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7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)
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Demokratie
415
Demokratie
[1914]
Die Aufgabe
Was ist Demokratie?
Nun,
zunchst einmd ein Wort, das ursprnglich der Verkehrssprache angehrte und dann ein
Begriff der Soziologie geworden ist. Und das bedeutet, da bei seiner Erklrung, Bestimmung und
Behandlung dem Schriftsteller, der darber schreiben will, die drei Schwierigkeiten in den Weg
treten, die berhaupt existieren: die sachlichen, die sprachlichen und die persnlichen.
Die
sachlichen
Schwierigkeiten sind
grundstdich
immer die gleichen, welches auch das Thema
der wissenschaftlichen Betrachtung sein mag. Sie knnen grer oder geringer sein, je nachdem der
Gegenstand von groem oder kleinem Umfang, von groer oder geringer
Komplikation,
leicht
oder schwer zugnglich ist - aber immer ist die Aufgabe,die Daten zusammenzutragen, zu ordnen,
zu verbinden, zu erklren.
Eine Reihe von Gegenstnden bietet weiter keine ds solche sachlichen Schwierigkeiten dar, vor
allem die naturwissenschaftlichen. Wenn jemand ber die Kohlenminen von Spitzbergen oder ber
die Retina der Froschlarven oder ber das unterschweflig-saure Natron Untersuchungen anstellen
will, so wei er selbst, und wissen seine Leser ganz genau, was gemeint ist. Aber es gibt viele The
mata, wo die Leser nicht ohne weiteres wissen, was der Autor behandelt, auch wenn er es klar sagt,
ja,
wo der Autor selbst nicht genau wei, was er behandelt, obgleich er sein Thema klar bezeichnet.
Das ist immer der Fall, wo es sich um Worte handelt, die entweder niemds einen klaren, eindeuti
gen Sinn gehabt haben - solche Worte gibt es unzhlige -, oder die zwar einmd einen eindeutigen
Sinn gehabt haben, aber im Laufe der Sprachentwicklung sich kapillarisch ber einen immer weite
ren Bezirk ausgebreitet haben, etwa wie ein Tintentropfen auf einem Lschblatt und nun keine
scharfen Grenzen mehr besiizen. Sollen solche Wortebehanddtwerden, so mu die wissenschaftli
che Kunstsprache die dlgemeine Verkehrssprache korrigieren, mu ganz genau erklren, in wel
chem Sinne sie das vieldeutige oder unbestimmte Wort gebrauchen will; und dann besteht immer
die Gefahr, da nicht nur die Leser die Definition nicht festzuhdten imstande sind, sondern auch,
da der Autor selbst wider Willen den sprachlichen Assoziationen zum Opfer fllt. Das sind die
sprachlichen
Schwierigkeiten wissenschaftlicher Arbeit.
Manche glauben, aus diesen Schwierigkeiten herauskommen zu knnen, wenn sie auf die etymo
logische Urbedeutung des Wortes zurckgreifen. Das hilft aber nur selten und bringt im Gegenteil
oft nur neue Verwirrung. Es kann mir z. B. gar nicht helfen, zu wissen, da .Person" ursprnglich
die schallverstrkende Vorrichtung in der Maske der anlikenSchauspieler bedeutete; es kann mich
nur verwirren, da Nation" von nasci, geboren werden, herstammt, denn, was wir heute unter
Nation verstehen, hat mit der Blutsverwandtschaft nichts mehr zu
tun.
Solche sprachlichen Schwie-
1 [Dieser Aufsatz erschien erstmals
in:
Der Staatsbrger, 5.
Jg.,
Heft 1, 2 (1914).Originalquclledes vorliegen
denTextes: Oppenheimer, GesammelteRedenund Aufstze,
Bd.
2,Mnchen 1927,S.159-187;
A.d.R.]
rigkeiten treten namentlich dem Philosophen in den Weg, weil hier die Termini der Kunstsprache
im Laufe der Jahnausende immer wieder neuen Inhdt erhdten haben, ohne ihren dten ganz zu
verlieren. Darauf zielt jene bekannte boshafte Definition: .Philosophie ist der konsequente Mi
brauch einer eigens zu diesem Zwecke geschaffenen Terminologie."
Noch vid schlimmer steht es nun aber in soziologischen Dingen. Hier treten regelmig auch
noch die persnlichen Schwierigkeiten hinzu. Denn hier sind so gut wie alle wichtigen Worte
wunschbetont", und zwar verschieden wunschbetont, je nach der Klassenlage dessen, der sie
braucht, bdd sympathisch, bdd antipathisch. Ist doch das oberste Gesetz der Sozialpsychologie, da
das Individuum unwiderstehlich gezwungen ist, so zu denken, zu werten, zu urteilen, zu handeln,
wie es das.inhrenteInteresse" seiner besonderen sozialen Gruppe verlangt. Dieses Gesetz, auf dem
im internationden Leben dler Chauvinismus und Rassenha, im n ationden Leben aller Klassenha
und Parteienha beruht, schliet eine Verstndigung mit den Gegnern auf dem Wege logischer
Argumentation so gut wie vllig aus - aber es schliet auch sogar fast immer die Verstndigung
schon ber die Begriffe aus. Ein Wort mag noch so exakt definiert worden sein, es bleibt fr den
Autor und fr den Leser dennoch immer das wunschbetonte, geliebte oder verhate Wort und das
um so mehr, wenn es sich um ein Schlagwort, um einen Bannerspruch, um ein Schibboleth des
gesellschaftlichen Klassenkampfes handelt.
Solch ein Bannerspruch ist das Wort .Demokratie", und ist es seit fast zweieinhalb Jahrtausen
den,
seit der Zeit Solons von Athen. Etymologisch bedeutet es Volksherrschaft" - aber diese
Kenntnis ntzt uns so wenig w ie unsere Kenntnis von dem Ursprung des Wortes .Persnlichkeit";
denn noch heute dreht sich dler Streit darum und hat sich wohl schon zu Solons Zeit darum ge
dreht, was unter Volk" und was unter
.Herrschaft"
zu verstehen sei. Heute braucht man es bdd,
um eine Verfassung der Geschichte oder der Gegenwart zu bezeichnen; man nennt w ohl auch einen
Staat, der diese oder eine hnliche Verfassung hatte oder hat, eine Demokratie. Fr andere ist es eine
Weltanschauung", eine politische Theorie, ein politisches Ided. Und so fort.
In so trbem Wasser lt sich gut fischen. Und so wird denn das so glcklich vieldeutige Wort
von den Gassenhelden des politischen Kampfes durch alle Gossen geschleppt.
Wenn wir jetzt unsererseits versuchen wollen, festzustellen, welche Urbedeutung den verschie
denen heutigen Anwendungen des Wortes .Demokratie" zugrunde liegt, so wollen wir uns des
dten Kunstgriffes bedienen, der darin besteht, nach dem Gegensatz zu fragen, der ber oder unter
der Bewutseinsschwelle regelmig mitgedacht oder w enigstens mitgefhlt w ird, wenn man solche
komplexen Begriffe gebraucht. Hier handelt es sich wohl immer um Begriffspaare, diezusammen
einen ganzen Bezirk von Tatsachen umspannen; und man findet die Grenzen des einen, wenn man
die seines Korrelativbegriffes feststellt.
N u n ,
der Gegenbegriff gegen Demokratie ist Oligokratie, Herrschaft weniger ber eine Ge
samtheit. Unter ihren Begriff fllt die Herrschaft jeder Minderheit (es kann auch ein einzelner sein,
dann ist es Monokratie) und zwar ist die rechtliche Verfassung berdl von wenig Bedeutung. Ob
die Monokratie patriarchalisches Frstentum, absoluter Csarismus, Militrdespotie oder konstitu
tionell beschrnkte Monarchie; ob die Oligokratie im engeren Sinne, ds Herrschaft einer mehrkp-
figen Minderheit, eine Blutsaristokratie oder
eine Plutokratic
oder eine Brokratie ist, ist ebenso
gleichgltig fr den Begriff wie die Tatsache, ob sie drckend oder milde, im Einklang oder im
Gegensatz zu den Gesetzen und der Verfassung ausgebt wird.
In dieser weitesten Bedeutung des Wortes hat die Oligokratie in ihren verschiedenen Formen
und mit ihrer verschiedenen faktischen und rechtlichen Begrndungdie bisherige Menschheit und
Menschheitsgeschichte beherrscht. Sie ist keine Weltanschauung", keine Theorie", kein Ided",
sondern eine ungeheure
Tatsacke.
Und die Demokratie" ist ursprnglich ebensowenig eine Weltanschauung, eine Theorie, ein
Ided, sondern sie ist nichts anderes, als die auf jene ungeheure Tatsache notwendig eintretende
i .
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ZweiterTed: Staat,Nation*.Mus undDemokratie
Demokratie
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Reaktion, die sich je nach den Umstnden verschieden uert: kritisch d s W eltanschauung, logisch
ds Theorie, stimativ, vordemWerturteil, ds Ziel, praktisch ds Politik der Reform oder der Revo
lution.
Sobdd aber die demokratische" Reaktion anfngt, sich in dieser Weise zu uern, reflektiert
sich der Proze wieder auf die Oligokratie zurck. War sie bis dahin eine einfache
Tatsache,
n dv
auferlegt, nd v an genommen, so wird auch sie jetzt Gegenstand des Bewutseins und wird in dessen
verschiedenen Form en ausgestattet: reaktiv tritt die aristokratische Kritik der demokratischen als
aristokratische Weltanschauung gegenber, die Logik rechtfertigt sie ds Theorie, der Wille erhebt
sie zum Ided, die Handlung orientiert sich ds aristokratische Politik an der Taktik und Strategie
der Gegner, die sie zubekmpfenhat.
Da dem so ist, beweist die Entstehung des Wortes selbst. In Athen herrscht, wie berall,ur
sprnglich die Oligokratie der Grundherren und fhrt, wie berall, ein hartes Regim ent. Man darf
nie vergessen, da die
.drakonischen
Gesetze" nur eine Kodifikation des geltenden Gewohnheits
rechtes waren. Die
Reaktion
setzt ein. Was verlangt sie? An Stelle der Herrschaft der wenigen die
der Gesamtheit des Volkes: Demokratie.
Was aber ist der Demos, das Volk? Es ist wichtig, sich das
klarzumachen.
Er umfat nicht etwa
die ganze Bevlkerung Anikas, nicht einmd die gesamte erwachsene Bevlkerung, ja, nicht einmd
die gesamten mnnlichen Erwachsenen, sondern nur die erwachsenen mnnlichen Freien. Die zahl
reiche Sklavenschaft gehrt nicht zum Demos, kommt politisch berhaupt nicht in Betracht. Es
bedurfte vieler Jahrhunderte, des Untergangs zahlloser Gemeinwesen, der Ausbildung des groen
helleno-rmischen Kulturkreises, ehe der der Antike ganz fremde Gedanke aufkommen konnte,
dader Anteil an der Staatsregierung nichtBrgerrecht,sondern schlechthinMenschenrechtsei.
Die Tatsache aber, da in Hellas berall, in Rom und den Pflanzstdten, der Begriff der Demo
kratie so eng begrenzt war, zeigt klarer ds irgend etwas anderes, da sie keine
.Weltanschauung",
kein Ided" war, sondern lediglich eine Reaktion. Die Oligokratie bestand und lastete auf den
Beherrschten, wie jede Herrschaft ihrem Begriff nach mehr oder weniger lasten mu - und ab
Reaktion dagegen entsteht in gewissen Schichten der Beherrschten der einfache Wunsch, mitzuherr-
schen, aus der politisch minderberechtigten und konomisch benachteiligten Schicht aufzusteigen
in die politisch vollberechtigte und k onomisch privilegierte Schicht.
Noch deutlicher wird
das,
wenn man sich alle die uns genauer bekannten Verfassungskmpfe der
Weltgeschichte nher anschaut. berall, in Athen und Korinth, in Rom und Tarent, in Florenz und
Venedig, in Frankfurt und Lbeck, in England und Frankreich, Deutschland und
Ruland,
steht an
der Spitze der Kmpfe um die Demokratie" gegen die Oligokratie der reiche
Bourgeois,
der Ver
treter des moneyed interest - undberallzeigt derVerlauf da es ihm nicht auf Volksherrschaft",
sondern nur auf die eigene Mitherrschaft angekommen ist. Unmittelbar nach dem Siege der ver
bndeten Klassen schlieen diese Financiers und Bankokraten, diese Groindustriellen und Gro
hndler ihren Sonderfrieden mil den dten Nutznieern des Staates, den Vertretern des landed inte
rest, formieren mit ihnen die neue Oligokratie der
.Nobilitt"
oder nuova gerne" und weigern
ihren Mitstreitern aus der armen Unterschicht die Mitherrschaft. Und da sie oft
fortfahren,
sich
dabei der
.demokratischen"
Redewendungen zu bed ienen, bekommt das Wort eine recht sonderba
re Prgung. Es wird jetzt von oben und von unten her gebraucht, um genau
entgegengesetzte
Theo
rien und Handlungen z u rechtfertigen und genau entgegengesetzten Zielen zu dienen.
Die antiken Stadtstaaten sind ber einen gewissen Punkt der Entwicklung nicht
hinausgelangt.
Sie muten un erbittlich daran zugrunde gehen, und zwar im ernstesten Sinne des W ortes:
physisch,
an Entvlkerung, an Vlkerschwindsucht zugrunde gehen, weil sie eben noch
.Kratien"
waren,
weil auf der Grundlage unfreier Arbeit ein gesundes Gesellschaftsleben unm glich ist. Die Sklaverei
wirkt in der
entfdtetcn
Wirtschaft des kapitalistischen Marktverkehrs auf die Gesellschaft wie eine
Infektion mit massenhaften hochvirulenten
Infektionstrgern.
Aber die modernen Vlker hatten diesen Krankheitsstoff bereits frh ausgeschieden und konn
ten
ber
jene Stufe hinaus gedeihen, die die antiken Vlker noch erklimmen konnten. Ihre Wirt
schaftsordnung baut auf freier Arbeit, und darum ist ihr Los nicht Vlkerschwund, sondern Vl
kerwachstum,
nicht Tod, sondern Leben. Und darum erstieg auch ihr Verfassungskampf hhere
Stufen. Schicht nach Schicht erzwang in den vorgeschrittenen Staaten der westlichen Zivilisation
die Gleichberechtigung zunchst in der Verfassung und vor dem Recht. Am weitesten voran stehen
die englischen
Kolonien,
namentlich Australien, und hier wieder
N euseeland;
dann folgen die Uni
ted States, England, Frankreich und in einem weiteren
Abstnde
die mitteleuropischen Staaten auf
immer tieferen Stufen des berall gleich ablaufenden Streites, whrend in Osteuropa und Asien
eben erst vor unseren Au gen seine ersten Schlachten geschlagen werden.
Und dabei zeigt sich nun allerdings deutlicher und deutlicher, da die
.Demokratie*
sich auch
ds Begriff in einer krftigen Entwicklung zu einem bestimmten Zide bin befindet. War sie anfangs
nur instinktive, dann bewute Reaktion, so will sie jetzt allerdings Weltanschauung, Theorie und
Ided werden. Der frher enge Begriff des Demos" erweitert sich immer mehr. Umfate er einst
nur bestimmte Teile der Gesamtbevlkerung, so zeigt er jetzt die Tendenz, sie ganz zu umfassen.
Seit der vierte Stand der Vermgenslosen, der
.Nichts-ds-Arbeiter",
sich der Vormundschaft des
dritten Standes, der ihn verraten hatte, entzogen und sein eigenes Banner ds politische Partei des
Sozidismus
entidtet
hatte, dieser vierte Stand, der grundstzlich den letzten
Stand,
die Basis der
Pyramide darstellt - seitdem bedeutet das Wort
.Demokratie"
in ihrem Munde in der Tat die Herr
schaft der Gesamtheit aller Brger.
Wenigstens grundstdich und in ihrem eigenen Bewutsein. Nur ist ihre Anschauung oft noch
beengt: sie sehen nur sich selbst und ihre Bedrfnisse, sind blind dagegen, da neben ihnen noch
andere Schichten existieren, die die gleichen Ansprche geltend machen drfen. Die deutsche Sozi
aldemokratie z. B. ist stark g eneigt, sich zur einseitigen Vertretung der Industriearbeiter zu
entwic
keln, whrend doch der Landarbeiter auch existiert, leidet und aufwrts will. Und es gibt Soziali
sten genug, die der politisch-rechtlichen Emanzipation der einen
Hlfte,
vielleicht des greren
Teiles der Menschheit, noch Widerstand leisten, der Frauen.
immerhin:
der Gedanke marschiert, gewinnt reiend an Boden und ist augenscheinlich dabei,
sein Gebiet vllig zu erfllen; die .Mitherrschaft" dler Erwachsenen beider Geschlechter wird zur
Weltanschauung, zum
Inhdt
der Theorie und ds Id ed zum Zid der praktischen Politik.
Dieser unwiderstehliche Zug der Zeit ist des OligokratenScham und
Schmerz,
des demokratisch
Gesinnten Stolz und Freude; aber beide scheinen selten zu bemerken, da der Begriff der Demokra
tie bei diesem Ausweitungsproze seinen dten Inhdt allmhlich verliert und sich mit neuem Inhdt
fllt;
um mit Hegd und Marx zu sprechen:
.Die
Quantitt schlgt in die Qualitt um". Je weiter
sich der eine Teil der Begriffsverbindung, der .Demos", ausdehnt, um so mehr schrumpft der zwei
te Teil, die Kratie", ein. Und wenn einmd die erste Komponente ihren vollen Umfang erreicht
haben wird, dann wird die zweite bis auf das leergelaufene, dien Inhdtcs beraubte Wort ver
schwunden sein, vergleichbar jenen unglcklichen Ften, die durch das Wachstum ihrer strkeren
Zwillinge im Mutterleibe an die Wand gedrckt und immer mehr komprimiert werden, bis sie
schlielich, wenn jene, reif geworden, entbunden werden, als foeti
papyraeei",
d s
.Papierften",
ds jmmerliche Membranen, mit ihnen auf diesem Planeten erscheinen.
Solch ein foetus papyraceus wird am Tage, wo der Demos in dem weitesten Begriff des Wortes
zum Lichte geboren sein wird, d ie
.Kratie*
sein, ein papierenes Wort, ein ausgeronnener
Begriff.
Denn, wenn alle Erwachsenen beider Geschlechter zur vollen
.Mitherrschaft*
berufen sind:
ber wen oder was sollen sie
.herrschen ?
ber sich selbst? ber die Unerwachsenen? ber die
Natur?
Wer eine dieser Antwo rten geben wollte, wrde damit nur beweisen, da er nicht wei , was hi
storisch .Herrschaft", .Kratie" bedeutet. Und dann mu man es ihm sagen. Trotz aller Philoso-
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Zweiter
Ted: Staat, Natiot,. Jhrwj
un d
Demokratie
L
phen, die mit untauglichen Mitteln die Herrschaft zu idealisieren versuchen: Herrschaft
war nie
etwas anderes
als die
rechtliche Form einer wirtschaftlichen
A
usbeulung.
Da man nun die
.Herrschaft
ber sich selbst* nicht dazu gebrauchen kann, sich sdber auszubeu
ten;
da die Ausbeutung der Kinder durch ihre natrlichen Vormnder wohl hier und da trauriger
weise vorkommen mag, namentlich durch solche Eltern, die selbst ihrerseits hart .beherrscht" und
ausgebeutet werden; da aber diese
Ausbeutung
niemds kraft Rechtens, sondern zu Unrecht erfolgt
- denn alle Gesetze und Sitten der Wdt verleihen den Eltern und Vormndern ihr Verfgungsrecht
nur unter der Bedingung, da sie es im Interesse und zum Vorteil des Mndels brauchen -, und da
schlielich die Natur nicht .ausgebeutet" werden kann, weil das nur gegenber moralischen Wesen
mglich ist, so ist damit bewiesen, da bei voller Verwirklichung der Demokratie die Demokratie
aufhrt, Kratie zu sein, und - Akratie wird.
Und
das
ist nun in der Tat ein Ided der Menschheit, und zwar das hchste ihrer Idede, getrumt
und begrndet von ihren erlauchtesten Denkern. Von Piatons Politeia" an bis auf die .Utopia" des
Monis
und die G eschichte der Sevarambier, bis auf Quesnays
.Ordre
naturd", Lessings Weltstaat"
und Kants
.Vereinigung
frei wollender Menschen", bis auf Saint-Simons .Industridismus" und
Marx' .Zukunftssiaai" haben alle Utopien die Akratie ds Ided
ber
der
Menschheil
aufgepflanzt.
Hdt " sagen die Kenner der Literaturgeschichte. Auf Lessings und Kants
Vorsteungen
trifft
das zu, aber nicht auf die anderen Utopisten. Sie
die
statuieren die Herrschaft ds notwendig. Pia
ton,
Monis, Campandia die Herrschaft der Philosophen oder Priester, Saint-Simon die der groen
Unternehmer, Quesnay, der Trumer und Theoretiker des aufgeklrten Despotismus, die Herr
schaft des unbeschrnkten Monarchen, der gleichzeitig Arzt und Erzieher seines Volkes ist, und gar
Marx die einer ungefgen Brokratie, die alles wirtschaftliche Leben,
di e
Produktion und Vertei
lung der Gter reguliert, die Brger
an
die Arbeit stellt, und mit Gtern versorgt.
Richtig, und doch waren sie
die
Glubige der
.Akratie".
Ich habe absichich dieses wenig ge
bruchliche Wort angewendet, weil ich ein gebruchlicheres und bekannteres fr einen anderen
Begriff brauche, der hufig mit dem ersten verwirrt und verwechselt wird. Akratie ist nicht
.Anarchie".
Akratie ist das Ided einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlsten Gesellschaft, Anarchie
das Ided einer von jeder Autoritt, jeder zwingenden, gesetzlich berechtigten Gewdt freien Gesell
schaft. Das sind zunchst einmd begrifflich zwei recht verschiedene Dinge.
Die Anarchisten werden erwidern:
.Was
bekmmern uns begriffliche Haarspdtereien? Praktisch
- und nur darauf komm t es an - ist Akratie ohne Anarchie undenkbar. Wo imm er Autoritt be
stand, bestand Ausbeutung. Und wo immer Autoritt bestehen wird, wird Ausbeutung bestehen.
Und darum gibt es nur ein Mittd zur Herbeifhrung der Akratic, nmlich die Anarchie."
Die Meinung ist sehr weit verbreitet, unter Freunden und Gegnern. Ludwig Gumplowicz, der
Mitschpfer der deutschen Sodologie, der Todfeind des Anarchismus, hat gerade aus dieser Grund
voraussetzung heraus, die er mit dem Anarchismus teilte, seinen tieftraurigen soziologischen Pessi
mismus abgeleitet, in etwa folgendem Schlu: .Ohne Autoritt ist kein gesellschaftliches Zusam
menleben mglich; das Chaos wrde hereinbrechen. Autoritt aber ohne Ausbeutung ist undenk
bar. Folglich ist gesellschaftliches Leben ohne Ausbeutun g undenkbar."
Das Problem, das hier vor uns aufsteht, ist hochernst. Es ist das ernsteste Problem der Mensch
heit. Haben wir wirklich nur die Wahl zwischen der Verewigung der Ausbeutung auf der einen
Seite und der Vernichtung aller Kultur und dienReichtums im Chaos des Kampfes dler gegen alle
auf der anderen Seite? Mu das Schifflein der Menschheit, um die Skylla zu vermeiden, wirklich an
der Charybdis scheitern?
Die Anarchisten geben vor, zu glauben, und einige Phantasten glauben es vielleicht wirklich, da
die Menschheit sich auch ohne Autoritt werde vllig verwdten knnen. Das ist pures Phantasma.
Wenn wir die Gesellschaft der Akratie durchdenken, so finden wir freilich, da sie, namentlich ds
Demokratie 4
Wellstaat" lessingisch gedacht, mit sehr wenig .Autoritt" auskommen w ird. Das Heer, die Poli
zei, die Gefngnisbeamten, das Richterpersond werden zum Teil ganz verschwinden, zum T eil auf
einen Minimdbestand herabsinken, den wenige heute fr mglich
bdten.
Aber niemds wird ein
Gemeinwesen, das grer ist d s ein
Dorf
auskommen ohne ein Recht und ohne die B eamten, die es
sprechen und im No tfdl die Macht haben, es zu erzwingen; ohne ein Strafrecht namenich und ein
Expropriationsrecht. Ohne ein Strafrecht
fdlen
wir mit
fatder
Notwendigkeit in die wilden Zeiten
der Blutfehden, der Vendetta und des Richters Lynch zurck, und das sind ehrwrdige Institutio
nen,
die von einer gewissen Hhe der Wirtschafts- und Kulturstufe an nicht mehr geduldet werden
knnen; und ohne ein Expropriationsrecht im Interesse der Gesamtheit ist der Narr, der Querkopf
und der Bswillige ihr Herr und ihr Ausbeuter. Und
femer
kann keine grere Gemeinschaft aus
kommen ohne ein gewisses Gemeineigentum, mindestens an Wegen, an Bildungsanstdten, an Schu
len,
vielleicht Kirchen - wer will im anarchistischen Reich Kirchen verbieten? -; solche Dinge
mssen verwdtet und geschtzt werden, und dazu gehren Beamte, die man besolden mu, und
dazu Steuern. Die kann man aus Grnden der Gerechtigkeit dort, wo es sich
um
allgemeine Interes
sen handelt, auch nur ds Zwangsumlage von
dien
Berechtigten einziehen. Und selbst wenn wir uns
allen Staat aufgelst denken in lauter freie, auf Freiwilligkeit beruhende Genossenschaften: einige
von ihnen werden doch rtliche G enossenschaften sein mssen, und das sind dann eben Gemeinden
mit Gemeindebedrfnissen, die autorisierte Beamte und ffentliche Mittel erfordern. Und sind
trotz alledem Gemeinden, die sich zu gewissen greren, sonst nicht erreichbaren Zw ecken - man
denke nur an Kand-, an Deich-, an Wasserbauten usw. - einigen mssen, um die gemeinsamen
Zwecke zu verwirklichen. Die zuEnde gedadite Anarchie ist die Zersplitterung der Menschheit in
lauter kleine Horden, die sich gegenseitig bekmpfen, ist die Vernichtung dler gesellschaftlichen
Kooperation, d. h. fast dler gtererzeugenden Kraft, und daher die Vernichtung des grten Teiles
der heute lebenden Menschheit, da in so schwacher Arbeitsteilung der Quadratkilometer kaum
mehr ds einen Kopf ernhren kann.
Dieser Weg der Abschaffung dler Autoritt und zwingenden Gewdt ist dso keineswegs gang
bar; er wrde, anstatt zur Verminderung, zur unmebaren Vermehrung des menschlichen Elends
und der menschlichen Unfreiheit fhren: denn wer ist elender und unfreier als der Primitive, ob
gleichgeradeer nach Ernst Groes treffendem Won.einpraktischer Anarchist" ist?
Ist denn nun die anarchistische Behauptung wahr, da Autoritt und Ausbeutung in aller Ver
gangenheit untrennbar verknpft waren und in aller Zukunft untrennbar verknpft sein werden?
Was die Vergangenheit anlangt, so wollen wir den Satz im allgemeinen zugeben, mssen aber be
tonen, da hier und da seltene Ausnahmen von der Regel aufzufinden sind, die bei genauerer Ana
lyse die Regel zwar nicht aufheben, wohl aber auf das von ihr wirklich beherrschte Gebiet be
schrnken. Wir finden hier und da in vllig freien Gemeinschaften Beamte, die whrend ihrer
Amtsdauer eine sehr weitgesteckte Gewdt genieen, ohne da es ihnen oder ihren Untergebenen
jemdsin den Sinn kme, da auch nur der Versuch eines Mibrauchs dieserAmtsgewdtzu persn
licher Bereicherung oder Machterweiterung gemacht werden knnte. Ich denke hier an die gewhl
ten Hetmans der freien Kosaken am Dnjester, die whrend des Kriegszustandes Herren ber Leben
und Tod ihrer Whler waren, ferner an die Schultheien und Kriegshauptleute freier Bauernschaf
ten,
w ie z. B. der Dithmarschen, in einigen Perioden auch der Schweizer; und glaubt jemand, da
die Marius, Sulla und Csar, die in Rom zur Zeit der Samniterkriege lebten - und sie haben damals,
wie zu allen Zeiten, gelebt -, auch nur auf den Gedanken htten kommen knnen, die Staatsord
nung in ihrem persnlichen Interesse umzuwlzen, ihr konsularisches oder tribunisches Amt zu
mibrauchen?
SolcheAusndimenbeweisen an sich noch nicht, da die Behauptung der Anarchisten und des
soziologischen Pessimismusfdscb ist. Denn sie sind sehr selten und beziehen sich auerdem noch
auf verhltnismig kurze Zeitrume. Die Vermutung wre immerhin gestaltet, da jene Krfte, die
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Zweiter
TeiL-Staat,
Nation*
JIMS
und Demokratie
u
von der Autoritt zur Ausbeutung leiten, hier und da fr kurze Zeit durch Gegenkrfte persnli
cher oder sozialer An pardysien oder doch gehemmt werden knnen.
Aber jene Ausnahmen zeigen doch klar genug, da die behauptete Verbindung von Autoritt
und Ausbeutung doch nicht eine unmittelbare sein kann, sondern da sie durch Mittelglieder herge
stellt wird, die irgendwie mit der soziden und konomischen Lage des Staatswesens zusammenhn
gen mssen. Und so entsteht das wissenschaftliche Problem, diese Mindglieder aufzufinden und
mit soziologischen Mitteln aus ihren Ursachen abzuleiten. Erst daraus kann sich ergeben, ob jener
hufige, fast regelmige Zusammenhang eine immanente Kategorie* des Gesellschaftslebens, dso
auch eine unvermeidliche Notwendigkeit dler Zukunft ist, oder eine
.historische
Kategorie", Folge
vermeidlicher, nicht notwendiger Ursachen. Erst diese Untersuchung kann uns Klarheit bringen;
solange sie nicht durchgefhrt ist, ist die Behauptung des Anarchismus nichts Besseres ds ein Ana
logieschlu aus der Vergangenheit auf die Zukunft. Und Andogieschlssebeweisen nichts Selbst
einen Aristoteles hat die Geschichte ad absurdum gefhrt: auch er hielt per analogiam die Sklaverei
fr eine immanente Kategoriediesknftigen, weildiesvergangenen Gesellschaftslebens.
Diese Untersuchung anzustellen, wird jetzt unsere Aufgabe sein, um herauszufinden, ob in der
Tat die Demokratie im Sinne der Akratie ein ewig unerreichbares Ided der Menschheit ist.
Alle Soziologie hat auszugehen von den menschlichen Bedrfnissen. Denn die Gesellschaft ist
nichts anderes ds das kleinste Mittel zur mglichst vollkommenen Befriedigung der Bedrfnisse
ihrer Mitglieder. Unter diesen Bedrfnissen nehmen diejenigen den hchsten Rang ein, die fr den
einzelnen die Bedrfnisse hchster Dignitt, d. h. Dringlichkeit sind, diejenigen, die er zum Teil mit
dem Tiere gemeinsam hat, die Bedrfnisse nach Sachgtern, zunchst der Nahrung und des Ob
dachs, spter der Kleidung, der W erkzeuge, des Luxus.
Nun hat der Mensch zwei grundstzlich entgegengesetzte Mittd, um sich die Gter zu beschaf-
fen,deren erbedarf.Das eine Mittel ist die eigene Arbeitander Natur und auf hherer Stufe der ds
quivdent betrachtete Austausch seiner Arbeitserzeugnisse gegen fremde. Weil es sich hier um die
beiden Ttigkeiten handelt, die die Wirtschaftsgesellschaft
begrnden,
habe ich dieses Mittel das
konomische Mittel" genannt.
1
Das zweite Mittel, dessen sich der Mensch bedient, um sich die Gter zu beschaffen, ist die un-
entgoltene Aneignung durch Gewdt, und zwar durch krperliche Gewdt oder den Mibrauch
geistlicher Gewdt durch Patriarchen und Priesterschaften. Dieses Mittel habe ich ds das .politische
Mittel" bezeichnet.
Warum .politisches Mittel"? Weil es im internationden und im intranaonden Leben alle Poli
tik beherrscht. Der Urtypus dler internationden Beziehungen ist der Krieg, und der hatte oft genug
zwar einen anderen Vorwand, aber wohl kaum jemds einen anderen Grund ds die Bereicherung
einer Nation auf Kosten der anderen, oder die Abwehr eines solchen Bestrebens. Wird doch sdbst
heute noch sogar der internationde Handel nach der Weise des Merkantilismus von viden ds ein
Mittel betrachtet, um nicht-quivdente Tausche zu vollziehen, d. h. den Hndlern des eigenen
Landes auf Kosten der fremden Hndler einen Mehrwert an Gtern zuzufhren. Vor allem aber
beherrscht das politische M ittel auch das wichtigere intrana tionde L eben durchaus. Es hat den Staat
geschaffen. Der Staat ist nichts anderes ds daspolitische Mittd in seiner Entfaltung.
Der Gedanke ist nur der Form nach neu; dem Inhdt nach ist er dt genug. Er verdankt nament
lich dem franzsischen Genius seine allmhlicheAusgestdtung. Die Genedogie geht von Rousseau
ber J.B. Say und Saint-Simon zu Proudhon. Man hat fanatisch um ihn und gegen ihn gekmpft;
und das ist wohl verstndlich, denn es ist vielleicht der revolutionrste Gedanke, den man ausspre
chen kann. Er ist der Hebel, um die festesten Zwingburgen und Baslilien zu erschttern.
1 Vgl. Oppenheimer,DerStaat, Frankfurta.M..1907.(Im vorliegendenBand,siehe
S.
309-385; A.d.R]
Demokratie
421
Diese Auffassung des Staates widerstreitet der gdtenden Staatsphilosophie auf das heftigste.
Nach einigen Philosophen ist der Staat die Verwirklichung des gttlichen Gedankens auf Erden
oder irgendwelcher anderen wertvollen knftigen Dinge. Darauf ist zu erwidern, da wir nicht
theologisch oder ideologisch fragen, wozu der Staat bestimmt ist, wozu er sich entwickeln soll,
sondern soziologisch-kausd, was der Staat ist, aus welchen Ursachen, aus welchen menschlichen
(nicht berirdischen) Zw ecken er entstanden ist. - Andere Philosophen behaupten seit Epikur, der
Staat sei die Organisation des Grenzschutzes nach auen und des Rechtsschutzes nach innen. Dar
auf ist zu erwidern erstens, da das ganz richtig ist, aber den Staatsinhdl bei weitem nicht erschpft
und zweiten s, da es sehr darauf ankommt, zu untersuchen, wdcher Art das Recht ist, das der Staat
schtzt.
Die einzige Erklrung vom Wesen und von der Entstehung des Staates, die der wissenschaftli
chen Prfung standhlt, ist die folgende, die im wesentlichen von Ludwig Gumplowicz-Graz
stammt: der Staat ist eine Rechtsinstitution, einer beherrschten Schicht einseitig, durchkrperlidie
oder geistliche Gewd t aufgezwungen von einer herrschenden Schicht, mit dem einzigen ursprng
lich vorhandenen Zwecke, die Unterschicht zugunsten der Oberschicht zu bewirtschaften, und
d. h.: nach dem Prinzip des kleinsten Mittels
.mit
dem geringsten
Aufwnde
zum grten dauern
den Erfolge" auszubeuten.
Dieser fr den ersten Blick paradoxe Satz wird erstens bewiesen durch die Induktion. Die Ge
schichte kennt keinen einzigen gut beobachteten Fall von originrer Staatsentstehung, der nicht
nach diesem Typus verlaufen wre. (Bei den Kolonien tritt die Gew dt oft unerkennbar zurck: ihre
Begrnder bringen die
Verfassung
des Mutterlandes mit in die neue Heimat und das ist eben die
inzwischen zu Recht gewordene ursprngliche Gew dt.)
Vor allem lt sich unsere Behauptung auch durch die Deduktion beweisen. Und zwar folgen
dermaen: Notorisch, unbestritten und unbestreitbar waren alle Staaten der Vergangenheit und
sind alle Staaten der Gegenwart Klassenstaaten', das heit Hierarchien von bereinander liegen
den Schichten verschiedener pol itischer Berechtigung und verschiedener konomisch er Ausstat
tung.
Diese K lassenscheidung beruhte bis zum Anbruch der neuen Zeit und fr viele Staaten bis tief in
die Neuzeit hinein auf einem Rechte, das unbestreitbar nichts anderes war als rechtlich fixierte,
durch das Recht und die Verfassung geschtzte und gewhrleistete frhere Gewdt, Gewdt des
Schwertes oder des Mebuches und Beichtstuhles. Die Sklaverei der Antike und die Hrigkeit des
Mitteldters sind unzweifelhaft rechtlich fixiertes, einseitig auferlegtes politisches Mittd gewesen.
Und da der Staat der Antike gar nichts anderes war ds das rechtliche Gehuse" der Sklaverei, der
des Mitteldters gar nichts anderes ds das rechtliche Gehuse der Leibeigenschaft, so ist fr diese
beiden groen Geschichtsepochen unsere Behauptung erwiesen.
Wie steht es aber mit den Staaten der Gegenwart, in denen die Sklaverei und Hrigkeit rechtlich
nicht mehr existieren? Mit den Staaten vor dlem, die bereits demokratisch" reif sind, das allgemei
ne Stimmrecht, die allgemeine Wehrpflicht und die volle Gleichheit vor dem Gesetz haben? Sind
auch sie entfdtetes politischesMinel ?
Unzweifelhaft sind sie es, und das lt sich stringent beweisen. Da sie immer noch
Klassenstaaten" sind, mindestens konomisch, wirdniemand zu leugnen versuchen; und fast alle
werden zugeben, da sie auch politisch noch immer mehr oder weniger Klassenstaaten sind, d. h.
da der Einflu der Wohlhabenden auf Gesetzgebung, Verwdtung und Politik nach innen und
auen, in Krieg und Handel weit strker ist, ds ihrer Verhltniszahl entsprche, und da dieser
Einflu nicht immer ausschlielich im Interesse der Unterschicht ausgebt wird.
Nun wohl, wir behaupten: auch ein moderner, rechtlich freier Klassenstaat kann nichts anderes
sein ds entfdtetes politisches Mittel;
die
Klassenscheidung kann nur bestehen aufgrund einer Ver
fassung und eines Rechtes, das ehemdige Gewd t sanktioniert und gewhrleistet;
d ie
Klassenschei-
7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)
5/9
TT
422
Zweiter
Ted: Staat,
Nation*
us und Demokratie
Demokratie
dung
mu sofort aufhren, sobald dieses Recht verschwindet. Dieses Recht ist das der Bodensper-
rung.
Der groe Turgot scheint es gewesen zu sein, der zuerst den Satz aufgestellt hat, da nicht eher
eine Arbeiterklasse entstehen kann, ds bisjedesStck Land seinen Herrn gefunden hat", - und da
daher auch nicht eher arbeitsloses Einkommen und Grovermgen an Grund und Boden oder
Kapitd" entstehen kann - denn all das setzt die Existenz einer Klasse besitzloser, in der
Manischen
Sprache freier" Arbeiter voraus.
Da alles Land bereits zur Zeit Turgots .seinenHerren gefunden hatte", war klar, denn es exi
stierte ja seit langer Zeit schon eine Arbeiterklasse, existierte Grovermgen und arbeitsloses Ein
kommen. Aber wie hatte es seinen Herrn gefunden? Durch das konomische Mittel, d.h. durch die
Besitznahme von Bauern, die die Scholle selbst pflgten, oder durch das politische Mittel, d. h.
durch die Besitznahme von Leuten, die es nur sperrten, um andere dazu zu zwingen, ihnen einen
Teil ihres Arbeitsertrages abzutreten?
Weder Turgot noch einer seiner Nachfolger (auer vielleicht der irische Sozidist Thompson)
haben diese Frage gestellt. Sie haben gar nicht entdeckt, da hier eine zweifache Erklrung mglich
ist. Sondern sie haben folgendermaen geschlossen:
.Gbe
es genug Land fr das Bedrfnis der
Gesellschaft, so knnte keine Klassenscheidung und kein Groeigentum vorhanden sein. Nun ist
dasalles aber vorhanden, folglich gibt es nicht genug Land."
Der Schlu ist fdsch. Er vernachlssigt die Mglichkeit, da zwar an sich, von Natur aus ge
nug Land vorhanden sein, aber durch das Recht des Eigentums gegen die Besitznahme durch die
Landbedrftigengesperrtsein knnte. Ist das etwa der Fall, so sind die Folgen fr die gesellschaft
liche Klassenschichtung offenbar ganz die gleichen, ds wre das gesperrte Land gar nicht vorhan
den.
Wie nun diese Frage entscheiden? Nun, sehr einfach durch Rechnung und
Statistik.
Wir mssen
fragen, wieviel Land zu selbstndiger buerlicher Wirtschaft ntig ist und dann feststellen, wie gro
die heute vorhandene landbedrftige Bevlkerung und wie gro der Vorrat an Ackerland ist. Zeigt
sich dann, da der Vorrat nicht ausreicht, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen natrlich
bedingt, notwendig, immanente Kategorie der menschlichen Gesellschaft: und der Klassenstaat von
heute ist grundstzlich unabnderlich. Zeigt sich aber, da der Vorrat den Bedarf bersteigt, so ist
die Klassenscheidung mit ihren Folgen rechtlich bedingt, ist Konsequenz einer Sperrung des Bodens
und dann ist der Klassenstaat von heute historische Kategorie, Schpfung und rechtliches Gehuse
des politischen M ittels.
Nun, die Rechnung ergibt zweifellos, da der zweite Fall der Wahrheit entspricht.
Damit ist bewiesen, da diedteAuffassung Turgots und seiner Nachfolger fdsch, da die Klas
senscheidung Werk des politischen Mittels, und da mithin der Klassenstaat das entfdtete politische
Mittel ist. Ohne die Bodensperre gbe es noch heute und auf unabsehbare Zeit hinaus keine Klas
senscheidung, keine Arbeiterklasse, keinGroeigentuman Grund und Boden und an Kapitd.
Was haben wir damit fr unser Problem gewonnen? Nun, der Anarchismus behauptet, da, weil
der Staat immer mit Ausbeutung verbunden gewesen ist, er es auch in Zukunft immer sein wird.
Da dieser Schlu ds einfacher Analogieschlu nicht zieht, haben wir bereits festgestellt; jetzt aber
drfen wir behaupten, da er mit Sicherheit fdsch ist, weil er das Wort Staat" auf zwei verschiede
ne Phnomene anwendet, auf den Klassenstaat der Vergangenheit und Gegenwart und auf den
klassenscheidungsfreien Staat der Zukunft, zwei Phnomene, die einander gerade so kontradikto
risch gegenberstehen wie ihre Grundwurzeln,daspolitische und das konomische Mittel.
Da im Klassenstaat der bisherigen W eltgeschichtedie Beamtenautoritt, jedes Amt ds Richter,
ds Feldherr, ds Brgermeister oder Gauknig, ds Volksvertreter usw. seinen Trger leicht zum
Mibrauch verfhren konnte, verstehen wir ohne Schwierigkeit. Denn berdl sttzt sich der Beam
te auf die eine Klasse, um durch sie die andere zu beherrschen und zu plndern. Marius sttzt sich
423
auf den Pbel gegen die Besitzenden, Sulla auf die Besitzenden gegen den Pbel; immer steht Zahl
gegen
Zahl,
Macht gegen Macht, eine Kollektivkraft, ein Kollektivinteresse gegen das andere.
Auf wen sollte sich aber in der bis zur Akratie vollendet gedachten Demokratie, in der klassen
losen politischen Gemeinschaft ein Beamter sttzen wollen, um seine Autoritt zur Ausbeutung zu
mibrauchen? Es gibt keine klassenmigen Interessengegenstze, wo es keine Klassen gibt. Ein
Beamter kann zum Verbrecher werden, gewi: aber es gibt hier keine Macht, die ihn gegen den
Zorn der ffentlichen Meinung schtzen knnte; denn es gibt hier nur eine ffentliche Meinung,
und nicht, wie im Klassenstaat, so vielMeinungen wie Klassen. Ein Beamter kann ferner vielleicht
die Gesamtheit auf einen Weg fuhren, der zu ihrem Schaden ist; aber er kann sie nicht dazu zwin
gen,
diesen Weg zu betreten, und ebensowenig, darauf zu verharren. Er steht allein gegen die Ge
samtheit, mchtig nur, wenn er ihren Willen tut, ihr Interesse frdert, ohnmchtig, wenn er es
versuchen wollte, gegen ihren Willen, gegen ihr Interesse zu handeln.
Das ist das Ergebnis unserer berlegung, und das ist auch die Erklrung jener seltenen Ausnah
men, von denen wir vorhin sprachen. Autorittfhrtzur Ausbeutung berall dort, w o die Autori
tt sich auf ganze Klassen sttzen kann, die von der Ausbeutung nicht nur nicht mitbetroffen wer
den, sondern ihren Vorteil mitgenieen. Daran scheiterte z. B. die sogenannte Demokratie der
antiken Staaten: hier war der Klassenstaat doppelt fundiert, auf der Bodensperre und auerdem
noch auf der Sklaverei; daher bestand eine schroffe Klassenscheidung, und das allein ermglichte
Demagogen und Prtendenten ihr wstes Treiben: sie sttzten sich immer auf die eine Klasse gegen
die andere. Und im modernen Europa ist es grundstzlich nicht anders.
Wo aber dieses Zwischenglied, die Klassenscheidung, nicht gegeben ist, da kann Autoritt nie
mds straflos, und sicher nicht auf die Dauer, zur Ausbeutung mibraucht werden.
Wenn das wahr ist, und wir sehen nicht, wie es bestritten werden knnte, dann fllt das einzige
Argument in sich zusammen, das die Oligokratie gegen die demokratischen Forderungen erheben
kann, seitdem der gttliche Wille" nicht mehr ds Rechtfertigung der Herrschaft vorgeschtzt
wird: jenes einzige Argument, da die Demokratie zur Anarchie, zur Unordnung, ja, zum Chaos
fhren msse. D. h.: Akratie und Anarchie verwechseln. Der klassenlose Staat der Zukunft, die v on
allen Resten despolitischen Mittels gereinigte Freibrgerschaft" meiner Terminologie, wird die
strkste richterliche und administrative Autoritt besitzen, Beamte mit dien Machtvollkommenhei
ten, derer sie bedrfen, Steuern und Leistungen, Strafrecht und Strafrichter - sie wird nich t im
mindesten A narchie und dennoch durchaus Akratie sein.
Die Lsung
Nun gut", knnte man sagen, die volle Demokratie ist nach deiner Anschauung mglich durch
Beseitigung des letzten Restes des politischen Mittels, nmlich der Bodensperre; die Klassenschei
dung und der Klassenstaat knnen verschwinden und dieseGemeinschaft soll ewige Dauer verspre
chen, weil sie beamtete Autoritten einsetzen kann, ohne Mibruchebefrchten z u m ssen. Alles
sehr schn: aber beweist das im entferntesten, da dieser Zustand wnschenswert ist? Steht hier
nicht Weltanschauung gegen Weltanschauung, Ided gegen Ided, politische Theorie gegen politische
Theorie? Was beweist uns, da die oligarchische Auffassung schlecht und die demokratisch-
akratische gutist?"
Ein wichtiges Problem und ein neues Problem Das Problem desWertmastabes der Sodologie,
die sich in demselben Augenblicke zur Sozidphilosophie erhebt, wo sie dieses Problem aufwirft.
Denn die Soziologie ist die Wissenschaft von Ursachen aus Wirkungen, vom
Sein und Werden
der menschl ichen Gesellschaft, und die Sozialphilosophie ist die Wissenschaft von den Zw ecken
7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)
6/9
424
Zweiter
Ted: Staat,
Natu Mismusund D emokratie
und Zielen, von den Wertmastben und Wertergebnissen, vom Sollen der menschlichen Gesell
schaft.
Zwei Mastbe haben wir, um die Oligokratie mit der Demokratie auf ihren Wert hin zu ver
gleichen, einen inneren und einen ueren, einen praktischen und einen ethischen. Der praktische
uere ist ihre Leistung fr die menschliche Gesellschaft, der innere ethische ist das uns immanente
Sittengesetz.
Sprechen wir zuerst von dem ueren Mastabeder Bewertung, von der Leistung der beiden po
litischen Systeme. Dabei trin uns eine bedeutende Schwierigkeit entgegen; wir haben wohl Pseudo-
demokratien in Menge, historische und gegenwrtige, aber keine reine Demokratie im Sinne der
Akratie. Wir knnen daher nicht unmittelbar und nicht mit voller Beweiskraft unsere Vergleiche
anstellen, sondern knnen nur mindbar vergleichen und nur Wahrscheinlichkeiten feststellen.
Aber freilich Wahrscheinlichkeiten, die nicht mehr viel von der vollen Gewiheit entfernt sind
Was immer wir vergleichen mgen, dasselbe Volk, das eine Md unter der Herrschaft einer Oligo
kratie und das andere Md unter der einer Demokratie in dem
gewhnlichen
Sinne des Wortes, d. h.
einer Herrschaft, die nicht einer sehr kleinen Klasse allein vorbehdten ist, - oder ob wir verschie
dene Lnder vergleichen, deren eines oligokratisch, deren zweites demokratisch regiert wird, immer
ist das Ergebnis das gleiche: eine unendlich viel hhere Gesamtleistung der Gesellschaft gegenber
dien
erdenklichen Kriterien. Vergleichen wir
z
B. das Frankreich des Feudalismus oder der Louis
mit der heutigen Republik, oder das Preuen der
Junkerherrschaft
zu Beginn der Neuzeit mit dem
heutigen konstitutionellen Staat: welcher ungeheure Unterschied in der Lebensdauer, der geistigen
Bildung und Freiheit, dem Geschmack, dem Wohlstand, der politischen Kraft, dem Brgersinn, bis
herab zum Ertrag der cker, der sich verdreifacht und vervierfacht hat, und zum Ertrag der Ge
werbe, der sich verhundertfacht hat
Und vergleichen wir z. B. die heutigen Vereinigten Staaten mit dem heutigen Ruland. Wir ha
ben zwei ungeheure Gebiete von fast gleicher Volkszahl und Ausdehnung, beide vom Polargebiet
bis in die Subtropen erstreckt, beide mit den gleichen Naturschtzen: Eisen, Petroleum, Kohlen,
Holz, Gold usw. verschwenderisch ausgestattet, beide mit natrlichen Binnensdiiffahrtsstraen,
vermittelt durch ungeheure, meerhnliche Swasserseen, wie sie sonst kaum auf diesem Planeten
zu finden sind: zwei Objekte, die ein spttisch-wohlttiger Genius uns geradezu nebeneinander
gestellt zu haben scheint, um sie zu vergleichen und aus dem Vergleich zu lernen, was Oligokratie
und Demokratie leisten knnen. Denn unendlich hoch, von jedem Gesichtspunkte der Bewertung
aus,
in geistiger und materieller Kultur, in Reichtum und Macht, im Glck seiner Bevlkerung,
steht die Demokratie der NeuenWelt berder Oligokratie der Alten, noch vid hher ds das neue
Frankreich berdem dten. Nichts spricht mehr dafr ds die Grundstimmung der Bevlkerung: in
Ruland dumpfe Verzweiflung, Lebensflucht, Mystik und religiser Fanatismus, in Amerika ein
berquellender Optim ismus, helle Lebensbejahung, Feuer und Kraft.
Gewi, es gibt, um von dem stark oligokratisch beherrschten Preuen-Deutschland zu schwei
gen,noch Schden und Schwren genug, auch in diesen beiden demokratisch am weitesten vorge
schrittenen Grostaaten Frankreich und Amerika. Namentlich in den Vereinigten Staaten beklagen
wir eine ausschweifende Plutokratie, Bestechlichkeit der Beamten, Mibrauch des Parlaments fr
die schamlose Ausbeutung der Konsumenten, grausamsten Raubbau an den Arbeitern, die zu My
riaden dem Dollar hingeopfert werden.
Gewi,
und es gibt gtige und kluge Mnner genug, die gerade durch diese traurigen Tatsachen
an dem Ided der Demokratie irre geworden sind, die jetzt der Meinung zuneigen, da so schwere
Ausschreitungen dort unmglich sind, wo eine straffe
oligokratische
Autoritt die individuelle
Raubgier im Zaume
bjdt.
Wenn wir diesen Mnnern erwidern wollten, da diese Ausschreitungen nur dadurch zu erkl
ren sind, da jene Demokratien eben noch keine vollenAkratien sind, da sie namentlich dieBo -
Demokratie
425
densperre ds Erbschaft der Vergangenheit bernommen und in ihrer Verfassung und ihrem brger
lichen Rechte sanktioniert haben, so sind sie berechtigt, diese Beweisgrnde abzulehnen. Sie knnen
sagen, da z. B. in Amerika die Demokratie wenigstens politisch durchgefhrt ist, und da man,
wredasPrinzip richtig, davon bessere Ergebnisse fordern drfte.
Man kann versuchen, diesen Einwand durch das Mittd einer sehr ausgebreiteten historischen
und statistischen Vergleichung zu widerlegen. Man kann zeigen, dadieNationen der Geschichte
und Gegenwart dem Ided der Leistungsfhigkeit und des allgemeinen Kulturglckes um so ferner
standen und stehen, je weniger, um so nher, je mehr demokratische Elemente ihre Verfassung und
Eigentumsverteilung enthidt und enthlt. Man kann zeigen, da in oligokratischen Staaten eine
noch vid greulichere Korruption und Miwirtschaft, ein noch viel grausamerer Raubbau an der
Volkskraft die Regel war und ist, ds sie in Amerika angeblich bestehen. Man denke an die sprich
wrtliche Kuflichkeit des englischen Unterhauses in einer lang vergangenen Zeit, in der eine sehr
kleine Schicht allein wahlberechtigt war, an die grauenhafte Korruption, die immer noch ganz
Ruland verwstet, an die Korruption des Kirchenstaates, an die Wahlmanver und Massenbeste
chungen im feudalen Gdizien und Ungarn. Und man denke an den nie wieder, wenigstens im
Westen, erreichten Raubbau an der englischen Volkskraft whrend der ersten Dezennien der kapi
talistischen Entwicklung, an die furchtbare Sterblichkeit namentlich der Suglinge, an die Herab
pressung der gesamten niederen Bevlkerungsschicht auf den Kulturzustand von weien Hottentot
ten:
alles das sind Erscheinungen, die erst gemildert wurden durch die vorschreitende Demokratisie
rung der Verfassung; man denke an die Kindersklaverei im oligokratisch beherrschten, monarchisch
regierten Unterhalten und Sizilien, an die Hlle der Schwefelbergwerke und das Inferno der Reis
felder und, wenn von Korruption gesprochen wird, an Camorra und Mafia. Und man hdte dage
gen,
da in den dem demokratischen Ided am meisten angenherten Staaten der Welt, namentlich
im freien Kanada und in dem australischen Comm onwed th, vor dlem in Neuseeland, aber auch in
den meisten Kantonen der dtdemokratischen Schweiz und durchaus im sehr demokratischen Nor
wegen, trotz seiner natrlichen Armut, dlgemeiner Wohlstand, hohe Kultur, reges politisches
Verstndnis, opferfreudiger Brgersinn und die erfreuliche Gesundheit und Langlebigkeit einer
kraftvollen Rasse besteht.
Aber, das mgen alles starke Beweisgrnde sein: durchaus berzeugend sind sie nicht, nament
lich nicht fr den, der nicht berzeugt werden will. Ein hartnckiger Gegner knnte erklren,die
Extreme seien gleich schdlich, eine unkontrollierte Klassenherrschaft nicht minder ds eine unkon
trollierbare Pbelherrschaft; die Wahrheit hege auch hier in der Mitte; das Ided sei eine durch eine
starke Autoritt gezgelte und gemilderte Mitherrschaft nur der gebildeten und besitzenden Mas
sen. Und jene Erfahrungen aus den Kolonien bewiesen nur, da dort gnstige Verhltnisse beste
hen,wo noch eine groe terra libera den Nachwuchs der Bevlkerung aufnehmen knne.
Hier ist nichts Entscheidendes zu erreichen, Meinung steht gegen Meinung. Und darum ist es
gut, da man ein strkeres und nach meiner Meinung schlagendes Argument beibringen kann, das
den Streitfall erledigt. Es lt sich beweisen,
daan denSchdend erheutigen demokratischen Staaten
nichts anderes die Schuld trgt als dieoligokratischenStaaten.
Herbert Spencer sagt ein md in seiner Ethik, man knne in einer unvollkommenen Gesellschaft
keinen vollkommenen Menschen erwarten. Dasselbe gilt im greren Kreise: man kann in einer
unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat erwarten.
Die internationden Einflsse auf die Entwicklung der Demokratie sind bisher nie ausreichend
beachtet worden. Ich mchte das an den beiden groen" Beispielen zeigen, die regelmig ds
unwiderlegliche Beweise fr die Verderblichkeit der Freiheit angefhrt werden: an der Entartung
der franzsischen Revolution von 1789, und der heutigen plutokratischen Entartung der Vereinig
ten Staaten.
Was die erste anlangt, so scheint es mir nach sorgfltiger Erwgung dler Geschehnisse und Cha-
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7/9
426
Zweiter
Teil: Staat,
Natu.
Hismus
und Demokratie
Demokratie
427
raktere ds nahezu sicher, da die Revolution von 1789 niemds zu den Schreckenstagen gefhrt
htte, wenn die oligokratischen Nachbarstaaten sich nicht eingemischt htten. Die Verschwrung
des Adds und Hofes mit den auswrtigen blutsverwandten Dynastien, die Angst und Em prung,
die die Drohung der Invasion fremder Heerehervorrief tragen vor allem die Schuld daran, da die
Marat und Robespierre ihre Gedanken und fixen Ideen dem Volke suggerieren konnten. Es ist sehr
wahrscheinlich, da ohne dies die gemigten Elemente die Massen in der Hand behalten htten,
zumd dann auch viele der schweren Schdigungen fortgefallen wren, die der Kriegszustand und
schon die Kriegspanik mit sich fhrte: die Depression der Volkswirtschaft, die Gdd- und Kreditkri-
sis mit ihrem Gefolge von Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend, und vor allem die Anhufung dieser
Armen mit ihren Hungerdelirien in den groen Stdten, denen sie massenhaft zustrmten, und in
denen sie das eigent lich gefhrliche, das feuergefhrliche Element darstellten,
Wenn solche Zusammenhnge schon in der groen pragmatischen Geschichtsschreibung berse
hen oder doch vid zu wenig beachtet werden: was soll man da erst dort erwarten, wo es sich um
jene groen Unterstrmungen der Geschichte handelt, die sich langsam und unauffllig, ohne gro
en Lrm und ohne die Mitwirkung .hervorragender* Persnlichkeiten vollzieh en Und doch lt
sich, das meine ich beweisen zu knnen, zeigen, da auch der zweite Pfeil, den die oligokratische
Weltanschauung auf die demokratische abzuschieen liebt, auf den Schtzen zurckprallt, sobdd
man ihm den Schild der Erkenntnis der internationden Beziehungen entgegenhlt. Ich spreche von
der amerikanischen Korruption und dem wsten amerikanischen Mammonismus.
Md e man ihn so schwarz, wie man will - und unsere oligokratischen Theoretiker haben fr ihn
zentnerweise schwarze Deckfarbe zur Verfgung, whrend sie die ungleich rgere russische Mi
wirtschaft rosa zu rasieren versuchen -, die Oligokratie ist allein
schuld
daran, die Demokratie ist
unschuldig.
Die Vereinigten Staaten sind nur politisch, aber nicht konomisch ds Demokratie in die Ge
schichte eingetreten. Die politische Freiheit derWashington-Verfassungging sehr wdt - aber das
Recht derBodensperre hatte der Freistaat aus dem Mutterlande importiert, und mit ihm die Mg
lichkeit der Klassenscheidung, des Grundrentnertums und des Kapitalismus und Mammonismus.
Ja,
sie hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Praxis der Bodensperre mit
bers
Meer gebracht
.Die
Zeitgenossen Washingtons trieben*, so sagt Max Sering,
.einen
krmerhaften Handel mit dem
Lande der Nation ." Die Verkaufsbedingungen bei der ffen ichen Versteigerung der Staatslnderei-
en waren so gestellt, da nur die reichste Oberschicht kaufen konnte, quadratmeilenweise: klar
gewollte Bodensperre, Absperrung aller rmeren, allen Nachwuchses, aller neuen Einwanderer von
dem unerschpflichen Naturschatz des Landes, nur um sie zur Rentenzahlung an die Besitzer zu
zwingen. Politisches Mittel in Reinkultur
Und trotzdem: die gute Absicht wre dennoch milungen, es htte sich trotz alledem gezeigt,
da im demokratischen Staate keine Ausbeutung mglich ist, wenn das Wachstum der Bevlkerung
nur durch ihren eigenen Geburtenberschu erfolgt wre. Das Land ist von so ungeheurer Ausdeh
nung, da es unter solchen Umstnden Jahrhunderte gedauert htte, bis das gesperrte Land wirklich
dringlich gebraucht worden wre, und darum wre die Spekulation auf Grundrente klglich zu
sammengebrochen. Denn ein Dollar auf Zins und Zinseszins macht schon in einem Jahrhundert
eine so ungeheure Summe
aus,
da sie beim Verkauf niemals htte herauskommen knnen, und so
htte die Konkurrenz der vielen Besitzer der groen Flchen um die wenigen Pchter und Ansiedler
den Bodenpreis auf unabsehbare Zeit hinaus dicht an Null hdten mssen. Wo eine Bevlkerung gar
nicht oder nicht im Verhltnis zur neu erschlossenen Hache wchst, kann der Bodenwert auch
nicht durch Sperrung emporgetrieben werden; das sehen wir am heutigen Frankreich, dessen
Pachtrenten so ziemlich feststehen, trotzdem die Ertrge des Ackers und Stalles fortwhrend wach
sen; und das sehen wir z. B. auf dem Wohnungsmarkte von Gro-Berlin, wo die Mieten sdt zwan
zig
Jahren
eher sinken, wenigstens im Verhltnis zu den gebotenen Bequemlichkeiten, weil die
Konkurrenz der vielen selbstndigen Gemeinden viel mehr Bauland erschliet, ds selbst die stark
wachsende Bevlkerung braucht.
Trotz alledem ist in A merika die Spekulation der Bodensperrung glorreich gelungen. Wie war
das mglich? Weil die Bevlkerung nicht langsam, sondern ungeheuer schnell wuchs, nicht nur
durch ihren eigenen Bevlkerungszuwachs, sondern durch eine unendlich vid strkere Einwande
rung und deren Geburtenberschu. Diese Einwanderung war die Ursache des Grundrentnertums
und des Kapitalismus; die Bodensperre war nur ihre Bedingung. Und woher kam diese Massenein-
wanderung? Aus dm Oligokratien
Europas
Aus den Lndern des Feudalismus und der extremen
Bodensperre, aus dem da mds noch nichteinmdpseudodemokratischen Grobritannien zuerst, und
hier vor allem aus dem unglcklichen, von einer kleinen Oligokratie auf das furchtbarste ausgeso
genen Irland; dann aus Deutschland, und hier wieder vor allem aus dem von einer kleinen Feudal-
oligokraticausgeplnderten Ostdeutschland; dann aus Itdien , aus Ruland und Ungarn, Galizien
und Rumnien usw., kurz ausdienOligokratien der Alten Welt
Etwa fnfundzwanzig Millionen Einwanderer, fast smtlich den
unleren
Volksschichten ange
hrig, vorwiegend im krftigsten und vor allem im zeugungskrftigsten A lter, haben sich in einem
einzigen, kontinuierlichen, imm er mehr anschwdlenden Strome seit dem Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ergossen, die gewdtigste Vlkerwanderung aller bisherigen
Geschichte. Und sie selbst und ihre unzhligen Nachkom men haben jene Spekulation der frommen
demokratischen" Pilgervter zu Ehren gebracht, haben die ungeheuren Landwerte geschaffen, die
sie sdbst jhrlich zu verzinsen gezwungen sind.
D ie
Klassenstaaten
der Alten
Welt haben
den Klassen
staat der
Neuen Welt
geschaffen
Die O ligokratie der Heimat hatte ihnen die Heim at verleidet, denn
es war die Unterschicht berdl, es war der Arbeiter und der landarme kleine Bauer, die ber den
Ozean zogen , und nicht der Edelmann, der Grokaufmann und der hohe Beamte.
Htte nicht das oligokratische Bodenrecht bestanden, die Demokratie htte sdbst diese ungeheu
re Menschenflut glatt aufgenommen und akklimatisiert. So aber gab es und gibt es schwere Stok-
kungen, namentlich seit das Werk der Bodensperrung von Ozean zu Ozean ganz durchgefhrt ist.
Jetzt dauert es eine, zwei Generationen, bis die Einwanderer und ihre Nachkommen gengend
amerikanisiert und zivilisiert sind, um sich aus der Umklammerung durch den Kapitalismus heraus
zuarbeiten: aber an den neuen Ankmmlingen, diesen
.Tieren
ohne Sede", namentlich in neuester
Zeit an den armseligen Flchdingen aus Mexiko und Ruland, diesen zu Sklaven erzogenen Kulis,
die der Sprache und der Sitten der neuen Heimat nicht mchtig sind, mstet sich der Mammonis
mus in Orgien, die Hekatom ben ber Hekatomben verschlingen, in einem Raubbau von frchterli
cher Brutalitt.
Was aber ist die Ursache dieses Kapitalismus, dieses unerhrten Mammonisimus und der mit
ihm verbundenen kolossden ffenichenKorruption?
Nichts anderes
als die
gleiche Masseneinwanderung aus
de n
gleichen europischen
Oligokratien/
Der
Kapitalismus ist unmglich ohne die Verfgung ber massenhafte freie", d. h. vermgenslose Ar
beiter. Ohne die frhere Einwanderung solcher Arbeiter in Massen htte in Amerika niemals ein
Kapitdismus entstehen knnen;ohne
d ie
Fortdatier dieser Einwanderung wrde
er auf das
schnellste
zusammenbrechen Stellt euch vor, da nur ein Jahrzehnt, vielleicht nur ein einziges Jahrfnft hin
durch der Strom der Einwanderung versiegt, der heute jhrlich rundeine Millionvon Kulis an den
.ulantischen Strand wirft, und fragt, was nach Ablauf dieser Zeit aus dem amerikanischen Kapita
lismus und der amerikanischen Korruption geworden ist Die Lhne der Arbeiter sind bei dem
sinkenden Angebot enorm gestiegen und steigen weiter, weil der steigende Lohn eine stark steigen
de Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen und d. h. schlielich nach Arbeitern hervorruft. Die Ge
werkschaften, schon heute sehr mchtig, sind bermchtig geworden und setzen den niedergewor
fenen Trusts das Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge. D ie Profite fdlen , w eil die Lhne
steigen, und fallen noch mehr, weil die Gewerkschaften die Herren der Lage sind. Die Reservear-
l
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Zweiter
Teil: Staat,
Nation*. Jmus und Demokratie.Jnnu
Demokratie
Taxeder Arbeitslosen ist aufgesaugt, die sweating shops und slums sind entleert: wo finden die Bosse
vo n
Tammany-Hall
jetzt noch die Massen hungernder und verzweifelter Kulis, die fr einen Dollar
ihre Stimme verkaufen? Und wie sollten die Trustmagnaten noch Millionen von Dollar aufbringen
knnen, um Stimmen zu kaufen, wenn die Profite so tief sinken?
Was ist also die amerikanische Korruption und der amerikanische Mammonismus? Einfach die
Folge davon, da die amerikanische Demokratie" noch keine vollkommene Akratie ist, und da
sie infolgedessen nicht imstande war und ist, die ungeheure Zuwanderung europischer Kulis
schnell genug politisch und konomisch zu verdauen. Stellt man sich die Schpfung Washingtons
und Franklins als aus ihren internationden Beziehungen isoliert vor, so funktioniert sie ohne Tadel,
trotz dem schweren Fehler ihrer Verfassung, dem antidemokratischen Bodenrecht.
Ist es, unter diesem Gesichtspunkt, nicht genau die Fabel vom Wolf und dem Lamm, wenn heute
der Oligokrat dem Demokraten die Trbung des ffentlichen Wassers in den Staaten vorwirft? Er
steht oben am Strome der verhngnisvollen Wanderbewegung der Massen, er allein hat de ver
schuldet - und beschuldigt das Lamm unten Welche unverschmte Zumutung an die Demokratie
ist es, da sie in
einem
Jahrhundert den in Jahrtausenden der Gewdt und der skrupellosen Anwen
dung des politischen Mittels verseuchten Boden der ganzen Kulturwelt sanieren soll Da sie unge
zhlte Millio nen von Sklaven und Hintersassen im Handumdrehen in Brger verzaubern soll Was
die unvollstndige amerikanische Demokratie unter diesen Umstnden dennoch geleistet hat, ist ein
Werk von unerhrter Groartigkeit.
Begreift man jetzt, warum die Mnner der groen Revolution von 1789 den Krieg ber die
Grenzen tragen
muten)
Sie hatten verstanden, da eine Demokratie nicht gesund bleiben kann,
solange aus dem Pestherde der benachbarten Oligokratien die Ansteckungskeime
ber
die Grenzen
stieben. Wenn es in einer unvollkom menen Staatengesellschaft keinen vollko mmen en Staat geben
kann, so ist die Aufgabe der Demokratie klar vorgeschrieben: sie mu eine
demoeratia
militans
werden, um dieWeltund damit sich selbst auf die Dauer zu sanieren und zu sichern.Internationale
politischeHygiene,das ist
das
Programm der nchsten Zukunft.
So viel von der Bewertung der Demokratie am ersten unserer Mastbe, dem der praktischen
Leistung.
Wie steht es nun uro ihre Sache vor dem zweiten Richterstuhl, dem Oberappellationsgericht der
Menschheit,
dem Sittengesetz?
In der Regd wird der Streit zwischen Oligokratie und Demokratie so aufgefat, ds handle es
sich um ethisch gleichwertige Anschauungen, etwa wie bei dem Meinungskampf zwischen den
Anhngern Darwins und denen Lamarcks oder zwischen den Realisten und Idedisten in der Philo
sophie. Dieser Indifferentismus wird nur noch gesttzt, wenn man den Streit im Lichte der Sozio
logie betrachtet, diese Wissenschaft in ihrer engeren Bedeutung gefat, ds reine, kausal verbindende
Seinswissenschaft. Sie zeigt uns, da von Anbeginn des
Staatdebens
an sich die gleichen beiden
Gruppen- bzw. Klassentheorien gegenberstehen: der oligokratische .Ugitimismus" oben und das
demokratische
N arurrechl"
unten, die gleichen beiden Theorien, die in den Staaten aller Zeitdter,
Klimate und Rassen immer dieselben charakteristischen Zge aufweisen. Der Legitimismus recht
fertigt berall die Herrschaft und Ausbeutung damit, da die Herrengruppe von besserer Art oder
Rasse sei ds die Gruppe der Untertanen. Jene bese allein die Begabung, die von ihnen gegrnde
ten Staaten sicher durch alle Klippen zu steuern; ja, ihre Herrschaft sei das einzige Mittel, um die
Untergruppe vor dem schwersten Schaden zu bewahren; denn diese bestehe aus so schlechten,
trichten und charakterschwachen Elementen, da der Krieg aller gegen alle losbrechen mte,
liee die Herrenklasse die Zgel aus der Hand.
Dagegen erklrt die naturrechtliche Auffassung der Unterklasse berall den Adds- und Rassen
stolz der Oligokratie fr lcherliche Anmaung und behauptet, die Unterklasse sei mindestens
ebenso fhig, den Staat zu lenken; erst die volle Durchfhrung der Demokratie verbrge das hch-
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ste Glck der Gesamtheit, das unter der Oligokratie schwer verkrzt werde. Wenn m an diese bei
den Auffassungen gegeneinanderstellt, so scheint es auf den ersten Blick unmglich, sich fr eine
von beiden zu entscheiden. Sie erscheinen ethisch gleichwertig, erscheinen beide ds Ausdruck des
grundstzlich gleichen Klassenegoismus. Und so hrt man denn auch oft genug, da das Naturrecht
verchtlich mit dem Ausdruck Sklavenphilosophie" abgetan wird.
Dennoch enthllt sich bei nherer Betrachtung die Erkenntnis, da die beiden Bekenntnisse sich
doch in einem Punkte wesendich unterscheiden: der Legitimismus ist eine ausschlieende, das Na
turrecht eine einschlieende politische Theorie. Jener verweigert der Mehrheit der Brger das poli
tische Mitbestimmungs- und Selbstbestimmungsrecht - dieses mag vielleicht den Adel verwerfen,
aber es ist seinen Anhngern niem ds in den Sinn gekomm en, den Spie umzukehren und den Adli
gen die Brgerrechte zu verweigern.
Dieser Unterschied wchst aus der tiefen Wesensverschiedenheit der beiden Anschauungen. Der
Legitimismus der Oberklasse widerspricht dem Sittengesetz, das Naturrecht ist seine Verwirkli
chung.
Hier, w o es sich nicht mehr um Verknpfungen von Ursachen und Wirkungen handelt, sondern
um Wertmastbe und Wertungen, hat nicht mehr die Seinswissenschaft der Soziologie das Wort,
sondern die Sollwissenschaft der Sozidphilosophie. Vor ihr Forum allein gehrt der groe histori
sche Streit, der uns beschftigt. Und er liegt so klar, da wir voller Vertrauen dem Gegner selbst
seine Entscheidung berlassen drfen.
Denn in jedem Menschen, er sei denn geistes- oder gemtskrank, auch in dem Oligokraten,
spricht laut und unzweideutig das
Sittcngesetz
ds kategorischer Imperativ:
.Handle
so, da dein
Handeln die Maxime
dien
Handelns sein knnte" - oder Du sollst niemanden tun, was du nicht
wollen kannst, da andere dir tun." Dieses Sittengesetz wird tglich und stndlich unzhlige Md e
verletzt, wir wissen es gut genug; unzhligeMdewerden tglich und stndlich Menschen von ande
ren Menschen beraubt und ausgebeutet, geschdigt und beschmt: aber niemds geschieht das ohne
Verbeugung vor dem Imperativ D. h.: Niemand, er sei denn ein Kranker, wird jemd s zu behaupten
wagen, Raub und Ausbeutung, Schdigung und Unterdrckung seien an sich gut, seien an sich
Recht, sondern er wird immer eine Entschuldigung vorbringen, wenn er dem Imperativ nicht
ge
horcht. Er wird bestreiten, da die bemngelte Handlung dem Sittengesetz widerspreche, od er er
wird, wie unsere Nietzscheaner und Soziddarwinisten, behaupten, die Ausbeutung der Gegenwart
sei eine bittere Notwendigkeit, ein notwendiges Opfer fr das hhere Glck der Zukunft, etwa fr
die Erziehung des bermenschen oder die Vervollkommnung der Rasse; - oder er wird schlielich
behaupten, es handle sich um die schmeizlicheWahl zwischen zwei beln, der Anarchie auf der
einen und der Herrschaft mit dl ihrer zugestandenen Ausbeutung und Unterdrckung auf der
anderen Seite: aber niemand wird, wir wiederholen es,jemdszu behaupten wagen, die Ausbeutung
sei an sich kein bel, sondern ein Gut.
Nieman d wird es wagen, auch nicht der verbissenste Oligokrat und Legitimist. U nd mehr brau
chen wir nicht, um denStreitfdl zu entscheiden, ds diese sehr wider Willen erfolgende Zustim
mung aller unserer mglichen Gegner zu unserem Prinzip. Sie knnen nicht bestreiten, da die
Oligokratie vor dem Sittengesetz unter
dien
Umstnden ein bel ist, und werden sich damit be
gngen mssen, zu erklren, es sei leider ein notwendiges bel. Und sie knnen ebensowenig be
streiten, da die Dem okratie oder besser: die Akratie vor dem Sittengesetz unterdien Umstnden
ein Ided ist; nur da sie sagen werden, es sei leider ein unerreichbares Ided.
Und darum sind wir berechtigt, mit
dien
Krften zu protestieren, wenn man uns zu sagen ver
sucht, bei dem Kampfe zwischen Oligokratie und Demokratie .stehe Ided gegen Ided". Nichts
kann fdscher und gefhrlicher sein. Die Oligokratie ist ohne Z weifel eine Verletzung des Sittenge
setzes, die Demokratie in ihrer Vollendung ist ohne Z weifel seine Erfllung. Jene ist die ds Recht"
und Verfassung kodifizierte Ungerechtigkeit, diese die vollendete Gerechtigkeit; jene das Recht des
Jl
7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)
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lonafisn
weiterTeil: Staat Nationalismus
un
emokratie
politischen Mittels, diese das Recht des konomischen Mittels; jene die Gewdt und gewdtsame
unentgolteneAneignung, diese die friedliche Arbeit und der gerechte Verkehr.
Viele der Besten unserer Zeit fhlen den Glauben an die Demokratie, den beglckenden Glau-
ben an eine Zukunft des Glcks und der Gerechtigkeit, in sich erschttert und leiden bitterlich
darunter. Es ist meine tiefste berzeugung, da diese Zweifel und diese Verzweiflung
keinen
Grund haben. Was uns heute krnkt und beleidigt, die Ausschreitungen und bertreibungen, der
laute Lrm des M arktes und der Rednertribnen, diePhelhaftigkcitdes Kampfes und die Niedrig-
keit der nchsten Z iele, der Phrasenschwulst der Demagogen und der Schacher hinter den Kulissen
der Politik - dasdiessind Zeichen einer Krisis, die der Menschheit nach langer schwerer Krankheit
die Heilung bringt. Lassen wir uns nicht irre machen Am nchichenSturmhimmel unserer Zeit
strahlt unverrckbar durch die Wolken hindurch ein heller Stern erster Gre, der Polarstem,
nach dem wir fehllos das Schiff der Gesellschaft neuem knnen, den wir niemds aus den Augen
verlieren sollen, - das hchste und heiligste Ided der Menschheit, die Verwirklichung aller Gerech-
tigkeit, die Erfllung des Sittengesetzes, die Befreierin, die Sttigerin, die Beglckerin, die Erhebe-
rin: die Demokratie.