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NAKBA Die unbeachtete Geschichte einer kulturellen Katastrophe

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NAKBADie unbeachtete Geschichte einer kulturellen Katastrophe

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D i e u n b e a c h t e t e G e s c h i c h t e e i n e r k u l t u r e l l e n K a t a s t r o p h e | 3

PROLOGNakba - der Katastrophe, wird von Palästinensern auf der ganzen Welt an jedem 15. Mai eines Jahres gedacht. Dieser Tag steht für den Verlust, die Enteignungen und das historisch erlittene Unrecht, welches das palästinensische Volk in Form der gewaltsamen Vertreibung aus seiner Heimat vor der Gründung Israels durch zionistischen Milizen und bewaffnete Gruppen erlitten hat. Die Nakba erinnert an eine Zeit, zu der 800.000 Palästinenser obdachlos und/oder staatenlose Flüchtlinge wurden, was einer Population von 67% der damaligen Bevölkerung entspricht. Heutigen Schätzungen zufolge sind sieben der 11 Millionen Palästinenser auf der ganzen Welt Flüchtlinge und damit noch immer rund zwei Drittel des palästinensischen Volkes Flüchtlinge.

Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ist der Auffassung, dass ohne eine gerechte und umfassende Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge, die im Einklang mit der UN-Resolution 194 steht, ein umfassender und tragfähiger Frieden in der Region kaum möglich ist.

Neben dem Verlust von Sachwerten, einschließlich Häusern, Land, Obstgärten, Olivenhainen, Gold, Geld und anderen Wertsachen markiert die Nakba eine kulturelle Katastrophe für das palästinensische Volk. Die Menschen kämpfen noch immer damit, sich von dem Verlust zu erholen. Für Palästina bedeutet die Nakba der Verlust einer großen Menge an Potential. Eine lebendige und hochentwickelte Kultur wurde stark reduziert zu einer mit bittersüßen Erinnerungen und vom nationalen Verlangen auf Rückkehr und Gerechtigkeit geprägten. Ganze Dörfer wurden zerstört, später verändert wieder aufgebaut und umbenannt. Bücher, Musik-Sammlungen und Kunstwerke wurden von den Menschen, die um ihr Leben liefen, zurückgelassen. Dies geschah in der Erwartung einige Woche später zurückzukehren. Mit den Gemeinden verwandten auch Sportvereine und soziale Organisationen, dessen Teil sie waren. In Form einer systematischen Kampagne gegen eine Nation lanciert, zielte diese mittels Tod, Zerstörung und kultureller Auslöschung auf die gewaltsame Verkümmerung einer lebendigen Kultur.

Dieses Dokument ist eine Momentaufnahme von Palästina vor der Nakba. Es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr zielt es darauf ab, ein Fenster zu den palästinensischen kulturellen Leistungen vor 1948 und den verheerenden Auswirkungen der kulturellen Nakba zu öffnen. Die Palästinenser sind ein Volk, dessen enorme Kraft, das bedrohte Erbe und die kollektive Erinnerung bewahrt haben. Mit Ausdauer und Kreativität sammelten die Palästinenser ihre Kräfte, rekonstruierten immer und immer wieder ihre Institutionen und ihr kulturelles Leben, überwanden Rückschläge und Angriffe. Kurz gesagt: Die Nakba ist eine andauernde Geschichte des Überlebens.

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“Das YMCA-Hostel war in diesen Jahren ein soziales und kulturelles Zentrum. Den Bewohnern von Jerusalem bot es eine vielfältige Art auserlesener Unterhaltung. Die vielen Sportanlagen, verschiedenen Jugendklubs, die umfangreiche Bibliothek, der Vortragsraum und die Cafeteria – all das war ein tolles Angebot für jedermann. Junge Menschen aus ganz Palästina, Jurastudenten, Lehrer, offizielle Regierungsbeamte, wer auch immer entfernt von seinen Familien und seiner Heimat leben musste, tat dies im YMCA-Hostel.”4

“Unser soziales Leben war geschäftig und unser Haus ähnelte einem Literaturinstitut. Schriftsteller und Journalisten aus aller Welt besuchten uns. Allein ihrer Tischkonversation zuzuhören, war schon lehrreich an sich.” Mary Shehade, Journalistin und Ehefrau des Zeitungslektoren Boulos Shehadeh.5

Tanzende Frauen in Beit Jala, 1940er

Einer der bekanntesten Fotografen damals, vor der Nakba war Khalil Raad. Er studierte Fotografie in Basel (Schweiz) und eröffnete 1895 ein Geschäft in der Nähe des Jerusalemer Jaffa Tors.2 Seine Tochter Najlaa führte die Tradition fort. Sie heiratete den Kameramann Yohanis Krikorian und arbeitete mit ihm in seinem Studio.

Karima Aboud arbeitete 1913 als Fotografin. In ihrem eigenen Studio in Bethlehem fotografierte sie ausschließlich Frauen. Karima fertigte hunderte von Fotos palästinensischer Städte, von Frauen und dem kulturellen Leben in Palästina an. Karima starb 1940.3

Soziales Leben

“Das Gäste- oder Kaffeehaus (Diwan) war der beliebteste informelle Treffpunkt der Stadt. Es war ein Ort für “Diskussionen über die öffentlichen Veranstaltungen und ein Ort,um Geschichten zu erzählen…zum Spielen und besonders im Ramadan und zu anderen Festen, oftmals belebt durch Musiker. Das Kaffeehaus ist der Ersatz für das öffentliche Haus, für Theater, Konzertsäle und all die anderen.” (Goodrich-Freer 1924.) Besucher konnten in den städtischen Gästehäusern ihren Aufenthalt genießen und sich unterhalten.”1

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“Kinder in ihren hellen Sommerkleidern würden unter den Obstbäumen umherlaufen, die Kellner von einem Tisch zum anderen hetzen. Männer würden ihre Narghilehs (Wasserpfeifen) rauchen oder Tric-Trac spielen. Frauen würden plaudern, lachen oder ihre Kinder rufen. Die Atmosphäre war immer lebendig, laut und fröhlich.”6

Werbung für das Hotel Daroti, Jerusalem

Wirtschaft

Die Wirtschaft war eine der zuträglichsten in der Region. Lebensstandards wuchsen, was sich in verbesserten Dienstleistungen und kulturellen Aktivitäten widerspiegelte. Beispielsweise entwickelte sich der Tourismussektor vor 1947 mit einer Rate von 25% pro Jahr.7

In den Jahren 1944 und 1945 zahlte die ‚Arab Bank‘ eine Dividende von 24% auf seine Aktien.8

Werbung für die Arabische Versicherungsgesellschaft, Jerusalem

Journalismus

Im Jahr 1911 veröffentlichte Issa Al-Issa die Zeitung Falastin in Jaffa. Als kleines Wochenmagazin gestartet entwickelte sich diese zu einer Tageszeitung.

Boulos Shehadeh gründet 1919 die Miraat Al-Sharq (Fenster des Ostens), eine in Arabisch und Englisch publizierte Zeitung. Bis 1921 erschienen in einer Spalte “Die Stifte der Damen” mit Artikeln von Pionieren der Frauenbewegung, wie Asma Toubi und Kudsiyyeh Khursheed. Unter dem britischen Mandat wurde die Zeitung aufgrund eines publizierten, kritischen Gedichts 1939 eingestellt. Der Palästina-Broadcast-Service übertrug Programme für Frauen und Mädchen. Freitags kamen in Form von literarischen, politischen oder karitativen Beiträgen prominente Frauen zu Wort. Bis Mitte der 1940er gab es 24 Buchhandlungen in Jerusalem.9

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“Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass im Fall einer Buchveröffentlichung in der östlichen oder westlichen Welt und der Ruf sich weiter verbreitet hat, Sie es in einer dieser (Jerusalemer) Buchhandlungen finden konnten”, Arif Al-Arif unter Hinweis auf palästinensische Buchhandlungen in Jerusalem in den 1940ziger Jahren10

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Hala Sakakini erinnerte sich, dass ihre Mutter die englische Frauenzeitschrift “Wife and Home” abonniert hatte. Hala und ihre Schwester Dumiya mochten Bücher lieber. Als Hala 17 Jahre alt war, kaufte sie “Vom Winde verweht”, “Rebecca” und “Die Zitadelle”.12

Links: (Charles Lamb: Erzählungen nach Shakespeare, 1930; Übersetzung der beliebtesten Erzählungen in Arabisch. Hier dargestellt ist “Viel Lärm um Nichts”. Die Buchstaben SAK in der oberen rechten Ecke zeigen, dass dieses Buch Khalil Sakakini gehört.)

Die Orthodoxe Schule, Jaffa 1938

Zwischen 1911 und 1948 gab es mindestens 161 Zeitungen, Zeitschriften und andere regemäßige Publikationen mit aktuellen Nachrichten, Berichten zu Literatur, Kunst, Humor, Sport und Medizin. Die Publikationen schlossen die folgenden mit ein: Arabisch-Palästinensische Medizinjournal (Jerusalem), das vierteljährlich erschienene Arabische Landwirtschaftsmagazin (Jerusalem), das Arabische Wirtschaftsmagazin (Jerusalem), das wöchentliche Kino- und Filmmagazin (Jerusalem), das wöchentliche Sportleben (Jaffa), das wöchentliche Literaturmagazin Al-Nahda (Haifa) und das vierteljährliche Jaffa- Handelsmagazin.11

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Universitäten

Mit Ausnahme einer Rechtsschule, die 1921 in Jerusalem eröffnet wurde und eines Lehrerseminars gab es vor der Nakba keine Universitäten in Palästina. Das hielt jedoch Palästinenser nicht davon ab, ihrer Ausbildung in der arabischen oder restlichen Welt nachzugehen. Im Jahr 1948 gab es etwa 3.000 palästinensische Studenten weltweit an den Universitäten. Darunter studierten 416 im Libanon und 631 in Ägypten, drei in Syrien und 15 im Irak.17

Einige graduierte Absolventen:

GEORGE SABA SHIBR verfügte über einen 1914 erlangten Abschluss in Ingenieurwissenschaften eines Polytechnischen Instituts in England. Im Jahr 1918 lehrte er am ‚Victoria College‘ in Alexandria. Im Jahr 1923 wurde Shibr als Ingenieur in die islamische Waqf-Abteilung in Jerusalem berufen. Er war in die Renovierungsarbeiten der Al-Aksa-Moschee auf dem Haram Al-Sharif, der Ibrahimi-Moschee in Hebron und die Nabi Samuel-Moschee eingebunden.18

KHALIL Al-Budeiri studierte Medizin in Deutschland (1922-1923), Ägypten (1924-1925) und Genf (1925-1929). In London spezialisierte er sich auf Augenheilkunde. Von den britischen Behörden wurde er für seine Beteiligung am Generalstreik 1936 verhaftet und für sechs Monate inhaftiert. Als Mitglied der palästinensischen Delegation bei den Vereinten Nationen nominiert, verweigerte die USA ihm die Einreise.19

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Bildung

Im Jahr 1914 gab es 379 private palästinensische Schulen, 95 Grundschulen und drei weiterführende Schulen in Palästina. Zu den bekannten Privatschulen gehörten eine Schule für christlich-orthodoxe Mädchen in Beit Jala, in der Nähe von Bethlehem, die 1858 von einer russischen Stifterin gegründet worden war, das ‚College des Freres‘ in Jerusalem, 1875 vom Franziskaner Orden gegründet und die 1899 in Jerusalem gegründete britisch-anglikanische St. George’s Schule für Jungen.13 Es gab auch die Al-Dusturiyah-Schule, die 1909 von Khalil Sakakini gegründet worden war. Es war die erste Schule ihrer Art in Palästina, die junge Lehrer beschäftigte und nach den neuesten Lehrmethoden seiner Zeit den Unterricht gestaltete.

Während des Schuljahres 1919-20 waren 10.662 palästinensische Schüler an öffentlich-staatlichen Schulen eingeschrieben. Innerhalb von nur drei Jahren (1922-1923) stieg die Zahl der palästinensischen Schüler an öffentlich-staatlichen Schulen um 81% auf 19.331 an.14

Bis 1942 verfügte Palästina unter den arabischen Ländern nach dem Libanon über die zweithöchste Einschulungsrate.15

Im Zeitraum von 1947-1948 gab es 868 palästinensische Schulen mit 146.883 palästinensischen Schülern, die von 4.600 arabischen Lehrern unterrichtet wurden.16

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Bücher

Im Jahr 1927 gab es 23 Druckereien in Palästina.20

Zwischen 1919 und 1944 wurden 209 Bücher zu Literatur, Wirtschaft, Politik, Geschichte, Wissenschaft und anderen Bereichen veröffentlicht. Darüber hinaus wurden andere palästinensische Werke in Beirut, Damaskus und Kairo sowie in England, den USA und Frankreich veröffentlicht.21 Unter den in den 1930er Jahren publizierten Büchern sind:

• It is Null and Void von Wadi Al Bustani (1936)• Palestine, Zionism and Colonialism von Ahmad Tarbeen (1939)• Economic Organization of Palestine von Sa’id B. Hamadeh (1938)• Electric Power in Syria and Palestine von Basim Faris (1936).22

Es gab zudem eine große Anzahl palästinensischer Intellektuellen und Wissenschaftler, wie:• Yusuf Diya-uddin Pasha Al-Khalidi, ein bekannter Gelehrter aus dem 19. Jh., der an der Universität Wien

lehrte. Er verfasste das erste arabisch-kurdische Wörterbuch.• Khalil Sakakini war ein angesehener Wissenschaftler und Essayist. Er gründete die Dusturiyah-Schule in

Jerusalem 1909 und stand ihr als Direktor vor. Zu seinen Publikationen zählte ‚Vorlesungen in Philologie und Literatur‘.

• Kuhi Al-Khalidi war ein Pionier der modernen Geschichtsschreibung im späten 19. und frühen 20. Jh. Er schrieb unter anderem ‚Die Frage des Ostens‘ und verfasste eine Vergleichsstudie der arabischen und französischen Literatur.

• Adil Zu’aiter war Jurist und als Übersetzer (Französisch-Arabisch) tätig. Er übersetzte Werke von Rousseau, Voltaire, Anatole France, Montesquieu und Lamartine.

• Ahmad Samih Al-Khalidi, der einen Abschluss in Psychologie an der amerikanischen Universität in Beirut gemacht hatte, war Autor verschiedener Pädagogik-Bücher, die in mehreren arabischen Ländern zur Standartlektüre wurden. Er übersetzte Werke von Maria Montessori und des deutschen Psychologen Wilhelm Stekel in die arabische Sprache.

• Khalil Baydas war ein russischer Wissenschaftler und Wegbereiter des modernen palästinensischen Romans. Im Jahr 1898 übersetzte er einige Werke von Tolstoi und Puschkin in die arabische Sprache.

• George Antonius schrieb ‚The Arab Awakening‘, einen in England und den USA vielbeachteten Text; 1930 wurde er Nahost-Mitarbeiter am Institut für Angelegenheiten in der Welt in New York.

• Matiel Moghannam war eine palästinensische Feministin. Sie schrieb das Buch ‚The Arab Woman and the Palestine Problem‘, das 1937 in London veröffentlicht wurde.23

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Orthodoxe Schulband, Haifa 1938

Muslimische Waisenhausband, Jerusalem 1946

Werbung für Konzerte der Künstlerin Um Kalthoum in Jerusalem, Yaffa und Haifa

Ticket für das Um Kalthoum-Konzert

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Musikband des palästinensischen Rundfunks, Jerusalem

Musikband des palästinensischen Rundfunks, Jerusalem

Yehya Al-Lababidi komponierte die Musik für mehr als 150 Lieder und Programme sowie Kinderlieder. Diese wurden im palästinensischen Rundfunk ausgestrahlt, dessen Leiter für arabische und orientalische Musik er war. Er schrieb Gedichte und komponierte die Musik von Ya Reitni Teir und Atir Hawaleik,26 die der berühmte arabische Sänger Farid Al-Attrash 1937 sang.27

Im Alter von sieben Jahren startete Rawhi Khamash 1932 seine Musikkarriere; 1939, nachdem er sein Musikstudium in Ägypten beendet hatte, wurde Khamash zum Leiter der Musikband des palästinensischen Rundfunks ernannt.

Musik

Musiker und Theatergruppen aus Ägypten, Syrien, dem Libanon und anderen Ländern fanden ihren Weg nach Palästina. In den frühen zwanziger Jahren traten Stars, wie Um Kalthoum in Jaffa, Haifa und anderen Städten auf. Man erzählte sich, dass zu einem der frühen Auftritte von Um Kalthoum in Haifa eine Frau sie Kawkab Al-Sharq (Stern des Ostens) nannte, ein Name, den sie später überall erhielt. Yousef Wihbeh kam mit einer Theatergruppe zwischen 1920 und 1930 nach Jaffa.24

Es gab zu dieser Zeit viele palästinensische Musiker und Sänger, wie den Komponisten Yehya Al-Lababidi, den Musiker Yousef Batroni, die Sänger Mary Akkawi und Rawhi Khamash, um nur einige zu nennen.25

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Film

Von den französischen Lumiere-Brüdern stammt der erste Film in Palästina. Das war 1896.28 Der Film29 wurde dann in Palästina, im Jerusalemer Europa-Hotel 1900 gezeigt.30 Anschließend kamen immer mehr Filmschaffende aus Europa nach Palästina, um Filme zu drehen.

Es gab das Kino Al-Ahli in Akka. Betreiber war Haj Mohamad Al-Lababidi.31

Es gab auch Filmverleiher, wie Aflam Al-Nil das im Besitz von Yousef Al-Banna und Talhami gewesen ist.32

Dr. Ahmad Sidqi Al-Dajani erinnerte sich, dass der erste Film, den er jemals gesehen hatte, Al-Warda Al-Baidaa (Die weiße Blume) war, mit Mohamad Abdel Wahab in der Hauptrolle im Kino Al-Hamra in Jaffa.33

Die ‚Arab Cinema Company Ltd‘ warb für den Kauf ihrer Aktienanteile 1937. Das Unternehmen verfügte über ein Kapital von 5.000 Aktien, das zu einem palästinensischen Guinea pro Aktie bewertet wurde.34

Im Jahr 1945 gründete Ibrahim Sirhan das Produktionsstudio ‚Palestine Studio‘ und suchte Spender mittels einer Werbeanzeige in der Jaffaer Presse. Gemeinsam mit Mohamad Kayali gründeten sie zusammen die “Arab Film Company Produktionsstudios”.35

In palästinensischen Kinos wurden auch ägyptische Filme gezeigt, wie Ibn Al-Sahra (Sohn der Wüste) mit Badr Lama, einem Künstler mit palästinensischer Herkunft. Zusammen mit seinem Bruder Ibrahim soll er an der Gründung des ägyptischen Kinos beteiligt gewesen sein.36

Filmankündigung eines Streifens über Um Kulthoum in Gazas Samer-Kino, 1941- Ghada Rabahs Sammlung

Das Al-Hamra-Kino und Theater in Jaffa

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Filme & Filmschaffende

Den ersten palästinensischen Film produzierte Ibrahim Sirhan 1935. Es war eine 20-minütige Dokumentation über den saudischen Königsbesuch in Palästina. Anschließend produzierte er ‚Ahlam Tahaqaqat‘ (Erfüllte Träume) mit dem Sänger Sayed Haroun sowie ‚Fi Laylat El-Eid‘ (Die Nacht des Festes) und ‚Assifah Fil-Bayt‘ (Ein Sturm zuhause).37

Mohamad Saleh Al-Kayali studierte Film und Regie in Italien. Er gründete 1940 ein Fotostudio in Jaffa; 1946 produzierte er mehrere Dokumentarfilme in Kairo, wie Qa’idat Al-Idwan (Die Herrschaft der Aggression).38

Das Al-Hamra-Kino und Theater in Jaffa

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Drama

Zwischen 1922 und 1948 gab es mindestens 43 Gruppen, die sich dem Drama widmeten.39 Abgesehen von Aufführungen in Schulen wurden mindestens 70 Stücke aufgeführt. Vor 1948 gab es allein in Jerusalem 30 Theatergruppen.40

Eine ganze Reihe von Schriftstellern und Pionieren widmeten sich dem Drama, viele wurden später als Vertreter der modernen arabischen Literatur bekannt: Jamil Habibs erfolgreicher Roman ‚The Killer of his Brother‘ (eine Tragödie in drei Akten, 1919 publiziert) wurde als Theaterstück 1929 in Syrien, Palästina und anderen arabischen Ländern aufgeführt.41 Jamil Al-Bahri schrieb 12 Theaterstücke bevor er 1930 starb. Nasri Al-Jowzi schrieb 17 Theaterstücke und Istfan Salem insgesamt acht. Es gab auch Asma Al-Toubi. Sie schrieb vier Theaterstücke.

Der palästinensische Roman entstand in den 1920er Jahren. Khalil Baydas schrieb Al-Warath (Der Erbe) 1920. Im selben Jahr wurde Hayat Ba’da Al-Maout (Leben nach dem Tod) von Iskandar Al-Beit-Jali publiziert. Im Jahr 1946 entstand der moderne arabische Roman Surakh fi Layl Tawil (Ein Schrei in einer langen Nacht) von Jabra Ibrahim Jabra. In Palästina entwickelte sich auch die Literaturkritik. Im Jahr 1904 veröffentlichte Rouhi Al-Khalidi Tareekh ‘Ilm Al-Adab ‘Inda Al-Frank wal-‘Arab (Eine Geschichte der Studien zur arabischen und ausländischen Literatur). Später unterstützen palästinensische Kritiker, wie Ihsan Abbas und Jabra Ibrahim Jabra die moderne Literaturbewegung.42

Zu den bemerkenswerten palästinensischen Autoren gehören Ibrahim Tuqan, Issam Abbasi, Muhammad Adnani, Jalal Zurayq, Kamal Nasir, Fadwa Tuqan und viele andere.43

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NAKBA

“(Mein Vater) erinnert sich an seinen Vater, wie alle in den LKW hetzten, der sie nach Gaza bringen würde. Seine Mutter versuchte, ihre Nähmaschine aus dem Haus mitzunehmen. Sein Vater sagte zu ihr: “Mach dir keine Sorgen. Wir können sie in zwei Wochen holen, wenn wir zurückkommen. Dann, in Gaza, weinte die Mutter meines Vaters immer, wenn sie Kleidung mit ihrer neuen Nähmaschine nähen wollte. Er erinnert sich daran, sie gefragt zu haben: “Warum weinst Du?” Sie antwortete, “weil ich meine Nähmaschine in Beer Sheva vermisse.”44

Wassim Al-Saraj

UNRWA-Archiv

“Weil wir an so vielen verschiedenen Orten gewesen sind, konnte ich nicht erkennen, wo die Sonne aufging. Ich dachte, dass sie im Westen aufstieg. [Die Menschen] liefen überall; Sie waren wie Ameisen. Einige mieteten Fischerboote, um ihre Sachen nach Gaza bringen zu lassen. Wir haben nicht alles mitgenommen. Ich trug nur meinen Sohn auf dem Rücken.”

Um Jabr Wishah

UNRWA-Archiv

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“Mein Vater und seine Freunde hatten mühsam studiert. Die Kämpfe gingen im ganzen Land los. Er war ganz in der Nähe zwischen Jaffa und Tel Aviv […] Es war kaum vorstellbar, wie radikal sich ihr Leben bald ändern würde. Sie fühlten, dass das Ende dieses Jahres mit seinen Prüfungen ihre Zukunft entscheiden wird. Sie dachten damals, alles hing davon ab. Als Shafiq, der engste Freund meines Vaters seinen Bruder verlor, bestand mein Vater darauf, dass er wegen seines Examens an der Trauerprozession nicht teilnehmen kann. Als sie später ihr Examen ablegen wollten, stellten sie fest, dass das Dach der Schule nicht mehr da war. Ihre Prüfungen machten sie trotzdem. Einige Monate später erfuhren sie ihre Ergebnisse über das Radio. Es war die jüdische Bildungsabteilung, die sie bekanntgab und nicht mehr die arabische Abteilung. Mein Vater war bis dahin ein Flüchtling in Nablus, eine Stadt in der Westbank (…) Er schickte ein Telegramm an Shafiq, der als Flüchtling in Beirut war. Er erinnerte sich voller Ironie: “Es war so ein Nervenkitzel – wir bestanden! Aber wir waren auch Flüchtlinge ohne eine Zukunft.”47

L. Abu Loghod

“Im Mittelpunkt meiner Erinnerungen steht ein großer Holzschrank. Er ist elfenbeinweiß und mit einer Spiegeltür versehen. Direkt davor steht ein kleines Mädchen, etwa fünf Jahre alt – ich – hocke und schaue in eine große geöffnete Schublade auf dem Boden. Meine Hände sind tief hineingegraben und ich erinnere mich an das Gefühl der Anfänge meiner “Seidenstraße”, entwirrt dort aus der Schublade meiner Großmutter. Das war der Ort, Aladdins Höhle, wo immer alle Nähutensilien und aller Trödel aufbewahrt wurde: Fäden, Nadeln, Knöpfe und Haken, Spitzen und Perlen, Pailletten und Bänder und das ganze übrig gebliebene Material, dass nach dem Ausbessern der Kleidung, der Wäsche und den Accessoires liegen blieb (…) Ich lehne mich auf ein palästinensisch besticktes Kissen auf dem Sofa, auf dem ich sitze. Sie umfassen mich zärtlich und trösten mich, was eine ewige Umarmung in den schillerndsten Farben und Designs zu sein scheint. Die Palästinensische Stickerei bleibt meine ganz persönliche Erinnerung, meine Leidenschaft, meine Identität, meine Seidenstraße.”45

Tania Tamari Nasir

“Während dieser Zeit begannen die Plünderungen der (palästinensischen) Häuser in einem unglaublichen Umfang, begleitet von einer rachsüchtigen Zerstörung des Eigentums. Von unserer Veranda aus sahen wir Pferdewagen und LKWs beladen mit Klavieren, Kühlschränken, Radios, Gemälden, Schmuck und Möbeln, einige in wertvolle persische Teppiche eingewickelt. […] Die Häuser unserer Freunde wurden ebenfalls geplündert und wir konnten nichts dagegen tun. In der Nacht heulte der Wind und hämmerte an Fenster und Türen. Durch das unbewohnte Gebäude hallte ein eindringlicher Ton. Es war eine gespenstische Szene. Für uns war es unerträglich, an diesen Häusern vorbeizugehen.”46

John Rose

UNRWA-Archiv

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FAKTEN ZUR NAKBA• Zionistischen Milizen verübten Dutzende Massaker während

der Nakba. Es wurden mehr als 15.000 Palästinenser getötet.48

• 1948 betrug Palästinas Bevölkerung 1,2 Millionen Menschen. Während der Nakba wurden rund 800.000 Palästinenser, d.h. 67% der Bevölkerung, gewaltsam aus ihren Häusern, Dörfern und Städten vertrieben.

• Während der Nakba gelangten rund 200.000 palästinensische Flüchtlinge in den Gaza-Streifen. Seine Population verdoppelte sich damit fast über Nacht.

• Zwischen 1947 und 1949 verjagten die zionistischen Milizen und bewaffneten Gruppen auch rund 90.000 Christen und damit insgesamt zwei Drittel der palästinensisch-christlichen Bevölkerung. 49

• Am 11. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 194 (III), die beschließt, “dass denjenigen Flüchtlingen, die zu ihren Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, sowie für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, auf der Grundlage internationalen Rechts oder nach Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Entschädigung gezahlt werden soll.” Diese Resolution ist zu einem Grundpfeiler der palästinensischen Politik in Bezug auf die Not der Flüchtlinge geworden. Darüber hinaus hat die Arabische Liga 2002 die Arabische Friedensinitiative angenommen, einschließlich “einer gerechten, umfassenden und vereinbarten Lösung für das Flüchtlingsproblem, basierend auf der UN-Resolution 194.”

“Eine Kulturlandschaft, in Hunderten von Jahren entwickelt und wiederspiegelnd, wurde innerhalb von vier Dekaden ausgerottet… Orte, die sowohl für die palästinensische Kultur als auch nationale Identität wichtig waren, die Gefäße eines kollektiven Gedächtnisses der Region

waren, deren Bedeutung wurde durch diese Akte ausgelöscht.”50

UNRWA-Archiv

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Bücher

Inmitten von Chaos durch Schüsse und Massaker, der Flucht verängstigter Familien und der Zerstörung ihrer Häuser und Existenzen, verfolgten die zionistischen Milizen und nachkommenden Freiwilligen vor allem ein Ziel: die leerstehenden (palästinensischen) Gebäude systematisch zu durchforsten und Bücher sowie andere kulturelle Sachen von Wert einzusammeln. Diese “aufgelesenen” Bücher wurden der Nationalbibliothek Israels übergeben und mit den Buchstaben AP für “Abandoned Property” (herrenloses Eigentum) versehen.

Ein aktuelles Projekt namens “The Great Book Robbery” (http://thegreatbookrobbery.org/) zielt auf eine virtuelle Bibliothek an Büchern und will die gesetzlichen Erben dieser Bücher finden. Eines der wichtigsten Elemente dieses Projektes ist ein Dokumentarfilm, der die tragische Geschichte des Verlustes dieser Gegenstände erzählt. Eigentümer und ihre Nachkommen kommen in diesem Film zu Wort. Die Bücher, wie in “The Great Book Robbery” dokumentiert, umfassen eine Spanne von der Mitte des 19. Jh. bis zur Mitte des 20.Jh. und beinhalten eine Vielfalt an wichtigen Genres, wie Geschichte, Literatur, Sprache, Poesie, Religion, ausländische Bücher, Technik, Medizin und sogar ein Regierungsbericht zum Schullehrplan von 1947 ist enthalten.

Die Mehrzahl der Bücher, die sich im Besitz der Nationalbibliothek Israels befinden, wird jetzt in geschlossenen Magazinen verwahrt. Man muss eine Erlaubnis beantragen, um sie einzusehen. Einige können jedoch in allseits zugänglichen Regalen gefunden werden. Sie sind mit einer neuen Signatur versehen, tragen aber noch die verräterische Kennzeichnung “AP” auf ihrem Buchrücken. Viele sind zudem noch mit Bleistiftmarkierungen ihrer ursprünglichen Besitzer versehen, so wie SAK für Khalil Sakakini und NIMR für Mohammed Nimer Al-Khatib.

Foto von Hannah Mermelstein: ‚Overdue Books: Returning Palestine’s “Abandoned Property” of 1948‘, Jerusalem Quarterly 47, 2011; gestiftet von Kara Francis.

Eines von Mohammad Nimer Al-Khatibs religiösen Büchern, einschließlich verschiedener Namenswidmungen und einer handschriftlichen Widmung des Vaters für seinen Sohn.

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Mit AP gekennzeichnete Bücher, Nationalbibliothek Israel

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“Erst Jahre später hat die ‚Custodian for Absentee Property‘ (Israelische Treuhandgesellschaft) den Schleier der Geheimhaltung gelüftet: “Die Ermittler fanden heraus, dass die meisten Häuser aufgebrochen wurden. Nur selten wurden irgendwelche Möbel dort belassen”, heißt es in den Erinnerungen. “Kleidung, Hausrat, Schmuck, Schlafzimmerausstattung – mit Ausnahme der Matratzen – haben nie das Depot der ‚Custodian‘ erreicht. (…) Mehr als 50.000 (palästinensische) Häuser wurden aufgegeben, aber nur 509 Teppiche erreichten das Depot.”51

Tom Segev

Zeitplan der Vermögensübernahme palästinensischer Eigentümer und Kulturgüter

April 1948Das (israelische) Komitee für Herrenloses Eigentum wurde gegründet.

1948-49Allein in West-Jerusalem wurden 30.000 Bücher “gesammelt”. Mehr als 6.000 Bücher gingen an die Nationalbibliothek Israels, zusammen mit 40.-50.000, die in Städten, wie Jaffa, Haifa, Tiberias und Nazareth eingesammelt wurden.

Juni 1949Die jüdische Nationalbibliothek verkündet, dass “Zehntausende von herrenlosen Büchern eingesammelt wurden” und sie dankte der Armee für “die Liebe und das Verständnis (….) für dieses Unternehmen.”

1950Die Vermögensverwaltung für abwesende Eigentümer erklärt die “Besitzer” der palästi-nensischen Eigentümer für “abwesend”.

Mai 1954Israel unterzeichnet die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten.

Das Märchenbuch Kalila und Dimna, jetzt mit “AP” gekennzeichnet, Nationalbibliothek Israel

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D i e u n b e a c h t e t e G e s c h i c h t e e i n e r k u l t u r e l l e n K a t a s t r o p h e | 1 9

EPILOG

Die Nakba ist für die Palästinenser eine unvollendete Reise von Schmerz, Verlust und Ungerechtigkeit. Das Leid der rund 7,1 Millionen palästinensischen Flüchtlinge hält weiter an. Ihre Rechte auf Anerkennung, Rückkehr und Entschädigung sind noch immer nicht erfüllt. Die Flüchtlinge bilden die Mehrheit unter den Palästinensern und sind das kollektive Gedächtnis ihrer Nation.

Die Nakba erleben die Palästinenser noch immer und werden in ihrem Alltag daran erinnert. Seit 1948 begleiten sie die Bilder der Zerstörung und die Erinnerungen des erlittenen Verlustes.

Durch seine Politik der Häuserzerstörungen und Räumungen hat Israel seit 1967 weitere Hunderttausende von Palästinensern in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem verdrängt.

Nach Angaben der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen wurden im Jahr 2015 allein in der besetzten Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem, 453 palästinensische Häuser und Gebäude von israelischen Behörden abgerissen. Schon innerhalb der ersten vier Monate des Jahres 2016 wurden 539 Einrichtungen abgerissen, Tausende vertrieben.52 Laut Angaben des israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen (ICAHD) hat Israel seit Beginn seiner Besatzung palästinensischen Territoriums im Jahr 1967 mindestens 48.000 palästinensische Einrichtungen und Strukturen abgerissen.53

Die Übergriffe auf palästinensische Kulturgüter gehen weiter. In einem der jüngsten größeren Angriffe im März und April des Jahres 2002 haben israelische Truppen mindestens 30 Bibliotheken und andere Informationseinrichtungen zerstört. Dazu gehören Regierungsarchive, öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken, Bibliotheken von Nichtregierungsorganisationen und privater Institutionen.

“Eine der am stärksten betroffenen Institutionen war das Kulturministerium. Hier wurden Möbel zerstört, die Ausrüstung zerbrochen und gestohlen, Kinderzeichnungen wurden vernichtet. Bücher, Broschüren sowie Dokumente und Schriftstücke wurden aufeinander gestapelt, mit Urin und Fäkalien verschmutzt. Jemand schaffte es sogar in einem Fotokopiergerät seinen Darm zu entleeren.”55

Bibliothekar Tom Twiss über die Attacken der israelischen Besatzungstruppen auf palästinensische Institutionen, 200

“(37) Jahre der Angst, der Unsicherheit und Ungewissheit gipfelten in nur 20 erschütternde Minuten. Als sich die Familie auf einer in der Nähe gelegenen Straße versammelte, wurde ihr gesamter Besitz aus dem Haus geholt und auf einen LKW geladen. Der Familie wurde nur eine sehr geringe Zeit gegeben, wenige Habseligkeiten, Stücke aus ihrer Vergangenheit zu holen. Die meisten Sachen jedoch wurden während ihres hastigen Aufbruchs zerstört.”54

Persönliche Erinnerungen der Familie Hanoun, Sheik Jarrah, Ost-Jerusalem 2009

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UNRWA-Archiv

Der Original-Text erschien 2013 in englischer Sprache. Die deutschsprachige Version wurde aktualisiert.

ENDNOTEN1 Falah, G. ‘The 1948 Israeli-Palestinian War and Its Aftermath: The Transformation and De-Signification of Palestine’s Cultural Landscape’ Annals of the Association of American Geographers, Vol. 86, No. 2 (Jun., 1996), pp. 276-7, p. 4722 Davis, R. ‘The Growth of Western Communities’, in S. Tamari (ed.) Jerusalem 1948, Jerusalem, 1999, p. 473 http://www.alquds.co.uk/index.asp?fname=today%5C19qpt894.htm&arc=data%5C2011%5C07%5C07-19%5C19qpt894.htm4 Sakakini, H. Jerusalem and I: A Personal Record, (Jordan,: Economic Press Co., 1990) [2nd e.], p. 915 ibid., p. 48 6 ibid., p. 917 Palestine Encyclopedia, http://www.palestine-encyclopedia.com/EPP/Chapter02_3of3.htm8 ibid.9 Al-‘Arif, ‘Arif. Al-Mufassal fi Tarikh al-Quds, (Jerusalem: Maktabat al-Andalus, 1992) [3rd ed., Arabic], 10 ibid., p. 451-211 http://www.wafainfo.ps/atemplate.aspx?id=439712 Sakakini, Jerusalem and I, p. 6913 Palestine Encyclopedia14 Ibid.15 Reuner,G. T. “Arab Education in the Near East,” Middle Eastern Affairs 1, nos. 8-9 (August-September 1950), p. 222. Original source, Roderic D. Mathews and MattaAkrawi, Education in Arab Countries of the Middle East (Washington, D.C.: American Council on Education, 1949)16 Palestine Encyclopedia17 Davis, ‘The Growth of Western Communities, p. 4418 Passia, http://www.passia.org/palestine_facts/personalities/0_personalities.htm19 ibid.20 Palestine Encyclopedia21 ibid.22 Ibid.23 Palestine Encyclopedia24 http://www.startimes.com/f.aspx?t=171682825 http://www.diwanalarab.com/spip.php?article1105026 http://www.youtube.com/watch?v=tjswO5iuHw827 http://www.diwanalarab.com/spip.php?article1105028 http://books.google.ps/books?id=5Tbb1hYKoPkC&printsec=frontcover&hl=ar&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false29 http://www.youtube.com/watch?v=novoujCMqB830 http://www.startimes.com/f.aspx?t=171682831 ibid.

32 ibid.33 ibid.,34 http://www.pij.org/details.php?id=118735 http://books.google.ps/books?id=5Tbb1hYKoPkC&printsec=frontcover&hl=ar&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false36 http://www.pij.org/details.php?id=118737 ibid.38 http://www.startimes.com/f.aspx?t=1716828 39 http://books.google.ps/books?id=5Tbb1hYKoPkC&printsec=frontcover&hl=ar&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false40 http://www.pij.org/details.php?id=118741 http://www.passia.org/palestine_facts/personalities/0_personalities.htm42 http://www.pij.org/details.php?id=118743 ibid.44 http://theonlydemocracy.org/2011/05/second-generation-nakba-survivors-tell-their-familys-stories/45 Tania Tamari Nasir, http://www.thisweekinpalestine.com/i109/pdfs/May-109-2007.pdf46 Rose, John H. Melkon, Armenians of Jerualem: Memories of Life in Palestine, (New York: Radcliffe Press, 1993), p. 20047 L. Abu-Lughod, ‘Return to Half-Ruins. Memory, Post-memory, and living history in Palestine’, in A. H. Sa’di and L. Abu-Lughod, Nakba: Palestine, 1948, and the claims of memory, 2007, p. 8648 http://www.pcbs.gov.ps/Portals/_pcbs/PressRelease/Nakba_E63.pdf49 http://www.sabeel.org/pdfs/the%20sabeel%20survey%20-%20english%202008.pdf50 Falah, The 1948 Israeli-Palestinian War, p. 25751 http://www.palestine-encyclopedia.com/EPP/Chapter12_1of4.htm52 http://www.ochaopt.org/documents/multiple_demolitions_across_area_c_in_the_west_bank.pdf53 http://icahd.org/get-the-facts/54 http://www.justvision.org/sites/justvision.org/files/Sheikh%20Jarrah%20Report%20-%20Civil%20Coalition.pdf Sheikh Jarrah report 200955 TomTwiss, librarian, Pittsburgh, PA, 2011. http://thegreatbookrobbery.org/destruction-palestinian-library-and cultural-resources-2002-tom-twiss