Für diese Fälle wurde bereits durch die Lei-

tentscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall Opel-Blitz im Jahre 1988 ein hinreichender

Grad an Rechtssicherheit erreicht. Auch die letzten Entscheidungen des Bundesgerichts-

hofs zu dieser Fallgruppe nehmen weiterhin auf diese Leitentscheidung Bezug. Die Frage,

ob eine hinreichende Ausrichtung eines Händlers oder eines Wartungsbetriebes auf einen

Hersteller erfolgt ist, bereitet gerade in den praktisch im Zentrum stehenden Fällen keine

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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Probleme, wo es sich um Mitglieder eines besonderen Anforderungen unterliegenden

Netzes handelt.

Für die Fälle des Zugangs zu Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien – der zweiten

Unterfallgruppe der unternehmensbedingten Abhängigkeit – bereitet die Feststellung der

Abhängigkeit schon deswegen in der Praxis kaum Probleme, weil in den entsprechenden

Fällen bereits vor Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht im Jahre 1973 in

Deutschland sogar das Vorliegen von Marktbeherrschung, d.h. absoluter Marktmacht,

bejaht wurde, sofern der Hersteller den Vertrieb von Originalersatzteilen sich selbst ganz

oder zum Teil vorbehielt. Nur dann, wenn zumindest theoretisch mehrere Bezugsmöglich-

keiten von Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien in Betracht kommen, bedarf es des

Rückgriffs auf den Analyserahmen der relativen Marktmacht.

Die mangelbedingte Abhängigkeit beruht auf Versorgungsengpässen auf Hersteller-

ebene, deren Folgen für die Struktur der nachgelagerten Marktstufen durch das Eingreifen

des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots in ihren negativen Wirkungen moderiert

werden sollen (Beispiel: Ölkrise). Die Fälle einer mangelbedingten Abhängigkeit sind in-

des so vereinzelt geblieben wie die makroökonomischen Mangellagen, denen sie ihre

Existenz verdankt. Gleichwohl ergibt sich hier eine Konkretisierung der Normadressaten-

stellung schon aus der Natur der Sache, nämlich aus dem trotz der Mangellage beste-

henden eigenen Zugang zu den betreffenden Gütern (Beispielsfälle ab Seite 43).

Konzeptionelle Unklarheiten bestehen allenfalls insofern, als das Konzept der relativen

Marktmacht auf den Bereich relativer Nachfragemacht übertragen wird: Diese Unklarheit

ist jedoch der Sache nach allein darauf zurückzuführen, dass die genauen Mechanismen

der Wirkung, der Bemessung und der Bewertung von Nachfragemacht von Ökonomik und

Rechtswissenschaften generell noch nicht abschließend geklärt sind. Die Rechtsunsi-

cherheit betrifft daher die marktbeherrschende absolute Nachfragemacht in gleicher Wei-

se wie die relative Nachfragemacht. Im Übrigen sind auf die Fälle der relativen Nachfra-

gemacht die vorstehenden Fallgruppen spiegelbildlich anzuwenden (Beispielsfälle ab Sei-

te 50).

Auch unter dem Aspekt der Normreichweite gibt die deutsche Entscheidungspraxis zum

Umgang mit der Definition relativer Marktmacht keinen Anlass dazu, Überreichweiten bei

der Anwendung der Missbrauchsverbote zu befürchten. Insbesondere lässt sich an den

Einzelfällen belegen, dass eine Erweiterung der Normadressatenstellung der Miss-

brauchsverbote auf nur relativ marktmächtige Unternehmen nicht zu einer Erstarrung der

Marktprozesse geführt hat. Dementsprechend sah sich der deutsche Gesetzgeber in den

vergangenen vier Jahrzehnten auch nicht zu Änderungen an der Definition der relativen

Marktmacht veranlasst.

Im Gegenteil waren die Regelungen über relative Marktmacht eine Voraussetzung für die

Öffnung des Marktes gegenüber wettbewerblichen Prozessen wie dem Aufkommen neuer

Handelsformen. Die Rechtsprechung hat entsprechend betont, dass die Regelungen über

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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die relative Marktmacht nicht nur die Fortdauer bestehender Lieferbeziehungen schützen

sollen, sondern gerade auch solche Unternehmen, die neu auf den Markt kommen oder

die ihr das Sortiment erweitern wollen. Gleichzeitig hat die Rechtsprechung aber auch

laufend überprüft, ob eine einmal bestehende relative Marktmacht noch fortbesteht. Und

schließlich hat die Rechtsprechung die Voraussetzungen relativer Marktmacht stets minu-

tiös, am bilateralen Einzelfall und mit Bezug auf konkrete einzelne Produktgruppen ge-

prüft. So gelangte etwa der Bundesgerichtshof Ende 1986 zu der Einschätzung, dass die

Allkauf-SB-Warenhäuser von der Belieferung mit SABA-Fernsehgeräten abhängig seien,

es sei aber nicht dargetan, dass dies auch bezüglich Videorecordern und anderer HiFi-

Artikel der Fall sei. Kurz darauf, Anfang 1987, entschied der Bundesgerichtshof dann,

dass ein Einzelwarenhaus-Betreiber in Göttingen in seinem Fall auch bezüglich SABA-

Fernsehgeräten seine individuelle Abhängigkeit nicht hinreichend dargelegt habe.

Die Betrachtung der Entscheidungspraxis der Gerichte zeigt, dass das Konzept der relati-

ven Marktmacht eine streng bilaterale Sichtweise einnimmt, die auf die Verhältnisse im

jeweiligen Entscheidungszeitpunkt Bezug nimmt und sich damit in der Lage zeigt, Ent-

wicklungen des Marktumfelds flexibel zu folgen. Dass eine Verfestigung der Marktergeb-

nisse damit gerade nicht eintritt, lässt sich zumindest indiziell damit belegen, dass einige

Marken, deren Artikel als Spitzengruppenprodukte Gegenstand der deutschen Entschei-

dungspraxis waren, mittlerweile vom Markt verschwunden sind (z.B. SABA, Telefunken),

während andere bis in die Gegenwart hinein erfolgreich sind (z.B. Rossignol, adidas, Car-

rera).

Nach dieser Betrachtung der Anwendungsvoraussetzung des Begriffs der relativen

Marktmacht selbst wird noch die weitere Anwendungsvoraussetzung des deutschen

Rechts betrachtet, die den persönlichen Schutzbereich der Regelungen zur relativen

Marktmacht bei Angebotsmacht auf kleine und mittlere Unternehmen beschränkt (KMU-

Klausel, Beispielsfälle ab Seite 57). Die Untersuchung kommt dabei zu dem Ergebnis,

dass die 1989 nachträglich erfolgte Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs

wettbewerbspolitisch verfehlt war und für die Ergänzung des schweizerischen KG im Zuge

der Pa.Iv. Altherr nicht übernommen werden sollte.

Die nachträgliche Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs beruhte auf der

schlichten Erwägung, dass Großunternehmen sich als Nachfrager gegenüber relativer

Angebotsmacht allein aufgrund ihrer Größe und ihres verbesserten Zugangs zu in- und

ausländischen Beschaffungsmärkten auch ohne besondere Schutznorm schon selbst zu

helfen wüssten. Soweit die deutschen Gesetzesmaterialien 1989 dabei auf die Erweite-

rung der Bezugsmöglichkeiten für Großunternehmen auf dem europäischen Binnenmarkt

Bezug nahmen, ist diese Prämisse schon deswegen nicht ohne Weiteres auf die Schweiz

zu übertragen, weil die Segmentation nationaler Märkte in Europa hinsichtlich der

Schweiz nicht in gleichem Umfang durch das Unionsrecht (einschließlich des europäi-

schen Kartellverbots in Art. 101 AEUV) und dessen Durchsetzung durch die EU-

Kommission bekämpft werden kann.

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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Wesentlicher ist aber noch, dass bereits die Grundannahme, dass Großunternehmen sich

regelmäßig selbst zu helfen wüssten, den tatbestandlichen Voraussetzungen relativer

Marktmacht zuwiderläuft, von deren Vorliegen nach dem Gesetzeswortlaut nur dann aus-

zugehen ist, wenn „ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen

auszuweichen, nicht bestehen“. Weiß sich – im Sinne der Prämisse des Gesetzgebers –

ein Großunternehmen selbst zu helfen, so ist bereits der Tatbestand der Norm nicht ver-

wirklicht. Folglich bedarf es keiner darüber hinausgehenden Einschränkung ihres persön-

lichen Schutzbereichs auf KMU.

Ferner ist die – nach deutschem Recht gebotene – Bestimmung der KMU-Eigenschaft

anhand eines auf den Gesamtumsatz bezogenen Größenvergleichs im Horizontalverhält-

nis zu anderen Nachfragern ein gänzlich untauglicher Näherungswert für die Bemessung

der tatsächlichen Fähigkeit eines Nachfragers, der Ausübung relativer Marktmacht durch

Anbieter zu trotzen: Denn dass ein Nachfrager an Gesamtumsatz deutlich größer ist, als

andere Nachfrager, heißt noch nicht zwangsläufig, dass er für den Anbieter ein bedeuten-

derer Nachfrager ist. So sind zwei Nachfrager, auf die jeweils 2% des Absatzes eines

Herstellers entfallen, für diesen genau gleich entbehrlich, auch wenn einer von beiden zu

einem Konzern mit Milliardenumsatz in anderen Produktbereichen gehört. Gewährt man

dann aber dem einen den Schutz des § 20 Abs. 1 GWB, dem anderen hingegen nicht,

droht eine nicht zu rechtfertigende Verzerrung der Wettbewerbsverhältnisse, auch zu Las-

ten der Endverbraucher. Wettbewerbsverzerrungen drohen auch dann, wenn Großunter-

nehmen auf ihre Lieferanten dahingehend einwirken, dass diese andere, mit ihnen im

Wettbewerb stehende Großunternehmen diskriminieren, wofür die deutsche Anwen-

dungspraxis Beispiele geliefert hat.

Weiterhin entspricht es der Zweckrichtung der Regelungen über relative Marktmacht, ge-

rade auch neuen Vertriebsformen über Belieferungsansprüche den Weg in den Markt zu

ebnen und dadurch – entsprechend dem allgemeinen Gesetzeszweck – die Märkte offen

zu halten. Wettbewerbsförderliche Marktzutritte mit neuen Vertriebsformen sind aber von

kapitalkräftigeren Unternehmen häufig eher zu erwarten als von kapitalschwächeren

KMU, was ebenfalls wettbewerbspolitisch die Sinnhaftigkeit der Begrenzung des persönli-

chen Schutzbereichs in Zweifel zieht.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die deutsche Rechtspraxis die Beschränkung des

persönlichen Schutzbereichs auf KMU schon in zwei wichtigen Fallgruppen wieder modifi-

ziert bzw. aufgegeben hat: Zum einen hat die Rechtsprechung für die Fälle der unterneh-

mensbedingten Abhängigkeit von Vertragshändlern für die KMU-Eigenschaft lediglich auf

das Vertikalverhältnis zum Hersteller abgestellt und nicht auf den Horizontalvergleich mit

anderen Vertragshändlern, was dazu führt, dass KMU-Eigenschaft hier faktisch stets zu

bejahen ist. Zum anderen wurde die Beschränkung des Schutzbereichs auf KMU durch

den Gesetzgeber mit der Preismissbrauchsnovelle 2007 sogar explizit aufgegeben hin-

sichtlich der Anwendung des sog. „Anzapfverbots“ (d.h. des Verbots des Verlangens

sachlich nicht gerechtfertigter Bezugsvorteile in § 20 Abs. 2 i.V.m. § 19 Abs. 1, Abs. 2

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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Nr. 5 GWB) auf relativ marktmächtige Nachfrager. Die Richtigkeit des Abrückens von der

These, dass Großunternehmen allein aufgrund der Tatsache ihrer Größe des Schutzes

vor dem Missbrauch relativer Marktmacht nicht bedürftig sein könnten, wurde zwischen-

zeitlich für den Bereich der Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel auch durch die

Ergebnisse einer Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts empirisch bestätigt.

Abschließend wird Teil D. II. die Fallpraxis zur Anwendung der materiellen Verbotsrege-

lungen auf relativ marktmächtige Unternehmen dargestellt und bewertet. Eine umfassen-

de Bewertung der deutschen Fallpraxis zu den materiellen Verbotsregelungen ist für die

Zwecke dieser Untersuchung nicht veranlasst, da die Vorschläge der Pa.Iv. Altherr keine

Angleichung der bestehenden Verbotsregelungen des KG an die entsprechenden deut-

schen Regelungen erstreben, sondern lediglich den Anwendungsbereich der bestehen-

den schweizerischen Regelungen auf relativ marktmächtige Unternehmen erstrecken

möchten.

Die deutsche Fallpraxis zur Fallgruppe der allgemeinen Lieferverweigerung (Beispiels-

fälle ab Seite 65) und ihrer Unterfallgruppe der Belieferung zu ungünstigeren Konditio-

nen (Beispielsfälle ab Seite 72) unterstreicht insofern lediglich, den Umstand, dass eine

Ausweitung der Normadressatenstellung der Missbrauchsverbote nicht zu einer undiffe-

renzierten Ausweitung von materiellen Ansprüchen führt. Denn ungeachtet einer beste-

henden Normadressatenstellung bildet stets eine umfassende Gesamtwürdigung und

Abwägung aller beteiligten Interessen unter Berücksichtigung der auf die Freiheit des

Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes den Kern der Prüfung – sowohl in

Fällen der Marktbeherrschung erga omnes wie in Fällen der relativen Marktmacht inter

partes. Anhand der Fallpraxis lässt sich dabei zeigen, dass die Abwägung den Raum für

sehr differenzierte Ergebnisse bietet, bei denen die Freiheit des Normadressaten hinsicht-

lich des „Ob“ und der Preise und Konditionen einer Belieferung jeweils den Ausgangs-

punkt und die Grundprämisse bildet, deren Einschränkung in jedem Einzelfall anhand aller

für die Beurteilung relevanten Besonderheiten zu prüfen ist.

Die Betrachtung der Fallpraxis zeigt weiter, dass die den Hintergrund der Pa.Iv. Altherr

bildende „Hochpreis-“ oder „Hochkosteninsel“-Problematik noch nicht Gegenstand

der deutschen Kartellrechtsanwendung war. Der deutschen Rechtsprechung zur Zuläs-

sigkeit von Preis- und Konditionendifferenzierungen ist gleichwohl mit einiger Klarheit zu

entnehmen, dass diese jedenfalls dann Gefahr laufen, gegen das Behinderungs- und Dis-

kriminierungsverbot des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB zu verstoßen, wenn die davon

betroffenen Nachfrager dadurch in ihren Wettbewerbsmöglichkeiten auf dem nachgela-

gerten Markt beeinträchtigt werden. Entsprechende Effekte können sich mit Blick auf die

Schweiz immer dort ergeben, wo schweizerische Unternehmen in der Schweiz wie im

Ausland internationalem Wettbewerb ausgesetzt sind, etwa beim Wettbewerb mit auslän-

dischen Unternehmen in der Schweiz oder auf räumlich international abzugrenzenden

Produktmärkten. Wo sich eine derartige horizontale Wettbewerbsverzerrung auf den

Märkten der Abnehmer nicht feststellen lässt, käme nach deutschem Recht nur der Vor-

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Relative Marktmacht – Gutachten (Zusammenfassung)

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wurf eines Ausbeutungsmissbrauchs in Gestalt einer nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB

missbräuchlichen Preisspaltung in Betracht (Beispielsfälle ab Seite 70). Dabei ordnet das

Gesetz explizit nur die Anwendung dieser Regelung auf marktbeherrschende Unterneh-

men an. Ob sie darüber hinaus im Wege der Auslegung auch gegenüber relativ markt-

mächtigen Unternehmen zur Anwendung gebracht werden könnte, ist ungewiss.

In der deutschen Praxis finden sich – soweit ersichtlich – keine direkten Anhaltspunkte zur

Klärung der Frage, ob nach deutschem Recht eine Differenzierung der Preisstellung nach

der Kaufkraft oder dem allgemeinen Preisniveau eines Landes im Rahmen der im Kern

der Missbrauchsprüfung stehenden Interessenabwägung ein anerkennenswerter Belang

wäre. Geklärt ist lediglich durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall „Hör-

funkrechte“, dass sich der Normadressat grundsätzlich in seiner Preisgestaltung daran

orientieren darf, ob der Nachfrager einer Leistung diese zur weitergehenden Wertschöp-

fung nutzt oder zum privaten Konsum. Geklärt ist weiter durch die Entscheidung „Pay-TV-

Durchleitung“, dass es zulässig ist, wenn der Normadressat bei seiner Preisgestaltung

nach dem eigenen Nutzen der Zusammenarbeit differenziert und wenn er auch im Übri-

gen „günstigere Konditionen dort zu erlangen sucht, wo ihm dies durchsetzbar erscheint“,

solange er dabei nicht willkürlich handelt, wettbewerbsfremden Motiven folgt oder Wett-

bewerbsverzerrungen – etwa des Preiswettbewerbs – auf den Märkten der Abnehmer

herbeiführt. Anders als im gegenwärtigen deutschen Recht hätte jedoch die Interessen-

abwägung zur Klärung der Frage nach der Zulässigkeit einer Differenzierung nach Kauf-

kraft oder Preisniveau im Falle einer Annahme der Pa.Iv. Altherr den mit dieser Gesetzes-

initiative verfolgten spezifischen Gesetzeszweck zu berücksichtigen. Käme man danach

im ersten Zugriff zur Missbräuchlichkeit einer Preis- oder Konditionenspaltung, so er-

scheint es vorstellbar, dass der Normadressat diesem Vorwurf jedenfalls dann entgehen

könnte, wenn er dem Abnehmer die Möglichkeit eines Direktbezugs im Ausland zu dorti-

gen Preisen und Konditionen eröffnete. Die abschließende Klärung dieser Fragen kann

jedoch im Falle einer Annahme der Pa.Iv. Altherr allein auf der Grundlage der materiellen

Verbotsregelungen in Art. 7 KG unter Berücksichtigung der schweizerischen Anwen-

dungstradition, der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen und des schweizerischen

Normkontext‘ ergehen, der nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist.

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Relative Marktmacht Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis

der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ

marktmächtigen Unternehmen (§ 20 GWB)

Gang der Untersuchung

Dieses Gutachten dient der wissenschaftlichen Begleitung der parlamentarischen Initiative

von Herrn Ständerat Altherr zur Aufnahme einer Bestimmung über „relative Marktmacht“

ins schweizerische Kartellgesetz (im Folgenden: „Pa.Iv. Altherr“, Curia-Vista-Nr. 14.4493).

Mit dieser Initiative wird zum einen vorgeschlagen, die Regelungen in Art. 7 des schwei-

zerischen Kartellgesetzes4 (im Folgenden: KG) über unzulässige Verhaltensweisen

marktbeherrschender Unternehmen in ihrem persönlichen Anwendungsbereich auszu-

dehnen auf „relativ marktmächtige Unternehmen“ (Art. 7 Abs. 1neu KG).

Zum anderen wird eine gesetzliche Definition für in diesem Sinne „relativ marktmächtige

Unternehmen“ vorgeschlagen (Art. 4 Abs. 2bisneu KG). Dieser Vorschlag lehnt sich an den

Wortlaut des § 20 des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen5 (im Fol-

genden: GWB) an, der seinerseits ebenfalls in gewissem Umfang die deutschen Miss-

brauchsverbote für marktbeherrschende Unternehmen auf relativ marktmächtige Unter-

nehmen erstreckt.

Vor diesem Hintergrund betrachtet diese Untersuchung in einem ersten Schritt die Aus-

sagefähigkeit des deutschen Rechts und der mit ihm gesammelten Erfahrungen für die

parlamentarische Diskussion der Pa.Iv. Altherr. Zu diesem Zwecke werden die Gemein-

samkeiten und Unterschiede zwischen dem schweizerischen Recht – bei einer Umset-

zung der Pa.Iv. Altherr – und der Rechtslage in Deutschland herausgearbeitet und bewer-

tet (hierzu unter A.).

In einem zweiten Schritt werden dann – um die Hintergründe und den Normkontext der

deutschen Verbote gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen darzustellen – die

Grundlagen und das System aller Missbrauchsverbote des deutschen GWB insge-

samt betrachtet (hierzu unter B.).

3 Im Internet unter www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20140449.

4 Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen Nr. 251 vom 06.10.1995 in

der Fassung vom 01.05.2013. 5 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom

26.06.2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 21.07.2014 (BGBl. I S. 1066).

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Darauf aufbauend wird dann im dritten Schritt die spezifische Bedeutung und Wirkung

von § 20 GWB im System der Missbrauchsverbote des deutschen GWB herausgear-

beitet. Dabei wird ersichtlich, dass § 20 GWB die für marktbeherrschende Unternehmen

geltenden Verbote nicht nur auf relativ marktmächtige Unternehmen erstreckt, sondern

darüber hinaus auch vom deutschen Gesetzgeber als flexibles Mittel zur Lösung weiterer

wettbewerblicher Problemfelder gesehen und genutzt wurde (hierzu unter C.).

Im vierten Schritt wird dann ausgiebig die deutsche Praxis zur Auslegung und Anwen-

dung des Verbots des Missbrauchs relativer Marktmacht beleuchtet. Dabei wird zu-

nächst die Praxis zur Bejahung oder Verneinung der Anwendungsvoraussetzungen in

den Fällen relativer Marktmacht wiedergegeben und bewertet (hierzu unter D. I.). Danach

wird die Fallpraxis zur Anwendung der materiellen Verbotsregelungen auf relativ

marktmächtige Unternehmen dargestellt und bewertet (hierzu unter D. II.).

Im Anhang zu diesem Gutachten findet sich ein Inhaltsverzeichnis.

A. Aussagefähigkeit des deutschen Rechts

Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Blick auf Grundlagen und Anwendungspra-

xis des deutschen Kartellrechts für die rechtspolitische Diskussion in der Schweiz im Zuge

der Pa.Iv. Altherr umso mehr Beiträge liefern kann, je weitergehend deren Vorschläge

inhaltlich der Rechtslage in Deutschland entsprechen. Zu diesem Zwecke sind die Ge-

meinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem schweizerischen Recht – bei einer Um-

setzung der Pa.Iv. Altherr – und der Rechtslage in Deutschland herauszuarbeiten, sowohl

im Bereich der Anwendungsvoraussetzungen (hierzu unter I.), als auch im Bereich der

konkreten Verbotsregelungen (hierzu unter II.), und einer Bewertung zuzuführen (hierzu

unter III.).

I. Vergleich bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen

Weitgehende Ähnlichkeit zwischen den Vorschlägen der Pa.Iv. Altherr und der Rechtslage

in Deutschland besteht im Hinblick auf die Anwendungsvoraussetzungen der Miss-

brauchsaufsicht über relativ marktmächtige Unternehmen, insbesondere bei der Definition

relativ marktmächtiger Unternehmen in Art. 4 Abs. 2 bisneu KG respektive § 20 Abs. 1 und

Abs. 2 GWB. Zum Vergleich seien die Regelungen nebeneinandergestellt, wobei die

Übereinstimmungen im Wortlaut kursiv hervorgehoben sind:

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Art. 4 Abs. 2 bisneu KG:

„Als relativ marktmächtige Unternehmen gelten einzelne Unternehmen, soweit von

ihnen andere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von

Waren oder gewerblichen Leistungen, die sie hauptsächlich produzieren oder für

ihren Betrieb benötigen, in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zu-

mutbare Möglichkeiten, auf andere[n] Unternehmen auszuweichen, nicht beste-

hen.“

§ 20 Abs. 1 und 2 GWB:

„(1) 1§ 19 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 gilt auch für Unterneh-

men und Vereinigungen von Unternehmen, soweit von ihnen kleine oder mittlere

Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder

gewerblichen Leistungen in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zu-

mutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen

(relative Marktmacht). 2Es wird vermutet, dass ein Anbieter einer bestimmten Art

von Waren oder gewerblichen Leistungen von einem Nachfrager abhängig im Sin-

ne des Satzes 1 ist, wenn dieser Nachfrager bei ihm zusätzlich zu den verkehrsüb-

lichen Preisnachlässen oder sonstigen Leistungsentgelten regelmäßig besondere

Vergünstigungen erlangt, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden.

(2) § 19 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 5 gilt auch für Unternehmen

und Vereinigungen von Unternehmen im Verhältnis zu den von ihnen abhängigen

Unternehmen.“

Im Einzelnen zeigen sich bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen der Regelungen

folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede:

Hinsichtlich des materiellen Maßstabs für die Feststellung relativer Marktmacht stimmen

Art. 4 Abs. 2 bisneu KG und § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB wörtlich überein. Diese bewusste

Anlehnung an den deutschen Gesetzeswortlaut eröffnet dem Rechtsanwender breiten

Raum, die Grundsätze der Auslegung der deutschen Regelung und ihre Anwendungspra-

xis bei der Konkretisierung und Auslegung der schweizerischen Vorschrift mit heranzuzie-

hen (näher dazu nachfolgend unter III.).

Zwei Unterschiede ergeben sich dagegen im Hinblick auf tatbestandliche Einschränkun-

gen jenseits des konkreten Abhängigkeitsmaßstabs:

So enthält der Wortlaut des § 20 Abs. 1 GWB eine Einschränkung des persönlichen

Schutzbereichs auf „kleine oder mittlere Unternehmen“, die Art. 4 Abs. 2 bisneu KG fehlt.

Diese KMU-Klausel fehlt jedoch auch in § 20 Abs. 2 GWB, der auf Absatz 1 nur durch

Verwendung des Begriffs „abhängig“ Bezug nimmt, nicht jedoch bezüglich der Einschrän-

kung des persönlichen Schutzbereichs auf „kleine oder mittlere Unternehmen“. Die Ge-

setzgebungsgeschichte belegt dabei eindeutiger als der Wortlaut, dass die Gesetz ge-

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Relative Marktmacht – Gutachten

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wordene Fassung des § 20 Abs. 2 GWB gerade der Streichung der KMU-Klausel für das

sog. „Anzapfverbot“ (Missbrauch von Nachfragemacht, § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 GWB)6

diente, um auch größere Unternehmen vor dem Missbrauch relativer Nachfragemacht zu

schützen.7

Gegenüber den deutschen Regelungen in § 20 Abs. 1 und 2 GWB enthält Art. 4 Abs. 2

bisneu KG seinerseits eine Einschränkung insofern, als abhängige Anbieter und Nachfra-

ger von der Regelung nur hinsichtlich des Absatzes oder Bezugs von solchen Waren oder

Leistungen geschützt werden sollen,

„die sie hauptsächlich produzieren oder für ihren Betrieb benötigen“.

Ob ein praktischer Bedarf für diese zusätzliche tatbestandliche Einschränkung besteht,

bleibt im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu diskutieren. Soweit mit ihr eventuelle Über-

reichweiten der Norm verhindert werden sollen, hat sich jedenfalls in der deutschen Fall-

praxis (näher dazu nachfolgend unter D. I 1.) ein entsprechendes rechtspolitisches Be-

dürfnis in den zurückliegenden vier Jahrzehnten8 nicht ergeben. Ebenso besteht unter

dem Aspekt der weiteren Konkretisierung der Norm aus deutscher Sicht keine Notwen-

digkeit für die Aufnahme eines entsprechenden Passus (näher dazu nachfolgend unter

B. II. a.E.). Im Gegenteil dürfte der Begriff „hauptsächlich“ seinerseits schwer zu konkreti-

sieren sein. Legte man ihn dahingehend aus, dass auf die vom Verhalten eines Anbieters

oder Nachfragers betroffenen Produkte mehr als 50% des Beschaffungs- oder Absatzvo-

lumens entfallen müssten, so fielen zumindest im Bereich relativer Angebotsmacht die

praktisch hochrelevanten Fälle der sortimentsbedingten Abhängigkeit (nachfolgend unter

D. I. 1. c) ab)) insgesamt aus dem Anwendungsbereich heraus, da ein Sortiment natur-

gemäß nicht „hauptsächlich“ aus den Produkten eines Herstellers besteht. Auch in den

Fällen der unternehmens- und mangelbedingten Abhängigkeit (nachfolgend unter D. I. 1.

c) ac) und ad)) könnte eine solche Auslegung den Anwendungsbereich der Norm wesent-

lich reduzieren, was eine Streichung des Passus nahe legen mag.

II. Vergleich bezüglich der Verbotsregelungen

Weitreichende Ähnlichkeiten zwischen den Vorschlägen der Pa.Iv. Altherr und der

Rechtslage in Deutschland bestehen auch im Hinblick auf die bei Vorliegen der Anwen-

dungsvoraussetzungen eingreifenden materiellen Verbotsregelungen:

Von § 20 Abs. 1 und 2 GWB werden – mit unterschiedlichem persönlichem Schutzbereich

6 Näher zum Begriff des „Anzapfverbotes“: Wanderwitz, Der Missbrauch von Nachfragemacht nach

§ 20 Abs. 3 GWB, 2013, S. 18f.. 7 Vgl. RegBegr. zur 8. GWB-Novelle 2013, BT-Drucks. 17/9852, S. 8 unter 7 c) zu § 20 Abs. 2,

S. 24: Verweis auf § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB insgesamt, d.h. einschl. KMU-Klausel; anders dann aber der Vermittlungsausschuss, BT-Drucks. 17/13720, S. 2 unter 1 a) aa). 8 Die Vorläuferregelung des § 20 Abs. 1 GWB wurde als § 26 Abs. 2 Satz 2 durch die 2. GWB-

Novelle vom 03.08.1973 in das GWB eingefügt, BGBl. I, S. 917).

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Relative Marktmacht – Gutachten

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(hierzu oben unter I.) – zwei der Verbote des § 19 Abs. 1 und 2 GWB für marktbeherr-

schende Unternehmen auch auf Unternehmen mit relativer Marktmacht erstreckt. Zum

einen ist dies das allgemeine Behinderungs- und Diskriminierungsverbot in § 19 Abs. 1,

Abs. 2 Nr. 1 GWB, zum anderen das speziell auf den Missbrauch von Nachfragemacht

ausgerichtete „Anzapfverbot“ des § 19 Abs. 2 Nr. 5 GWB. Die Regelungen lauten:

„(1) Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch

ein oder mehrere Unternehmen ist verboten.

(2) Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unter-

nehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder ge-

werblichen Leistungen

1. ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar unbillig behindert oder

ohne sachlich gerechtfertigten Grund unmittelbar oder mittelbar anders be-

handelt als gleichartige Unternehmen; […]

5. seine Marktstellung dazu ausnutzt, andere Unternehmen dazu aufzufordern

oder zu veranlassen, ihm ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu

gewähren.“

Eine direkte Bezugnahme erfolgt dagegen nicht hinsichtlich der übrigen Regelungen im

Katalog des § 19 Abs. 2 GWB, die ihrerseits lauten:

„2. Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, die von denjenigen

abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlich-

keit ergeben würden; hierbei sind insbesondere die Verhaltensweisen von

Unternehmen auf vergleichbaren Märkten mit wirksamem Wettbewerb zu

berücksichtigen;

3. ungünstigere Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, als sie

das marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten

von gleichartigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied

sachlich gerechtfertigt ist;

4. sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt

Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu

gewähren […].“

Nach der Regelungstechnik des § 19 GWB stellen die in Abs. 2 einzeln aufgeführten Ver-

haltensweisen nur illustrierende Regelbeispiele der Generalklausel des Abs. 1 dar, welche

das eigentliche Verbot enthält9; aus diesem Grunde nehmen auch die Verweisungen in

den Vorschriften für relativ marktmächtige Unternehmen in § 20 Abs. 1 und 2 GWB je-

9 Zum Verhältnis: BGH, 28.06.2005, KVR 27/04, WuW/E DE-R 1520, 1523 – Arealnetz;

07.12.2010, KZR 5/10, WuW/E DE-R 3145 Rn. 54ff – Entega II; 15.05.2012, KVR 51/11, WuW/E DE-R 3632 Rn. 13 – Wasserpreise Calw I.

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weils auch die Generalklausel mit in Bezug. Gleichwohl trifft aber das deutsche Recht für

Unternehmen mit „nur“ relativer Marktmacht eine Auswahl unter den verschiedenen Re-

gelbeispielen zur Generalklausel.

Die Pa.Iv. Altherr geht in diesem Punkt weiter, indem sie sämtliche Verbotsregelungen in

Art. 7 KG über unzulässige Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen in ih-

rem persönlichen Anwendungsbereich auf „relativ marktmächtige Unternehmen“ erstreckt

(Art. 7 Abs. 1neu, geplante Änderung unterstrichen):

„(1) Marktbeherrschende und relativ marktmächtige Unternehmen verhalten sich

unzulässig, wenn sie durch den Missbrauch ihrer Stellung auf dem Markt andere

Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindern oder

die Marktgegenseite benachteiligen.

(2) Als solche Verhaltensweisen fallen insbesondere in Betracht:

a. die Verweigerung von Geschäftsbeziehungen (z. B. die Liefer- oder

Bezugssperre);

b. die Diskriminierung von Handelspartnern bei Preisen oder sonstigen

Geschäftsbedingungen;

c. die Erzwingung unangemessener Preise oder sonstiger unange-

messener Geschäftsbedingungen;

d. die gegen bestimmte Wettbewerber gerichtete Unterbietung von

Preisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen;

e. die Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der techni-

schen Entwicklung;

f. die an den Abschluss von Verträgen gekoppelte Bedingung, dass

die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen oder erbrin-

gen.“

Der Vergleich der Regelungen zeigt – ausgehend von den Regelbeispielen des schweize-

rischen Kartellgesetzes und unter Hinzunahme der Regelbeispiele des Missbrauchsver-

bots im EU-Kartellrecht nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

(im Folgenden: AEUV)10 – das folgende Gesamtbild der positiv normierten Verbotsrege-

lungen (wobei die im jeweiligen Recht auch für relativ marktmächtige Unternehmen Gel-

tenden grau unterlegt sind):

10

Auch „Vertrag von Lissabon“, ABl EG (2010/C 93/01).

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Verbotsregelungen CH/D/EU bei Marktbeherrschung und relativer Marktmacht

Regelbeispiel11

KG GWB AEUV

Refusal to deal Art. 7 Abs. 2 lit. a § 19 Abs. 2 Nr. 1

Diskriminierung Art. 7 Abs. 2 lit. b § 19 Abs. 2 Nr. 1 Art. 102 Satz 2 lit. c

Preishöhenmissbrauch Art. 7 Abs. 2 lit. c § 19 Abs. 2 Nr. 2 + 3 Art. 102 Satz 2 lit. a

Predatory Pricing Art. 7 Abs. 2 lit. d § 19 Abs. 2 Nr. 1

Output Restriction Art. 7 Abs. 2 lit. e Art. 102 Satz 2 lit. b

Kopplungsmissbrauch Art. 7 Abs. 2 lit. f § 19 Abs. 2 Nr. 1 / 2 Art. 102 Satz 2 lit. d

Essential facilities § 19 Abs. 2 Nr. 4

Anzapfverbot § 19 Abs. 2 Nr. 5

III. Ergebnis

Sowohl im Hinblick auf die Anwendungsvoraussetzungen als auch im Hinblick auf die an

ihr Vorliegen anknüpfenden materiellen Verbotsnormen besteht ein hoher Grad an Über-

einstimmung zwischen den von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagenen Ergänzungen des

schweizerischen Kartellgesetzes und den Regelungen des deutschen GWB.

Bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen stimmen die Regelungen bis in den Wortlaut

hinein überein, wobei die Anlehnung an den deutschen Rechtszustand bewusst erfolgt.

Dementsprechend haben auch bislang in der rechtspolitischen Diskussion der entspre-

chenden Bestrebungen in der Schweiz sowohl deren Befürworter als auch deren Gegner

Bezüge zum deutschen Recht hergestellt.12 Bei einer Übernahme der Pa.Iv. Altherr durch

den schweizerischen Gesetzgeber müsste daher die schweizerische Anwendungspraxis

bezüglich der zentralen Definition der Normadressatenstellung nicht gleichsam bei Null

anfangen, sondern könnte auf etwa vier Jahrzehnte13 Konkretisierungsarbeit durch die

deutsche Literatur, Gerichts- und Behördenpraxis zurückgreifen, was deren nähere Be-

trachtung im weiteren Gesetzgebungsverfahren nahelegt.

Bezüglich der an das Vorliegen relativer Marktmacht anknüpfenden materiellen Verbots-

normen besteht ebenfalls ein hoher Grad an Übereinstimmung:

Zwar bleibt die deutsche Verweisung auf § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 5 GWB eklektisch,

indem sie nur einen Teil der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber marktbeherr-

schenden Unternehmen auf relativ marktmächtige Unternehmen erstreckt. Sie erfasst

jedoch mit § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB ein Regelbeispiel, das als Sitz des allgemeinen Behin-

11

Für die Regelbeispiele werden verallgemeinernd die üblichen Bezeichnungen der von ihnen im Wesentlichen erfassten Fallgruppen missbräuchlicher Verhaltensweisen verwandt, vgl. etwa die Auflistung der OECD im Internet unter http://www.oecd.org/competition/abuse/. 12

Z.B. Schöchli, „Denkfutter für den Nationalrat“ in NZZ-online vom 09.09.2014 zum Promarca-Gutachten der Kanzlei Homburger; Zurkinden, „‘Relative Marktmacht‘ – ein unreifes Konzept“ in NZZ vom 11.09.2014, S. 21, Zäch, „Gegen den Schweiz-Zuschlag“, NZZ vom 16.09.2014, S. 19. 13

Die Vorläuferregelung des § 20 Abs. 1 GWB wurde als § 26 Abs. 2 Satz 2 durch die 2. GWB-Novelle vom 03.08.1973 in das GWB eingefügt, BGBl. I, S. 917).

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Relative Marktmacht – Gutachten

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derungs- und Diskriminierungsverbots seinerseits wiederum als (sekundäre) Generalklau-

sel ausgestaltet ist. Diese sekundäre Generalklausel adressiert von den drei Grundtypen

des Missbrauchs direkt den Behinderungsmissbrauch und die Diskriminierung, zudem

erfasst sie darüber hinaus zumindest mittelbar auch Fallgruppen des Ausbeutungsmiss-

brauchs14. Damit haben die deutschen Regelungen für relativ marktmächtige Unterneh-

men ebenso wie die von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagenen Regelungen einen überaus

breiten materiellen Anwendungsbereich.

Umgekehrt werden alle von § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB erfassten Fälle auch von Art. 7

KG erfasst: So ähnelt der Wortlaut der sekundären Generalklausel des § 19 Abs. 2 Nr. 1

GWB dem Wortlaut der primären Generalklausel des Art. 7 Abs. 1 KG, der ebenfalls ver-

bietet, andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs zu „be-

hindern“. Die Diskriminierungs-Alternative des § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB wird vom Regelbei-

spiel des Art. 7 Abs. 2 lit. b KG erfasst. Nimmt man dann noch hinzu, dass in beiden Ge-

setzen die Regelbeispiele letztlich nur Ausprägungen der primären Generalklauseln sind,

ergibt sich auch insoweit letztlich kein substanzieller Unterschied, als das KG kein spezifi-

sches „Anzapfverbot“ entsprechend § 19 Abs. 2 Nr. 5 GWB enthält, da die Regelbeispiele

des Art. 7 Abs. 2 lit. b und c KG diese Fälle vom Wortlaut her mit erfassen können.

Damit besteht auch hinsichtlich der Art und der Relevanz der an das Vorliegen der An-

wendungsvoraussetzungen anknüpfenden materiellen Verbotsnormen ein so hoher Grad

an Übereinstimmung zwischen den von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagenen Ergänzungen

des schweizerischen Kartellgesetzes und den Regelungen des deutschen GWB, dass

auch insofern die nähere Betrachtung der deutschen Fallpraxis und Literatur (hierzu nach-

folgend unter D. II.) für die wettbewerbspolitische Bewertung der Pa.Iv. Altherr Aussage-

kraft besitzt.

B. Grundlagen und System der deutschen Missbrauchsverbote

Im zweiten Schritt dieser Untersuchung werden nun die Grundlagen und das System aller

Missbrauchsverbote im deutschen GWB betrachtet, um dann im nachfolgenden Schritt

(unter C.) die spezifische Bedeutung und Wirkung von § 20 GWB in diesem System her-

ausarbeiten zu können.

Auszugehen ist dabei von den verfassungsrechtlichen Grundlagen und den allgemeinen

Zielfunktionen aller deutschen Missbrauchsverbote, aus denen sich ihr spezifischer

Schutzauftrag herleiten lässt (hierzu unter I.). Ferner ist die Weite des gesetzgeberischen

Ermessens bei der Erfüllung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags darzustellen

(hierzu unter II.).

14

Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 97f.. Vgl. auch BGH, 07.12.2010, KZR 5/10, WuW/E DE-R 3145 Rn. 24 – Entega II.

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Danach ist kurz im Überblick das System aller Regelungen wiederzugeben, mit denen der

deutsche Gesetzgeber diesem Schutzauftrag nachkommt (hierzu unter III.).

Abschließend ist auf die EU-rechtlichen Rahmenbedingungen der deutschen Miss-

brauchsverbote einzugehen, zumal sich an diesem Punkt für das deutsche Recht auch

das generelle Problem stellt, in welchem Verhältnis die Regelungen für relativ marktmäch-

tige Unternehmen zum Kartellverbot stehen. Ferner lässt sich an diesem Punkt auch

exemplarisch das hohe rechtspolitische Interesse der Bundesrepublik Deutschland am

Beibehalt der Regelungen über relative Marktmacht zeigen (hierzu unter IV.).

I. Verfassungsrecht, Zielfunktionen und Schutzauftrag

Die verschiedenen Missbrauchsverbote des GWB (Überblick nachfolgend unter III.) bilden

den Kern der – neben dem Kartellverbot und der Zusammenschlusskontrolle – dritten

Säule des deutschen Kartellrechts. Mit diesen Regelungen löst der deutsche Gesetzgeber

das der Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 des deutschen Grundgesetzes (im Fol-

genden: GG)15 wie auch den Wirtschaftsgrundrechten der Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1,

Art. 14 Abs. 1 GG implizite Schutzversprechen ein, Regelungen zur „Verhütung des Miss-

brauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ zu treffen. Die Regelungen stehen insofern im

Dienste der gesellschaftspolitischen Funktionen des Kartellrechts insgesamt.16

Wie die anderen beiden Säulen des GWB weisen die allgemeinen Missbrauchsverbote

damit auch eine verfassungsrechtliche Dimension auf. Hier ist im Ausgangspunkt zu be-

rücksichtigen, dass die bestehende Wirtschaftsverfassung den grundsätzlich freien Wett-

bewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmer als

eines ihrer Grundprinzipien enthält.17 Das Verhalten der Unternehmer in diesem Wettbe-

werb ist Betätigung von Grundrechtspositionen.18 Dabei stehen bei der Interaktion am

Markt auf Seiten der Normadressaten und der von ihrem Verhalten betroffenen Marktteil-

nehmer in der Regel dieselben Grundrechtpositionen in Rede, nämlich die Wirtschafts-

grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit, der Berufsausübungsfreiheit und der Ei-

gentumsgarantie (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG). Das Marktgeschehen stellt

sich insofern im Regelfall als ihrerseits vor staatlichen Eingriffen zu schützende Freiheits-

ausübung der Akteure dar. Staatliche Eingriffe sind jedoch dann geboten, wenn zwischen

den Akteuren ein starkes Machtgefälle besteht, das die Interpretation des Marktergebnis-

ses als Ausübung von Freiheitsrechten in Frage stellt. Dann ist es nach deutschem Ver-

fassungsrecht Aufgabe des einfachen Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositio-

15 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949, bereinigte Fassung nach BGBl. III, 100-1. 16

Dazu Wurmnest, Marktmacht, 2. Auflage 2012, S. 95ff.; Emmerich, KartR, 13. Auflage 2014, Rn. 9 bis 12; ferner auch Stellungnahme der deutschen Bundesregierung zum BKartA-Tätigkeitsbericht 2011/2012, BT-Drucks. 17/13675, S. II. 17

BVerfG, 08.02.1972, 1 BvR 170/71, BVerfGE 311, 317. 18

BVerfG, a.a.O.; 26.06.2002, 1 BvR 558/91, BVerfGE 105, 252, juris-Rn. 43; 11.07.2006, 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202, juris-Rn. 78; ferner Di Fabio, ZWeR 2007, 266, 269.

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nen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertrags-

teil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt.19 Schon über diesen

Schutz der übrigen Marktbeteiligten lassen sich zudem viele der übrigen Zielfunktionen

des Wettbewerbsrechts insgesamt20 abbilden.

Über diese privatschützende Zielrichtung hinaus begrenzt der Staat die Ausnutzung wirt-

schaftlicher Macht mit den Vorschriften der Missbrauchsverbote jedoch auch um seiner

selbst willen: Schon die Begründung der Urfassung des deutschen GWB von 1955 weist

darauf hin, dass der Missbrauch von Monopolmacht geeignet sei, die Wettbewerbsord-

nung und die Rechtsordnung an sich zu gefährden.21 Weiter führt die Begründung aus,

dass die Wettbewerbsordnung unter Einschluss der Verhinderung der missbräuchlichen

Ausnutzung der Marktstellung das wirtschaftliche Gegenstück zur politischen Demokratie

bilde.22 Diese Ausführungen können sich auf den Umstand stützen, dass in der Demokra-

tie die Akzeptanz der Rechts- und Wirtschaftsordnung wesentlich darauf gründet, dass

diese in einem weitgehenden gesellschaftlichen Konsens als gerecht und freiheitswah-

rend empfunden werden.

An dritter Stelle stehen die Vorschriften der allgemeinen Missbrauchsverbote des deut-

schen GWB auch im Dienste des allgemeinen Verbraucherschutzes und der volkswirt-

schaftlichen Optimierung der Allokation von Produktionsfaktoren.23 Beide Belange werden

beeinträchtigt, wenn durch Machtausübung das Marktergebnis verfälscht wird. Beide Be-

lange sind weitere Facetten des Normzwecks, der sich in ihnen aber nach dem Vorste-

henden gerade nicht erschöpft.24

Ein vergleichbarer Schutzauftrag wird sich aus den Art. 26 Abs. 1, Art. 27, Art. 35, Art. 96

und Art. 97 der Schweizerischen Bundesverfassung25 (im Folgenden: BV) herleiten las-

sen, wobei auch Art. 96 Abs. 2 lit. a BV, auf den das KG ja auch abgestützt ist, auf den

ökonomischen Begriff der Marktmacht abstellt und sich insofern nicht auf Maßnahmen zur

Verhinderung von Missbräuchen „marktbeherrschender“ Unternehmen i.S.v. Art. 4 Abs. 2

KG BV beschränkt.

II. Weites gesetzgeberisches Ermessen

Bei der Umsetzung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben muss dem Gesetzgeber

schon deswegen ein weit gespanntes Ermessen zukommen, weil zum Teil wiederstrei-

tende Zielfunktionen untereinander zum Ausgleich zu bringen sind: Es wurde bereits aus-

19

BVerfG, 07.09.2010, 1 BvR 2160/09, NJW 2011, 1339, juris-Rn. 34 m.w.N. – GASAG. 20

Näher Zimmer in Zimmer [Hrsg.], The Goals of Competition Law, 2012, S. 486, 496. 21

RegBegr. 1955, BT-Drucks. 1158, S. 27. 22

A.a.O., S. 22. 23

A.a.O., S. 21. 24

Zum Ganzen Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 1 bis 4. 25

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.04.1999 in der Fassung vom 18.05.2014.

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geführt, dass auf Seiten der Normadressaten der Missbrauchsverbote und der von ihrem

Verhalten betroffenen Marktteilnehmer in der Regel dieselben Grundrechtpositionen in

Rede stehen, nämlich die Wirtschaftsgrundrechte der Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14

Abs. 1 GG (hierzu oben unter I.). Auf der Ebene der wirtschaftlichen Interaktion der Markt-

teilnehmer, auf der die kartellrechtlich zu betrachtenden Konflikte entstehen, ist daher die

Freiheit zur Machtausübung ins Verhältnis zu setzen zum Schutz der Freiheit vor Macht-

ausübung. Dabei ist zu konstatieren, dass die Grundrechte stets nur ein Teilhaberecht am

Wettbewerbsprozess gewähren, nicht aber ein Recht auf Erfolg und Verbleib in diesem

Prozess26 oder gar auf Schutz vor Konkurrenz27. Ferner stehen die Wirtschaftsgrundrech-

te als Rahmengrundrechte unter dem Vorbehalt der näheren Ausgestaltung durch den

Gesetzgeber28, was diesem die Freiheit gibt, auch die anderen öffentlichen und wohl-

fahrtsökonomischen Zielfunktionen in die Definition des einfachgesetzlichen Rahmens

des Wettbewerbsprozesses einfließen zu lassen.

Zur Grenzziehung zwischen allen berührten Belangen hat sich in der deutschen Recht-

sprechung die in st. Rspr. verwandte Formel von der „auf die Freiheit des Wettbewerbs

gerichteten Zielsetzung des Gesetzes“ durchgesetzt29, die als Leitstern über den Interes-

senabwägungen steht, welche die Generalklauseln der allgemeinen und der besonderen

Missbrauchsverbote in der deutschen Praxis operabel machen. Dieser Formel kommt

häufig die Rolle eines „in dubio pro libertate“ zu, wobei die Freiheit als Freiheit von Macht-

ausübung zu verstehen ist, nicht als Freiheit zur Machtausübung. Es wäre verfehlt, hierin

eine Umkehrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu sehen, da es im konkreten An-

wendungsfall stets weniger um einen bipolaren Konflikt zwischen Staat und Bürger geht,

als um die Ordnung eines zwischen Bürgern entstandenen Konflikts durch den Staat im

dreipoligen Verhältnis nach den Regeln eines übergreifenden, an der Freiheit von Fremd-

bestimmung orientierten Ordnungsrahmens.30

Auf dieser Grundlage hat das deutsche Bundesverfassungsgericht die weit gefassten Ge-

neralklauseln der deutschen Missbrauchsverbote sowohl mit den Grundrechten als auch

mit dem Bestimmtheitsgrundsatz für vereinbar gehalten: Es stehe außer Frage, dass der

mit der Schaffung der Normen verfolgte Zweck, den freien Wettbewerb vor missbräuchli-

cher Ausübung wirtschaftlicher Machtstellungen zu schützen, zu den durch die Verfas-

sung anerkannten Belangen des Allgemeinwohls zähle, die geeignet seien, Einschrän-

kungen der Berufsausübungsfreiheit zu rechtfertigen; dadurch, dass eine wettbewerbs-

widrige Diskriminierung nur im Falle einer unbilligen Behinderung oder einer sachlich nicht

gerechtfertigten Ungleichbehandlung angenommen werden kann, werde auch dem Ver-

26

BVerfG, 26.06.2002, 1 BvR 558/91, BVerfGE 105, 252, juris-Rn. 43; zum GWB: Fuchs in Im-menga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 19 Rn. 22. 27

BVerfG, 01.02.1973, 1 BvR 426/72, BVerfGE 34,252, juris-Rn. 10 und 12. 28

Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 13. Auflage 2014, Art. 2 Rn. 13, Art. 12 Rn. 27f., Art. 14 Rn. 34f.. 29

Zuletzt BGH, 31.01.2012, KZR 65/10, WuW/E DE-R 3549 Rn. 29 – Werbeanzeigen. 30

Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 5.

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hältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend Rechnung getragen.31 Die Ausgestaltung des

persönlichen Schutzbereichs im Einzelnen hat es dabei als wirtschaftspolitische Frage

dem Gesetzgeber zugewiesen.32

III. Systematik

Seinem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag (hierzu oben unter I.) ist der deutsche Ge-

setzgeber durch eine ganze Fülle von Einzelregelungen nachgekommen, die sich wie

folgt grob systematisieren lassen:

Allgemeine Missbrauchsverbote:

gegenüber Marktbeherrschern (§ 19 Abs. 1 und 2 GWB)

gegenüber freigestellten Kartellen und Preisbindern (§ 19 Abs. 3 GWB)

gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen (§ 20 Abs. 1 und 2 GWB)

gegenüber überlegen marktmächtigen Unternehmen (§ 20 Abs. 3 und 4

GWB)

gegenüber Berufsverbänden (§ 20 Abs. 5 GWB)

Boykottverbot (§ 21 Abs. 1 GWB)

Verbot des Veranlassung zu illegalen Wettbewerbsbeschränkungen

(§ 21 Abs. 2 GWB)

Verbot des Zwangs zu legalen Wettbewerbsbeschränkungen

(§ 21 Abs. 3 GWB)

Verbot der Nachteilszufügung gegen Informanten der Kartellbehörde

(§ 21 Abs. 4 GWB)

Besondere Missbrauchsverbote:

gegenüber Strom- und Gasunternehmen (§ 29 GWB)

gegenüber Wasserversorgern (§ 31 Abs. 3 bis 5, § 31b GWB)

[Sektorale Regulierungen:

Stromnetze (EnWG)

Telekommunikationsnetze (TKG)

31

BVerfG, 09.10.2000, 1 BvR 1627/95, WuW/E DE-R 557 = 2001, 266, juris-Rn. 30 – Importarz-neimittel; 12.07.1982, 1 BvR 1239/81, WuW VG 293 – adidas. 32

BVerfG, 12.07.1982, a.a.O., bzgl. der Einbeziehung von marktstarken Unternehmen.

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Eisenbahnnetze (AEG / ERegG)

Postdienstleistungen (PostG)]

IV. Verhältnis zum EU-Kartellrecht, insb. zum Kartellverbot

Die vorstehende Auflistung zeigt, dass das deutsche Kartellrecht in seiner Regelungsdich-

te weit über das EU-Kartellrecht hinausgeht, das sich für einseitige Verhaltensweisen von

Unternehmen auf das allgemeine Missbrauchsverbot gegenüber Marktbeherrschern in

Art. 102 AEUV beschränkt.

Das Unionsrecht bietet für solche weitergehenden Regelungen Raum, der nicht nur von

der Bundesrepublik Deutschland genutzt wird (hierzu unter 1.).

Die Ausnutzung dieses Spielraums zieht die Frage nach sich nach dem Verhältnis zwi-

schen dem Unionsrecht und solchen Regelungen (hierzu unter 2. a) und b)).

An diesem Punkt stellt sich für das deutsche Recht auch das generelle Problem, in wel-

chem Verhältnis die Regelungen für relativ marktmächtige Unternehmen zum Kartellver-

bot stehen (hierzu unter 2. b)).

Schließlich ist zu diesem Punkt zu konstatieren, dass die Bundesrepublik Deutschland

zum Schutz der Vorschriften für Unternehmen mit relativer Marktmacht auch direkt Ein-

fluss auf die Ausgestaltung des EU-Kartellrechts genommen hat (hierzu unter 2. c)).

1. Raum für nationale Sonderregelungen und Beispiele

Das EU-Recht lässt Raum zu nationalen Sonderregelungen Deutschlands und anderer

Mitgliedsstaaten: Zwar normiert Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der EU-Kartellverordnung

Nr. 1/200333 (im Folgenden: VO Nr. 1/2003) sowohl für das Kartellverbot des Art. 101

AEUV als auch für die allgemeine Missbrauchsvorschrift des Art. 102 AEUV den Zwang

zu ihrer parallelen Anwendung mit dem nationalen Kartellrecht. Einen Vorrang des Uni-

onsrechts mit Sperrwirkung gegenüber weitergehendem nationalem Kartellrecht normiert

die Verordnung jedoch nur im Hinblick auf das Kartellverbot des Art. 101 AEUV, vgl. Art. 3

Abs. 2 Satz 1 VO Nr. 1/2003. Für den Bereich der Missbrauchsverbote gilt dagegen ein

solcher negativer Anwendungsvorrang nach Satz 2 dieser Regelung ausdrücklich nicht

(zur Genese nachfolgend unter 2. c)):

„Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Ho-

heitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung

einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.“

Diese Regelung wird gespiegelt in Satz 5 und 6 des Erwägungsgrundes 8 der Verord-

33

Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EG L 1.

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nung:

„Nach dieser Verordnung darf den Mitgliedstaaten nicht das Recht verwehrt wer-

den, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Wettbewerbsvorschriften zur

Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen

oder anzuwenden. Diese strengeren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften können

Bestimmungen zum Verbot oder zur Ahndung missbräuchlichen Verhaltens ge-

genüber wirtschaftlich abhängigen Unternehmen umfassen.“

Damit sind insbesondere auch die deutschen Regelungen zum Verbot des Missbrauchs

relativer Marktmacht mit dem EU-Kartellrecht vereinbar.34

Mit der Ausdehnung des Schutzes vor dem Missbrauch von wirtschaftlicher Macht auf

Fälle unterhalb der Marktbeherrschung steht der deutsche Gesetzgeber in Europa auch

nicht allein: Zwar kennen international eher wenige Rechtsordnungen spezielle Regelun-

gen gegen den Missbrauch relativer Marktmacht. Nach einer Umfrage des International

Competition Network (ICN)35 hatten unter 32 Staaten nur sieben explizite Regelungen zu

diesem Bereich, z.T. auch außerhalb der jeweiligen Wettbewerbsgesetze. In der EU ver-

fügen jedoch neben Deutschland auch andere Mitgliedsstaaten wie Österreich36 oder Ita-

lien37 über entsprechende Regelungen.38

34

Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 1. Implizit auch BGH, 12.07.2013, KVR 11/12, WuW/E DE-R 3967 Rn. 22 – Rabattstaffel. 35

Internationale Organisation der nationalen und übernationalen Kartellbehörden mit derzeit 104 Mitgliedern, Näheres im Internet unter www.internationalcompetitionnetwork.org. 36

Kartellgesetz 2005: § 4 Marktbeherrschung – Begriffsbestimmung: […]

(3) Als marktbeherrschend gilt auch ein Unternehmer, der eine im Verhältnis zu seinen Abnehmern oder Lieferanten überragende Marktstellung hat; eine solche liegt insbesondere vor, wenn diese zur Vermeidung schwerwiegender betriebswirtschaftlicher Nachteile auf die Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung angewiesen sind. 37

Legge 18 giugno 1998 n. 192: Art. 9 - Abuso di dipendenza economia

1. È vietato l'abuso da parte di una o più imprese dello stato di dipendenza economica nel quale si trova, nei suoi o nei loro riguardi, una impresa cliente o fornitrice. Si considera dipendenza econo-mica la situazione in cui una impresa sia in grado di determinare, nei rapporti commerciali con un'altra impresa, un eccessivo squilibrio di diritti e di obblighi. La dipendenza economica è valutata tenendo conto anche della reale possibilità per la parte che abbia subìto l'abuso di reperire sul mercato alternative soddisfacenti.

2. L'abuso può anche consistere nel rifiuto di vendere o nel rifiuto di comprare, nella imposizione di condizioni contrattuali ingiustificatamente gravose o discriminatorie, nella interruzione arbitraria delle relazioni commerciali in atto.

3. Il patto attraverso il quale si realizzi l'abuso di dipendenza economica è nullo. Il giudice ordinario competente conosce delle azioni in materia di abuso di dipendenza economica, comprese quelle inibitorie e per il risarcimento dei danni. […] 38

ICN-Report on Abuse of Superior Bargaining Power, Kyoto-Conference, 14.-16.06.2008, S. 5 ff., 38; zu Europa auch Taube, Das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot für “relative marktstar-ke” Unternehmen, Diss. 2005, S. 167 ff.

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2. Verhältnis nationaler Sonderregelungen über relative Marktmacht

zum EU-Kartellrecht

Dieser Spielraum für den nationalen Gesetzgeber eröffnet auch Raum für Regelungen

über relative Marktmacht, den der deutsche Gesetzgeber durch Beibehaltung der Rege-

lungen des § 20 Abs. 1 und 2 GWB genutzt hat. Mit der Nutzung dieses Spielraums stel-

len sich Fragen nach den Wechselwirkungen insb. von § 20 Abs. 1 und 2 GWB mit dem

EU-Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV einerseits (hierzu unter b)) und dem EU-

Kartellverbot des Art. 101 AEUV andererseits (hierzu unter c)). Dabei ist zu konstatieren,

dass die Bundesrepublik Deutschland in diesem Punkt auch direkt Einfluss auf die Aus-

gestaltung des EU-Kartellrechts genommen hat (hierzu unter d)).

a) Wechselwirkungen mit dem Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV

Nationale Regelungen, die Ge- und Verbote nicht an das Vorhandensein einer marktbe-

herrschenden Stellung „erga omnes“ anknüpfen, sondern wie das Konzept der relativen

Marktmacht lediglich an das Vorhandensein eines Machtgefälles „inter partes“, sind aus

zwei Gründen nicht geeignet, zu Konflikten mit dem Missbrauchsverbot des Art. 102

AEUV zu führen: Zum einen ist das Missbrauchsverbot des EU-Kartellrechts für EU-

Mitgliedstaaten zwar mit einem Anwendungszwang aber nicht mit einer Sperrwirkung ge-

genüber weitergehenden nationalen Regelungen ausgestattet (hierzu oben unter 1.). Zum

anderen wählen die Regelungen eben einen anderen Ansatzpunkt für die persönlichen

Anwendungsvoraussetzungen und damit einen anderen Kreis von Normadressaten aus.

Insofern sei lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt, dass nach Auffassung der deut-

schen Rechtsprechung z.T. auch solche Fälle unter Art. 102 AEUV gefasst werden kön-

nen, die nach der Systematik der deutschen Missbrauchsverbote und ihrer Anwendungs-

tradition eher als Fälle der relativen Marktmacht i.S.d. § 20 Abs. 1 GWB betrachtet wür-

den, etwa in den Fallgruppen der Spitzengruppen- und Spitzenstellungsabhängigkeit39,

was allerdings eine entsprechend flexible Marktabgrenzung voraussetzt.

b) Wechselwirkungen mit dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV

Komplexer sind dagegen die Wechselwirkungen zwischen nationalen Regelungen gegen

den Missbrauch relativer Marktmacht und dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV: So er-

fasst das Konzept der relativen Marktmacht „inter partes“ gerade zahlreiche vertikale Kon-

fliktsituationen, in denen zwischen den Parteien gleichzeitig eine Vereinbarung i.S.d.

Art. 101 AEUV und ein entsprechendes Machtgefälle i.S.d. § 20 Abs. 1 und 2 GWB be-

stehen. Die deutschen Regelungen wie auch Art. 4 Abs. 2bis KGneu setzen eine (Vertikal-)

Vereinbarung im Wortlaut voraus („[…] soweit von ihnen andere Unternehmen als Anbie-

ter oder Nachfrager […] abhängig sind […]“) und erfassen damit Streitfragen, die aus der

Anbahnung, der Beendigung oder dem Inhalt von Vertikalverträgen entstehen. Die An-

wendung der nationalen Regelungen über relative Marktmacht kann in diesen Fällen dazu

39

Z.B. BGH, 03.03.2009, KZR 82/07, WuW/E DE-R 2708 Rn. 32 – Reisestellenkarte unter Hinweis auf EuGH, 06.04.1995 – C-241/91 P »Magill«, Slg. 1995, I-743 Rn. 47.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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führen, den Nicht-/Abschluss oder den Inhalt von Vereinbarungen als missbräuchlich ein-

zustufen, obwohl das entsprechende Verhalten unter dem Aspekt des Art. 101 AEUV

nicht zu beanstanden wäre, sei es, weil die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV

nicht vorliegen oder weil die Voraussetzungen einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3

AEUV oder einer Gruppenfreistellungsverordnung erfüllt sind. Daraus kann sich in EU-

Mitgliedstaaten ein Konflikt mit der Vorrangregelung des Art. 3 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 er-

geben.

Wie eventuelle Konflikte aufzulösen sind, ist im deutschen Recht noch nicht vollständig

geklärt: Schon rein faktisch wird in den allermeisten Fällen die Vereinbarung und Durch-

setzung eines unter dem Aspekt des Kartellverbots freigestellten Vertriebssystems auch

der Interessenabwägung nach § 20 Abs. 1, § 19 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 1 GWB standhalten,

weil in ihrem Rahmen die Wertungen von Art. 101 Abs. 1 und insbesondere Abs. 3 AEUV

von hoher Bedeutung sind. So werden z.B. Unternehmen, welche die Kriterien eines frei-

gestellten selektiven Vertriebssystems nicht erfüllen, dazu auch über diese Regelung im

Regelfall keinen Zugang erhalten können. Strittig bleibt dagegen die Frage, ob sich inner-

halb freigestellter Vertragssysteme schon generell die entsprechende Prüfung der Verein-

barungen nach § 20 Abs. 1 GWB erübrigt, weil insoweit die Sperrwirkung des Gemein-

schaftsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VO Nr. 1/2003 eingreift. Diese Frage wird in

Deutschland von der wohl h.L. bejaht.40 Der Bundesgerichtshof konnte die Frage bislang

offen lassen41, was zeigt, dass ihre theoretische Bedeutung wegen des weitgehenden

Gleichlaufs der Wertungen größer ist als ihre praktische.

c) Deutsche Position zur VO Nr. 1/2013 („Deutsche Klausel“)

Instruktiv für die Zwecke dieser Untersuchung ist schließlich der Umstand, dass die Aus-

nahme vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber strengeren nationalen Rege-

lungen zur Ahndung einseitiger Handlungen in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 VO Nr. 1/2003 und

dem Erwägungsgrund 8 (s.o. unter 1.) auch als „Deutsche Klausel“ bezeichnet wird42, weil

sie im Zuge der Verhandlungen zu dieser Verordnung von der deutschen Seite maßgeb-

lich propagiert worden war, und zwar gerade mit dem Ziel, die deutschen Regelungen und

40

Sura in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, Art. 3 VO Nr. 1/2003, Rn. 24; Böge/Bardong in MüKo-WeR, 1. Auflage 2008, Art. 3 VO1/2003 Rn. 100 ff.; Wirtz, WuW 2003, 1039, 1044; differen-zierend Westermann, in MüKo-WeR, 1. Auflage 2008, § 20 Rn. 86; Rehbinder, in Immen-ga/Mestmäcker, EU-KartR II, 5. Auflage 2012, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 37; Harte-Bavendamm/Kreutzmann, WRP 2003, 682, 688 und Taube, Das Diskriminierungs- und Behinde-rungsverbot für “relative marktstarke” Unternehmen, Diss. 2005, S. 165: keine Prüfung der Verein-barung, nur ihrer Handhabung; a.A.: OLG München, 08.01.2009, U (K) 1501/08, n.v., S. 16; Zuber in Loewenheim/Meessen/Risenkampff, KartR, 2. Auflage 2009, Art. 3 VerfVO Rn. 10; Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 8, § 19 Rn. 240; Lübbert in Wiedemann, Hdb. KartR § 24 Rn. 5, § 27 Rn. 18; Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 72; Glöckner, WRP 2003, 1327, 1337; in genereller Form auch Goette, ZWeR 2003, 135, 151; Immenga, ZWeR 2008, 3, 11; Wurmnest, Marktmacht, 2. Auflage 2012, S. 81 soweit Vereinbarungen einseitig den Interessen des Normad-ressaten dienen. 41

BGH, 11.11.2008, KVR 17/08, WuW/E DE-R 2514 Rn. 14 – Bau und Hobby; 07.12.2012, KVR 11/12, WuW/E DE-R 3967, Rn. 22 – Rabattstaffel. 42

Z.B. Rittner/Dreher/Kulka, Wettbewerbs- und KartellR, 8. Auflage 2014, Rn. 783.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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die deutsche Fallpraxis zu den Missbrauchsverboten gegenüber Unternehmen mit relati-

ver oder überlegener Marktmacht in § 20 GWB beibehalten zu können.43 Dies unter-

streicht den hohen Grad des rechtspolitischen Interesses am Beibehalt dieser Regelun-

gen in Deutschland.

C. Bedeutung und Wirkung von § 20 GWB im System

der deutschen Missbrauchsverbote

Aufbauend auf der vorangegangenen Betrachtung von Grundlagen und System der deut-

schen Missbrauchsverbote wird nun im dritten Schritt der Untersuchung die spezifische

Bedeutung und Wirkung von § 20 GWB in diesem System herausgearbeitet.

Dabei ist zunächst darzustellen, auf welche Weise sich speziell die Regelungen des § 20

GWB in die Erfüllung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags der deutschen Miss-

brauchsverbote einordnen lassen (hierzu unter I.).

Im Anschluss daran ist anhand der Einzelregelungen in § 20 GWB und ihrer jeweiligen

Genese zu zeigen, wie der deutsche Gesetzgeber die Vorschrift genutzt hat, um durch

Neuregelungen, Änderungen und Ergänzungen auf wechselnde wettbewerbspolitische

Problemstellungen zu reagieren (hierzu unter II.).

Auf dieser Grundlage ist dann zusammenfassend die wettbewerbspolitische Bedeutung

des Instruments des § 20 GWB zu bestimmen (hierzu unter III.).

Abschließend ist – im Vorgriff auf die Darstellung der Fallpraxis unter D. – die praktische

Bedeutung der Vorschrift zu betrachten (hierzu unter IV.).

I. § 20 GWB als Instrument zur Erfüllung des verfassungsrechtlichen

Schutzauftrags

Es wurde oben dargestellt, dass das deutsche Verfassungsrecht den deutschen Gesetz-

geber dazu auffordert, zum Schutz der wirtschaftlichen Freiheitsrechte unter Wahrung

eines angemessenen Verhältnisses zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und damit

auch zur Wahrung der Akzeptanz der Rechts- und Wirtschaftsordnung an sich Regelun-

gen „zur Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ zu treffen (un-

ter B. I.). Sowohl dieser Wortlaut der Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG als

auch die Wirtschaftsgrundrechte haben nur das reine Vorhandensein wirtschaftlicher

Macht zur Voraussetzung, ohne dabei in irgendeiner Weise zwischen den verschiedenen

Spielarten von Marktmacht zu unterscheiden. Dies deckt sich mit dem Telos der Wirt-

43

Rehbinder, in Immenga/Mestmäcker, EU-KartR II, 5. Auflage 2012, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 10 m.w.N.; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartR, 3. Auflage 2014, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 10; Hirsbrun-ner/Schwarz, FS Bechtold, 2006, S. 171, 181.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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schaftsgrundrechte, denn der Schutzbedarf eines Grundrechtsträgers wird in jedem Falle

des Missbrauchs einer ihm gegenüber bestehenden wirtschaftlichen Machtstellung ausge-

löst – unabhängig davon, ob diese Machtstellung auch gegenüber anderen besteht. Die

kartellrechtliche Differenzierung zwischen Marktbeherrschung im Sinne einer Marktmacht

„erga omnes“ und relativer oder überlegener Marktmacht im Sinne einer Marktmacht „inter

partes“ ist damit dem Verfassungsrecht fremd. Eine reine Konzentration des einfachen

Rechts auf den Missbrauch absoluter Marktmacht liefe daher Gefahr, aus verfassungs-

rechtlicher Sicht problematische Schutzlücken zu lassen.

Die Sonderregelungen des § 20 GWB im Hinblick auf relative Marktmacht (Abs. 1 und 2),

überlegene Marktmacht (Abs. 3 und 4) und wirtschaftliche Machtstellungen von Verbän-

den (Abs. 5) erscheinen daher zumindest im deutschen Rechtsrahmen als verfassungs-

rechtlich folgerichtige Komplemente zu den allgemeinen, zum international üblichen Stan-

dard einer Wettbewerbsordnung rechnenden Missbrauchsverboten zu Lasten marktbe-

herrschender Unternehmen44. Sie erfassen Gefährdungen, die gleichsam „unter dem Ra-

dar“ solcher Regelungen bleiben würden, ohne dass sie in irgendeiner Weise weniger

geeignet wären, individuelle Freiheitsrechte zu verletzen und deren kollektiven Nutzen für

die Wirtschaftsordnung insgesamt zu untergraben.

Gleichwohl ist zu beachten, dass die Ausgestaltung der Regelungen zur Verhütung des

Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen nicht schon in den Einzelheiten verfas-

sungsrechtlich vorgeprägt ist. Vielmehr obliegt es als wirtschaftspolitische Fragestellung

der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, wie durch den kartellrechtlichen Ord-

nungsrahmen die genaueren Grenzziehungen zwischen den Grundrechtsräumen der

Marktteilnehmer vorzunehmen sind.45

II. Nutzung von § 20 GWB durch den deutschen Gesetzgeber

Von dieser gesetzgeberischen Freiheit zur Grenzziehung in den Einzelheiten hat der

deutsche Gesetzgeber durch das Instrument des § 20 GWB in den vergangenen Jahr-

zehnten regen Gebrauch gemacht, um durch Neuregelungen, Änderungen und Ergän-

zungen auf wechselnde wettbewerbspolitische Problemstellungen zu reagieren.

Dies soll im Folgenden belegt werden anhand der Gesetzgebungsgeschichte zu den Re-

gelungen des § 20 GWB gegenüber „relativ marktmächtigen“ Unternehmen (§ 20 Abs. 1

und 2 GWB, hierzu unter 1.) und gegenüber „überlegen marktmächtigen“ Unternehmen

(§ 20 Abs. 3 und 4 GWB, hierzu unter 2.).

44

Überblick über die wichtigsten Jurisdiktionen in ICN-Report on the Objectives of Unilateral Con-duct Laws, Assessment of Dominance/Substantial Market Power, and State-Created Monopolies, Mai 2007, Annex E, S. 95, im Internet unter www.internationalcompetitionnetwork.org. 45

BVerfG, 12.07.1982, 1 BvR 1239/81, WuW VG 293 – adidas.

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1. Genese und Entwicklung der Vorschriften gegenüber „relativ Marktmächtigen“

(§ 20 Abs. 1 und 2 GWB)

Die Urfassung des deutschen GWB kannte keine Verbote des Missbrauchs relativer Marktmacht,

ebenso wie die Vorgängerregelungen aus der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik Deutsch-

land.46

a) 2. GWB-Novelle 1973: Ölkrise und Aufhebung der Markenwarenpreisbindung

Die erste Regelung zur Unterbindung des Missbrauchs relativer Marktmacht wurde als § 26 Abs. 2

Satz 2 GWB durch die 2. GWB-Novelle im Jahre 1973 in das GWB aufgenommen.47

Sie verdankte

ihre Existenz zum einen der Ölkrise im Gefolge des Yom-Kippur-Krieges 1973, zum anderen einer

wettbewerbspolitischen Neubewertung der Preisbindung des Handels durch die Hersteller von

Markenartikeln, die bislang von der Anwendung des deutschen Kartellverbots ausgenommen wor-

den war (§ 16, § 17 GWB 1958).

Bereits in den 1960er Jahren war die Zulässigkeit der Preisbindung von Markenartikeln – und da-

mit letztlich auch die Machtverteilung zwischen den Herstellern von Markenprodukten und dem

Handel – Gegenstand der wettbewerbspolitischen Debatte, wobei in diesem Jahrzehnt die Befür-

worter der Preisbindung die Oberhand behielten.48

Anfang der 1970er Jahre wurde das Thema

jedoch mit anderen Vorzeichen vom Gesetzgeber wieder aufgegriffen.

Dabei stand allerdings der erste Vorschlag zur Erstreckung des Behinderungs- und Diskriminie-

rungsverbots auf relativ marktmächtige Unternehmen noch nicht in einem Zusammenhang mit dem

Problem der Preisbindung49

, sondern sollte das in der Ölkrise aufgetretene Problem der mangel-

bedingten Abhängigkeit von Mineralölanbietern ohne Zugang zu eigenen Raffineriekapazitäten

lösen50

, und zwar durch eine dem Diskriminierungsverbot zu entnehmende Repartierungspflicht bei

Mangellagen.51

Später wurde indes auch der Nexus zur Aufhebung der Markenwarenpreisbindung zu einem tra-

genden Element der Rechtfertigung der Norm. So führte der Bericht des Wirtschaftsausschusses

des Deutschen Bundestages aus:

„Die Markenwarenpreisbindung ist überlebt. Die Bindung der Abnehmer von Markenwaren

an einheitliche, vom Hersteller festgelegte Abgabepreise passt nicht mehr in die heutige

Volkswirtschaft, die über einen leistungsfähigen Handel verfügt und in der auch der Ver-

braucher kritischer und beweglicher geworden ist. Überdies macht die zunehmende Ver-

flechtung der europäischen Konsumgütermärkte die deutsche Markenwarenpreisbindung

immer problematischer. […]

46

Taube, Das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot für „relativ marktstarke“ Unternehmen, Diss., 2006, S. 28 bis 30. 47

Gesetz vom 03.08.1973, BGBl. I, S. 917. 48

Vgl. etwa der ausf. Bericht der Bundesregierung über Änderungen des GWB gem. BT-Drucks. 3886 der 3. Wahlperiode vom 22.08.1962, BT-Drucks. IV/617, S. 21 bis 41. 49

RegBegr. vom 18.08.1971, BT-Drucks. VI/2520, S. 8, 34. 50

Taube, Das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot für „relativ marktstarke“ Unternehmen, Diss., 2006, S. 31. 51

Vgl. Bericht des Wirtschafsausschusses des Deutschen Bundestages vom 13.06.1973, BT-Drucks. 7/765, S. 4.

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Nach Wegfall der Markenpreisbindung muss sichergestellt werden, daß marktmächtige

Hersteller von Markenwaren nicht durch selektiven Vertrieb faktisch Preisbindungen auf-

rechterhalten. In diesem Zusammenhang hat die Verschärfung des Diskriminierungsver-

bots (§ 26 Abs. 2 Satz 2) besonderes Gewicht.“52

Ferner wurde in dem Bericht gegenüber dem ersten Regierungsentwurf noch einmal klargestellt,

dass die Regelung auch Fälle erfassen solle, in denen der Normadressat nicht marktbeherrschend

ist.53

b) 4. GWB-Novelle 1980: Problem der Nachfragemacht

Im Zuge der 4. GWB-Novelle von 1980 wandte sich der Gesetzgeber dann dem neuen wettbe-

werbspolitischen Phänomen der Nachfragemacht des Handels zu, in dem sich die bis Ende der

1970er Jahre erfolgte Verschiebung der Gewichte zwischen Herstellern und Handel wiederspiegel-

te – nicht nur aber sicherlich auch durch die vorangegangene Abschaffung der Markenwarenpreis-

bindung. Nachdem die deutsche Monopolkommission als wissenschaftliche Beraterin der deut-

schen Gesetzgebungsgremien zu dieser Frage 1977 ein Sondergutachten vorgelegt hatte54

, nahm

sich auch der Gesetzgeber im Zuge der 4. GWB-Novelle des Themas an.

Der Gesetzgeber stellte fest, dass sich die Anwendungsfälle der im Zuge der 2. GWB-Novelle 1973

erweiterten Missbrauchsaufsicht ausschließlich auf Fälle des Missbrauchs von Angebotsmachte

bezogen hatten, obwohl die Regelung Angebots- und Nachfragemacht gleich behandele.55

Die

Regierungsbegründung führte aus:

„Im Bereich des GWB haben sich Schwierigkeiten der wirksamen Bekämpfung machtbe-

dingter Wettbewerbsverzerrungen vor allem bei solchen Praktiken gezeigt, die von der

Nachfrageseite verursacht werden. […] Anbieter, die von einem starken Nachfrager ab-

hängig sind, haben naturgemäß eine besonders ausgeprägte Scheu, sich an die Kartellbe-

hörden zu wenden, da sie dann den Abbruch der Geschäftsbeziehungen durch den Nach-

frager befürchten müssen.“56

Zur Behebung dieser Probleme wurde dann im aus der Novelle hervorgehenden GWB 198057

die

Anwendung der Missbrauchsaufsicht nach § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB zum einen durch eine Vermu-

tung in Satz 3 für das Bestehen relativer Marktmacht von Nachfragern erleichtert (heute § 20

Abs. 1 Satz 2 GWB). Zum anderen gelangte als § 26 Abs. 3 GWB 1978 ein Vorläufer des „Anzapf-

verbots“ in das Gesetz (heute § 20 Abs. 2 i.V.m. § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 GWB), wonach es relativ

marktmächtigen Nachfragern verboten war, Anbieter dazu zu veranlassen, ihnen „Vorzugsbedin-

gungen“ zu gewähren.

c) 5. GWB-Novelle 1989: Nachsteuerungen bei der Nachfragemacht

Das Problem weiter zunehmender Nachfragemacht, insbesondere des Lebensmitteleinzelhandels,

52

Bericht vom 13.06.1973, BT-Drucks. 7/765, S. 4, ähnlich auch S. 10. 53

A.a.O., S. 10, linke Spalte oben. 54

7. Sondergutachten „Missbräuche der Nachfragemacht und Möglichkeiten ihrer Kontrolle im Rahmen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“, Baden-Baden, 1977. 55

RegBegr. vom 27.09.1978, BT-Drucks. 8/2136, S.15, rechte Spalte. 56

A.a.O., S. 16, linke Spalte. 57

BGBl. I 1980, S. 1761.

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führte ein Jahrzehnt später zu neuerlichen Nachsteuerungen des Gesetzgebers. In der Regie-

rungsbegründung hieß es dazu:

„Anlass zu begrenzten Korrekturen des Kartellgesetzes gibt die Entwicklung im Handel,

insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel. Wenn auch gegenwärtig auf der Nachfrager-

wie auf der Anbieterseite des Lebensmittelhandels wesentlicher Wettbewerb herrscht, so

bereiten doch Ausmaß und Geschwindigkeit der Konzentrationsentwicklung im Lebensmit-

teleinzelhandel Sorgen“.58

Diesen Sorgen trug dann der Gesetzgeber zum einen durch entsprechende Ergänzungen im Be-

reich der Fusionskontrolle Rechnung. Zum anderen schränkte er den persönlichen Schutzbereich

der Regelungen über relative Marktmacht dahingehend ein, dass sich nur noch kleine und mittlere

Unternehmen auf das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 26 Abs. 2 GWB sollten

berufen können (KMU-Klausel, entsprechend dem heutigen § 20 Abs. 1 GWB).59

Die Regierungs-

begründung führt dazu aus:

„Das Diskriminierungsverbot des § 26 Abs. 2 Satz 2, dem relativ marktstarke Unternehmen

unterliegen, wird auf das Verhalten gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen einge-

schränkt. Dies hat insbesondere für die Belieferungspflicht von solchen nicht marktbeherr-

schenden Unternehmen Bedeutung, von denen bestimmte Nachfrager mangels Aus-

weichmöglichkeiten abhängig sind.

Da bei den heutigen Marktrealitäten im Verhältnis zwischen nicht marktbeherrschenden

Herstellern in der Industrie und großen Unternehmen des Handels eine Belieferungspflicht

nicht mehr notwendig erscheint, soll mit der Gesetzesänderung das Verbot auf das Maß

des Erforderlichen eingeschränkt werden. Zugleich sollen nur relativ marktstarke Normad-

ressaten gegenüber großen Unternehmen wieder ihre volle Gestaltungsfreiheit insbeson-

dere beim Absatz erhalten.“60

Weiterhin legt die Regierungsbegründung dar, dass die Regelungen über relative Marktmacht oh-

nehin vornehmlich auf Belieferungspflichten der Herstellerseite gezielt hätten und die nicht-

markbeherrschenden Hersteller auch ohne gesetzliche Regelung einem ökonomischen Druck zu

möglichst weitgehender Nutzung aller Absatzkanäle unterlägen. Dementsprechend hätten die

Handelsunternehmen auch ohne entsprechende Schutzvorschriften hinreichende Möglichkeiten,

sich zu marktgerechten Konditionen bei anderen Anbietern einzudecken, sofern nicht Marktbeherr-

schung vorliege.61

d) 7. GWB-Novelle 2005, Preismissbrauchsnovelle 2007, 8. GWB-Novelle 2013:

Nachsteuerungen beim Anzapfverbot

Da sich das Problem zunehmender Nachfragemacht, insbesondere im Bereich des Lebensmitte-

leinzelhandels, als durchaus persistent erwies, sah der Gesetzgeber seit Mitte des letzten Jahr-

zehnts Anlass zu einem weiteren Nachsteuern bei dem 1980 im Zuge der 4. GWB-Novelle einge-

führten Anzapfverbot (Verbot, Anbieter zur Gewährung von „Vorzugsbedingungen“ zu veranlassen,

58

RegBegr. vom 30.05.1989, BT-Drucks. 11/4610, S. 10. 59

Gesetz vom BGBl. I 1990, S. 235. 60

A.a.O., S. 11f. unter dd). 61

A.a.O., S. 21f. unter bb).

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hierzu oben unter b)). In der Praxis hatte sich gezeigt, dass die tatbestandliche Fassung der Norm

ihre Anwendung mit kaum zu lösenden Nachweisproblemen befrachtet hatte. Mit der 7. GWB-

Novelle 200562

nahm sich der Gesetzgeber auf Betreiben des Deutschen Bundesrats – gegenüber

einem zurückhaltenden Deutschen Bundestag – des Ziels an, die anwendungsfeindlichen Tatbe-

standmerkmale gangbar zu machen (Gleichstellung von „auffordern“ und „veranlassen“, Ersetzung

von „Vorzugsbedingung“ durch „Vorteil“).63

Eine weitere bedeutende Änderung erfolgte dann – zunächst auf fünf Jahre befristet – durch die

sog. „Preismissbrauchsnovelle 2007“64

: Durch sie entfiel die Beschränkung des Kreises der vom

Anzapfverbot geschützten Anbieter auf kleine und mittlere Unternehmen, die sich ebenfalls in der

Anwendung als problembehaftet erwiesen hatte.65

Diese befristete Erleichterung wollte der Regie-

rungsentwurf der 8. GWB-Novelle 2012 zunächst ersatzlos auslaufen lassen, da es wenige An-

wendungsfälle gegeben habe und große Unternehmen sich in der Regel selbst zu helfen wüss-

ten.66

Damit konnte sich die deutsche Bundesregierung indes nicht durchsetzen. Die Regelung

wurde im weiteren Gesetzgebungsverfahren vom Vermittlungsausschuss wieder ins Gesetz geho-

ben, und zwar ohne erneute Befristung als Dauerregelung.67

2. Genese und Entwicklung der Vorschriften gegenüber „überlegen Marktmächti-

gen“ (§ 20 Abs. 3 und 4 GWB)

Ggf. noch eindrucksvoller lässt sich an den Bestimmungen über die Missbrauchsverbote gegen-

über überlegen marktmächtigen Unternehmen in § 20 Abs. 3 und 4 GWB zeigen, in welcher Weise

der deutsche Gesetzgeber in § 20 GWB von seiner Freiheit zur wettbewerbspolitischen Grenzzie-

hung in Umsetzung des grundlegenden verfassungsrechtlichen Schutzauftrags Gebrauch gemacht

hat, um durch Neuregelungen, Änderungen und Ergänzungen auf wechselnde wettbewerbspoliti-

sche Problemstellungen zu reagieren.

a) 4. GWB-Novelle 1980: Schließen einer horizontalen Schutzlücke

Das erste Verbot eines Missbrauchs überlegener Marktmacht gelangte als § 37a Abs. 3 GWB

durch die 4. GWB-Novelle 198068

ins Gesetz. Während der Regierungsentwurf noch keine ent-

sprechende Regelung enthalten hatte, forderte der Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundes-

tages eine Möglichkeit der Kartellbehörde, einem Unternehmen mit gegenüber kleinen und mittle-

ren Wettbewerbern überlegener Marktmacht ein Verhalten zu untersagen, das diese unbillig behin-

dert und geeignet ist, den Wettbewerb nachhaltig zu beeinträchtigen.69

Unter der Überschrift „Si-

cherung des Leistungswettbewerbs“ führte der Wirtschaftsausschuss aus:

„Eine deutliche Verstärkung der kartellgesetzlichen Vorschriften gegenüber einem macht-

bedingten Verdrängungswettbewerb ist nach Auffassung des Ausschusses ein besonderer

62

Neubekanntmachung vom 15.07.2005, BGBl. I S. 2114. 63

Zu den Einzelheiten Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 152. 64

Vom 18.12.2007, BGBl. I S. 2966. 65

An ihr scheiterte u.a. die Verfügung des Bundeskartellamts im Fall BGH, 24.09.2002, KVR 8/01, WuW/E DE-R 984, 987 – Konditionenanpassung. 66

RegBegr. vom 31.05.2012, BT-Drucks. 17/9852, S. 24, linke Spalte. 67

BT-Drucks. 17/13720, S. 2. 68

BGBl. I 1980, S. 1761. 69

BT-Drucks. 8/3690, S. 9f..

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Schwerpunkt der 4. GWB-Novelle, um die Marktchancen kleiner und mittlerer Unterneh-

men im Wettbewerb mit Großunternehmen besser zu sichern. In den vergangenen Jahren

haben sich in Handel, Handwerk und Industrie verstärkt die Gefahren gezeigt, die sich für

den Wettbewerb auf dem Markt aus den wettbewerbsverzerrenden missbräuchlichen Ver-

haltensweisen marktmächtiger Unternehmen ergeben können.“70

Dem Wirtschaftsausschuss ging es dabei allein darum, eine von ihm gesehene Schutzlücke bei

Behinderungen von kleinen und mittleren Unternehmen im Horizontalverhältnis zu Großunterneh-

men zu schließen, wo es für die Anwendung der Regelungen über relative Marktmacht an einer

Vertikalbeziehung fehlte und zudem im Horizontalverhältnis die Großunternehmen nicht erga om-

nes marktbeherrschend seien.71

b) 5. GWB-Novelle 1989: erste Konkretisierung

Da die Tatbestandsmerkmale des § 37a Abs. 3 GWB 1980 zahlreich und an Vagheit schwerlich zu

überbieten waren, erfolgte mit der 5. GWB-Novelle 1989 eine Entschlackung und Konkretisierung

des Tatbestandes; zudem wurde die Norm in § 26 Abs. 4 GWB 1989 verlagert. 72

Die Regierungsbegründung nahm eine inhaltliche Konkretisierung der Norm auch insofern vor, als

sie erstmals konkrete intendierte Anwendungsfälle beim Namen nannte, nämlich die Behinderung

von kleinen und mittleren Wettbewerbern durch Angebote unter Einstandspreis und Rabattsprei-

zungen.73

Angebote unter Einstandspreis waren auch zuvor vorrangig Gegenstand der kartellbe-

hördlichen Verfügungen nach § 37a Abs. 3 GWB 1980 gewesen.74

c) 6. GWB-Novelle 1998: zweite Konkretisierung durch erstes Regelbeispiel

(Angebot unter Einstandspreis)

Nachdem auch diese Normfassung von der Rechtsprechung einschränkend ausgelegt worden

war75

, erhob der Gesetzgeber das Angebot unter Einstandspreis im Zuge der 6. GWB-Novelle

1998 als damaligen § 20 Abs. 4 Satz 2 GWB 1998 in den Rang eines Regelbeispiels des Miss-

brauchs überlegener Marktmacht.76

d) Preismissbrauchsnovelle 2007 – I: Verschärfung des Regelbeispiels für Angebot

von Lebensmitteln unter Einstandspreis

Obwohl die Norm danach deutlich effektiver angewandt wurde77

, brachte die „Preismissbrauchsno-

velle“ 2007 eine weitere Verschärfung insoweit mit sich, als für Angebote von Lebensmitteln unter

Einstandspreis das einschränkende Tatbestandsmerkmal des „nicht nur gelegentlichen“ Angebots

gestrichen wurde.78

Die Gesetzesbegründung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bun-

destages führt dazu aus:

70

A.a.O., S. 28, rechte Spalte unten. 71

A.a.O., S. 29, beide Spalten. 72

Gesetz vom BGBl. I 1990, S. 235. 73

BT-Drucks. 11/4610,S. 23 rechte Spalte a.E., S. 24 oben. 74

Z.B. BKartA, 05.05.1983, WuW/E BKartA 2029 – Coop Bremen. 75

BGH, 04.05.1995, KZR 34/93, WuW/E BGH 2977 – Hitlisten-Platten. 76

BGBl. I 1998, S. 2546. 77

Nachweise bei Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 97. 78

Gesetz vom 18.12.2007, BGBl. I S. 2966.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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„Durch das grundsätzliche Verbot, Lebensmittel unter Einstandspreis zu verkaufen, sollen

der ruinöse Preiswettbewerb im Lebensmittelhandel begrenzt und kleinere und mittlere Le-

bensmittelhändler vor unbilligen Verdrängungspraktiken marktstarker Handelskonzerne

wirksamer geschützt werden.“79

Im Zuge der dadurch erforderlichen Differenzierung zwischen allgemeinen Angeboten unter dem

Einstandspreis und solchen bei Lebensmitteln erhielt die Regelung des § 20 Abs. 3 GWB ihre heu-

tige, recht unhandliche Fassung. Die Verschärfung der Norm erfolgte zunächst befristet, sie wurde

aber im Zuge der 8. GWB-Novelle 2013 erneut verlängert.80

Gleichwohl erfolgte in der 8. GWB-Novelle 2013 keinerlei Reaktion des Gesetzgebers auf den Um-

stand, dass durch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf im Jahre 2009 und deren

Bestätigung durch den Bundesgerichtshof81

der Anwendungsbereich des Regelbeispiels in den

meisten Fallgestaltungen faktisch fortgefallen ist82

.

e) Preismissbrauchsnovelle 2007 – II: dritte Konkretisierung durch zweites

Regelbeispiel (Preis-Kosten-Schere)

In einem späten Stadium der Preismissbrauchsnovelle 2007 wurde das Verbot des Missbrauchs

überlegener Marktmacht ferner durch das Regelbeispiel der Preis-Kosten-Schere ergänzt (§ 20

Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 GWB). Das Regelbeispiel verbietet es einem Unternehmen mit überlegener

Marktmacht, das gleichzeitig Vorlieferant seiner kleineren und mittleren Wettbewerber ist, mit den

eigenen Endkundenpreisen die Abgabepreise an diese Wettbewerber zu unterschreiten. Die Ände-

rung erfolgte zunächst befristet, sie wurde aber im Zuge der 8. GWB-Novelle 201383

ohne erneute

Befristung in das Gesetz übernommen.

Die Gesetzesbegründung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages zur Preis-

missbrauchsnovelle 2007 führt keine intendierten Anwendungsfälle an.84

Rechtstatsächlich waren

jedoch der Auslöser für das neue Regelbeispiel die Schwierigkeiten der Bekämpfung von Preis-

Kosten-Scheren im Bereich des Vertriebs von Kraftstoffen, die sich im Verfahren „Freie Tankstel-

len“ gezeigt hatten.85

Das Eingreifen des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages

wurde dabei einer Initiative des Bundesverbandes freier Tankstellen (BfT) auf der „Zielgeraden“

des Gesetzgebungsverfahrens zugeschrieben.

III. Wettbewerbspolitische Bedeutung des Instruments des § 20 GWB

Die vorstehenden Ausführungen zur Genese und zur Normgeschichte der Regelungen

des § 20 Abs. 1 bis 4 GWB für Unternehmen mit relativer bzw. überlegener Marktmacht

zeigen deutlich die hohe Bedeutung des Instruments des § 20 GWB für die deutsche

79

Bericht vom 14.11.2007, BT-Drucks. 17/7156, S. 8. 80

Bis zum 31.12.2017, vgl. Art. 2, Art. 7 Satz 2 der 8. GWB-Novelle, BGBl. I 2013, S. 1747, 1749. 81

OLG Düsseldorf, 12.11.2009, VI-2 Kart 9/08 (OWi), BB 2009, 2489 juris-Rn. 64ff.; BGH, 09.11.2010, KRB 57/10 – ohne Begründung. 82

Näher dazu Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 131, 139. 83

BGBl. 2013 I, S. 1738. 84

Bericht vom 14.11.2007, BT-Drucks. 17/7156, S. 10f.. 85

OLG Düsseldorf, 13.02.2002, Kart 16/00 (V), WuW/E DE-R 829 – Freie Tankstellen.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Wettbewerbspolitik. Denn die Normgeschichte belegt eindrucksvoll, dass der deutsche

Gesetzgeber keine Scheu an den Tag gelegt hat, den ihm von der Verfassung erteilten

Schutzauftrag und Freiraum (hierzu vorstehend unter I.) zu nutzen, wann immer er dies

zur Lösung neuauftretender wettbewerbspolitischer Problemstellungen für sachdienlich

hielt.

Die Regelungen über das Verbot des Missbrauchs relativer Marktmacht in § 20 Abs. 1

und 2 GWB wurden – wie gezeigt – zum einen als Reaktion auf den externen Schock der

Ölkrise 1973 zum Schutz der inländischen Marktstrukturen erlassen, zum anderen flan-

kierten sie die Aufhebung der Freistellung der Preisbindung von Markenartikeln vom Kar-

tellverbot. Die damit einhergehende Verschiebung wirtschaftlicher Macht von der Herstel-

lerebene auf die Handelsebene schuf das neue wettbewerbliche Problem der Nachfrage-

macht des Handels, auf das der Gesetzgeber danach in mehreren Novellierungsrunden

reagieren musste, allerdings ohne dass es dadurch heute – auch vor dem Hintergrund der

weiter fortgeschrittenen Konzentration des Handels – in irgendeiner Weise als gelöst gel-

ten könnte.86 Gleichwohl sorgte die Aufhebung der Preisbindung für einen Modernisie-

rungsschub in der Handelslandschaft und das Entstehen neuer Vertriebs- und Handels-

formen, deren wohlfahrtssteigernde Wirkungen für die allgemeine volkswirtschaftliche

Effizienz wie auch für den Verbraucher außer Frage stehen.

Eine vergleichbare wirtschaftliche Umbruchsituation mit einer neuen Austarierung des

Kräfteverhältnisses zwischen Handel und Industrie bewirkt nunmehr die stetige Zunahme

des Online-Handels seit Mitte des letzten Jahrzehnts. Durch die mit ihm einhergehende

Erhöhung der Markt- und Preistransparenz bei gleichzeitiger Absenkung der Vertriebskos-

ten kommt es zu einer Neubewertung der bisherigen Distributionswege und ihrer spezifi-

schen Leistungen durch den Marktprozess. In dieser Situation stellt sich gleichfalls das

Problem, inwiefern selektive Vertriebssysteme von den Herstellern dazu genutzt werden

können, den Marktprozess in ihrem Sinne und im Sinne der etablierten Handelsformen zu

steuern.87 Wie sich beim Blick auf die Praxis zeigt (hierzu nachfolgend unter D. II. 2.),

spielen – neben dem Kartellverbot (Art. 101 AEUV und der entsprechenden Vertikal-

Gruppenfreistellungsverordnung88) – auch die Regelungen des § 20 Abs. 1 GWB hier er-

neut eine wichtige flankierende Rolle beim Schutz des Wettbewerbsprozesses vor steu-

ernden Einflüssen zum einseitigen Nutzen bestimmter Marktstufen und -teilnehmer.

Anhand der – inhaltlich nicht im Fokus dieser Untersuchung stehenden – Regelungen

über das Verbot des horizontalen Missbrauchs überlegener Marktmacht in § 20 Abs. 3

und 4 GWB lässt sich weiterhin zeigen, dass § 20 GWB dem Gesetzgeber auch in ande-

86

Umfassend dazu BKartA, Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel, September 2014, im Internet unter www.bundeskartellamt.de; ferner EU-Kommission, Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa vom 31.01.2013, COM(2013)37 final.. 87

Umfassend dazu BKartA, Papier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 10.10.2013, im Internet unter www.bundeskartellamt.de. 88

Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20.04.2010, ABl. EU 2010/L 102/1.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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ren Fällen als Instrument dafür diente, wettbewerbspolitische Einzelprobleme anzugehen

wie das Problem des Angebots unter Einstandspreis und das Problem der Preis-Kosten-

Scheren im Mineralölvertrieb. Dabei ist zwar zu konstatieren, dass etwa das Verbot des

Angebots unter Einstandspreis dem Fortschreiten von Verdrängung und Konzentration im

Handel schon deswegen nicht Einhalt gebieten konnte, weil die zunehmende Nachfrage-

macht der großen Handelsunternehmen zu so günstigen Einstandspreisen führte, dass es

deren Unterschreitung nicht mehr bedurfte, um Verdrängungseffekte zu erzielen.89 Ferner

ist einzuräumen, dass Verfahren sowohl bei Angeboten unter Einstandspreis als auch bei

Preis-Kosten-Scheren komplex und Ressourcen-intensiv bleiben, ohne dass sich daran

durch legislatorische Maßnahmen etwas ändern ließe. Gleichwohl zeigt sich an den Re-

gelungen gegenüber Unternehmen mit überlegener Marktmacht ebenso deutlich wie an

den Regelungen zu Unternehmen mit relativer Marktmacht der Wille des deutschen Ge-

setzgebers, auch unterhalb der Ebene der Marktbeherrschung steuernd einzugreifen, wo

ihm dies wettbewerbspolitisch geboten erscheint.

Bei alledem ist nicht zu verhehlen, dass von Seiten der Wissenschaft die Verbotsregelun-

gen zu Lasten nicht-marktbeherrschender Unternehmen in Deutschland viel Kritik erfah-

ren haben und bis in die Gegenwart hinein erfahren. Dabei richtet sich diese Kritik

schwerpunktmäßig gegen bestimmte Einzelverbote wie das des Angebots unter Ein-

standspreis90 oder das Anzapfverbot91, zum Teil wendet sie sich jedoch auch generell ge-

gen jegliche Verbotsregelungen, die nicht das Vorliegen von Marktbeherrschung voraus-

setzen.92 Soweit dabei die Regelungen bezüglich relativ marktmächtiger Unternehmen als

entbehrlich angesehen werden, ist diese Kritik indes auf die Prämisse gegründet, dass

sich entstehende Schutzlücken durch eine weitherzigere Bejahung des Vorliegens einer

marktbeherrschenden Stellung vermeiden lassen.93 Wo die Marktbeherrschung im Einzel-

fall nachgewiesen werden kann, mag diese Prämisse zutreffen.94 Wo die Marktbeherr-

schung hingegen – insbesondere im vom Beibringungsgrundsatz geprägten Zivilprozess –

nicht nachgewiesen werden kann95, bleiben Sonderregelungen über relative Marktmacht

89

Dies mag erklären, warum das entsprechende Regelbeispiel trotz seiner Entwertung durch die Rechtsprechung im Zuge der 8. GWB-Novelle zwar formell beibehalten, aber nicht nachgeschärft wurde, hierzu oben unter II. 2 d). 90

Z.B. Monopolkommission, 47. Sondergutachten „Preiskontrollen in Energiewirtschaft und Han-del?“, 2007, Rn. 54 bis 72. 91

Z.B. Monopolkommission, a.a.O., Rn. 73 bis 99; Säcker/Mohr, WRP 2010, 1. 92

Z.B. Wagner-von Papp, Brauchen wir eine Missbrauchskontrolle von Unternehmen mit nur relati-ver oder überlegener Marktmacht? in Bien [Hrsg.], Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, 2013, S. 95 bis 154; Taube, Das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot für „relativ marktstarke“ Unternehmen, Diss., 2006, S. 218 bis 222. 93

Wagner-von Papp, a.a.O., S. 102, 149 bis 154 (These 11); Taube, a.a.O.. 94

Z.B. BGH, 03.03.2009, KZR 82/07, WuW/E DE-R 2708 Rn. 32 – Reisestellenkarte unter Hinweis auf EuGH, 06.04.1995 – C-241/91 P »Magill«, Slg. 1995, I-743 Rn. 47., s.o. unter B. IV. 2. a). Fer-ner in den Ersatzteilfällen, vgl. etwa BGH, 27.04.1999, KZR 35/97, WuW/E DE-R 357 – Feuer-wehrgeräte. 95

Zu den entspr. Beweisproblemen im schweizerischen Zivilprozess: Heinemann, Die privatrechtli-che Durchsetzung des Kartellrechts, Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft, 2009, S. 58f..

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Relative Marktmacht – Gutachten

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dagegen zur Vermeidung von Schutzlücken unentbehrlich. Dass die Möglichkeit einer

Flexibilisierung des Marktbeherrschungsbegriffs im schweizerischen Recht nach der ge-

genwärtigen Fassung des Art. 4 Abs. 2 KG nicht mit hinreichender Sicherheit besteht96, ist

gerade einer der Auslöser der Pa.Iv. Altherr97, so dass sie von dieser grundlegenden Kritik

an den deutschen Regelungen zur relativen Marktmacht nicht erfasst werden kann. Zu-

dem ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Marktbeherrschung im Rahmen der

Missbrauchsaufsicht – obwohl er eigenständig zu füllen sein kann98 – dennoch stets zu-

mindest eine gedankliche Nähe zum Begriff der Marktbeherrschung im Rahmen der Zu-

sammenschlusskontrolle wahren muss (vgl. auch Art. 10 Abs. 2 KG), was seiner Flexibili-

sierung zumindest in der Praxis engere Grenzen zieht, als sie für einen eigenständigen

Begriff wie den der relativen Marktmacht bestehen.

Der generellen Kritik ist indes zuzugeben, dass Verbotsregelungen zu Lasten nicht-

marktbeherrschender Unternehmen sich meist als nationaler Sonderweg99 darstellen: Im

Bereich der Missbrauchsverbote zu Lasten marktbeherrschender Unternehmen haben

sich in den letzten Jahrzehnten international durch vielfältigste Formen von sog. „soft con-

vergence“ – etwa durch die Kooperation von Behörden in Fällen von Bedeutung für meh-

rere Jurisdiktionen, durch Gremien wie das International Competition Network(ICN) 100

oder durch internationale Organisationen wie die OECD oder die UNCTAD – viele Ge-

meinsamkeiten entwickelt, etwa hinsichtlich der Typisierung missbräuchlicher Praktiken

und einer verstärkten Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse auch auf Basis des

Einzelfalls.101 An diesen Formen der „soft convergence“ wie auch an der zunehmenden

ökonomischen Fundierung der praktischen Missbrauchsaufsicht im Einzelfall haben die

nationalen Regelungen zu Lasten nicht-marktbeherrschender Unternehmen allenfalls am

Rande und damit sehr viel weniger Anteil, als die nationalen Regelungen zu Lasten von

Marktbeherrschern. Gleichwohl bleiben selbst in diesem internationalisierteren Bereich –

bei aller Ähnlichkeit in den Sachnormen und aller Einigkeit in den Grundzügen – auf der

Ebene der konkreten Normanwendung auf den Einzelfall substanzielle und ergebnisrele-

vante Unterschiede zwischen den verschiedenen Jurisdiktionen erhalten, die ihre Wurzeln

ebenso in unterschiedlichen Rechts- und Anwendungstraditionen haben, wie in unter-

schiedlichen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen und wettbewerbspolitischen

96

Einschränkend etwa Reinert/Bloch, Basler Kommentar zum KG, 2010, Art. 4 Abs. 2 Rn. 23ff.; erweiternd etwa Heizmann, Der Begriff des marktbeherrschenden Unternehmens im Sinne von Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 7 KG, Diss., 2005, Rn. 648 bis 655; Zäch, Schweizerisches Kartellrecht, 2. Auflage 2005, Rn. 576 a.E.. 97

Vgl. Zäch, NZZ vom 16.09.2014, S. 19. 98

Z.B. BGH, 04.03.2008, KVR 21/07, WuW/E DE-R 2268 Rn. 19 – Soda Club II; 25.09.2007, KZR 33/06, WuW/E DE-R 2267 Rn. 14 – Münchener Fernwärme. 99

Zur internationalen Verbreitung solcher Regelungen, s. oben unter B. IV. 1. a.E.. 100

Internationale Organisation der nationalen und übernationalen Kartellbehörden mit derzeit 104 Mitgliedern. 101

Vgl. etwa die Arbeitsergebnisse der ständigen „Unilateral Conduct Working Group“ des ICN, Näheres im Internet unter http://www.internationalcompetitionnetwork.org/working-groups/current/unilateral.aspx.; ferner die entsprechenden Aktivitäten der OECD im Internet unter http://www.oecd.org/competition/abuse/.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Wertvorstellungen.

Vor diesem Hintergrund betrachtet auch der deutsche Gesetzgeber die Regelungen zu

Lasten marktbeherrschender Unternehmen in § 19 GWB der Sache nach eher als eine Art

Mindest-Acquis des Schutzes vor dem Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellung, der

aber nach wie vor der Ergänzung „nach unten“ fähig und bedürftig ist. Dass die Bundes-

republik Deutschland sich mit großem Einsatz und letzendlichem Erfolg dafür verwandt

hat, diesen nationalen Spielraum auch im Zuge der Vereinheitlichung des EU-

Kartellrechts durch die VO Nr. 1/2003 zu erhalten, wurde bereits ausgeführt (hierzu oben

unter B. IV. 2. c)). Dies unterstreicht die hohe wettbewerbspolitische Bedeutung, die der

deutsche Gesetzgeber der Möglichkeit zumisst, weitergehenden bzw. komplementären

Schutz vor dem Missbrauch von Marktmacht auch unterhalb der Schwelle der Marktbe-

herrschung erga omnes gewähren zu können.

Dass dieser Schutz vor dem Missbrauch relativer Marktmacht auch vierzig Jahre nach

Einführung der ersten entsprechenden Regelungen ein prominentes Anliegen deutscher

Wettbewerbspolitik ist, hat die Regierungsbegründung zur 8. GWB-Novelle 2013 einmal

mehr bekräftigt:

„Die Missbrauchsaufsicht im GWB erfasst im Gegensatz zum europäischen Recht

nicht nur marktbeherrschende, sondern auch marktstarke Unternehmen („relative

Marktmacht“). Die Vorschriften über das Verbot missbräuchlichen Verhaltens ge-

genüber wirtschaftlich abhängigen kleinen und mittleren Unternehmen haben in

langer behördlicher und zivilrechtlicher Anwendungspraxis eine wichtige wettbe-

werbs- und mittelstandspolitische Funktion erfüllt. Der vom europäischen Recht in-

soweit gewährte Gestaltungsspielraum zur Anwendung von strengeren Vorschrif-

ten zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen (Ar-

tikel 3 Absatz 2 Satz 2 Verordnung (EG) Nr. 1/2003) im nationalen Recht soll des-

halb durch Fortgeltung dieser Regelungen auch weiterhin genutzt werden.“102

Ob vor diesem Hintergrund der deutsche Gesetzgeber auch auf eine „Hochpreis-“ oder

„Hochkosteninsel“-Problematik, wie sie der Pa.Iv. Altherr zugrunde liegt103 und wie sie sich

nach Aufhebung der Eurountergrenze durch die Schweizerische Nationalbank noch ver-

schärfen dürfte, wettbewerbspolitisch durch eine Anpassung des geltenden Rechts rea-

gieren würde – etwa durch eine Ausweitung der Verweisung in § 20 Abs. 1 GWB auf das

Preisspaltungsverbot des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB –, lässt sich nicht prognostizie-

ren, eine vergleichbare Problematik hat sich in Deutschland bislang noch nicht gestellt (zu

den mögl. Gründen, s. nachfolgend unter D. II. 3. a)). Sicher ist aber, dass der deutsche

Gesetzgeber sich ausweislich der Regelungen des § 20 GWB einschließlich der Verbote

des Missbrauchs relativer Marktmacht in der Vergangenheit willens gezeigt hat, durch die

Weiterentwicklung des Kartellrechts wettbewerbspolitische Antworten auf sich aus dem

102

BT-Drucks. 17/9852, S. 20, rechte Spalte. 103

Vgl. Curia-Vista-Nr. 14.449, im Internet unter www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20140449.

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Wandel der Wettbewerbsverhältnisse ergebende Problemstellungen zu geben.

IV. Praktische Bedeutung des Instruments des § 20 GWB

Das hohe rechtspolitische Interesse des deutschen Gesetzgebers insbesondere an den

Regelungen gegenüber Unternehmen mit relativer Marktmacht erklärt sich auch aus der

hohen praktischen Bedeutung dieser Regelungen, die nun – im Vorgriff auf die Darstel-

lung der Fallpraxis im Einzelnen unter D. – vorab betrachtet werden soll.

Die praktische Bedeutung der Regelungen des deutschen GWB gegenüber Unternehmen

mit relativer Marktmacht (d.h. der heutigen § 20 Abs. 1 und 2 GWB) lässt sich indikativ

zunächst daran ablesen, dass hierzu seit 1973 mehr als 50 Entscheidungen allein des

letztinstanzlich entscheidenden Bundesgerichtshofs ergangen sind.104 Von diesen Ent-

scheidungen ergingen nur 11 in Verfahren der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung

durch die deutschen Kartellbehörden.

Für die unteren Instanzen sind genaue Daten zur Anwendung der Regelungen über relati-

ve Marktmacht – soweit ersichtlich – noch nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit er-

hoben worden. Näherungswerte zur Anwendungsintensität der Regelungen lassen sich

jedoch aus der Juris-Rechtsprechungsdatenbank105 entnehmen: Insgesamt listet Juris für

die Zeit seit 1973 für das allgemeine Behinderungs- und Diskriminierungsverbot und des-

sen Vorläufernormen insgesamt 835 Entscheidungen auf106, was in einer ähnlichen Grö-

ßenordnung liegt, wie die Trefferzahl für das Kartellverbot des § 1 GWB von 634 Ent-

scheidungen. Welcher Anteil an den Treffern zum allgemeinen Behinderungs- und Dis-

kriminierungsverbot dabei auf Entscheidungen zu relativ marktmächtigen Unternehmen

entfällt und welcher Anteil auf marktbeherrschende Unternehmen, lässt sich der Daten-

bank nicht genau entnehmen, da § 20 GWB und seine Vorgängernormen – anders als § 1

GWB – eine wechselnde Mehrzahl von Einzelverbotsnormen enthielten und die Zuord-

nung der Entscheidungen zu den einzelnen Tatbeständen in der Vergangenheit von Juris

nicht hinreichend trennscharf vorgenommen wurde. Dass die zum allgemeinen Behinde-

rungs- und Diskriminierungsverbot ergangenen Gerichtsentscheidungen zum weit über-

wiegenden Teil Zivilverfahren und damit den Bereich der privaten Kartellrechtsdurchset-

zung betrafen, lässt sich aber daran ablesen, dass von den 835 Entscheidungen lediglich

23 auf das deutsche Bundeskartellamt und eine auf die Kartellbehörden der deutschen

Bundesländer entfallen.107 Dabei wurden Bußgeldverfahren – soweit ersichtlich – seit An-

fang der 1980er Jahre nicht mehr geführt.

104

47 Entscheidungen zwischen 1973 und 2003 lt. Taube, Das Behinderungs- und Diskriminie-rungsverbot für „relativ marktstarke“ Unternehmen, Diss., 2006, S. 226ff.; 6 weitere nach der Juris-Rechtsprechungsdatenbank, www.jurisweb.de. 105

Näheres zur juris GmbH unter www.juris.de/jportal/nav/unternehmen/unternehmen.jsp. 106

Verwendete Suchparameter: Datum: „1973 bis 2014“ und Norm: („§ 20 Abs. 1 GWB“ oder „§ 20 Abs. 2 GWB“ oder „§ 26 Abs. 2 WettbewG“) und Kurztext: („Behinderung“ oder „Diskriminierung“). 107

Ergänzung der vorstehenden Suchparameter um: und Gericht: „Bundeskartellamt“ bzw. und „Landeskartellbehörde“.

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Belastbar ist damit zunächst der Schluss, dass die 835 in Deutschland ergangenen Ent-

scheidungen zum allgemeinen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot insgesamt –

d.h. sowohl gegenüber marktbeherrschenden wie gegenüber relativ marktmächtigen Un-

ternehmen – zum weit überwiegenden Teil auf dem Zivilrechtsweg ergangen sind. Nahe-

liegend ist zudem der Schluss, dass die Mehrzahl dieser Entscheidungen jedenfalls auch

die Frage des Bestehens oder Nicht-Bestehens relativer Marktmacht behandelte, da die

Anforderungen an den Nachweis relativer Marktmacht inter partes tendenziell geringer

und in Ansehung der zivilprozessualen Beweislastregelungen108 für den Zivilkläger leichter

zu erfüllen sind, als die Anforderungen an den Nachweis einer marktbeherrschenden Stel-

lung erga omnes.

Die Durchsetzung der Missbrauchsverbote in Fällen relativer Marktmacht auf dem Zivil-

rechtsweg hat sich damit in Deutschland als hinreichend effektiv erwiesen. Nach einer

Umsetzung der Pa.Iv. Altherr und nach Vorliegen von ersten Leitentscheidungen der

schweizerischen Wettbewerbskommission dürfte sich die Durchsetzung der Missbrauchs-

verbote in Fällen relativer Marktmacht auch in der Schweiz auf den Zivilrechtsweg verla-

gern. Hinreichend dafür erscheint ein Vorgehen der Kartellbehörde im Rahmen eines

Verwaltungsverfahrens (Erlass einer Abstellungsverfügung nach § 32 GWB109). Ein wei-

tergehendes Ahndungsinteresse an der Durchführung eines Bußgeldverfahrens110 hat

sich in Deutschland – soweit ersichtlich – seit über 30 Jahren nicht ergeben, so dass die-

se Spielart der behördlichen Durchsetzung für eine Effektivierung der Regelungen ent-

behrlich erscheint.

Die Verbote des Missbrauchs relativer Marktmacht in § 20 Abs. 1 und 2 GWB leisten da-

mit in Deutschland einen auch quantitativ wesentlichen Beitrag zur privaten Durchsetzung

des Kartellrechts auf dem Zivilrechtswege111, was im Übrigen auch die Gegner dieser

Vorschriften anerkennen.112 Sie entlasten dabei die kartellbehördlichen Ressourcen, ohne

dass dadurch die Rechtsschutzmöglichkeiten im Einzelfall und die Rechtsdurchsetzung in

der Breite zu weitgehend eingeschränkt würden. Die Verbote des Missbrauchs relativer

Marktmacht in § 20 Abs. 1 und 2 GWB sind insofern in der deutschen Rechtspraxis eine

auch quantitativ bedeutsame Voraussetzung für eine effektive Lastenverteilung zwischen

öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung und damit für eine Effektivierung der

Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt.

108

Zu den entspr. Beweisproblemen im schweizerischen Zivilprozess: Heinemann, Die privatrecht-liche Durchsetzung des Kartellrechts, Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft, 2009, S. 58f.. 109

Vergleichbar dem Entscheid nach Art. 30 KG. 110

Vergleichbar der Verwaltungssanktion nach Art. 49a KG. 111

Z.B. BKartA, Stellungnahme zum Regierungsentwurf zur 8. GWB-Novelle vom 22.06.2012, S. 24, im Internet unter www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Stellungnahmen/. 112

Wagner-von Papp, Brauchen wir eine Missbrauchskontrolle von Unternehmen mit nur relativer oder überlegener Marktmacht? in Bien [Hrsg.], Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, 2013, S. 95, 98, 102, 150.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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D. Deutsche Praxis zur Auslegung und Anwendung des

Verbots des Missbrauchs relativer Marktmacht

Zum Abschluss dieser Untersuchung richtet sich in einem vierten Schritt der Blick auf die

deutsche Praxis zur Auslegung und Anwendung des Verbots des Missbrauchs relativer

Marktmacht.

Dabei wird zunächst die Praxis hinsichtlich Bejahung oder Verneinung der Anwendungs-

voraussetzungen von § 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB in den Fällen relativer Marktmacht

wiedergegeben und bewertet (hierzu unter I.).

Danach wird die Fallpraxis zur Anwendung der materiellen Verbotsregelungen auf relativ

marktmächtige Unternehmen dargestellt und bewertet (hierzu unter II.).

I. Deutsche Praxis zu den Anwendungsvoraussetzungen

Bei der Darstellung und Bewertung der deutschen Anwendungspraxis ist zum einen auf

die gesetzliche Definition relativer Marktmacht, d.h. das Nichtbestehen von „ausreichen-

den und zumutbaren Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen“ einzugehen,

hinsichtlich deren zwischen dem Vorschlag der Pa.Iv. Altherr für Art. 4 Abs. 2 bisneu KG

einerseits und § 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB andererseits eine nahezu vollständige Über-

einstimmung besteht (hierzu unter 1.).

Zum anderen ist ergänzend auf die im deutschen Recht für Fälle der Angebotsmacht be-

stehende Restriktion des persönlichen Schutzbereichs von § 20 Abs. 1 GWB einzugehen,

wonach das Verbot des Missbrauchs relativer Marktmacht nur gegenüber kleinen und

mittleren Anbietern bzw. Nachfragern besteht (KMU-Klausel); diese Einschränkung über-

nimmt der Vorschlag der Pa.Iv. Altherr bewusst nicht (hierzu unter 2.).

1. Definition relativer Marktmacht: Nichtbestehen ausreichender und

zumutbarer Ausweichmöglichkeiten

Das Vorliegen relativer Marktmacht wird von § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB durch das Nichtbe-

stehen ausreichender und zumutbarer Ausweichmöglichkeiten legal definiert. Diese unbe-

stimmten Rechtsbegriffe sind in den vergangenen vier Jahrzehnten durch die deutsche

Praxis konkretisiert und handhabbar gemacht worden.

Zu diesem Konkretisierungsprozess leistete indes die gesetzliche Vermutung in § 20

Abs. 1 Satz 2 GWB keinen Beitrag (hierzu unter a)).

Auch sind die Tatbestandsmerkmale der „ausreichenden“ und „zumutbaren“ Ausweich-

möglichkeiten für sich genommen abstrakt geblieben (hierzu unter b)).

Sie wurden jedoch für die relative Marktmacht von Anbietern durch die Herausbildung der

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Fallgruppen der sortimentsbedingten Abhängigkeit, der mangelbedingten Abhängigkeit

und der unternehmensbedingten Abhängigkeit konkretisiert, was sich anhand der reichen

Fallpraxis gut belegen lässt; dagegen ist bei der Bestimmung der relativen Marktmacht

von Nachfragern wegen der generellen Schwierigkeiten bei der Bemessung von Nachfra-

gemacht im Allgemeinen (d.h. auch bei Marktbeherrschung von Nachfragern) die Fallpra-

xis dünner (hierzu unter c)).

Die Bewertung der Fallpraxis zeigt, dass die Definition relativer Marktmacht weder unter

dem Gesichtspunkt der Normklarheit noch unter dem Aspekt eventueller Über- oder Un-

terreichweiten problematisch ist (hierzu unter d)).

a) Vermutung relativer Marktmacht nach § 20 Abs. 1 Satz 2 GWB

Während im Gesetzeswortlaut der Definition relativer Marktmacht zwischen dem Vor-

schlag der Pa.Iv. Altherr für Art. 4 Abs. 2 bisneu KG einerseits und § 20 Abs. 1 und Abs. 2

GWB andererseits eine nahezu vollständige Übereinstimmung besteht, fehlt dem Vor-

schlag der Pa.Iv. Altherr eine der deutschen Regelung des § 20 Abs. 1 Satz 2 GWB ent-

sprechende Vermutungsregelung.

Ein Unterschied in der Sache liegt darin nicht, da die durch die 4. GWB-Novelle 1980 ein-

geführte Vermutungsregelung die in sie gesetzten Erwartungen einer Erleichterung der

Normanwendung113 nie erfüllt hat. Die Regelung sollte insbesondere den Nachweis relati-

ver Nachfragemacht erleichtern, deren Vorliegen zu bejahen sein sollte, sofern ein Nach-

frager von einem Anbieter „zusätzlich zu den verkehrsüblichen Preisnachlässen oder

sonstigen Leistungsentgelten regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleich-

artigen Nachfragern nicht gewährt werden“. Diese Vermutung enthält ihrerseits eine sol-

che Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, deren Prüfung zusätzliche und aufwän-

dig durchzuführende Feststellungen und Bewertungen voraussetzt, dass sie sich als ob-

jektiv nutzlos erwiesen hat.114

b) Begriffe der „ausreichenden“ und „zumutbaren“ Ausweichmöglichkeiten

Auch sind die Tatbestandsmerkmale der „ausreichenden“ und „zumutbaren“ Ausweich-

möglichkeiten für sich genommen eher abstrakt geblieben:

Der ursprüngliche Vorschlag zur Einführung einer Vorschrift zur Begrenzung von relativer

Marktmacht sah allein den Begriff der ausreichenden Ausweichmöglichkeiten vor.115 Er

wurde indes vom Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages noch um den weite-

ren Begriff der Zumutbarkeit ergänzt. Die Ergänzung wurde damit begründet, dass an sich

ausreichende Ausweichmöglichkeiten im Einzelfall relative Marktmacht nicht beseitigen

könnten, wenn mit deren Nutzung

113

Regierungsbegründung zur 4. GWB-Novelle vom 27.09.1978, BT-Drucks. 8/2136, S. 24. 114

Näher dazu Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 66ff.. 115

RegBegr. vom 18.08.1971, BT-Drucks. VI/2520, S. 8, 34.

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„unverhältnismäßige Belastungen verbunden wären oder sich ein Unternehmen

z.B. durch eine langjährige Geschäftsverbindung auf den nachgefragten Artikel

besonders eingestellt und den Geschäftsbetrieb darauf eingerichtet hat, so daß in

einer Umstellung der Produktion oder des Vertriebs ein zu großes oder nicht kalku-

lierbares Risiko läge.“116

Da jedoch sowohl der Begriff des „Ausreichens“ als auch der Begriff der „Zumutbarkeit“

letztlich normativ geprägt sind, erscheint eine trennscharfe Abgrenzung schwierig. Die

Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung liegt weiter auch darin begründet, dass mit beiden

Begriffen letztlich dasselbe bezeichnet wird: Verhandlungstheoretisch betrachtet dient der

Wettbewerbsprozess dazu, beide Marktseiten mit einer hinreichenden Zahl an „outside

options“ zu versorgen, die den Verhandlungspartnern Abschlüsse mit Spielern außerhalb

der konkreten Verhandlungssituation ermöglichen und damit die Verhandlungsmacht im

bilateralen Verhältnis im Gleichgewicht halten. Insofern beschreibt das Fehlen ausrei-

chender und zumutbarer Ausweichmöglichkeiten letztlich nicht mehr als ein bestehendes

Machtgefälle durch einen einseitigen Mangel an „outside options“ bezüglich des Absatzes

oder Bezugs von Wirtschaftsgütern.

Will man gleichwohl den begrifflichen Dualismus mit Sinn erfüllen, so mag es sich anbie-

ten, im Rahmen des „Ausreichens“ eher eine generalisierende bzw. objektivierende Be-

trachtung anzustellen und im Rahmen der „Zumutbarkeit“ eine eher auf die individuelle

Situation bzw. subjektivierende Betrachtung des sich auf die Norm berufenden Unterneh-

mens anzustellen.117 Die individuellen Interessen des Normadressaten sind dagegen nach

dem Wortlaut der Norm noch nicht im Rahmen der Prüfung der Ausweichmöglichkeiten,

sondern erst im Rahmen der Interessenabwägung innerhalb der Verbotsnorm des § 19

Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB in die Betrachtung einzubeziehen.118

In der gerichtlichen Praxis ist indes festzustellen, dass zwischen den Begriffen nicht im

Einzelnen unterschieden wird, sondern dass vielmehr eine einheitliche Prüfung unter dem

Dach einer der etablierten Fallgruppen erfolgt119, was angesichts des verhandlungstheore-

tischen Hintergrundes (s.o.) letztlich auch sachgerecht erscheint.

Zu einer anderen Vorgehensweise nötigt auch nicht das „Problem der selbst geschaffe-

nen Abhängigkeit“, d.h. die Berücksichtigung des Umstands, dass das einen Missbrauch

relativer Marktmacht reklamierende Unternehmen sein Geschäftsmodell aus freien Stü-

cken und ohne Ermutigung durch die andere Seite so gewählt hat, dass es auf die Belie-

ferung durch oder den Absatz über einen bestimmten Verhandlungspartner angewiesen

ist. Zwar ließe sich diese Frage als subjektives Moment auch im Rahmen der Prüfung der

116

Bericht vom 13.06.1973, BT-Drucks. 7/765, S. 4, ähnlich auch S. 9 unten, S. 10 oben. 117

Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 50f.; Nothdurft, in Lan-gen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 31. 118

BGH, 23.02.1988, KZR 20/86, WuW/E BGH 2491, 2494, juris-Rn. 24 – Opel-Blitz; Nothdurft, a.a.O., Rn. 34. 119

Z.B. BGH, 09.05.2000, KZR 28/98, WuW/E DE-R 481 juris-Rn. 17ff. – Designer-Polstermöbel.

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„Zumutbarkeit“ verorten (s.o.). Da jedoch das Verhalten und die Belange beider Seiten in

die Betrachtung einfließen, lässt sich auch das Problem der selbst geschaffenen Abhän-

gigkeit umfassender im Rahmen der Interessenabwägung innerhalb der Verbotsnorm des

§ 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB berücksichtigen.120

Unter den Begriff der Zumutbarkeit fällt letztlich auch die Klärung der Frage, inwiefern ein

Hersteller einen Abnehmer auf den Bezug aus anderen Quellen zu ungünstigeren Kondi-

tionen verweisen kann, eine Frage, die gerade für die den Hintergrund der Pa.Iv. Altherr

bildende „Hochpreis-“ oder „Hochkosteninsel“-Problematik von besonderer Bedeutung ist.

In der deutschen Praxis war etwa zu klären, ob einem Nachfrager statt eines Direktbe-

zugs vom Hersteller der Bezug über den Großhandel zuzumuten war.121 Zu diesem Prob-

lemfeld hat die deutsche Rechtspraxis im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit heraus-

gearbeitet, dass grundsätzlich bestehende ausreichende Ausweichmöglichkeiten für Ab-

nehmer bereits dann nicht mehr zumutbar sind, wenn sie von ihnen nicht im Wesentlichen

zu den gleichen Voraussetzungen und Bedingungen in Anspruch genommen werden

können, wie sie ihren Wettbewerbern zur Verfügung stehen.122

c) Konkretisierung durch Fallgruppen

Die wesentliche Konkretisierung des Begriffs der ausreichenden und zumutbaren Aus-

weichmöglichkeiten erfolgt danach im Rahmen der mittlerweile fest etablierten Fallgrup-

pen, die sich teils schon auf die Gesetzesmaterialien der 4. GWB-Novelle 1973 zurückfüh-

ren lassen und sich im Übrigen in vier Jahrzehnten der Rechtspraxis herausgebildet ha-

ben.

aa) Überblick

Im Einzelnen handelt es sich um die nachstehenden vier Fallgruppen. Sie lassen sich wie

folgt systematisieren:

120

Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 40; Nothdurft in Lan-gen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 35 unter Verweis auf das entsprechende Vorgehen in BGH, 29.06.2010, KZR 31/08, WuW/E DE-R 2963 Rn. 38ff. – GSM-Wandler zu Art. 102 AEUV. In diese Richtung tendierend auch bereits BGH, 23.02.1988, KZR 20/86, WuW/E BGH 2491, 2494, juris-Rn. 27 – Opel-Blitz. 121

OLG Karlsruhe, 14.11.2007, 6 U 57/06, WuW/E DE-R 2213 – BGB-Kommentar. 122

BGH, 26.06.1979, KZR 7/78, WuW/E BGH 1620, juris-Rn. 24 – Revell Plastics; 26.05.1981, KZR 22/80, WuW/E BGH 1805; juris-Rn. 35ff. – Privatgleisanschluss; für relative Nachfragemacht auch BGH, 21.02.1995, KVR 11/94, WuW/E BGH 2990, juris-Rn. 22 – Importarzneimittel; ferner OLG Karlsruhe, 14.11.2007, 6 U 57/06, WuW/E DE-R 2213, juris-Rn. 19 – BGB-Kommentar; Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 20; Bechtold, GWB, 7. Auflage 2013, § 20 Rn. 12.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Relative Angebotsmacht

Sortimentsbedingte Abhängigkeit (hierzu unter ab))

Spitzenstellungsabhängigkeit

Spitzengruppenabhängigkeit

Mangelbedingte Abhängigkeit (hierzu unter ac))

Unternehmensbedingte Abhängigkeit (hierzu unter ad))

Vertragshändlerfälle

Ersatzteile und Verbrauchsmaterialien

Relative Nachfragemacht (hierzu unter ae))

Die einzelnen Fallgruppen unterscheiden sich jeweils durch den Grund für die Asymmetrie

der Verhandlungsmacht zwischen den Verhandlungspartnern im Vertikalverhältnis:

Die sortimentsbedingte Abhängigkeit des Nachfragers beruht in ihren beiden

Spielarten auf der Erwartungshaltung seiner eigenen Abnehmer an das Sortiment

des Nachfragers („must stock items“). Sie setzt das Bestehen entsprechend diffe-

renzierter Präferenzen auf Seiten der Verbraucher voraus, die den Nachfrager da-

rin beschränken, das Angebot seines Verhandlungspartners durch eigentlich funk-

tional vergleichbare Waren seiner Wettbewerber zu ersetzen.

Die mangelbedingte Abhängigkeit beruht auf Versorgungsengpässen auf Herstel-

lerebene, deren Folgen für die Struktur der nachgelagerten Marktstufen durch das

Eingreifen des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots in ihren negativen Wir-

kungen moderiert werden sollen (Beispiel: Ölkrise).

Die unternehmensbedingte Abhängigkeit ist eine Pfadabhängigkeit, die ihre Ursa-

che in vorangegangenen eigenen Entscheidungen des Nachfragers – oder seiner

Kunden – hat, welche sich im Nachhinein nicht ohne weiteres korrigieren lassen

bzw. ein Ausweichen auf im Grunde vorhandene vergleichbare Produkte anderer

Anbieter erschweren („lock-in-Effekt“). Bei diesen Entscheidungen kann es sich

etwa um geschäftspolitische (Beispiel: exklusive Bindung an Hersteller als dessen

Vertragshändler) oder investive Entscheidungen handeln (Beispiel: Ersatzteilfälle).

Die vorgenannten Ursachen für Abhängigkeit können grundsätzlich auch die relati-

ve Marktmacht eines Nachfragers gegenüber einem Anbieter begründen: Der sor-

timentsbedingten Abhängigkeit ähnelt die Konstellation, dass ein Anbieter gerade

(auch) einen bestimmten Nachfrager als Absatzkanal benötigt, um sein Produkt

überhaupt erfolgreich im Markt platzieren zu können („gatekeeper-Funktion“, Bei-

spiel: Pharmagroßhandel). Ferner kann es auch hier durch eine einseitige Ausrich-

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Relative Marktmacht – Gutachten

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tung auf die Nachfrage bestimmter Anbieter zu einer unternehmensbedingten Ab-

hängigkeit eines Anbieters kommen (Beispiel: Automobilzulieferer). Theoretisch

vorstellbar ist weiter auch die Abhängigkeit von Nachfragern in Folge eines allge-

meinen Nachfrageeinbruchs.

Während Fallgruppe 2 wenig praktisch wurde, haben die Fallgruppen 1 und 3 in den ver-

gangenen Jahrzehnten die Rechtsanwendung in Deutschland geprägt und zu einer rei-

chen Kasuistik geführt. Wegen der konzeptionellen Schwierigkeiten der Bestimmung von

Nachfragemacht generell – sowohl bei relativer Marktmacht als auch bei Marktbeherr-

schung – sind die Fallzahlen auch in Fallgruppe 4 geringer geblieben.

ab) Fallgruppe 1: Sortimentsbedingte Abhängigkeit

(Spitzenstellung – Spitzengruppe)

Wie bereits ausgeführt, beruht die sortimentsbedingte Abhängigkeit des Nachfragers auf

der Erwartungshaltung seiner eigenen Abnehmer an das Sortiment des Nachfragers

(„must stock items“). Sie setzt das Bestehen entsprechend differenzierter Präferenzen auf

Seiten der Verbraucher voraus, die den Nachfrager darin beschränken, das Angebot sei-

nes Verhandlungspartners durch eigentlich funktional vergleichbare Waren seiner Wett-

bewerber zu ersetzen.

(1) Grundsätze

Eine die Abhängigkeit begründende Erwartungshaltung der Kunden des Nachfragers be-

steht zum einen dann, wenn die Waren des Herstellers eine Spitzenstellung unter den

dem relevanten Produktmarkt zuzurechnenden Waren innehaben. Der vom deutschen

Bundesgerichtshof hierzu entwickelte Obersatz lautet nach einer Zusammenfassung in

einer Entscheidung aus dem Jahre 1998:

„Eine solche Abhängigkeit ist anzunehmen, wenn ein Hersteller aufgrund der Qua-

lität und Exklusivität seines Produkts ein solches Ansehen genießt und eine solche

Bedeutung erlangt hat, daß der nachfragende Händler in seiner Stellung als Anbie-

ter darauf angewiesen ist, gerade (auch) dieses Produkt in seinem Sortiment zu

führen, und sich daher vorhandene Möglichkeiten, auf andere Hersteller auszu-

weichen, nicht als ausreichend und zumutbar erweisen [Nachweise]. Hinweise für

eine solche Stellung im Markt können sich aufgrund der hervorragenden Qualität,

der einmaligen technischen Gestaltung oder der exponierten Werbung ergeben.“123

Sie besteht aber auch dann, wenn die Waren zu einer Spitzengruppe von dem Produkt-

markt zuzurechnenden Waren gehören, die ein Händler nach der Erwartungshaltung sei-

ner Kunden ganz oder teilweise in seinem Sortiment führen muss. Hierzu lautet der ent-

sprechende Obersatz des Bundesgerichtshofs aus der bereits zitierten Entscheidung:

123

BGH, 09.05.2000, KZR 28/98, WuW/E DE-R 481 juris-Rn. 19 – Designer-Polstermöbel.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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„Eine solche Abhängigkeit liegt vor, wenn ein Handelsunternehmen eine bestimm-

te Anzahl allgemein anerkannter Marken aus einer Spitzengruppe im Sortiment

benötigt, um wettbewerbsfähig zu sein [Nachweise].“124

Ein wesentlicher Parameter für eine solche Prüfung ist zunächst die Distributionsrate, d.h.

der Prozentsatz der vergleichbaren Abnehmer, die die Produkte des entsprechenden An-

bieters führen. Eine Distributionsrate von 80% hat der Bundesgerichtshof dabei im Be-

reich der Designer-Polstermöbel für eine Spitzenstellungsabhängigkeit nicht ausreichen

lassen, für eine Stellung des Herstellers als Mitglied einer Spitzengruppe jedoch als star-

kes Indiz gewertet.125 Sofern sich die Marktverhältnisse hinsichtlich unterschiedlicher Pro-

duktgruppen des Herstellers unterscheiden, ist das Vorliegen sortimentsbedingter Abhän-

gigkeit für jede Produktgruppe gesondert zu prüfen.126

Im Rahmen der Spitzengruppenabhängigkeit ist weiter zu berücksichtigen, dass der

Nachfrager nicht parallel alle Mitglieder der Spitzengruppe in Anspruch nehmen oder un-

ter diesen eine bestimmte Rangordnung berücksichtigen muss;127 ferner besteht der An-

spruch so lange, bis für den Nachfrager eine hinreichende Sortimentsbreite erreicht ist.128

(2) Einzelfälle

Das Vorliegen relativer Marktmacht qua sortimentsbedingter Abhängigkeit ist jedoch letzt-

lich nicht abstrakt, sondern anhand der Gegebenheiten des Einzelfalls zu prüfen129, so

dass für die Zwecke dieser Untersuchung ein Sample von Einzelfallentscheidungen, in

denen die Voraussetzungen sortimentsbedingter Abhängigkeit bejaht bzw. verneint wur-

den, am ehesten geeignet ist, die Konturen der entsprechenden Fallgruppen nachzu-

zeichnen. Aus der Vielzahl von Anwendungsfällen (siehe oben unter C. IV.) beschränkt

sich die nachfolgende Übersicht weitgehend auf höchstrichterliche Entscheidungen:

BGH, 20.11.1975, KZR 1/75, WuW/E BGH 1331, juris-Rn. 23ff. – Rossignol

Bejahung der Spitzenstellungsabhängigkeit eines oberbayerischen Sportartikel-

fachgeschäfts gegenüber dem Skihersteller Rossignol; Skier von Fischer, Kneissl,

Atomic, Blizzard, Dynamic, Erbacher, Sohler, K2, Head und Fritzmeier keine hin-

reichende Alternative. Tragende Faktoren: weltbekannte Marke, Rennerfolge der

Marke, intensive Werbung, Markentreue vieler Nachfrager – trotz nur 8% Marktan-

teil von Rossignol.

124

A.a.O., Rn. 21. 125

A.a.O., Rn. 20, 22. 126

Vgl. z.B. BGH, 24.03.1987, KZR 39/85, WuW/E BGH 2419, juris-Rn. 13 – SABA; aus neuerer Zeit BGH, 12.07.2013, KVR 11/12, WuW/E DE-R 3967 Rn. 18 – Rabattstaffel. 127

BGH, 23.10.1979, KZR 19/78, WuW/E BGH 1635, 1636 – Plaza-SB-Warenhaus. 128

BGH, 24.03.1987, KZR 39/85, WuW/E BGH 2419, juris-Rn. 13 – SABA; ähnlich: 04.11.2003, KZR 2/02, WuW/E DE-R 1203 juris-Rn. 13 – Depotkosmetik im Internet. 129

BGH, 12.07.2013, KVR 11/12, WuW/E DE-R 3967 Rn. 19 – Rabattstaffel. Ebenso schon BGH,

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Relative Marktmacht – Gutachten

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BGH, 18.09.1978, KZR 18/77, WuW/E BGH 1530, juris-Rn. 3, 11 ,16 –

Fassbierpflegekette

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit eines Frankfurter Lebensmittelgroß-

markts für Wiederverkäufer (Cash+Carry) von der Belieferung mit Bier der Marke

„Henninger Bräu“. Tragende Faktoren: Marktanteil um die 20% im Frankfurter

Raum, eine der beiden bekanntesten Brauereien im Marktraum, beliebt insb. bei

bürgerlichen Gaststätten. Ausweichen auf Bier anderer Geschmacksrichtungen

und Preislagen nicht zumutbar.

BGH, 17.01.1979, KZR 1/78, WuW/E BGH 1567, juris-Rn. 4, 17ff. –

Nordmende/Allkauf

Verneinung der Spitzenstellungsabhängigkeit aber Bejahung der Spitzengruppen-

abhängigkeit der HiFi-Fachabteilungen der Allkauf-SB-Warenhäuser von der Belie-

ferung mit HiFi-Produkten der Marke Nordmende. Tragende Faktoren: Distributi-

onsrate von 60% reicht nicht für Spitzenstellung, zumal auch Fachhändler kein

vollständiges Sortiment aller Marken führen. Spitzengruppenzugehörigkeit aber zu

bejahen: Selbst kleine Fachgeschäfte haben Geräte von vier bis fünf deutschen

Markenherstellern im Angebot, größere Fachhändler (mit einem Jahresumsatz von

mehr als 1 Mio DM) neun bis zehn Marken. Soweit Fachhändler die Geräte der

Beklagten nicht führen, sind sie in der Lage, eine ausreichende Zahl anderer aner-

kannter Marken anzubieten. Insofern reicht die Belieferung von Allkauf nur durch

Grundig, Telefunken, Philips und japanische Anbieter nicht aus.

BGH, 24.02.1979, KVR 3/75, WuW/E BGH 1429, 1430 –

Asbach-Fachgroßhändlervertrag

Bejahung der Spitzenstellungsabhängigkeit von Getränkefachgroßhändlern von

der Belieferung mit Weinbrand der Marke „Asbach Uralt“. Tragende Faktoren: er-

heblicher Marktanteil (je nach Abgrenzung 12 bzw. 37%), hoher Bekanntheitsgrad,

besonderes Image, Distributionsrate bei gastronomischen Betrieben von 75%, be-

rühmte Marke, ist für ein konkurrenzfähiges Sortiment erforderlich, um nicht den

Rang eines anerkannten Fachgroßhändlers zu verlieren.

BGH, 24.09.1979, KZR 16/78, WuW/E BGH 1671, juris-Rn. 16ff. –

robbe-Modellsport

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit eines Fachgeschäfts für Modellbauarti-

kel mit überwiegendem Versandhandelsanteil von der Belieferung mit Modellbau-

artikeln der Marke „robbe“. Tragende Faktoren: Marktanteil von 5% bei Modellbau-

artikeln ist niedrig, steht aber der Annahme relativer Marktmacht hier nicht entge-

gen. Erhebliche Werbeaufwendungen und Markengeltung in den interessierten

Kreisen führen zu entsprechenden Verbrauchererwartungen. Zudem ist „robbe“ ei-

ner der wenigen Vollsortimentsanbieter, aus dessen Einzelteilen sich komplette

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Modelle herstellen lassen. Verbleibenden Vollsortimenter lehnten ebenfalls die Be-

lieferung der Anspruchstellerin ab.

BGH, 23.10.1979, KZR 19/78, WuW/E BGH 1635, 1636 – Plaza-SB-Warenhaus

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit der zum Coop-Konzern gehörenden

Plaza-SB-Warenhäuser von der Belieferung mit Fernsehgeräten und HiFi-Anlagen

der Marke „Telefunken“. Tragende Faktoren: Kleine Fachgeschäfte brauchen die

Geräte von vier bis fünf verschiedenen Markenherstellern und größere Fachhänd-

ler mit einem Jahresumsatz von mehr als 1 Million DM neun bis zehn Marken in ih-

rem Angebot, um wettbewerbsfähig zu sein. Telefunken hatte mit einem Marktan-

teil von ca 10% eine Position im Spitzenbereich einer kleineren, hinter einer Markt-

führerin stehenden Gruppe, die kleiner ist als die Zahl der Markennamen, die zur

Unterhaltung einer Fachabteilung für Unterhaltungselektronik geführt werden

muss. Auch keine Belieferung durch andere Mitglieder der Spitzengruppe.

BGH, 07.10.1980, KZR 25/79, WuW/E BGH 1740, juris-Rn. 1, 7, 17 – Rote Liste

Spitzenstellungsabhängigkeit eines Pharmaherstellers von der Aufnahme seiner

Präparate in das Medikamentenverzeichnis („Rote Liste“) des maßgeblichen Ver-

bandes von Pharmaherstellern. Tragende Faktoren für das Berufungsgericht: Rote

Liste ist mit Auflage 180.000 Stück führend gegenüber anderen Verzeichnissen,

das nächstgrößere hatte eine Auflage von 40.000 Stück. „Rote Liste" wird in der

weit überwiegenden Mehrzahl der Arztpraxen als Nachschlagewerk benutzt, das

nächstfolgende Verzeichnis sei anders eingeteilt. Dem Bundesgerichtshof waren

die Darlegungen zu den Wettbewerbsnachteilen nicht konkret genug.

BGH, 24.03.1981, KZR 2/80, WuW/E BGH 1793, juris-Rn. 19 –

SB-Verbrauchermarkt

Spitzenstellungsabhängigkeit einer Betreiberin von 23 Allkauf-SB-

Verbrauchermärkten mit mehr als 1 Milliarde DM Umsatz von der Belieferung mit

Carrera-Autorennbahnen. Tragende Faktoren: Marktanteil von Carrera für Auto-

rennbahnen über 60%, Distributionsrate im Spielwarenfachhandel von 100%, Be-

streben der Anspruchstellerin, durch Spielwaren-Fachabteilung ihr Sortiment zu

erweitern.

BGH, 26.05.1981, KZR 22/80, WuW/E BGH 1805, juris-Rn. 35ff. –

Privatgleisanschluss

Sortimentsbedingte Abhängigkeit eines Unternehmens, das die Lagerung und

Wartung von Containern anbieten möchte, vom Anschluss an das Schienennetz

der damaligen Deutschen Bundesbahnen wäre zu bejahen, wenn durch den Ver-

zicht auf einen privaten Gleisanschluss die Aussicht entfiele, solche Kunden zu

bedienen, die der Anspruchstellerin die zu lagernden oder zu wartenden Container

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ausschließlich oder teilweise auf dem Schienenwege zuführen wollen (hier aber

mangels entsprechender Feststellungen verneint).

BGH, 16.06.1981, KVZ 3/80, WuW/E BGH 1867, juris-Rn. 6, 29ff. – Levi’s Jeans

Spitzengruppenabhängigkeit des Betreibers von Jeans-Supermärkten vom Bezug

von Levi’s Jeans. Tragende Faktoren für das erstinstanzliche Gericht: Marktanteil

von Levi’s von 11%, zweiter Platz nach Marktführer Wrangler mit 14%. Distributi-

onsrate von Levi‘s zwischen 48,1 und 83 % an den Standorten der Anspruchstelle-

rin. Gegenüber einem in der neuartigen Vertriebsform eines Jeans-Supermarkts

organisierten Unternehmen bestehe die Verbrauchererwartung, dass zumindest

die bedeutenderen Jeans-Marken geführt würden. Die Anspruchstellerin müsse

deshalb alle wichtigen, mindestens die beiden großen amerikanischen Marken füh-

ren. Neue Vertriebsformen wie Jeans-Supermärkte dürften nicht aus dem Markt

gehalten werden. Der Bundesgerichtshof hat das Vorliegen von Zulassungsgrün-

den für die nicht zugelassene Rechtsbeschwerde verneint und damit implizit die

Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts bestätigt.

BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 12ff. – adidas

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit der Divi-SB-Warenhäuser von der Be-

lieferung mit Sportschuhen der Marke „adidas“. Tragende Faktoren: Marktanteil

der Beklagten zwischen 13 und 20% für verschiedene Sportschuharten. Harter

Wettbewerb zu Puma ohne Belang. Starke Werbung für Produkte, hoher Bekannt-

heitsgrad und hohes Ansehen der Marke. Hohe Markentreue der Nachfrager.

BGH, 26.06.1979, KZR 7/78, WuW/E BGH 1620, juris-Rn. 20ff. – Revell Plastics

Verneinung der Spitzengruppenabhängigkeit der Betreiberin der Allkauf-SB-

Warenhäuser von der Belieferung mit Plastik-Modellbausätzen der Marke „Revell“.

Tragende Faktoren: Bezug über den Großhandel ist möglich und der Anspruch-

stellerin zuzumuten. Behauptete Nichtbelieferung durch Heller, Airfix, Lindberg,

Matchbox und Martell konnte offen bleiben, jedenfalls Belieferungsmöglichkeit

durch Monogram und Behringer sowie japanische Anbieter. Das reicht, weil die

Anspruchstellerin sich auf Schnelldreher (damals: „Renner“) beschränkt und gar

nicht danach strebt, ein dem Fachhandel vergleichbares Vollsortiment aufzubauen.

Dementsprechend hat sie auch nicht von Monogram und Behringer bezogen, ob-

wohl dies möglich war.

BGH, 09.11.1982, KZR 5/82, WuW/E BGH 1993, juris-Rn. 14 – Privatschule

Verneinung der Abhängigkeit einer Privatschule von der Möglichkeit, Inserate im

Deutschen Ärzteblatt zu platzieren. Tragende Faktoren: Zahlreiche andere Werbe-

träger vorhanden, über die die Anspruchstellerin ihre Kunden – wohlhabende El-

tern schulpflichtiger Kinder – erreichen kann und in denen sie für Privatschul-

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Angebot werben kann. Zudem besteht bei Privatschul-Angeboten kein fachlicher

Bezug der zum Arztberuf, der eine herausgehobene Bedeutung des Deutschen

Ärzteblatts als Werbeträger begründen könnte.

BGH, 06.11.1984, KZR 20/83, WuW/E BGH 2134, juris-Rn. 8, 10 –

Kreditvermittlung

Bejahung der Spitzenstellungsabhängigkeit eines gewerblichen Kreditvermittlers

von Bonitätsauskünften der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung

(SCHUFA). Tragende Faktoren: Beweisaufnahme des Berufungsgerichts (Weite-

res n.v.).

BGH, 22.01.1985, KZR 35/83, WuW/E BGH 2125, juris-Rn. 15ff. – Technics

Weder Spitzenstellungs- noch Spitzengruppenabhängigkeit eines Fachhändlers

von Hifi-Produkten der Marke Technics. Tragende Faktoren: Gute Testergebnisse

und intensive Qualitätswerbung reichen nicht aus für Spitzenstellung. Lokale Dis-

tributionsrate im Umfeld des Händlers nicht entscheidend. Spitzengruppenabhän-

gigkeit kommt zwar bei vielen Anbietern im Markt auch bei einem Marktanteil von

7% in Betracht. Hier wird Händler aber mit allen weiteren Marken beliefert, was für

ihn ausreichend ist.

BGH, 16.12.1986, KZR 25/85, WuW/E BGH 2351, juris-Rn. 35ff. –

Belieferungsunwürdige Verkaufsstätten II

Spitzengruppenabhängigkeit der Betreiberin von 38 Allkauf-SB-Warenhäusern von

der Belieferung ihrer HiFi-Fachabteilungen mit Farbfernsehern der Marke SABA,

aber unzureichende Feststellungen für Videorecorder und andere Produkte. Tra-

gende Faktoren: Zahl der durchschnittlich von Fachgeschäften und Kaufhäusern

geführten Marken, Distributionsraten von SABA und konkurrierenden Marken. Be-

lieferung mit den konkurrierenden Marken Grundig, Nordmende und Philips bei

Farbfernsehern danach noch nicht ausreichend für hinreichendes Sortiment. Bei

Videorekordern hingegen wird nicht hinreichend erläutert, warum nicht noch weite-

re Hersteller in die Spitzengruppe einzubeziehen sein sollen.

BGH, 24.03.1987, KZR 39/85, WuW/E BGH 2419, juris-Rn. 15ff. – SABA

Keine Spitzengruppenabhängigkeit der Betreiberin eines SB-Warenhauses in Göt-

tingen von der Belieferung ihrer HiFi-Fachabteilung mit Produkten der Marke SA-

BA. Tragende Faktoren: Bei Farbfernsehgeräten hat das Berufungsgericht den

Vortrag übergangen, dass mittlerweile auch japanische Hersteller zur Spitzen-

gruppe gehören. Zudem keine hinreichende Differenzierung zwischen der Zahl der

erforderlichen Marken insgesamt und der Zahl der erforderlichen Spitzenmarken.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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BGH, 12.05.1998, KZR 25/96, WRP 1999, 203, juris-Rn. 28 –

Hochwertige Kosmetikartikel

Keine Spitzengruppenabhängigkeit einer Parfümerie von der Belieferung mit Kos-

metika der Marke „Biotherm“. Tragende Faktoren: Anspruchstellerin wird von allen

anderen Anbietern beliefert.

BGH, 09.05.2000, KZR 28/98, WuW/E DE-R 481 juris-Rn. 19 –

Designer-Polstermöbel

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit eines Möbelfachgeschäfts von der

Fortsetzung der Belieferung mit Design-Polstermöbeln der Marke Cassina. Tra-

gende Erwägungen: 80% von 166 benannten vergleichbaren Fachgeschäften füh-

ren Cassina, daher hohe Distributionsrate. Einzigartige Sortimentsvielfalt von Cas-

sina mit der Folge, dass das Fehlen ihrer Produkte im Sortiment nur durch die

Präsenz mehrerer anderer Hersteller kompensiert werden kann. Spitzengruppe

bestehend aus Cassina, B&B Italia, Knoll International, Cor, De Sede, ClassiCon

und Wittmann. Explizite Ablehnung der Belieferung durch Cor und De Sede, keine

Antwort von B&B Italia, Belieferung von Knoll nur zu Konditionen eines Gelegen-

heitshändlers. Auf dieser Grundlage besteht Spitzengruppenabhängigkeit (auch)

von Cassina.

BGH, 04.11.2003, KZR 2/02, WuW/E DE-R 1203, juris-Rn. 11ff. –

Depotkosmetik im Internet

Bejahung von Spitzengruppenabhängigkeit eines kleinen Online-Händlers von der

Belieferung mit Parfums der Marken Lancaster, Jil Sander, Davidoff und JOOP!.

Tragende Faktoren: Notwendigkeit einer gewissen Sortimentsbreite auch im stati-

onären Vertrieb anerkannt, Hersteller erlegt eigenen Depositären selbst eine sol-

che Verpflichtung auf. Zudem auch keine Belieferung durch andere Mitglieder der

Spitzengruppe.

BGH, 13.07.2004, KZR 17/03, WuW/E DE-R 1377, juris-Rn. 9ff. –

Sparberaterin I

Sortimentsbedingte Abhängigkeit von Werbeagenturen von der Möglichkeit, für ih-

re Kunden von ihnen gestaltete Werbeanzeigen in den Gelben Seiten zu platzie-

ren. Tragende Erwägungen: Monopolähnliche Stellung der Gelben Seiten und der

weiteren von derselben Beklagten verlegten Verzeichnisse. Für Werbeagenturen

wichtig, auch dort für ihre Kunden Anzeigen schalten zu können.

BGH, 30.11.2011, KZR 6/09, WuW/E DE-R 3303, juris-Rn. 25ff. –

MAN-Vertragswerkstatt

Keine unternehmens- oder sortimentsbedingte Abhängigkeit eines Vertragshänd-

lers und Vertragswartungsbetriebs für Daimler-Nutzfahrzeuge von der Aufnahme

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Relative Marktmacht – Gutachten

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in das MAN-Vertragswerkstattnetz. Tragende Faktoren für sortimentsbedingte Ab-

hängigkeit: Klägerin kann auch ohne Vertragshändler-Status für MAN als Werk-

statt tätig sein. Sie ist bereits Daimler-Vertragswerkstatt. Zudem kann sie auch als

freie Werkstatt MAN Fahrzeuge warten und erhält auch Zugang zu Know-how und

Ersatzteilen. Dass sie nicht auch Garantie- und Kulanzleistungen für MAN durch-

führen kann, ist keine Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit als Werkstatt

für Nutzfahrzeuge.

OLG Düsseldorf, 13.11.2013, VI Kart 5/09 (V), noch n.v., S. 47 bis 50

Spitzenstellungsabhängigkeit kleinerer Großhändler von der Belieferung mit

Merck-Laborchemikalien. Tragende Faktoren: Hohe Marktanteile von Merck, hohe

Marktanteilsabstände, Ergebnisse einer Marktbefragung, Zertifizierungserforder-

nisse, Kundenpräferenzen.

OLG Düsseldorf, 25.06.2014, VI-U Kart 46/13, noch n.v., S. 22 bis 27

Kein hinreichender Sachvortrag zur Bejahung einer Spitzenstellungs- oder Spit-

zengruppenabhängigkeit eines Online-Händlers von Bettwaren hinsichtlich der Be-

lieferung u.a. mit Matratzen der Marke „Schlaraffia“, insb. kein Vortrag zur Distribu-

tionsrate.

ac) Fallgruppe 2: Mangelbedingte Abhängigkeit

Wie eingangs (unter aa)) ausgeführt beruht die mangelbedingte Abhängigkeit auf Versor-

gungsengpässen auf Herstellerebene, deren Folgen für die Struktur der nachgelagerten

Marktstufen durch das Eingreifen des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots in ihren

negativen Wirkungen moderiert werden sollen. Es wurde bereits dargelegt, dass gerade

diese Spielart relativer Marktmacht vor dem Hintergrund der Ölkrise 1973 einer der beiden

Auslöser für die Aufnahme von Bestimmungen über relative Marktmacht in das Gesetz

war (hierzu oben unter C. II. 1. a)).

Voraussetzung der Annahme relativer Marktmacht ist eine nicht längerfristig vorhersehba-

re Mangellage, etwa durch ein Embargo ausländischer Staaten, Streiks oder Katastro-

phenfälle.130 Die dieser Fallgruppe zuzuordnenden Fälle sind in der Praxis so vereinzelt

geblieben wie die entsprechenden Mangellagen. Fälle aus jüngerer Zeit, in denen die Ab-

hängigkeit unter diesem Aspekt zu bejahen war, sind nicht ersichtlich.

Kammergericht Berlin, 04.07.1974, Kart 27/74, WuW/E OLG 1499, 1502 –

AGIP II

Bejahung von Abhängigkeit eines kleineren Zwischenhändlers von Mineralölpro-

dukten von der AGIP bei Vergaserkraftstoffen. Tragende Faktoren: Die Entschei-

dungsgründe stellen auf die vorher bestehende Geschäftsbeziehung ab und die

130

Beispiele nach Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 42.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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erheblichen Preisdifferenzen beim Bezug aus anderen Quellen, ohne dass die Öl-

krise bzw. deren Nachwirkungen explizit angeführt werden.

Bundeskartellamt, Tätigkeitsberichte 1973, 1974, 1975, 1979/80

Den Tätigkeitsberichten des Bundeskartellamts für die o.g. Jahre ist zu entneh-

men, dass das Bundeskartellamt die von der 4. GWB-Novelle ins Auge gefassten

Repartierungspflichten bei Mangellagen131 im Mineralölbereich angesichts der

durch die Ölkrise angespannten Versorgungssituation durchsetzte.132 Bei der wei-

teren Ölkrise 1979/80 wiederholte sich der Vorgang.133

OLG Düsseldorf, 26.11.2014, VI-U (Kart) 51/12, noch n.v., S. 89f.

Verneinung der mangelbedingten Abhängigkeit eines der führenden italienischen

Hersteller von Solarzellen von der Belieferung mit Solar-Wafern, auch vor dem

Hintergrund einer bestehenden Silizium-Knappheit. Tragende Faktoren: Nicht dar-

getan, dass die Belieferung nicht aus anderen Quellen hätte erfolgen können.

ad) Fallgruppe 3: Unternehmensbedingte Abhängigkeit

(Vertragshändler – Ersatzteile – Verbrauchsmaterialien)

Die unternehmensbedingte Abhängigkeit lässt sich – wie bereits dargelegt (oben un-

ter aa)) – als eine Pfadabhängigkeit verstehen, die ihre Ursache in vorangegangenen ei-

genen Entscheidungen des Nachfragers oder seiner Kunden hat, welche sich im Nach-

hinein nicht ohne weiteres korrigieren lassen bzw. ein Ausweichen auf im Grunde vorhan-

dene vergleichbare Produkte anderer Anbieter erschweren („lock-in-Effekt“). Bei diesen

Entscheidungen kann es sich etwa um geschäftspolitische (Beispiel: exklusive Bindung an

Hersteller als dessen Vertragshändler) oder auch nur rein investive Entscheidungen han-

deln (Beispiel: Ersatzteilfälle). Solche Abhängigkeiten zu erfassen ist eines der Hauptan-

liegen der Pa.Iv. Altherr.134

(1) Grundsätze

(a) Am Anfang der Rechtsentwicklung zur unternehmensbedingten Abhängigkeit

standen die Vertragshändlerfälle, in denen ein Händler die geschäftspolitische Entschei-

dung einer auf lange Sicht angelegten Bindung an einen bestimmten Hersteller getroffen

und entsprechende Investitionen getätigt hatte, etwa in die Ausgestaltung seiner Ge-

schäftsräume, die Ausbildung seiner Mitarbeiter und die entsprechenden Gerätschaften

im Wartungsbereich. Der vom deutschen Bundesgerichtshof für diese Fallgestaltungen

entwickelte Obersatz lautet nach einer Zusammenfassung in einer Entscheidung aus dem

131

Bericht des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 13.06.1973, BT-Drucks. 7/765, S. 10, linke Spalte, oben. 132

TB 1973, BT-Drucks. 7/2250, S.75, rechte Spalte; TB 1974, BT-Drucks. 7/3791, S. 42: markt-beherrschendes Oligopol der fünf größten Mineralölgesellschaften, aber AGIP-Verfahren über rela-tive Marktmacht, S. 45; TB 1975, BT-Drucks. 7/5390, S. 46. 133

TB 1979/80, BT-Drucks. 9/565, S. 44f.. 134

Im Internet unter www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20140449.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Jahre 1988:

„Eine unternehmensbedingte Abhängigkeit, um die es hier geht, setzt voraus, daß

die Klägerin ihren Geschäftsbetrieb so stark auf die Produkte der Beklagten aus-

gerichtet hat, daß sie nur unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsnachteile auf

die Vertretung eines anderen Automobilherstellers überwechseln kann (vgl. den

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. GWB-Novelle, BT-Drucks. 7/765, S. 9f).

Das ist im allgemeinen unabhängig davon der Fall, ob sich die für die Betriebsein-

richtung erforderlichen Investitionen bereits amortisiert haben oder nicht (Nach-

weis).“135

Auf diese Rechtsprechung rekurriert der Bundesgerichtshof weiterhin.136

Innerhalb dieser Fallgruppe ist regelmäßig das „Problem der selbst geschaffenen Abhän-

gigkeit“ zu erörtern (hierzu bereits oben unter 1. b) a.E.). Denn es ist im deutschen Recht

anerkannt, dass grundsätzlich jeder Hersteller frei darin ist, über die Ausgestaltung seines

Vertriebs in eigener Verantwortung zu entscheiden und dass die Regelungen des § 20

Abs. 1 GWB keinen Sozialschutz des Vertragshändlers bezwecken.137 Sachgerechter

Weise ist das Problem der selbst geschaffenen Abhängigkeit jedoch nicht bereits auf der

Ebene des Bestehens relativer Marktmacht, sondern erst im Rahmen der Interessenab-

wägung innerhalb der Verbotsnorm des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB zu berücksichti-

gen.

(b) Die zweite Fallgestaltung der rein investiv begründeten lock-in-Effekte wird dage-

gen in der deutschen Rechtspraxis nicht nur als Fall unternehmensbedingter Abhängigkeit

angesehen, sondern meist schon als Fall der Marktbeherrschung i.S.d. § 19 Abs. 1, § 18

Abs. 1, Abs. 3 GWB. Hierunter rechnen insbesondere die Fälle, in denen es um den Be-

zug von Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien für ein langlebigeres Investitionsgut

geht.

Dieser Fallgruppe erfasst eine breite Vielzahl von Anwendungsfällen, die auch im Zuge

der Pa.Iv. Altherr diskutiert werden, wie z.B. die Beschaffung von Updates für eine in ei-

nem Unternehmen eingeführte und genutzte Software, die Wartung für komplexe Anla-

gen, die Beschaffung von Ersatzstücken für das in einem Hotel eingesetzte Geschirr oder

von vom Kunden gewünschten Original-Ersatzteilen für die Reparatur seines Fahrzeugs.

Der deutsche Bundesgerichtshof neigt hier regelmäßig dazu, die nachgelagerten Märkte

(Aftermarkets) für Ersatzteile und Verbrauchsgüter als vom Hersteller beherrscht anzuse-

hen, da der Wettbewerb um den Absatz des Investitionsguts auf dem Primärmarkt regel-

mäßig nicht dazu führt, dass der Verhaltensspielraum des Erzeugers des Investitionsguts

auf den Aftermarkets hinreichend begrenzt würde. Charakteristisch hierfür ist etwa die

135

BGH, 23.02.1988, KZR 20/86, WuW/E BGH 2491, juris-Rn. 25 – Opel-Blitz. 136

Z.B. BGH, 30.03.2011, KZR 7/09, GRUR-RR 2011, 391, juris-Rn. 26. 137

Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 51, § 19 Rn. 225, 291ff. m.w.N..

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall Soda-Club II:

„Für die Marktabgrenzung sind alle Produkte zusammenzufassen, die sich auf-

grund ihrer Merkmale zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs besonders

eignen und mit anderen Erzeugnissen austauschbar sind (zu Art. 82 EG EuGH,

Urt. v. 9.11.1983-322/81, Slg. 1983, 3461 Tz. 37 = WuW/E EWG/MUV 642 - Mi-

chelin; zu § 19 GWB BGHZ 170, 299 Tz. 18 - National Geographic II). Stehen den

Nachfragern zur Deckung eines bestimmten Bedarfs unterschiedliche Systeme zur

Verfügung, bedeutet dies indessen nicht, dass auch dann, wenn es um die Be-

stimmung des Marktes geht, auf dem ein Betriebsmittel für ein solches System an-

geboten wird, das andere System ohne weiteres als Bezugsalternative anzusehen

ist. Wird durch die Wahl eines auf eine längerfristige Benutzung angelegten Sys-

tems ein davon abgeleiteter spezifischer Bedarf nach einem Betriebsmittel ge-

weckt, kommt es vielmehr entscheidend darauf an, welche Alternativen sich für

den Nachfrager, der sich bereits für ein System entschieden hat, bei der Wahl des

Betriebsmittels stellen (vgl. BGHZ 77, 279, 287 f. - Mannesmann-Brueninghaus;

151, 27 4, 282 - Fernwärme für Börnsen; Möschel in lmmenga/Mestmäcker, Wett-

bewerbsrecht GWB, 4. Aufl., § 19 Rdn. 28 m.w.N.). Wettbewerbskräfte, die in einer

solchen Situation beim Nachfrager Zweifel an der Entscheidung für ein bestimmtes

System wecken können, sind nicht bei der Bestimmung des relevanten Marktes,

sondern - im deutschen Kartellrecht üblicherweise als Substitutionswettbewerb be-

zeichnet - bei der Frage einer überragenden Marktstellung zu berücksichtigen (vgl.

BGHZ 82, 1, 5 - Zeitungsmarkt München; BGH, Beschl. v. 22.9.1987- KVR 5/86,

WuW/E 2433, 2441 - Gruner+Jahr/Die Zeit II; BGHZ 170, 299 Tz. 18- National

Geographic II, m.w.N.).“138

Auf Basis einer auf den Aftermarket beschränkten Marktabgrenzung bejaht der Bundes-

gerichtshof folglich bereits das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung des Her-

stellers, sofern die Ersatzteile oder Verbrauchsmaterialien allein139 oder überwiegend140

von ihm angeboten werden. In der Vergangenheit hatte der Bundesgerichtshof diese Fälle

noch über das Konzept der relativen Marktmacht behandelt.141 Bestehen mehrere theore-

tische Bezugsmöglichkeiten, ist dafür weiterhin das Prüfraster der relativen Marktmacht

der passendere Analyserahmen.142

Für Fälle, in denen es um Ersatzteile oder Verbrauchsmateriealien geht, bedarf es nach

der neueren deutschen Rechtsanwendungspraxis folglich häufig nicht mehr des Rück- 138

BGH, 04.03.2008, KVR 21/07, WuW/E DE-R 2268 Rn. 15 – Soda-Club II. 139

BGH, 27.04.1999, KZR 35/97, WuW/E DE-R 357 juris-Rn. 8 – Feuerwehrgeräte; ferner BGH, 12.02.1980, WuW/E BGH 1729, juris-Rn. 9 – Ölbrenner I. So auch bereits vor Einführung des Kon-zepts der relativen Marktmacht: BGH, 26.10.1972, KZR 54/71, WuW/E BGH 1238 juris-Rn. 17 – Registrierkassen. 140

BGH, 04.03.2008, KVR 21/07, WuW/E DE-R 2268 Rn. 26ff. – Soda-Club II. 141

Vgl. etwa BGH, 08.05.1990, KZR 23/88, WuW/E BGH 2647 juris-Rn. 17, 19 – Nora-Kunden-Rückvergütung. 142

Z.B. BGH, 03.02.1988, KVR 2/87, WuW/E BGH 2479 juris-Rn. 12ff – Reparaturbetrieb.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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griffs auf das Konzept der relativen Marktmacht i.S.d. § 20 Abs. 1 Satz 2 GWB. Vielmehr

deutet die Rechtsprechung darauf hin, dass in diesen Fällen ein Gleichlauf zwischen rela-

tiver und absoluter Marktmacht besteht.143 Gleichwohl zeigt sich gerade in diesen Fällen

die Stärke der Konzeption des deutschen GWB, von der Schwelle relativer Marktmacht

bis zum Monopol einheitlich den Schutz durch die Sachnorm des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1

GWB bereitzustellen, so dass die oft nur mit besonderen Aufwand zu klärende Frage des

Vorliegens von Marktbeherrschung nicht mehr von ausschlaggebender Bedeutung für den

Rechtsstreit sein muss.

(2) Einzelfälle

Auch in dieser Fallgruppe ist die Betrachtung eines Samples von Einzelfallentscheidun-

gen, in denen die Voraussetzungen unternehmensbedingter Abhängigkeit bejaht bzw.

verneint wurden, am besten geeignet, deren Konturen nachzuzeichnen:

BGH, 03.02.1988, KVR 2/87, WuW/E BGH 2479 juris-Rn. 12ff –

Reparaturbetrieb

Unternehmensbedingte Abhängigkeit eines Reparaturbetriebs für Gabelstapler von

der Belieferung mit Ersatzteilen durch den für das Gebiet zuständigen Vertrags-

händler des Herstellers. Tragende Faktoren: Belieferung durch Vertragshändler in

anderen Gebieten war nicht vertraglich vom Hersteller ausgeschlossen, wurde

aber faktisch verweigert. Unzumutbarkeit des Bezugs von Nicht-Vertragshändlern,

da diese kein vollständiges Lager vorhalten. Zudem räumlich weiter entfernt, daher

verzögerte Lieferung, ferner rechtliche Unsicherheit bzgl. der Zulässigkeit des Be-

zugs von Nicht-Vertragshändlern.

BGH, 23.02.1988, KZR 20/86, WuW/E BGH 2491, juris-Rn. 25ff. – Opel-Blitz

Leitentscheidung zur unternehmensbedingten Abhängigkeit von Kfz-

Vertragshändlern, die ihren Geschäftsbetrieb auf einen bestimmten Hersteller

ausgerichtet haben. Tragende Faktoren: Umfangreiche vertragsspezifische Investi-

tionen lassen es nur unter Inkaufnahme großer Wettbewerbsnachteile zu, auf ei-

nen anderen Hersteller umzuschwenken.

BGH, 19.01.1993, KVR 25/91, WuW/E BGH 2875 juris-Rn. 21 –

Herstellerleasing

Bejahung von unternehmensbedingter Abhängigkeit der Vertragshändler von der

Belieferung durch VW beim Verkauf von Neufahrzeugen an Wiederverkäufer.

143

Vgl. BGH, 27.04.1999, KZR 35/97, WuW/E DE-R 357 juris-Rn. 8 a.E. – Feuerwehrgeräte: „Für die Beurteilung der Marktbeherrschung nach § 20 Abs. 1 und einer Abhängigkeit nach § 20 Abs. 2 GWB n.F. gilt insoweit nichts anderes als in Anwendung des § 26 Abs. 2 GWB a.F..“

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Relative Marktmacht – Gutachten

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BGH, 19.01.1993, KZR 1/92, WuW/E BGH 2855, juris-Rn. 10 – Flaschenkästen

Verneinung unternehmensbedingter Abhängigkeit eines Nachfragers nach von der

Norm abweichenden Flaschenkästen für individuellen Flaschentyp, deren Ferti-

gung ein besonderes Werkzeug voraussetzt. Tragende Faktoren: Der Anspruch-

steller hatte zwar für drei Monate keine Ausweichmöglichkeiten, nachdem der bis-

herige Lieferant die Fertigung des individuellen Flaschenkastens für ihn eingestellt

hatte. Dies hat er aber selbst zu verantworten, weil er mit dem bisherigen Lieferan-

ten keine Kündigungsfrist vereinbart hatte, die so lang war, dass in dieser Zeit ein

alternativer Lieferant ein entsprechende Werkzeug hätte anfertigen können. Ange-

sichts dieses eigenen Versäumnisses, dessen Vermeidung zumutbar war, fehlt es

an der Abhängigkeit.

BGH, 27.04.1999, KZR 35/97, WuW/E DE-R 357 – Feuerwehrgeräte

Bejahung von Marktbeherrschung des Herstellers von Feuerwehrfahrzeugen und

entsprechenden Originalersatzteilen gegenüber einem (von ehemaligen Mitarbei-

tern des Herstellers) neu gegründeten Wartungs- und Reparaturbetrieb für solche

Fahrzeuge, der für die entsprechenden Arbeiten Originalersatzteile beziehen woll-

te. Tragende Faktoren: Hohe Wertschätzung des Verkehrs für Originalersatzteile.

BGH, 28.056.2005, KZR 26/04, WuW/E DE-R 1621 juris-Rn. 15 –

Qualitative Selektion

Nicht nur Kfz-Vertragshändler, sondern auch reine Vertragswerkstätten sind von

Kfz-Herstellern unternehmensbedingt abhängig.

BGH, 04.03.2008, KVR 21/07, WuW/E DE-R 2268 – Soda-Club II

Bejahung von Marktbeherrschung des Herstellers von Besprudelungssystemen für

Leitungswasser auf dem nachgelagerten Markt für die Befüllung von CO2-

Zylindern für diese Besprudelungssysteme. Tragende Faktoren: Hohe Marktanteile

des Herstellers auf dem nachgelagerten Markt für Befüllungsleistungen. Kein hin-

reichender Wettbewerbsdruck vom vorgelagerten Systemmarkt, auf dem die Be-

sprudelungssysteme mit Fertigwässern konkurrieren. Kein hinreichender Wettbe-

werbsdruck durch Anbieter von CO2 für Zylinder, die in Zapfanlagen, Hausbars,

Coca-Cola-Maschinen, Feuerlöschern und der Aquaristik zum Einsatz kommen.

BGH, 30.11.2011, KZR 6/09, WuW/E DE-R 3303 – MAN-Vertragswerkstatt

Keine unternehmens- oder sortimentsbedingte Abhängigkeit eines Vertragshänd-

lers und Vertragswartungsbetriebs für Daimler-Nutzfahrzeuge von der Aufnahme

in das MAN-Vertragswerkstattnetz. Tragende Faktoren für unternehmensbedingte

Abhängigkeit: Klägerin war noch nicht Vertragswerkstatt von MAN, sondern möch-

te es erst werden, daher kein lock in-Effekt.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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OLG Stuttgart, 09.12.2013, 2 U 148/12, noch n.v., S. 23, 44

Marktbeherrschende Stellung von Porsche auf dem Markt des Vertriebs von Por-

sche-Neufahrzeugen und Porsche-Originalteilen für Tuning-Zwecke. Tragende

Faktoren: Keine Ausweichmöglichkeit auf den Erwerb von Neufahrzeugen bei Por-

sche-Vertragshändlern, da zweifelhaft ist, ob deren Händlerverträge einen solchen

Vertrieb zulassen.

OLG Düsseldorf, 26.11.2014, VI-U (Kart) 51/12, noch n.v., S. 89f.

Verneinung der unternehmensbedingten Abhängigkeit eines der führenden italie-

nischen Hersteller von Solarzellen von der Belieferung mit Solar-Wafern. Tragende

Faktoren: Unzureichender Vortrag, dass nur die Beklagte zur einer Belieferung im

gewünschten Umfang in der Lage sei, da nicht erläutert wurde, warum eine Belie-

ferung aus einer Hand nötig gewesen sein sollte.

ae) Fallgruppe 4: Relative Nachfragemacht

Sowohl die deutsche Regelung des § 20 Abs. 1 GWB als auch die Vorschläge der Pa.Iv.

Altherr erstrecken das Konzept der relativen Marktmacht gleichermaßen auf Angebots-

macht wie auf Nachfragemacht.

(1) Grundsätze

Eingangs (unter aa)) wurde bereits darauf verwiesen, dass die relative Marktmacht eines

Nachfragers gegenüber einem Anbieter auf denselben Ursachen beruhen kann, wie sie

aus dem Bereich der Angebotsmacht bekannt sind: Der sortimentsbedingten Abhängigkeit

ähnelt die Konstellation, dass ein Anbieter gerade (auch) einen bestimmten Nachfrager

als Absatzkanal benötigt, um sein Produkt überhaupt erfolgreich im Markt platzieren zu

können („gatekeeper-Funktion“, Beispiel: Pharmagroßhandel). Ferner kann es auch hier

durch eine einseitige Ausrichtung auf die Nachfrage bestimmter Anbieter zu einer unter-

nehmensbedingten Abhängigkeit eines Anbieters kommen (Beispiel: Automobilzulieferer).

Theoretisch vorstellbar ist weiter auch die Abhängigkeit von Nachfragern in Folge eines

allgemeinen Nachfrageeinbruchs. Insofern kann für die Voraussetzungen relativer Nach-

fragemacht – mutatis mutandis – auf die Darlegungen zu den o.g. Fallgruppen (unter ab)

bis ad)) verwiesen werden.

Dabei ist indes zum einen zu berücksichtigen, dass im Fokus der deutschen Anwen-

dungspraxis zur relativen Marktmacht bislang Fälle der Lieferverweigerung oder der Be-

endigung von Geschäftsbeziehungen durch Hersteller standen. Die Verfahren waren

dementsprechend auf die erstmalige oder erneute Aufnahme der Belieferung gerichtet.

Spiegelbildlich zur Belieferungspflicht im Falle der Angebotsmacht ist jedoch bei der

Nachfragemacht die Begründung einer Abnahmepflicht des relativ marktmächtigen Ab-

nehmers. Diese stellt jedoch einen ungleich weitergehenden Eingriff in den Marktprozess

dar, als die Begründung einer Lieferpflicht eines Anbieters. Denn während im Regelfall

das Interesse jedes Lieferanten unterstellt werden kann, möglichst alle sich bietenden

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Absatzchancen zu nutzen, kann umgekehrt kein Interesse jedes Nachfragers unterstellt

werden, möglichst von allen vorhandenen Anbietern zu beziehen.144 Dies setzt der Nor-

manwendung in Fällen relativer Nachfragemacht deutlich engere Grenzen als in Fällen

relativer Angebotsmacht.

Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die methodischen Grundlagen der Bemessung

von Nachfragemacht sowohl in der Ökonomik als auch in den Rechtswissenschaften noch

recht weit am Anfang stehen, auch wenn die Problematik an sich bereits in den 1980er

Jahren die Gesetzgebung beschäftigt hat (hierzu oben unter C. II. 1 b) bis d)). Das Bun-

deskartellamt hat dem Thema im Jahre 2008 eine Tagung des von ihm initiierten Arbeits-

kreises Kartellrecht gewidmet.145 Ferner hat es für den am meisten betroffenen Bereich

des Lebensmitteleinzelhandels jüngst eine Sektoruntersuchung durchgeführt, um die

Problematik näher zu beleuchten.146

(2) Einzelfälle

Vor diesem Hintergrund ist die Fallpraxis in Deutschland zu Fällen relativer Nachfrage-

macht bislang überschaubar geblieben. Beispielsfälle sind die Folgenden:

BGH, 12.05.1976, KZR 14/75, WuW/E BGH 1423, juris-Rn. 22 – Sehhilfen

Bejahung der Spitzenstellungsabhängigkeit eines Optikermeisters von der Beliefe-

rung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Tragende Faktoren: Anteil der

betroffenen AOK am Kassenumsatz des Klägers von etwa einem Drittel, Anteil der

übrigen AOKn ein Fünftel, nur 5% Umsatz des Klägers mit Privatpatienten.

BGH, 13.11.1990, KZR 25/89, WuW/E BGH 2683, juris-Rn. 12f. –

Zuckerrübenanlieferungsrecht I

Bejahung der Abhängigkeit eines Rübenbauern von Zuckerfabrik durch das Beru-

fungsgericht vom BGH aufgehoben. Tragende Faktoren: Keine hinreichenden

Feststellungen zu weiteren Ausweichmöglichkeiten bei der Anlieferung von Zu-

ckerrüben.

BGH, 22.03.1994, KZR 9/93, WuW/E BGH 2919, juris-Rn. 20ff. –

Orthopädisches Schuhwerk

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit einer Werkstatt für die Herstellung von

orthopädischem Schuhwerk von den gesetzlichen Krankenkassen. Tragende Fak-

toren: Werkstatt erzielt mit den Krankenkassen 80% ihrer Umsätze, kein Wettbe-

werb unter den Sozialversicherungsträgern.

144

Darauf verweist etwa BGH, 14.01.1997, KZR 30/95, WuW/E BGH 3104 juris-Rn. 15 – Zucker-rübenanlieferungsrecht II. 145

BKartA, Papier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 18.09.2008 und weitere Unterla-gen, im Internet unter www.bundeskartellamt.de. 146

BKartA, Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel, September 2014, im Internet unter www.bundeskartellamt.de.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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BGH, 21.02.1995, KVR 10/94, WuW/E BGH 2990, juris-Rn 17ff. –

Importarzneimittel

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit eines Importeurs von Arzneimitteln von

einem Pharmagroßhandelsunternehmen mit 14% Marktanteil. Tragende Faktoren:

Auch kein anderer Großhändler war zur Abnahme bereit, Direktvertrieb an Apo-

theken ist zwar nicht unmöglich und in gewissem Umfang vom Importeur auch

praktiziert worden. Alleiniger Direktvertrieb ist jedoch mit wirtschaftlichen Nachtei-

len verbunden. Existenzgefährdung ist keine Voraussetzung der Abhängigkeit.

BGH, 24.09.2002, KVR 8/01, WuW/E DE-R 984, juris-Rn 31ff. –

Konditionenanpassung

Verneinung der Abhängigkeit entgegen dem Bundeskartellamt. Das Amt hatte die

Abhängigkeit aller Lieferanten vom Handelsunternehmen Metro unterstellt, die

mehr als 7,5% ihrer Gesamterzeugung an die Metro absetzen. Tragende Faktoren:

Selbst bei einer Absatzquote von mehr als 10% an Metro-Gesellschaften könnten

individuelle Ausweichmöglichkeiten bestehen. Auch der Schluss aus der Akzep-

tanz der Forderung von Sonderzahlungen in Ansehung der Fusion Metro/Allkauf

(sog. „Hochzeitsboni“) rechtfertige nicht den Schluss auf die Abhängigkeit.

BKartA, 03.07.2014, B2-58/09, www.bundeskartellamt.de –

EDEKA-Konditionen

Bejahung der Abhängigkeit von Herstellern von Markenartikeln vom Handelsunter-

nehmen EDEKA anhand einer differenzierten Betrachtung der bilateralen Kräfte-

verhältnisse. Tragende Faktoren: Marktposition des Händlers auf der Absatzseite

(Markanteile, bundesweite Präsenz, Präsenz in mehreren Vertriebsschienen), sei-

ne Marktposition auf der Beschaffungsseite (Marktanteile, Bezugsquoten in der

Produktgruppe, „gatekeeper“-Funktion, Bedeutung von Handelsmarken, Einkaufs-

kooperationen, Präsenz im Fachhandel, Entwicklung im Zeitablauf, Anteil der Pro-

duktgruppe insgesamt am Umsatz), den Produktmarkt (Rolle von Werbeaktionen,

Rolle des Saisongeschäfts, Rolle der Markentreue der Kunden), Marktposition der

Hersteller insgesamt (Relevanz anderer Vertriebsschienen für den Absatz, Auf-

nahmekapazitäten bei anderen Handelsunternehmen, Ausweichmöglichkeiten auf

Herstellung von Handelsmarken) und Marktposition der einzelnen Hersteller indivi-

duell (Marktanteil, Sanktionen in der Vergangenheit und deren Auswirkungen, Lie-

ferquote bzgl. Produktgruppe, Lieferquote bzgl. Gesamtumsatz, Rolle der Zugehö-

rigkeit zu einem Konzern) – nicht bestandskräftig.

d) Bewertung

Die vorstehende Betrachtung der deutschen Fallpraxis zur Definition der relativen Markt-

macht in § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB rechtfertigt den Schluss, dass das Konzept der relativen

Marktmacht erprobt und ausgereift ist und weder unter dem Aspekt der Normklarheit zu

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Relative Marktmacht – Gutachten

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beanstanden ist, noch zu wettbewerbspolitisch nachteiligen Überreichweiten der Verbots-

normen führt.

aa) Normklarheit

Die Definition der relativen Marktmacht im deutschen GWB ist durch mittlerweile vier

Jahrzehnte der Rechtspraxis hinreichend konkretisiert worden. Der Großteil der Anwen-

dungsfälle entfiel dabei auf die Fallgruppen der sortimentsbedingten Abhängigkeit und der

unternehmensbedingten Abhängigkeit (Fallgruppen 1 und 3).

Der vorstehende Überblick über die höchstrichterlichen Entscheidungen zeigt deutlich,

dass zur sortimentsbedingten Abhängigkeit (Fallgruppe 1) die wesentlichen Rechtsfragen

bereits durch die Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs in den 1970er und 80er Jahren

geklärt wurden. Die nachgehende Rechtsprechung rekurriert bis in die Gegenwart auf die

in diesen Jahrzehnten gebildeten Fallgruppen und die entsprechenden Obersätze. Zudem

weisen in diesen beiden Jahrzehnten die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs noch

eine recht hohe Dichte auf, während die Zahl seiner Entscheidungen in den nachfolgen-

den Jahrzehnten deutlich zurückgeht. Dies verdeutlicht, dass ein größerer Bedarf zur

höchstrichterlichen Klärung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung bzw. zur

Rechtsfortbildung nicht mehr bestand.

Zu den Fällen der unternehmensbedingten Abhängigkeit (Fallgruppe 3) ist festzuhalten,

dass hier für die Unterfallgruppe der Vertragshändlerfälle bereits durch die Leitentschei-

dung des Bundesgerichtshofs im Fall Opel-Blitz im Jahre 1988 ein hinreichender Grad an

Rechtssicherheit erreicht wurde. Auch die letzten Entscheidungen des Bundesgerichts-

hofs zu dieser Fallgruppe nehmen weiterhin auf diese Leitentscheidung Rekurs. Die Fra-

ge, ob eine hinreichende Ausrichtung eines Händlers oder eines Wartungsbetriebes auf

einen Hersteller erfolgt ist, bereitet gerade in den praktisch im Zentrum stehenden Fällen

keine Probleme, wo es sich um Mitglieder eines besonderen Anforderungen unterliegen-

den Netzes handelt.

Für die Fälle des Zugangs zu Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien – der zweiten Un-

terfallgruppe der unternehmensbedingten Abhängigkeit – bereitet die Feststellung der

Abhängigkeit schon deswegen in der Praxis kaum Probleme, weil in den entsprechenden

Fällen bereits vor Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht im Jahre 1973 in

Deutschland sogar das Vorliegen von Marktbeherrschung, d.h. absoluter Marktmacht,

bejaht wurde, sofern der Hersteller den Vertrieb von Originalersatzteilen sich selbst ganz

oder zum Teil vorbehielt. Nur dann, wenn zumindest theoretisch mehrere Bezugsmöglich-

keiten von Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien in Betracht kommen, bedarf es des

Rückgriffs auf den Analyserahmen der relativen Marktmacht. Dann kann jedoch insbe-

sondere für die Zumutbarkeit der Bezugskonditionen auf dieselben Grundsätze zurückge-

griffen werden, wie für dieselbe Fragestellung im Rahmen der sortimentsbedingten Ab-

hängigkeit (dazu näher nachfolgend unter II. 3.).

Die Fälle einer mangelbedingten Abhängigkeit (Fallgruppe 2) sind dagegen so vereinzelt

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Relative Marktmacht – Gutachten

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geblieben wie die makroökonomischen Mangellagen, denen sie ihre Existenz verdankt.

Gleichwohl ergibt sich hier eine Konkretisierung der Normadressatenstellung schon aus

der Natur der Sache, nämlich aus dem trotz der Mangellage bestehenden eigenen Zu-

gang zu den betreffenden Gütern.

Konzeptionelle Unklarheiten bestehen allenfalls insofern, als das Konzept der relativen

Marktmacht auf den Bereich relativer Nachfragemacht übertragen wird (Fallgruppe 4):

Diese Unklarheit ist jedoch der Sache nach allein darauf zurückzuführen, dass die genau-

en Mechanismen der Wirkung, der Bemessung und der Bewertung von Nachfragemacht

von Ökonomik und Rechtswissenschaften generell noch nicht abschließend geklärt sind.

Die Rechtsunsicherheit betrifft daher die marktbeherrschende absolute Nachfragemacht

in gleiche Weise wie die relative Nachfragemacht.

Diese Unsicherheit wird jedoch lediglich hinsichtlich komplexerer Problemlagen praktisch

wie etwa hinsichtlich des Machtverhältnisses zwischen den Großunternehmen des Le-

bensmitteleinzelhandels und ihren Lieferanten. Im Übrigen lassen sich – ausweislich der

geschilderten Einzelfälle – weniger komplexe Problemlagen nach denselben Grundsätzen

lösen, wie innerhalb der Fallgruppen 1 und 3.

ab) Normreichweite

Auch unter dem Aspekt der Normreichweite gibt die deutsche Entscheidungspraxis zum

Umgang mit der Definition relativer Marktmacht keinen Anlass dazu, Überreichweiten bei

der Anwendung der Missbrauchsverbote zu befürchten. Insbesondere lässt sich an den

Einzelfällen belegen, dass eine Erweiterung der Normadressatenstellung der Miss-

brauchsverbote auf nur relativ marktmächtige Unternehmen nicht zu einer Erstarrung der

Marktprozesse geführt hat.

Im Gegenteil waren die Regelungen über relative Marktmacht eine Voraussetzung für die

Öffnung des Marktes gegenüber wettbewerblichen Prozessen wie dem Aufkommen neuer

Handelsformen. Die Rechtsprechung hat entsprechend betont, dass die Regelungen über

die relative Marktmacht nicht nur die Fortdauer bestehender Lieferbeziehungen schützen

sollen, sondern gerade auch solche Unternehmen, die neu auf den Markt kommen oder

die ihr das Sortiment erweitern wollen; das Abstellen auf die an der Vergangenheit orien-

tierte Verbrauchererwartung würde stattdessen zu dem wettbewerbsschädlichen Ergebnis

führen, dass das betreffende Unternehmen sein überkommenes eingeschränktes Sorti-

ment beibehalten müsste.147

Gleichzeitig hat die Rechtsprechung aber auch laufend überprüft, ob eine einmal beste-

hende relative Marktmacht noch fortbesteht, und auf dieser Grundlage beispielsweise im

Fall SABA im Jahre 1987 weitere Feststellungen zu der Frage für erforderlich erachtet, in

welchem Umfang japanische Produkte der Unterhaltungselektronik mittlerweile als Mit-

147

BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 14 m.w.N. – adidas; ferner auch BGH, 26.06.1979, KZR 7/78, WuW/E BGH 1620, juris-Rn. 26– Revell Plastics.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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glieder der Spitzengruppe zu betrachten sind148, während diese Betrachtung 1979 noch

entbehrlich schien149.

Schließlich hat die Rechtsprechung die Voraussetzungen relativer Marktmacht stets minu-

tiös, am bilateralen Einzelfall und mit Bezug auf konkrete einzelne Produktgruppen ge-

prüft. So gelangte der Bundesgerichtshof Ende 1986 zu der Einschätzung, dass die All-

kauf-SB-Warenhäuser von der Belieferung mit SABA-Fernsehgeräten abhängig seien, es

sei aber nicht dargetan, dass dies auch bezüglich Videorecordern und anderer HiFi-Artikel

der Fall sei.150 Kurz darauf, Anfang 1987, entschied der Bundesgerichtshof dann, dass ein

Einzelwarenhaus-Betreiber in Göttingen auch bezüglich SABA-Fernsehgeräten seine Ab-

hängigkeit nicht hinreichend dargelegt habe.151

Diese Beispiele unterstreichen, dass das Konzept der relativen Marktmacht eine bilaterale

Sichtweise einnimmt, die auf die Verhältnisse im jeweiligen Entscheidungszeitpunkt Be-

zug nimmt und sich damit in der Lage zeigt, Entwicklungen des Marktumfelds flexibel zu

folgen. Dass eine Verfestigung der Marktergebnisse damit gerade nicht eintritt, lässt sich

zumindest indiziell damit belegen, dass einige Marken, deren Artikel als Spitzengruppen-

produkte Gegenstand der o.g. Fallbeispiele waren, mittlerweile vom Markt verschwunden

sind (z.B. SABA, Telefunken), während andere bis in die Gegenwart hinein erfolgreich

sind (z.B. Rossignol, adidas, Carrera).

Eine Überreichweite weist die Norm schließlich auch insofern nicht auf, als sie relative

Angebots- und Nachfragemacht gleichermaßen erfasst. Zum einen stand für den deut-

schen Gesetzgeber sowohl in den 1980er Jahren als auch seit Mitte des letzten Jahr-

zehnts das Problem der kartellrechtlichen Eingrenzung von Nachfragemacht besonders

im Fokus und löste mehrere gesetzliche Nachbesserungen aus (hierzu oben unter C. II. 1

b) bis d)). Zum anderen kann im Einzelfall unklar sein, wer Anbieter und wer Nachfrager

einer Leistung ist (z.B. bei der Einspeisung von TV-Signalen in ein Breitbandkabelnetz).

Schließlich wurde dargelegt, dass auch aus Sicht des Verfassungsrechts (hierzu oben

unter C. I.) der Schutz vor Missbrauch wirtschaftlicher Macht unabhängig davon geboten

ist, ob sich diese Macht in Händen eines Anbieters oder Nachfragers befindet.

Dementsprechend sah sich der deutsche Gesetzgeber in den vergangenen vier Jahrzehn-

ten auch nicht zu Änderungen an der Definition der relativen Marktmacht veranlasst.

2. Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs bei Angebotsmacht auf kleine

und mittlere Unternehmen (KMU-Klausel)

Die deutschen Regelungen zur relativen Marktmacht unterscheiden in ihrem persönlichen

148

BGH, 24.03.1987, KZR 39/85, WuW/E BGH 2419, juris-Rn. 17, 19, 21 – SABA. 149

BGH, 17.01.1979, KZR 1/78, WuW/E BGH 1567, juris-Rn. 19 – Nordmende/Allkauf 150

BGH, 16.12.1986, KZR 25/85, WuW/E BGH 2351, juris-Rn. 35ff. – Belieferungsunwürdige Ver-kaufsstätten II. 151

BGH, 24.03.1987, KZR 39/85, WuW/E BGH 2419, juris-Rn. 15ff. – SABA.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Schutzbereich zwischen relativer Angebotsmacht und relativer Nachfragemacht: Während

die Regelungen gegenüber Unternehmen mit relativer Angebotsmacht in § 20 Abs. 1

GWB nur kleinen und mittleren Nachfragern Schutz gewähren, enthalten die Regelungen

in § 20 Abs. 2 GWB gegenüber Unternehmen mit relativer Nachfragemacht keine ent-

sprechende Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs. Großunternehmen sind

damit in Deutschland zwar vor relativer Nachfragemacht, nicht aber vor relativer Ange-

botsmacht geschützt. Keine Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs enthält der

Vorschlag der Pa.Iv. Altherr (zum Ganzen bereits oben unter A. I.).

Im Folgenden werden zunächst Genese und Rational der Einschränkung rekapituliert

(hierzu unter a)). Im Anschluss daran wird die deutsche Praxis zum Begriff der „kleinen

und mittleren Unternehmen“ (im Folgenden auch: KMU) im Grundsätzlichen und anhand

von Einzelfällen dargestellt (hierzu unter b) und c)). Ergänzend dazu werden Einzelfälle

aus der Zeit vor Einschränkung des Schutzbereichs aufgeführt (hierzu unter d)). Ab-

schließend wird die Einschränkung bewertet (hierzu unter e)).

a) Genese und Rational der Einschränkung 1989

Es wurde bereits dargelegt, dass auch die deutschen Regelungen zur relativen Markt-

macht bei ihrer Einführung im Jahre 1973 zunächst keine Einschränkung des persönli-

chen Schutzbereichs enthielten, dass dann jedoch – vor dem Hintergrund zunehmender

Nachfragemacht des Handels – durch die 5. GWB-Novelle 1989 für den Bereich der rela-

tiven Marktmacht von Anbietern der persönliche Schutzbereich der Norm insgesamt – d.h.

sowohl für Anbieter als auch für Nachfrager – auf kleine und mittlere Unternehmen be-

schränkt wurde (hierzu oben unter C. II. 1. c)). Diese Einschränkung wurde dann für den

Bereich des Schutzes vor relativer Nachfragemacht durch die Preismissbrauchsnovelle

2007 wieder rückgängig gemacht, so dass nach § 20 Abs. 2 GWB auch Großunterneh-

men als Anbieter in den persönlichen Schutzbereich der Norm fallen (hierzu oben unter C.

II. 1. d)).

Das Rational des Gesetzgebers bei der Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs

auf kleine und mittlere Unternehmen lässt sich auf die Formel bringen, dass Großunter-

nehmen sich auch in Fällen des Fehlens zumutbarer und ausreichender Ausweichmög-

lichkeiten schon aufgrund ihrer Größe selbst zu helfen wüssten. Die entsprechenden Aus-

führungen der Gesetzesbegründung seien hier noch einmal im Original wiedergegeben:

„Zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen kann auf die Lieferpflicht nach wie

vor nicht verzichtet werden. […]

Angesicht der Entwicklung der Marktverhältnisse scheint eine Belieferungspflicht

zugunsten von Großunternehmen aus heutiger Sicht jedoch nicht erforderlich. Der

ökonomische Druck zur möglichst umfassenden Nutzung aller wichtigen Absatz-

kanäle und das Nachfrageverhalten der Verbraucher haben die Hersteller von

Markenartikeln zunehmend veranlaßt, ihre Waren in erheblichem Umfang auch

über die Großbetriebsformen des Handels abzusetzen. An diesen Marktrealitäten

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dürfte sich in Zukunft auch nichts Wesentliches ändern, wenn die gesetzliche Ver-

pflichtung wegfällt. […] Soweit sie nicht marktbeherrschenden Anbietern gegen-

überstehen, verfügen aber auch große Unternehmen in der Regel auch ohne be-

sondere Schutzvorschrift über ausreichende Möglichkeiten, um die Waren für ihre

Sortimente zu marktgerechten Konditionen zu erhalten. Zunehmendes Gewicht

kommt dabei den Einfuhren zu, die im Zuge der fortschreitenden Integration des

europäischen Marktes und der Weltmärkte an Bedeutung gewinnen und insbeson-

dere den Großunternehmen zugänglich sind. Daher sind auch keine negativen

Auswirkungen für die preisgünstige Versorgung der Verbraucher zu erwarten.“152

b) Grundsätzliches

Mit dem Begriff der „kleinen und mittleren Unternehmens“ knüpfte der deutsche Gesetz-

geber an entsprechenden Begriff in den Sondervorschriften für Mittelstandskartelle an

(§ 5b, § 5c GWB 1989, nunmehr § 3 Nr. 2 GWB).153 Die sich bei der Auffüllung des Be-

griffs im Einzelfall stellende Prüfungsaufgabe hat der Bundesgerichtshof wie folgt umris-

sen:

„Der Gesetzgeber hat bewußt nicht alle von einem nachfragestarken Unternehmen

abhängigen Anbieter unter den Schutz des § 20 Abs. 3 GWB gestellt, weil er an-

genommen hat, große Unternehmen könnten sich auch bei bestehender Abhän-

gigkeit ohne diesen Schutz behaupten. Wann diese Schutzbedürftigkeit besteht,

also ein kleines oder mittleres Unternehmen vorliegt, ist im Gesetz nicht bestimmt;

die Einstufung läßt sich auch nicht nach absoluten Zahlen festlegen (vgl. z.B.

Rixen in Frankfurter Kommentar zum GWB (FK), 3. Aufl., § 20 Rdn. 293 i.V.m.

Rdn. 46; Bunte in FK aaO, § 4 Rdn. 47; Köhler, BB 1999, 1017), weil die Verhält-

nisse auf dem jeweils maßgeblichen Markt nicht ausgeblendet werden dürfen,

wenn der die Sicherung der Freiheit des Wettbewerbs als Institution bezweckende

Sinn der Vorschrift erreicht werden soll (vgl. BGH, Beschl. v. 19.1.1993 - KVR

25/91, WuW/E 2875, 2878 - Herstellerleasing). Maßgebend ist danach eine unter

funktionalen Gesichtspunkten vorzunehmende Prüfung, die von den Besonderhei-

ten des jeweils relevanten Marktes auszugehen und dabei regelmäßig das Hori-

zontalverhältnis zu den Wettbewerbern auf der Anbieterseite, unter besonderen

Voraussetzungen ausnahmsweise auch das Vertikalverhältnis zu dem nachfrage-

starken Unternehmen (vgl. BGH WuW/E 2875, 2878 - Herstellerleasing) einzube-

ziehen hat.“154

Danach besteht eine gewisse Zweiteilung des Maßstabs155:

Regelmäßig muss sich der Anspruchsteller im horizontalen Quervergleich mit den Unter- 152

RegBegr. zur 5. GWB-Novelle 1989 vom 30.05.1989, BT-Drucks. 11/4610, S. 21f. unter bb) ab rechte Spalte Mitte. 153

A.a.O., S. 22, 15. 154

BGH, 24.09.2002, KVR 8/01, WuW/E DE-R 984 juris-Rn. 27 – Konditionenanpassung. 155

BGH, 19.01.1993, KVR 25/91, WuW/E BGH 2875 juris-Rn. 30 – Herstellerleasing.

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nehmen seiner Marktstufe als kleines oder mittleres Unternehmen darstellen, wobei in

diesem Quervergleich seine wettbewerbliche Potenz anhand von Umsatz, Marktanteil,

Verflechtungen mit Großunternehmen und allen anderen maßgeblichen Parametern zu

bestimmen ist, sofern an der Eigenschaft als kleines und mittleres Unternehmen im Ein-

zelfall Zweifel bestehen können. Diesen Maßstab wandte der Bundesgerichtshof etwa im

vorstehend zitierten Fall Konditionenanpassung an.

Ein weiter gefasster Maßstab gilt dagegen in Fällen der unternehmensbedingten Abhän-

gigkeit, etwa im Falle der Mitglieder eines Vertriebsnetzes: Da hier in der Regel Größen-

unterschiede zwischen den Mitgliedern nicht ins Gewicht fallen, reicht es aus, dass sich

das Mitglied im Verhältnis zum Hersteller als kleines oder mittleres Unternehmen darstellt.

Dieser weitere Maßstab ist erklärlich durch den Umstand, dass gerade der Schutz der

Mitgliedern von Vertriebsnetzen ein wesentliches Anliegen der Vorschriften über den

Schutz vor Missbrauch relativer Marktmacht war, um zu verhindern, dass die vorherige

vertragliche Preisbindung von Markenartikeln durch wirtschaftlichen Druck der Hersteller-

seite ersetzt wird (hierzu bereits oben unter C. II. 1. a)). Diesen Maßstab wandte der Bun-

desgerichtshof etwa im Fall Herstellerleasing156 an, auf dessen „besondere Vorausset-

zungen“ der Bundesgerichtshof im vorstehenden Zitat aus der Entscheidung Konditionen-

anpassung auch Bezug nimmt.

c) Einzelfälle zur KMU-Eigenschaft

Der starke Verweis des Bundesgerichtshofs im vorstehenden Zitat auf „den jeweils maß-

geblichen Markt“ unterstreicht aber einmal mehr, dass die wesentliche Konkretisierungs-

leistung auch hier mit Marktbezug zu erfolgen hat, so dass die Betrachtung der Fallpraxis

die Maßstäbe besser hervortreten lässt als die abstrakteren Obersätze.

Dabei ist indes zu konstatieren, dass die KMU-Eigenschaft des Anspruchstellers in vielen

Entscheidungen, wo sie offensichtlich gegeben ist, nicht gesondert thematisiert wird.157

Konkrete Ausführungen finden sich daher nur vereinzelt in der Rechtsprechung, etwa in

folgenden Fällen:

BGH, 21.02.1995, KVR 10/94, WuW/E BGH 2990, juris-Rn. 14f. –

Importarzneimittel

Bejahung der KMU-Eigenschaft eines Importeurs von Arzneimitteln von einem

Pharmagroßhandelsunternehmen mit 14% Marktanteil. Tragende Faktoren: Der

Großhändler hatte Jahresumsätze von über 3,5 Milliarden DM, der Importeur

nehme ihm gegenüber wie auch gegenüber anderen Importeuren mit seinem Jah-

resumsatz von etwa 50 Millionen DM nur eine verhältnismäßig geringe Position

ein.

156

A.a.O., juris-Rn. 30 bis 34. 157

Z.B. BGH, 22.03.1994, KZR 9/93, WuW/E BGH 2919 – Orthopädisches Schuhwerk.

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BGH, 24.09.2002, KVR 8/01, WuW/E DE-R 984, juris-Rn. 27 –

Konditionenanpassung

Keine hinreichenden Feststellungen des Bundeskartellamts zur KMU-Eigenschaft:

Den Schwellenwert, von dem an ein Lieferant sowohl im Verhältnis zu seinen

Wettbewerbern als auch im Verhältnis zur Metro nicht mehr als kleines oder mittle-

res Unternehmen anzusehen sei, hatte das Bundeskartellamt pauschal mit 500

Mio. DM Umsatz angesetzt; im horizontalen Vergleich stünden diese Lieferanten

im Wettbewerb zu großen Konzernen mit Jahresumsätzen von teilweise deutlich

mehr als 10 Mrd. DM, während sie bei Berücksichtigung des vertikalen Verhältnis-

ses zur Betroffenen und dem Konzern, dem sie angehört, ebenfalls - ungeachtet

der absoluten Umsatzzahlen - kleine oder mittlere Unternehmen seien. Der Bun-

desgerichthof akzeptierte zwar den Ansatz eines Schwellenwerts an sich. Er kriti-

sierte jedoch im konkreten Fall, dass das Amt den Schwellenwert nicht nachvoll-

ziehbar und widerspruchsfrei ermittelt, sondern ohne plausible Begründung eine

bestimmte Grenze postuliert habe. Dadurch sei der Metro der Nachweis abge-

schnitten worden, dass der Schwellenwert unrichtig gewählt worden sei oder dass

er im konkreten Fall keine zutreffende Aussage über die Einordnung eines Liefe-

ranten zur Gruppe der kleinen oder mittleren Unternehmen enthalte.

OLG Düsseldorf, 26.11.2014, VI-U (Kart) 51/12, noch n.v., S. 87 bis 89

Verneinung der KMU-Eigenschaft eines der führenden italienischen Hersteller von

Solarzellen von der Belieferung mit Solar-Wafern. Tragende Faktoren: Querver-

gleich des Herstellungsvolumens mit der internationalen Spitzengruppe und den

italienischen Wettbewerbern des Herstellers. Betrachtung der eigenen Wachs-

tumspläne (Erhöhung der Produktion um mehr als das Zehnfache) in einem stark

expandierenden Markt.

d) Einzelfälle aus der Zeit vor der Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs

Ergänzend – weil für die Bewertung des Schutzbereichsbeschränkung instruktiv – werden

nachfolgend Fälle der Normanwendung zugunsten von Großunternehmen aus der Zeit

vor der Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs durch die 5. GWB-Novelle 1989

aufgeführt:

BGH, 17.01.1979, KZR 1/78, WuW/E BGH 1567, juris-Rn. 4, 17ff. –

Nordmende/Allkauf

Verneinung der Spitzenstellungsabhängigkeit aber Bejahung der Spitzengruppen-

abhängigkeit der HiFi-Fachabteilungen der Allkauf-SB-Warenhäuser von der Belie-

ferung mit HiFi-Produkten der Marke Nordmende.

BGH, 26.06.1979, KZR 7/78, WuW/E BGH 1620, juris-Rn. 19ff. – Revell Plastics

Verneinung der Spitzengruppenabhängigkeit der Betreiberin der Allkauf-SB-

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Warenhäuser von der Belieferung mit Plastik-Modellbausätzen der Marke „Revell“.

BGH, 23.10.1979, KZR 19/78, WuW/E BGH 1635, juris-Rn. 15 –

Plaza-SB-Warenhaus

Spitzengruppenabhängigkeit der zum Coop-Konzern gehörenden Plaza-SB-

Warenhäuser von der Belieferung mit Fernsehgeräten und HiFi-Anlagen der Marke

„Telefunken“.

BGH, 24.03.1981, KZR 2/80, WuW/E BGH 1793, juris-Rn. 19 –

SB-Verbrauchermarkt

Spitzenstellungsabhängigkeit der Betreiberin von 23 Allkauf-SB-

Verbrauchermärkten mit mehr als 1 Milliarde DM Umsatz von der Belieferung mit

Carrera-Autorennbahnen.

BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 12ff. – adidas

Bejahung der Spitzengruppenabhängigkeit der Divi-SB-Warenhäuser von der Be-

lieferung mit Sportschuhen der Marke „adidas“.

BGH, 16.12.1986, KZR 25/85, WuW/E BGH 2351, juris-Rn. 35ff. –

Belieferungsunwürdige Verkaufsstätten II

Spitzgruppenabhängigkeit der Betreiberin von 38 Allkauf-SB-Warenhäusern von

der Belieferung ihrer HiFi-Fachabteilungen mit Farbfernsehern der Marke SABA.

e) Bewertung

Die Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs in Fällen relativer Angebotsmacht

(§ 20 Abs. 1 Satz 1 GWB) durch die 5. GWB-Novelle 1989 war wettbewerbspolitisch ver-

fehlt und sollte jedenfalls für die Ergänzung des schweizerischen KG im Zuge der Pa.Iv.

Altherr nicht übernommen werden.

Wie oben dargelegt, beruhte die Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs auf der

schlichten Erwägung, dass Großunternehmen sich als Nachfrager gegenüber relativer

Angebotsmacht schon aufgrund ihrer Größe und ihres verbesserten Zugang zu in- und

ausländischen Beschaffungsmärkten auch ohne besondere Schutznorm selbst zu helfen

wüssten (oben unter a)).

Soweit die deutschen Gesetzesmaterialien dabei auf die Erweiterung der Bezugsmöglich-

keiten für Großunternehmen auf dem europäischen Binnenmarkt Bezug nahmen (Zitat

oben unter a)), ist diese Prämisse schon deswegen nicht ohne Weiteres auf die Schweiz

zu übertragen, weil die Segmentation nationaler Märkte in Europa hinsichtlich der

Schweiz nicht in gleichem Umfang durch das Unionsrecht (einschließlich des europäi-

schen Kartellverbots in Art. 101 AEUV) und dessen Durchsetzung durch die EU-

Kommission bekämpft werden kann.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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Wesentlicher ist aber noch, dass bereits die Grundannahme, dass Großunternehmen sich

regelmäßig selbst zu helfen wüssten, den tatbestandlichen Voraussetzungen relativer

Marktmacht zuwiderläuft, von deren Vorliegen nach dem Gesetzeswortlaut nur dann aus-

zugehen ist, wenn „ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen

auszuweichen, nicht bestehen“. Weiß sich – im Sinne der Prämisse des Gesetzgebers –

ein Großunternehmen selbst zu helfen, so ist bereits der Tatbestand der Norm nicht ver-

wirklicht. Folglich bedarf es keiner darüber hinausgehenden Einschränkung ihres persön-

lichen Schutzbereichs auf KMU. Auf eben diesen Umstand hatte auch der Bundesge-

richtshof in der Entscheidung Plaza-SB-Warenhaus hingewiesen:

„Der Revisionserwiderung kann auch nicht in der Auffassung gefolgt werden, im

vorliegenden Falle könnten die Grundsätze des Senatsurteils vom 17. Januar 1979

deshalb nicht angewandt werden, weil die Klägerin Teil des finanzstarken Coop-

Konzerns sei. Denn wie dargelegt hat diese Tatsache nicht dazu geführt, daß die

infrage stehenden Anbieter die Klägerin mit den vertriebsgebundenen Markenarti-

keln beliefert haben, die ein Händler führen muß, um auf dem Gebiete der Unter-

haltungselektronik wettbewerbsfähig zu sein.“158

Ferner ist das Abstellen auf einen auf den Gesamtumsatz bezogenen Größenvergleich im

Horizontalverhältnis zu anderen Nachfragern (vgl. Entscheidungs-Zitat oben unter b)) ein

gänzlich untauglicher Näherungswert für die Bemessung der tatsächlichen Fähigkeit eines

Nachfragers, der Ausübung relativer Marktmacht durch Anbieter zu trotzen: Denn dass

ein Nachfrager an Gesamtumsatz deutlich größer ist, als andere Nachfrager, heißt noch

nicht zwangsläufig, dass er für den Anbieter ein bedeutenderer Nachfrager ist. So sind

zwei Nachfrager, auf die jeweils 2% des Absatzes eines Herstellers entfallen, für diesen

genau gleich entbehrlich, auch wenn einer von beiden zu einem Konzern mit Milliar-

denumsatz in anderen Produktbereichen gehört. Gewährt man dann aber dem einen den

Schutz des § 20 Abs. 1 GWB, dem anderen hingegen nicht, droht eine nicht zu rechtferti-

gende Verzerrung der Wettbewerbsverhältnisse, auch zu Lasten der Endverbraucher.

Wettbewerbsverzerrungen drohen auch dann, wenn Großunternehmen auf ihre Lieferan-

ten dahingehend einwirken, dass diese andere, mit ihnen im Wettbewerb stehende Groß-

unternehmen diskriminieren. So war im Fall Wal*Mart festgestellt worden, dass die deut-

schen Großunternehmen des Lebensmitteleinzelhandels ihre deutschen Lieferanten unter

Druck gesetzt hatten, für den amerikanischen Großkonzern Wal*Mart die Preise zu erhö-

hen, um dessen Marktzutrittsversuch nach Deutschland abzuwehren159, was letztendlich

auch gelang. Ebenso eindringlich wird die Schutzbedürftigkeit auch von Großunterneh-

men durch den Fall adidas illustriert: Hier hatte adidas den Divi SB-Warenhäusern die

Belieferung verweigert, wohl aber deren Wettbewerber Kaufhof und Neckermann belie-

158

BGH, 23.10.1979, KZR 19/78, WuW/E BGH 1635, juris-Rn. 16. 159

BGH, 12.11.2002, KVR 5/02, WuW/E DE-R 1042, juris-Rn. 40 – Wal*Mart.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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fert.160

Weiterhin entspricht es der Zweckrichtung der Regelungen über relative Marktmacht, ge-

rade auch neuen Vertriebsformen über Belieferungsansprüche den Weg in den Markt zu

ebnen und dadurch – entsprechend dem allgemeinen Gesetzeszweck – die Märkte offen

zu halten. Entschieden hat dies der Bundesgerichtshof für Jeans-Supermärkte.161 Zudem

hat er darauf hingewiesen, dass sich nach dem Gesetzeszweck auf die Fallgruppe der

sortimentsbedingten Abhängigkeit auch solche Nachfrager berufen können, die erstmals

mit einem entsprechenden Sortiment an den Markt treten wollen.162 Wettbewerbsförderli-

che Marktzutritte dieser Art sind aber von kapitalkräftigeren Unternehmen häufig eher zu

erwarten als von kapitalschwächeren KMU, was ebenfalls wettbewerbspolitisch die Sinn-

haftigkeit der Begrenzung des persönlichen Schutzbereichs in Zweifel zieht.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die deutsche Rechtspraxis die Beschränkung des

persönlichen Schutzbereichs auf KMU schon in zwei wichtigen Fallgruppen wieder modifi-

ziert bzw. aufgegeben hat: Zum einen hat die Rechtsprechung für die Fälle der unterneh-

mensbedingten Abhängigkeit von Vertragshändlern für die KMU-Eigenschaft lediglich auf

das Vertikalverhältnis zum Hersteller abgestellt und nicht auf den Horizontalvergleich mit

anderen Vertragshändlern.163 Zum einen wurde die Beschränkung des Schutzbereichs auf

KMU durch den Gesetzgeber hinsichtlich der Anwendung des Anzapfverbots auf relativ

marktmächtige Nachfrager durch die Preismissbrauchsnovelle 2007 aufgegeben; die zu-

nächst befristete Regelung wurde im Zuge der 8. GWB-Novelle 2013 in eine dauerhafte

Regelung überführt, obwohl noch die Regierungsbegründung erneut den – fehlgehenden

– Hinweis enthalten hatte, dass Großunternehmen sich in der Regel selbst zu helfen

wüssten (im Einzelnen hierzu oben unter C. II. 1. d)).

Dass diese These auch für den Bereich des Lebensmitteleinzelhandels falsch ist, ist eines

der Ergebnisse der Sektoruntersuchung „Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel“,

deren Abschlussbericht das deutsche Bundeskartellamt im September 2014 veröffentlich-

te. Auf Basis einer datengestützten Untersuchung wurden die signifikanten Parameter der

Handels- und der Herstellerseite für den Ausgang zwischen Verhandlungen über die Ein-

kaufskonditionen des Lebensmitteleinzelhandels ermittelt. Der vom Gesetz zum Indikator

für eigene Marktmacht erhobene Faktor der absoluten Unternehmensgröße spielte dabei

weder für die Herstellerseite noch für die Handelsseite eine Rolle.164 Auch vor dem Hin-

tergrund dieser erstmals datengestützten Untersuchung besteht kein Grund mehr dafür,

160

BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 19 – adidas. 161

Implizite Billigung des entsprechenden Arguments des Berufungsgerichts bei BGH, 16.06.1981, KVZ 3/80, WuW/E BGH 1867, juris-Rn. 6 und 29ff. – Levi’s Jeans. 162

BGH, 26.06.1979, KZR 7/78, WuW/E BGH 1620, juris-Rn. 26– Revell Plastics; BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 14 m.w.N. – adidas. 163

In solchen Fällen ist es lt. BGH „nach der Natur der Sache unausweichlich [war], daß die Händ-ler einer bestimmten Automarke als kleine oder mittlere Unternehmen angesehen worden sind, selbst wenn sie höchste Umsätze erzielten und ihre Mitwettbewerber weit hinter sich ließen“, 24.09.2002, KVR 8/01, WuW/E DE-R 984 juris-Rn. 28 – Konditionenanpassung. 164

Bericht, Ergebnisse auf S. 406 bis 410, im Internet unter www.bundeskartellamt.de.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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mit der Begründung der 5. GWB-Novelle 1989 (aber auch mit der vom Gesetzgeber korri-

gierten Regierungsbegründung der 8. GWB-Novelle 2013) an der These festzuhalten,

dass Großunternehmen allein aufgrund der Tatsache ihrer Größe des Schutzes vor dem

Missbrauch relativer Marktmacht nicht bedürftig sein könnten.

II. Deutsche Praxis zur Anwendung der materiellen Verbotsregelungen

Den Abschluss dieser Untersuchung bildet ein Blick auf die deutsche Praxis zur Anwen-

dung der materiellen Verbotsregelungen in Fällen relativer Marktmacht.

Im Zentrum der deutschen Anwendungspraxis standen bei materieller Betrachtung Miss-

bräuche in Form eines refusal to deal, d.h. einer Lieferverweigerung in Fällen der Ange-

botsmacht bzw. – in deutlich geringerem Umfang – einer Abnahmeverweigerung in Fällen

der Nachfragemacht. Da die Fälle der Lieferverweigerung neben der höchsten prakti-

schen Relevanz in Deutschland auch die größte Nähe zu den Zielen der Pa.Iv. Altherr

aufweisen, beschränkt sich diese Untersuchung im Folgenden auf ihre Darstellung. Die

Untersuchung beschränkt sich zudem auf Fälle des Missbrauchs relevanter Angebots-

macht: Zum einen werden diese Fälle im deutschen Recht über den Spezialtatbestand

des Anzapfverbots (§ 20 Abs. 2 i.V.m. § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 GWB) gelöst, der in Art. 7

KG wie auch in Art. 102 AEUV keine Entsprechung findet (dazu oben unter A. II.). Zum

anderen zielt die Pa.Iv. Altherr nicht in erster Linie auf die Begrenzung des Missbrauchs

relativer Nachfragemacht.

§ 20 Abs. 1 GWB enthält ebenso wie von der Pa.Iv. Altherr vorgeschlagene Art. 4

Abs. 2bisneu KG eine Verweisung auf die für marktbeherrschende Unternehmen geltenden

Verbotsnormen des jeweiligen Gesetzes. Zur Verbotsnorm des Art. 7 KG besteht eine

schweizerische Anwendungstradition, die bei Annahme der Pa.Iv. Altherr auch für die

Anwendung dieser Norm im Kontext relativer Marktmacht zunächst maßgeblich ist –

ebenso wie im deutschen Recht die Anwendung des Behinderungs- und Diskriminie-

rungsverbots in § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB gegenüber relativ marktmächtigen und

marktbeherrschenden Unternehmen keine grundlegenden Unterschiede aufweist.165

Schon deswegen kann diese Untersuchung nur zeigen, welche Art von wettbewerblichen

Problemstellungen im Bereich des Missbrauchs relativer Angebotsmacht in Deutschland

nach § 20 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB aufgegriffen wurde. Dagegen kann

diese Untersuchung nicht prognostizieren, welche Problemstellungen sich im schweizeri-

schen Anwendungskontext bei Annahme der Pa.Iv. Altherr über Art. 4 Abs. 2bisneu“ i.V.m.

Art. 7 Abs. 1neu KG lösen ließen.

Dies vorausgeschickt, wird zunächst zum besseren Verständnis der nachfolgenden Schil-

derungen der deutschen Fallpraxis kurz die Grundmechanik des deutschen Behinde-

rungs- und Diskriminierungsverbots nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB skizziert (hierzu

165

Näher hierzu Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 76 bis 78. Ähnlich Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Auflage 2014, § 20 Rn. 57.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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unter 1.).

Danach wird auf die deutsche Praxis zur Fallgruppe der Lieferverweigerung im Allgemei-

nen eingegangen (hierzu unter 2.).

Anschließend wird dann die Unter-Fallgruppe einer Belieferung zu ungünstigeren Konditi-

onen dargestellt, welche in der deutschen Praxis zu § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB die

größte inhaltliche Nähe zu der „Hochpreis-“ oder „Hochkosteninsel“-Problematik aufweist,

welche den Hintergrund der Pa.Iv. Altherr bildet (hierzu unter 3.).

Den Abschluss bildet auch hier eine kurze Bewertung (hierzu unter 4.).

1. Grundmechanik von § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB

Im deutschen Recht lautet das – von § 20 Abs. 1 GWB auf relativ marktmächtige Unter-

nehmen erstreckte – allgemeine Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 19

Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB wie folgt:

„Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unter-

nehmen als Anbieter oder Nachfrager nach einer bestimmten Art von Waren oder

gewerblichen Leistungen

1. ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar unbillig behindert oder

ohne sachlich gerechtfertigten Grund unmittelbar oder mittelbar anders be-

handelt als gleichartige Unternehmen“.

Es wurde bereits dargelegt, dass sich im Wortlaut von Art. 7 KG weitreichende Entspre-

chungen dazu finden lassen (oben unter A. II.).

Der Tatbestand enthält ein allgemeines Behinderungs- und ein Diskriminierungsverbot. Ihr

Verhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass die Diskriminierung einen Unterfall der Be-

hinderung darstellt. Da zudem beide Alternativen Unterfälle derselben Generalklausel des

§ 19 Abs. 1 GWB sind, ist eine strenge Abgrenzung – trotz leicht unterschiedlicher Tatbe-

standsmerkmale – letztlich entbehrlich.166 In beiden Tatbestandsalternativen steht im Kern

der Prüfungsaufgabe die Trennung zwischen erlaubten und wünschenswerten wettbe-

werblichen Vorstößen des Normadressaten einerseits und verbotenem Missbrauch seiner

Marktstellung andererseits. Übergeordnete Richtschnur ist dabei – wie im EU-Kartellrecht

– jeweils die normative Unterscheidung zwischen Maßnahmen des Leistungswettbewerbs

und Maßnahmen des Nichtleistungswettbewerbs. Operabel wird dieses Konzept durch die

den Mittelpunkt der Normanwendung bildende Interessenabwägung.167 Ob im Einzelfall

ein Ge- oder Missbrauch von Marktmacht vorliegt, bestimmt sich dementsprechend

– nach der in ständiger Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof verwandten Formel –

166

So schon BGH, 03.03.1969, KVR 6/68, WuW/E 1027, juris-Rn. 21 – Sportartikelmesse II; OLG Düsseldorf, 21.12.2011, VI-Kart 5/11 (V), juris-Rn. 37. 167

Zum Ganzen Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 20 Rn. 186 mit umfangrei-chen Nachweisen.

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Relative Marktmacht – Gutachten

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„anhand einer Gesamtwürdigung und Abwägung aller beteiligten Interessen unter

Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung

des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die auf die Sicherung des

Leistungswettbewerbs und insbesondere die Offenheit der Marktzugänge gerichtet

ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 24. Oktober 2011 - KZR 7/10, WuW/E DE-R

3446 Rn. 37 - Grossistenkündigung).“168

Eingang in diese Interessenabwägung finden alle von der Rechtsordnung anerkannten

Belange, insb. die eigenen wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten, Wertungen der

Vorschriften des übrigen Kartell- und Regulierungsrechts, Wertungen anderer nationaler

Gesetze einschließlich des Verfassungsrechts und Wertungen des Rechts der Europäi-

schen Union.169

Da den Tatbestandsmerkmalen des § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB im Übrigen – trotz ihrer an-

spruchsvollen Dogmatik im Detail – letztlich nur eine Art Vorfilterungsfunktion zukommt,

mag der Hinweis auf die im Zentrum der Abgrenzung zwischen Ge- und Missbrauch von

Marktmacht stehende Interessenabwägung zur Einordnung der deutschen Fallpraxis für

die Zwecke dieser Untersuchung genügen.

2. Allgemeine Lieferverweigerung

Mit ihrem rechtstatsächlichen Schwerpunkt auf Fällen der Lieferverweigerung durch Her-

steller entspricht die deutsche Anwendungspraxis durchaus dem vom Gesetzgeber inten-

dierten Anwendungsbereich der Vorschriften gegenüber Unternehmen mit relativer

Marktmacht. Im Zuge der 5. GWB-Novelle 1989 paraphrasierte die Regierungsbegrün-

dung den ursprünglichen Gesetzeszweck wie folgt:

„§ 26 Abs. 2 Satz 2 ist durch die 2. GWB-Novelle von 1973 eingeführt worden, um

über den Kreis der bereits von Satz 1 erfassten marktbeherrschenden Unterneh-

men hinaus auch ‚relativ‘ marktstarke Unternehmen dem Behinderungs- und Dis-

kriminierungsverbot zu unterwerfen […] Sowohl in der Vorstellung des Gesetzge-

bers als auch in der Praxis stand dabei die Belieferungspflicht im Vordergrund.“170

Die Belieferungspflicht sollte dabei nach dem Willen des Gesetzgebers zum einen bei

Mangellagen Repartierungspflichten begründen, zum anderen sollte sie nach Aufhebung

der Freistellung der Preisbindung für Markenwaren die Sanktionierung unliebsamen

Preisverhaltens von Händlern durch Markenhersteller verhindern.171

Gleichwohl stellt die Bejahung der Lieferpflicht eines relativ marktstarken oder marktbe-

herrschenden Unternehmens nicht gleichsam den gesetzlichen Regelfall dar:

168

Zuletzt BGH, 17.12.2013, KZR 66/12, WuW/E DE-R 4159 Rn. 55 – Stromnetz Berkenthin. 169

Ausf. Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 222 bis 241 m.w.N.. 170

BT-Drucks. 11/4610, S. 21, linke Spalte unten, rechte Spalte oben. 171

A.a.O., s. auch oben unter C. II. 1. a).

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Denn bei der allfälligen Interessenabwägung (hierzu oben unter 1.) ist nach ständiger

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Ausgangspunkt der allgemeine Grundsatz zu

beachten, dass auch der Normadressat des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots

in § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB ein berechtigtes Interesse daran hat, den Vertrieb seiner

Produkte so zu regeln, wie er es für wirtschaftlich richtig und sinnvoll hält.172 Dahinter steht

die zutreffende Erwägung, dass der Produzent an erster Stelle das Forschungs-, Investiti-

ons-, Produktions- und Absatzrisiko für seine Erzeugnisse trägt und daher der Freiheit

bedarf, diese von ihm eingegangenen Risiken in eigener Verantwortung zu minimieren.

Insofern bedarf es zur Bejahung einer Lieferpflicht des Hinzutretens weiterer normativ

relevanter Umstände im Einzelfall, um die Nichtbelieferung oder die ihr gleich zu achtende

Beendigung eines Belieferungsverhältnisses als missbräuchlich erscheinen zu lassen.

Eine gewisse Schubkraft entfaltet dabei das Diskriminierungsverbot in § 19 Abs. 2 Nr. 1

GWB, aus dem sich die Verpflichtung ergibt, gleichartige Abnehmer auch gleich zu be-

handeln; eine Benachteiligung einzelner Abnehmer ist dann nur bei Vorliegen besonderer

rechtfertigender Umstände möglich, wobei an eine vollständige Liefersperre, mit der dem

Abnehmer der Marktzutritt verwehrt wird, verschärfte Anforderungen zu stellen sind.173

Zur Illustration der Fallpraxis sollen im Folgenden charakteristische Einzelfälle wiederge-

geben werden, darunter auch einige der Fälle, die hier bereits zur Fallpraxis hinsichtlich

der Anwendungsvoraussetzungen vorgestellt worden sind (oben unter I.):

BGH, 20.11.1975, KZR 1/75, WuW/E BGH 1331, juris-Rn. 32f. – Rossignol

Bejahung der Lieferpflicht bei Spitzenstellungsabhängigkeit. Tragende Faktoren:

Hintergrund der Disziplinierung eines Fachhändlers für Abgabe zweier Skimodelle

zu „Lockvogel“-Preisen. Widerspruch der Nichtbelieferung zur gesetzlichen Wer-

tung der Abschaffung der Freistellung der Preisbindung für Markenprodukte vom

Kartellverbot.

BGH, 24.09.1979, KZR 20/78, WuW/E BGH 1671, juris-Rn. 16ff. –

robbe-Modellsport

Erforderlichkeit einer neuen Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Ver-

haltens des spitzengruppenabhängigen Händlers vor und nach der Liefersperre,

insb. bzgl. Verstößen des Händlers gegen das Gesetz gegen den unlauteren

Wettbewerb.

BGH, 24.03.1981, KZR 2/80, WuW/E BGH 1793, juris-Rn. 28ff. –

SB-Verbrauchermarkt

Erforderlichkeit einer neuen Interessenabwägung zum Belieferungsanspruch der

172

Zuletzt BGH, 08.04.2014, KZR 53/12, WuW/E DE-R 4261, Rn. 37 – VBL-Versicherungspflicht. 173 BGH, 13.07.2004, KZR 17/03, WuW/E DE-R 1377, juris-Rn. 14 – Sparberaterin I.

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spitzenstellungsabhängigen Betreiberin von 23 Allkauf-SB-Verbrauchermärkten

mit Carrera-Autorennbahnen. Tragende Faktoren: Zwar Zusage von Allkauf, dem

Fachhandel vergleichbares Sortiment, Personal und Reparaturservice vorzuhalten.

Aber keine hinreichende Aufklärung hinsichtlich hinreichender Warenpräsentation

und Verkaufsräume.

BGH, 30.06.1981, KZR 19/80, WuW/E BGH 1885, juris-Rn. 17ff. – adidas

Bejahung der Lieferpflicht der spitzengruppenabhängigen Divi-SB-Warenhäuser

von der Belieferung mit Sportschuhen der Marke „adidas“. Tragende Faktoren: In-

konsequente Handhabung des eigenen selektiven Vertriebssystems durch Beliefe-

rung von Neckermann, anderen SB-Warenhäusern und Kaufhof, daher Zweifel an

den geltend gemachten Belangen des Schutzes des Sportfachhandels und des In-

teresses an qualifizierter Beratung.

BGH, 16.12.1986, KZR 25/85, WuW/E BGH 2351, juris-Rn. 50ff. –

Belieferungsunwürdige Verkaufsstätten II

Nähere Aufklärung erforderlich, ob die spitzengruppenabhängigen 38 Allkauf-SB-

Warenhäuser mit HiFi-Fachabteilungen die zulässigen Kriterien des selektiven

Vertriebs erfüllen. Einwand, der Fachhandel werde sich bei Belieferung von Allkauf

von SABA abwenden, ist zu prüfen, aber auf keinen Fall Rechtfertigung einer Lie-

ferverweigerung mit dem Preisverhalten der Betreiberin beim Absatz von HiFi-

Produkten der Marke SABA.

BGH, 10.02.1987, KZR 6/86, WuW/E BGH 2360, juris-Rn. 64, 70, 72 –

Freundschaftswerbung

Kein Anspruch eines seit längerer Zeit für einen Verlag tätigen Direktvertriebsun-

ternehmens auf Annahme der eingeworbenen Abonnements. Tragende Faktoren:

Einem marktstarken Hersteller ist es nicht verwehrt, sein Absatzsystem aus wirt-

schaftlichen Gründen in der Weise umzugestalten, dass er den Absatz seiner Wa-

re unter Ausschluss Dritter in einer bestimmten Vertriebsform selbst übernimmt,

den Absatz in weiteren Vertriebsformen aber weiterhin Dritten überlässt. Der damit

verbundene Abbruch bestehender Lieferbeziehungen zu den nicht mehr benötig-

ten Händlern ist nur dann unbillig, wenn den bisher belieferten Händlern keine an-

gemessene Umstellungsfrist eingeräumt wird, die indes keine volle Amortisation

der Investitionen des Händlers erlauben muss (angemessen in casu: zwei Jahre).

BGH, 03.02.1988, KVR 2/87, WuW/E BGH 2479, juris-Rn. 22 –

Reparaturbetrieb

Verpflichtung zur Belieferung eines unternehmensbedingt abhängigen Reparatur-

betriebs für Gabelstapler mit Ersatzteilen durch den für das Gebiet zuständigen

Vertragshändler des Herstellers. Tragende Faktoren: Ausreichende Qualifikation

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durch den Geschäftsführer des Reparaturbetriebs, zudem kein Schulungs-

Erfordernis der Herstellers für Vertragshändler, also keine höheren Anforderungen

der Vertragshändler an freie Reparaturbetriebe.

BGH, 27.04.1999, KZR 35/97, WuW/E DE-R 357, juris-Rn. 13ff. –

Feuerwehrgeräte

Verpflichtung eines für Original-Ersatzteile marktbeherrschenden Herstellers von

Feuerwehrfahrzeugen und entsprechenden Originalersatzteilen zur Lieferung sol-

cher Teile an einen (von ehemaligen Mitarbeitern des Herstellers) neu gegründe-

ten Wartungs- und Reparaturbetrieb. Tragende Faktoren: Keine Rechtfertigung der

Verweigerung zur Sicherung des selbst auferlegten Service- und Qualitätslevels

für Wartung und Reparatur, zur Vermeidung von unsachgemäßem Einbau und re-

sultierenden Folgen für den eigenen Ruf, wegen Gefahren für die eigene Zertifizie-

rung, wegen der Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen. Alle Belange sah der

BGH als grundsätzlich valide, aber durch eine reine Lieferung von Ersatzteilen an

eine freie Werkstatt nicht bedroht an.

BGH, 04.11.2003, KZR 2/02, WuW/E DE-R 1203, juris-Rn. 17ff. –

Depotkosmetik im Internet

Verneinung des Belieferungsanspruchs eines spitzengruppenabhängigen reinen

Online-Händlers mit Parfums der Marken Lancaster, Jil Sander, Davidoff und

JOOP!. Tragende Faktoren: Wertungen der damaligen EU-

Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 2790/99 und der entsprechenden Leitlinien er-

fordern keine Belieferung reiner Online-Händler.

BGH, 13.07.2004, KZR 17/03, WuW/E DE-R 1377, juris-Rn. 13ff. –

Sparberaterin I

Annahmepflicht der Gelben Seiten für von sortimentsbedingt abhängiger Werbe-

agentur platzsparend gestaltete Inserate. Tragende Erwägungen: Die platzsparen-

de Gestaltung durch die Werbeagentur mag den Interessen der Gelben Seiten

zuwiderlaufen, sie dient aber den Interessen der Kunden der Werbeagenturen.

Gesetzeszweck steht einem Übergriff in die nachgelagerte Leistungsbeziehung

zwischen Agentur und ihrem Kunden entgegen.

OLG Karlsruhe, 25.11.2009, 6 U 47/08 (Kart), WuW/E DE-R 2789, juris-Rn. 68

bis 80 – Schulranzen

Keine Unbilligkeit der Lieferverweigerung des Herstellers von Scout-Schulranzen

gegenüber einem sortimentsbedingt abhängigen Einzelhändler, der dem (lt. OLG

kartellrechtlich zulässigen) Verbot des Absatzes von Schulranzen über ebay im se-

lektiven Vertriebssystem des Herstellers zuwiderhandelt.

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BGH, 31.02.2012, KZR 65/10, WuW/E DE-R 3549, juris-Rn. 31f. –

Werbeanzeigen

Unternehmensbedingte Abhängigkeit, Beendigung eines Lieferverhältnisses und

Übergang zu reinem Eigenvertrieb kann ausnahmsweise unzulässig sein, wenn

die vom Normadressaten beabsichtigte Vertriebsumstellung ihm ein Monopol auf

einem nachgelagerten Markt verschafft, auf dem bisher von ihm unabhängige Un-

ternehmen aufgrund eigener, erheblicher Wertschöpfung ein eigenes Leistungser-

gebnis anbieten, für das die bisher vom Normadressaten bezogene Ware oder

Dienstleistung Voraussetzung ist. Das kann etwa der Fall sein, wenn ein Hersteller

den gesamten Ersatzteilvertrieb und alle Reparaturleistungen für seine Produkte

selbst übernehmen will und deshalb freie Werkstätten nicht (mehr) mit Ersatzteilen

beliefert. Eigenständige Wertschöpfung des Belieferten auf dem Aftermarket ist zu

prüfen.

OLG Stuttgart, 09.12.2013, 2 U 148/12, noch n.v., S. 25 bis 42, 45

Verpflichtung von Porsche zur Belieferung eines Tuners mit Porsche-

Neufahrzeugen und Porsche-Originalteilen für Tuning-Zwecke. Tragende Fakto-

ren: Belieferung mit Neufahrzeugen ist Voraussetzung für den Marktzugang des

Tuning-Unternehmens. Ausführliche Würdigung zahlreicher vorgetragener und

zum Teil bestätigter Rechtsverstöße des Tuning-Unternehmens. Bei den Teilen

bieten angesichts der hohen Kundenerwartungen OES-Teile (vom Zulieferer des

Herstellers unter eigener Marke vertriebene Teile) und IAM-Teile (identische Teile

dritter Hersteller) keine hinreichende Ausweichmöglichkeit.

LG Frankfurt am Main, 18.06.2014, 2-03 O 158/13, WuW/E DE-R 4409, juris-

Rn. 34ff. – Funktionsrucksäcke

Bejahung des Anspruchs eines spitzengruppenabhängigen Fachhändlers von

Outdoor-Artikeln auf Belieferung mit Rucksäcken der Marke „Deuter“. Tragende

Faktoren: Liefersperre zur Durchsetzung eines pauschalen Verbots, die Vertrags-

ware über Internet und Auktionsplattformen Dritter wie z.B. ebay zu vertreiben und

Preissuchmaschinen zu nutzen, ist unzulässig. Verbot ist eine Kernbeschränkung

im Sinne von Art. 4 lit. c der EU-Vertikal-GVO Nr. 330/2010, die jedenfalls dann

kartellrechtlich unzulässig ist, wenn sie innerhalb des selektiven Vertriebssystems

nicht diskriminierungsfrei angewendet wird.

3. Belieferung zu ungünstigeren Konditionen

Eine Unter-Fallgruppe der soeben dargestellten Fälle der Lieferverweigerung bilden dieje-

nigen Fälle, in denen der Normadressat die Belieferung nicht grundsätzlich verweigert

oder beendet, in denen er aber einzelne Abnehmer oder Gruppen von Abnehmern nur zu

ungünstigeren Konditionen beliefert als andere Abnehmer.

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a) Preis- und/oder Konditionenspaltung in der deutschen Fallpraxis

Die den Hintergrund der Pa.Iv. Altherr bildende „Hochpreis-“ oder „Hochkosteninsel“-

Problematik, d.h. das Problem einer Preis- und Konditionenspaltung zwischen nationalen

Märkten, ist für die deutsche Rechtsanwendung rechtstatsächlich noch nicht relevant ge-

worden. Zum einen mag dies daran liegen, dass sich zumindest in der Vergangenheit

aufgrund der Größe und Attraktivität der deutschen Absatzmärkte sowie der hohen Preis-

sensitivität der deutschen Verbraucher hohe Preise in Deutschland schwerer durchsetzen

ließen als in anderen europäischen Märkten, bzw. Preiserhöhungen weniger gewinnma-

ximierend erschienen als Erweiterungen der Absatzmengen durch ein niedrigeres Preisni-

veau. Zum anderen mag sich ausgewirkt haben, dass sich explizite Import- oder Reim-

portbeschränkungen innerhalb des EU-Binnenmarktes, die eine Angleichung des Preisni-

veaus zwischen den Märkten der Mitgliedstaaten erschweren, innerhalb der Union leichter

durch die Anwendung des Kartellverbots des Art. 101 AEUV – auch durch die EU-

Kommission – verhindern lassen.174 Die deutsche Fallpraxis hatte sich indes durchaus mit

sonstigen Preis- und Konditionenspaltungen zu befassen.

b) Herangehensweise im Rahmen der Missbrauchsverbote

Preis- und Konditionenspaltungen lassen sich – abseits vom Kartellverbot – im Rahmen

der deutschen Missbrauchsaufsicht materiell unter zwei Aspekten aufgreifen175:

aa) Ausbeutungsmissbrauch nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB

Zum einen besteht die Möglichkeit, Preisspaltungen zwischen verschiedenen Märkten als

Fall des Ausbeutungsmissbrauchs einzuordnen und über § 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB aufzu-

greifen. Nach diesem Regelbeispiel zum Verbot des § 19 Abs. 1 GWB liegt ein Miss-

brauch im Sinne dieser Norm insbesondere dann vor, wenn ein Unternehmen

„ungünstigere Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, als sie das

marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten von gleich-

artigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied sachlich gerechtfer-

tigt ist“.

Das Regelbeispiel vergleicht den Preis bzw. die Konditionen eines Marktbeherrschers auf

dem von ihm beherrschten Markt mit seinen Preisen bzw. Konditionen auf einem anderen

Markt und erlegt dem Marktbeherrscher die Rechtfertigungslast für die Erklärung der Dif-

ferenz auf.

174

Zu den Grenzen dieser Möglichkeit vgl. jedoch EuG, 26.10.2000, T-41/96, Rn. 73 bis 184 – Bayer-Adalat: Einseitige Beschränkung der Exportmengen zur Verhinderung von Reimporten ist keine vertikale „Vereinbarung“ i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV. 175

Zur Abgrenzung vgl. BGH, 24.10.2011, KZR 7/10, WuW/E DE-R 3446, juris-Rn. 34 – Grossis-tenkündigung.

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Praktische Fälle waren etwa:

BGH, 22.07.1999, KVR 12/98, WuW/E DE-R- 375 – Flugpreisspaltung

Unterschiedliche Preise der Deutschen Lufthansa auf der Monopolstrecke Frank-

furt – Berlin im Vergleich zur im Wettbewerb stehenden Strecke Frankfurt – Mün-

chen. Ergebnis: Missbrauch dem Grunde nach bejaht, Zurückverweisung zur wei-

teren Aufklärung des Arguments, dass auf der Wettbewerbsstrecke Verluste erzielt

werden.

BGH, 07.12.2010, KZR 5/10, WuW/E DE-R 3145, juris- Rn. 26ff., 57ff. –

Entega II

Unterschiedliche Strompreise für Endkunden des Energieunternehmens Entega:

hohe Preise im angestammten Gebiet, in dem Entega auch seit vielen Jahren Be-

treiber der Energienetze war, dagegen niedrige Preise im Nachbargebiet, in dem

ein Wettbewerber seit vielen Jahren Betreiber der Energienetze war. Ergebnis:

Missbrauch verneint, wo es um den erstmaligen Eintritt in das vom Nachbarn be-

herrschte Gebiet ging, da Überführung der Energiemärkte nur gelingen kann,

wenn der Incumbent außerhalb seines Heimatgebiets mit niedrigeren Preisen als

im Heimatgebiet mit dem dortigen Incumbent in Wettbewerb treten kann. Daher

kein Missbrauch jedenfalls für die Dauer der Marktzutrittsphase. Dagegen Miss-

brauch bejaht im Hinblick auf die günstigeren Preise in einer kleinen Region, in der

keine Marktzutrittssituation mehr bestand, weil Entega dort schon längere Zeit

nicht mehr Netzbetreiber war.

Es ist jedoch zu beachten, dass im deutschen Kartellrecht § 20 Abs. 1 GWB das Regel-

beispiel der Preisspaltung in § 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB nicht in Bezug nimmt, so dass es auf

relativ marktmächtige Unternehmen jedenfalls nicht direkt anwendbar ist. Ob bereits nach

derzeitigem Recht auf dem Umweg über die Generalklausel des § 19 Abs. 1 GWB eine

Anwendung auf relativ marktmächtige Unternehmen in Deutschland begründbar wäre, ist

derzeit offen.176 In jedem Falle wäre eine explizite Erweiterung der Verweisung in § 20

Abs. 1 GWB auf § 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB eine Möglichkeit, mit der der deutsche Gesetzge-

ber auf eine – bislang in Deutschland nicht praktische gewordene – „Hochpreis-“ oder

„Hochkosteninsel“-Problematik reagieren könnte.

ab) Missbrauch durch Behinderung/Diskriminierung nach

§ 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB

Zum anderen besteht im deutschen Recht die Möglichkeit, Preisspaltungen generell als

Fall der missbräuchlichen Behinderung oder Diskriminierung einzuordnen und über § 19

Abs. 2 Nr. 1 GWB aufzugreifen (Wiedergabe des Wortlauts vorstehend unter 1.), der von

§ 20 Abs. 1 GWB in Bezug genommen wird und damit explizit auch für relativ marktmäch-

176

Eine entsprechende Argumentationsmöglichkeit eröffnet jedenfalls die Entscheidung des BGH im Fall „Entega II“, BGH, 07.12.2010, KZR 5/10, WuW/E DE-R 3145 Rn. 24.

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tige Unternehmen gilt.

Unter diesem Aspekt bildet die Preis- und Konditionenspaltung (wie eingangs unter 3.

dargelegt) eine Unter-Fallgruppe der Fälle der Lieferverweigerung. Fließend ist dabei die

Grenzziehung zwischen der allgemeinen Lieferverweigerung und der behindernden Preis-

und Konditionenspaltung schon deswegen, weil sich jede Lieferverweigerung auch in die

Form des Angebots einer Belieferung zu prohibitiven Preisen oder Konditionen kleiden

lässt.

Dabei ist indes im Ausgangspunkt zu beachten, dass im Rahmen des Behinderungsmiss-

brauchs nicht jegliche Preis- oder Konditionenspaltung ohne Weiteres den Verdacht der

Missbräuchlichkeit auf sich zieht:

Denn bei der auch in dieser Unter-Fallgruppe maßgeblichen Interessenabwägung (hierzu

oben unter 1.) ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Ausgangs-

punkt der allgemeine Grundsatz zu beachten, dass auch der Normadressat des § 19

Abs. 2 Nr. 1 GWB bei seiner Preis- und Konditionengestaltung einen Ermessensspielraum

hat, so dass die Regelung kein allgemeines Meistbegünstigungsgebot zum Inhalt hat.177

Dahinter steht die Erwägung, dass auch marktmächtigen Unternehmen nicht verwehrt

werden soll, auf unterschiedliche Marktbedingungen differenziert zu reagieren.178 Ferner

lässt sich darauf hinweisen, dass auch in wettbewerbsintensiven Märkten Preisdifferenzie-

rungen häufig und üblich sind und sie auch deswegen nicht per se als dem Leistungs-

wettbewerb fremd anzusehen sind.

Insofern bedarf es – ähnlich wie in Fällen der allgemeinen Lieferverweigerung (hierzu

oben unter 2.) – auch bei der Preis- und Konditionenspaltung des Hinzutretens weiterer

normativ relevanter Umstände im Einzelfall, um diese Maßnahme als missbräuchlich ein-

zuordnen. Auf dieser Grundlage erfolgt die Grenzziehung zwischen erlaubten und verbo-

tenen Konditionenspaltungen in der deutschen Rechtsprechung nach folgender Formel:

„§ 26 GWB will dem Mißbrauch von Marktmacht entgegenwirken; die Vorschrift

enthält keine allgemeine Meistbegünstigungsklausel, die das marktbeherrschende

Unternehmen generell zwingen soll, allen die gleichen - günstigsten - Bedingun-

gen, insbesondere Preise, einzuräumen. Ihm soll insbesondere nicht verwehrt

werden, auf unterschiedliche Marktbedingungen auch differenziert reagieren zu

können. Dabei kann nicht entscheidend sein, ob der Normadressat zunächst ge-

genüber allen möglichen Partnern gleiche Konditionen verlangt hat, sie aber nur

gegenüber einem Teil von ihnen durchsetzen konnte (a.M. Markert aaO). Wenn

ein Unternehmen den umgekehrten Weg beschreitet und günstigere Konditionen

dort zu erlangen sucht, wo ihm dies durchsetzbar erscheint, besteht nicht notwen-

177

BGH, 07.12.2010, KZR 5/10, WuW/E DE-R 3145 Rn. 25 – Entega II; 13.07.2004, KZR 40/02, WuW/E DE-R 1329, juris-Rn. 50 – Standard-Spundfass; 19.03.1996, KZR 1/95, WuW/E BGH 3058, juris-Rn. 39 – Pay-TV-Durchleitung. 178

BGH, a.a.O..

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dig ein qualitativer Unterschied. Sind unterschiedliche Konditionen als solche

grundsätzlich zulässig, kann die sachliche Rechtfertigung einer differenzierten Be-

handlung nicht danach beurteilt werden, ob überhaupt eine Unterscheidung statt-

findet; maßgebend sind insoweit vielmehr Art und Ausmaß der unterschiedlichen

Behandlung. Deren Zulässigkeit richtet sich insbesondere danach, ob die relative

Schlechterbehandlung der betroffenen Unternehmen als wettbewerbskonformer,

durch das jeweilige Angebot im Einzelfall bestimmter Interessenausgleich er-

scheint oder auf Willkür oder Überlegungen und Absichten beruht, die wirtschaftli-

chem oder unternehmerischem Handeln fremd sind. Daneben ist freilich im Auge

zu behalten, daß die Unternehmen auf der Marktgegenseite nicht durch die Aus-

übung der Macht des marktbeherrschenden Unternehmens in ihrer Wettbewerbs-

fähigkeit untereinander beeinträchtigt werden sollen.“179

Nach dieser seither verwandten Formel sind Differenzierungen daraufhin zu prüfen, ob sie

sich im Einzelfall als willkürlich darstellen, ob sie auf wettbewerbsfremden Motiven beru-

hen oder ob sie zu Wettbewerbsverzerrungen – etwa hinsichtlich des Preiswettbewerbs –

auf den Märkten der Abnehmer führen. Wettbewerbsverzerrungen liegen vor, wenn eine

Differenzierung nicht in Art und Höhe durch hinreichende Gründe gerechtfertigt wird.180

Zur Illustration der Fallpraxis sollen auch hier im Folgenden charakteristische Einzelfälle

wiedergegeben werden:

BGH, 24.02.1979, KVR 3/75, WuW/E BGH 1429, 1430 bis 1435 –

Asbach-Fachgroßhändlervertrag

Der Hersteller von Weinbrand der Marke „Asbach Uralt“ gewährte allen Großhänd-

lern 5% Rabatt und 3% Skonto. Zusätzlich erhielten die sog. „Bedienungsfach-

großhändler“, die ausschließlich die Gastronomie betreuen sollten, einen zusätzli-

chen Rabatt von 5%. Sehr differenzierte Prüfung, inwiefern der Zusatzrabatt, der

an den Abschluss eines entsprechenden Fachgroßhändlervertrages geknüpft war,

durch zusätzliche Leistungen gerechtfertigt war. Angesichts der Bedeutung des

Zusatzrabatts von 5% gegenüber dem Grundrabatt von 8% war jedenfalls der na-

türliche Ermessensspielraum überschritten und eine sachliche Rechtfertigung er-

forderlich.

BGH, 19.03.1996, KZR 1/95, WuW/E BGH 3058, juris-Rn. 39f. –

Pay-TV-Durchleitung

Zulässigkeit einer Differenzierung des Entgelts für die Einspeisung von TV-

Signalen in Breitbandkabelnetze auf der untersten Netzebene zwischen Free-TV-

Programmen einerseits und einem Pay-TV-Anbieter andererseits: Angesichts des

179

BGH im Fall „Pay-TV-Durchleitung“, a.a.O.. 180

OLG Düsseldorf, 21.12.2011, VI-Kart 5/11 (V), juris-Rn. 44; 14.10.2009, VI-U (Kart) 4/09, WuW/E DE-R 2806, juris-Rn. 60 – Trassennutzungsänderung; ferner Nothdurft in Langen/Bunte, KartR, 12. Auflage 2014, § 19 Rn. 309 m.w.N..

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beschränkten Kundenkreises des Pay-TV ist das Interesse des Kabelnetzbetrei-

bers an der Belegung seiner Kapazitäten mit diesem Programm geringer, weil es

für viele seiner Kunden keinen Wert hat. Dafür darf er durch einen höheren Preis

eine Kompensation suchen. Da sich das Pay-TV-Programm in seiner Finanzierung

grundlegend von den Programmen der anderen Anbieter unterscheidet, greift auch

der Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der Anbieter un-

tereinander nicht entscheidend durch.

BGH, 17.03.1998, KZR 30/96, WuW/E DE-R134, juris-Rn. 23 bis 32 –

Bahnhofsbuchhandel

Zulässige Differenzierung der Gewährung eines besonderen Direktbelieferungsra-

batts bei der Belieferung mit Presseerzeugnissen zwischen Zeitschriftenläden in

Fernbahnhöfen einerseits und U- und S-Bahnhöfen andererseits. Dagegen Unzu-

lässigkeit der Differenzierung zwischen Zeitschriftenläden in Fernbahnhöfen und

Flughäfen.

BGH, 24.09.2002, KZR 38/99, WuW/ DE-R 1051, juris-Rn. 17 bis 20 –

Vorleistungspflicht

Keine sachliche Rechtfertigung für die Praxis der Gelben Seiten, bei selbst einge-

worbenen Inseraten von den Kunden keine Vorauszahlung zu verlangen, wohl

aber bei über Werbeagenturen vermittelten Inseraten.

BGH, 13.07.2004, KZR 40/02, WuW/E DE-R 1329, juris-Rn. 50f. –

Standard-Spundfass

Keine hinreichenden Darlegungen zur sachlichen Rechtfertigung für die Praxis

des Verbandes der chemischen Industrie, hinsichtlich des Patentes für ein neues

Standard-Spundfass für die chemische Industrie nur denjenigen Unternehmen

Freilizenzen zu gewähren, die im Zuge der Standardisierung Entwürfe eingereicht

hatten. Notwendig sei die Prüfung der Frage, ob die jeweiligen Forschungsauf-

wendungen in einem jedenfalls annähernd angemessenen Verhältnis zu den Vor-

teilen der Freilizenz standen und ob durch die Wahl eines Produkts die For-

schungsergebnisse für die anderen Entwürfe wirklich wertlos geworden seien.

BGH, 08.11.2005, KZR 37/03, WuW/E DE-R 1597, juris-Rn. 28 – Hörfunkrechte

Der Profi-Fußballverein FC St. Pauli ist berechtigt, von Hörfunkreportern, die aus

dem Stadion berichten wollen, höhere Eintrittspreise zu verlangen, als von ande-

ren Zuschauern. Er darf bei der Differenzierung der Entgelte berücksichtigen, dass

der Stadionbesuch für den Hörfunksender Grundlage eigener Wertschöpfung ist

und daher einen eigenen wirtschaftlichen Wert besitzt.

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OLG Düsseldorf, 27.02.2008, VI-U (Kart) 18/07, juris-Rn. 43 bis 49

Sehr hohe aber dennoch sachlich gerechtfertigte Rabattspreizung für die Bereit-

stellung von TV-Bildern an Buchmacher einerseits und Wettannahmestellen ande-

rerseits vor dem Hintergrund einer Phase des Aufbaus eines Netzes von Wettan-

nahmestellen.

OLG Düsseldorf, 21.12.2011, VI-Kart 5/11 (V), juris-Rn. 46 bis 63;

BGH, 12.07.2013, KVR 11/12, WuW/E DE-R 3967 – Rabattstaffel

Nach eingehender Prüfung des Oberlandesgerichts Unzulässigkeit einer Rabatt-

staffel eines relativ marktmächtigen Herstellers von Laborchemikalien, die einseitig

den marktführenden Großhändler bevorzugt: Keine Rechtfertigung des Rabattvor-

sprungs von 14-18% und seiner Gewährung ex ante (im Unterschied zu den Wett-

bewerbern) durch höhere Vertriebsleistungen, Prüfung einer Vielzahl von Einzel-

faktoren. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom Bundesgerichtshof zurück-

gewiesen.

4. Bewertung der deutschen Fallpraxis zu den materiellen Verbotsregelungen

Eine umfassende Bewertung der deutschen Fallpraxis zu den materiellen Verbotsrege-

lungen ist für die Zwecke dieser Untersuchung nicht veranlasst, da die Vorschläge der

Pa.Iv. Altherr keine Angleichung der bestehenden Verbotsregelungen des KG an die ent-

sprechenden deutschen Regelungen erstreben, sondern lediglich den Anwendungsbe-

reich der bestehenden schweizerischen Regelungen auf relativ marktmächtige Unterneh-

men erstrecken möchte.

Die deutsche Fallpraxis zur Fallgruppe der allgemeinen Lieferverweigerung und ihrer Un-

terfallgruppe der Belieferung zu ungünstigeren Konditionen unterstreicht insofern lediglich,

den Umstand, dass eine Ausweitung der Normadressatenstellung der Missbrauchsverbo-

te nicht zu einer undifferenzierten Ausweitung von materiellen Ansprüchen führt. Denn

ungeachtet einer bestehenden Normadressatenstellung bildet stets eine umfassende Ge-

samtwürdigung und Abwägung aller beteiligten Interessen unter Berücksichtigung der auf

die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes den Kern der Prüfung

– sowohl in Fällen der Marktbeherrschung erga omnes wie in Fällen der relativen Markt-

macht inter partes. Anhand der Fallpraxis lässt sich dabei zeigen, dass die Abwägung den

Raum für sehr differenzierte Ergebnisse bietet, bei denen die Freiheit des Normadressa-

ten hinsichtlich des „Ob“ und der Preise und Konditionen einer Belieferung jeweils den

Ausgangspunkt und die Grundprämisse bildet, deren Einschränkung in jedem Einzelfall

anhand aller für die Beurteilung relevanten Besonderheiten zu prüfen ist.

Die Betrachtung der Fallpraxis zeigt weiter, dass die den Hintergrund der Pa.Iv. Altherr

bildende „Hochpreis-“ oder „Hochkosteninsel“-Problematik noch nicht Gegenstand der

deutschen Kartellrechtsanwendung war. Der deutschen Rechtsprechung zur Zulässigkeit

von Preis- und Konditionendifferenzierungen ist gleichwohl mit einiger Klarheit zu ent-

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nehmen, dass diese jedenfalls dann Gefahr laufen, gegen das Behinderungs- und Diskri-

minierungsverbot des § 20 Abs. 1, § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB zu verstoßen, wenn die

davon betroffenen Nachfrager dadurch in ihren Wettbewerbsmöglichkeiten auf dem nach-

gelagerten Markt beeinträchtigt werden. Entsprechende Effekte können sich mit Blick auf

die Schweiz immer dort ergeben, wo schweizerische Unternehmen in der Schweiz wie im

Ausland internationalem Wettbewerb ausgesetzt sind, etwa beim Wettbewerb mit auslän-

dischen Unternehmen in der Schweiz oder auf räumlich international abzugrenzenden

Produktmärkten. Wo sich eine derartige horizontale Wettbewerbsverzerrung nicht feststel-

len lässt, käme nach deutschem Recht nur der Vorwurf eines Ausbeutungsmissbrauchs in

Gestalt einer nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB missbräuchlichen Preisspaltung in Be-

tracht. Dabei ordnet das Gesetz explizit nur die Anwendung dieser Regelung auf markt-

beherrschende Unternehmen an. Ob sie darüber hinaus im Wege der Auslegung auch

gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen zur Anwendung gebracht werden könn-

te, ist ungewiss.

In der deutschen Praxis finden sich – soweit ersichtlich – keine direkten Anhaltspunkte zur

Klärung der Frage, ob nach deutschem Recht eine Differenzierung der Preisstellung nach

der Kaufkraft oder dem allgemeinen Preisniveau eines Landes im Rahmen der im Kern

der Missbrauchsprüfung stehenden Interessenabwägung ein anerkennenswerter Belang

wäre. Geklärt ist lediglich durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall „Hör-

funkrechte“, dass sich der Normadressat grundsätzlich in seiner Preisgestaltung daran

orientieren darf, ob der Nachfrager einer Leistung diese zur weitergehenden Wertschöp-

fung nutzt oder zum privaten Konsum. Geklärt ist weiter durch die Entscheidung „Pay-TV-

Durchleitung“, dass es zulässig ist, wenn der Normadressat bei seiner Preisgestaltung

nach dem eigenen Nutzen der Zusammenarbeit differenziert und wenn er auch im Übri-

gen „günstigere Konditionen dort zu erlangen sucht, wo ihm dies durchsetzbar erscheint“,

solange er dabei nicht willkürlich handelt, wettbewerbsfremden Motiven folgt oder Wett-

bewerbsverzerrungen – etwa des Preiswettbewerbs – auf den Märkten der Abnehmer

herbeiführt. Anders als im gegenwärtigen deutschen Recht hätte jedoch die Interessen-

abwägung zur Klärung der Frage nach der Zulässigkeit einer Differenzierung nach Kauf-

kraft oder Preisniveau im Falle einer Annahme der Pa.Iv. Altherr den mit dieser Gesetzes-

initiative verfolgten spezifischen Gesetzeszweck zu berücksichtigen. Käme man danach

im ersten Zugriff zur Missbräuchlichkeit einer Preis- oder Konditionenspaltung, so er-

scheint es vorstellbar, dass der Normadressat diesem Vorwurf jedenfalls dann entgehen

könnte, wenn er dem Abnehmer die Möglichkeit eines Direktbezugs im Ausland zu dorti-

gen Konditionen eröffnete.

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Die abschließende Klärung dieser Fragen kann jedoch im Falle einer Annahme der Pa.Iv.

Altherr allein auf der Grundlage von Art. 7 KG unter Berücksichtigung der schweizeri-

schen Anwendungstradition, der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen und des

schweizerischen Normkontext‘ ergehen, der nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist.

Bonn, 17. Januar 2015

Jörg Nothdurft

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Inhaltsverzeichnis

Gang der Untersuchung .................................................................................................... 1

A. Aussagefähigkeit des deutschen Rechts ................................................................ 2

I. Vergleich bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen ...................................... 2

II. Vergleich bezüglich der Verbotsregelungen ........................................................ 4

III. Ergebnis .......................................................................................................... 7

B. Grundlagen und System der deutschen Missbrauchsverbote ................................. 8

I. Verfassungsrecht, Zielfunktionen und Schutzauftrag .......................................... 9

II. Weites gesetzgeberisches Ermessen ................................................................10

III. Systematik .....................................................................................................12

IV. Verhältnis zum EU-Kartellrecht, insb. zum Kartellverbot .................................13

1. Raum für nationale Sonderregelungen und Beispiele .....................................13

2. Verhältnis nationaler Sonderregelungen über relative Marktmacht zum EU-

Kartellrecht ............................................................................................................15

a) Wechselwirkungen mit dem Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV ...........15

b) Wechselwirkungen mit dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV .....................15

c) Deutsche Position zur VO Nr. 1/2013 („Deutsche Klausel“) ........................16

C. Bedeutung und Wirkung von § 20 GWB im System der deutschen

Missbrauchsverbote .....................................................................................................17

I. § 20 GWB als Instrument zur Erfüllung des verfassungsrechtlichen

Schutzauftrags ..........................................................................................................17

II. Nutzung von § 20 GWB durch den deutschen Gesetzgeber ..............................18

1. Genese und Entwicklung der Vorschriften gegenüber „relativ Marktmächtigen“

(§ 20 Abs. 1 und 2 GWB) ......................................................................................19

a) 2. GWB-Novelle 1973: Ölkrise und Aufhebung der

Markenwarenpreisbindung .................................................................................19

b) 4. GWB-Novelle 1980: Problem der Nachfragemacht .................................20

c) 5. GWB-Novelle 1989: Nachsteuerungen bei der Nachfragemacht .............20

d) 7. GWB-Novelle 2005, Preismissbrauchsnovelle 2007, 8. GWB-Novelle

2013: Nachsteuerungen beim Anzapfverbot ......................................................21

2. Genese und Entwicklung der Vorschriften gegenüber „überlegen

Marktmächtigen“ (§ 20 Abs. 3 und 4 GWB) ..........................................................22

a) 4. GWB-Novelle 1980: Schließen einer horizontalen Schutzlücke ..............22

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b) 5. GWB-Novelle 1989: erste Konkretisierung ..............................................23

c) 6. GWB-Novelle 1998: zweite Konkretisierung durch erstes Regelbeispiel

(Angebot unter Einstandspreis)..........................................................................23

d) Preismissbrauchsnovelle 2007 – I: Verschärfung des Regelbeispiels für

Angebot von Lebensmitteln unter Einstandspreis ..............................................23

e) Preismissbrauchsnovelle 2007 – II: dritte Konkretisierung durch zweites

Regelbeispiel (Preis-Kosten-Schere) .................................................................24

III. Wettbewerbspolitische Bedeutung des Instruments des § 20 GWB ...............24

IV. Praktische Bedeutung des Instruments des § 20 GWB ..................................29

D. Deutsche Praxis zur Auslegung und Anwendung des Verbots des Missbrauchs

relativer Marktmacht .....................................................................................................31

I. Deutsche Praxis zu den Anwendungsvoraussetzungen .....................................31

1. Definition relativer Marktmacht: Nichtbestehen ausreichender und zumutbarer

Ausweichmöglichkeiten .........................................................................................31

a) Vermutung relativer Marktmacht nach § 20 Abs. 1 Satz 2 GWB .................32

b) Begriffe der „ausreichenden“ und „zumutbaren“ Ausweichmöglichkeiten ....32

c) Konkretisierung durch Fallgruppen .............................................................34

aa) Überblick .............................................................................................34

ab) Fallgruppe 1: Sortimentsbedingte Abhängigkeit (Spitzenstellung –

Spitzengruppe) ...............................................................................................36

ac) Fallgruppe 2: Mangelbedingte Abhängigkeit ........................................43

ad) Fallgruppe 3: Unternehmensbedingte Abhängigkeit (Vertragshändler –

Ersatzteile – Verbrauchsmaterialien) ..............................................................44

ae) Fallgruppe 4: Relative Nachfragemacht ...............................................49

d) Bewertung ..................................................................................................51

aa) Normklarheit ........................................................................................52

ab) Normreichweite ....................................................................................53

2. Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs bei Angebotsmacht auf

kleine und mittlere Unternehmen (KMU-Klausel) ...................................................54

a) Genese und Rational der Einschränkung 1989 ...........................................55

b) Grundsätzliches ..........................................................................................56

c) Einzelfälle zur KMU-Eigenschaft .................................................................57

d) Einzelfälle aus der Zeit vor der Einschränkung des persönlichen

Schutzbereichs ..................................................................................................58

e) Bewertung ..................................................................................................59

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II. Deutsche Praxis zur Anwendung der materiellen Verbotsregelungen ................62

1. Grundmechanik von § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB ......................................63

2. Allgemeine Lieferverweigerung ......................................................................64

3. Belieferung zu ungünstigeren Konditionen .....................................................68

a) Preis- und/oder Konditionenspaltung in der deutschen Fallpraxis ...............69

b) Herangehensweise im Rahmen der Missbrauchsverbote ...........................69

aa) Ausbeutungsmissbrauch nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 GWB ............69

ab) Missbrauch durch Behinderung/Diskriminierung nach § 19 Abs. 1,

Abs. 2 Nr. 1 GWB ...........................................................................................70

4. Bewertung der deutschen Fallpraxis zu den materiellen Verbotsregelungen ..74