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nr. 4/2014 titel thema Leben nach der Katastrophe Myanmar: Beschwerlicher Weg in die Demokratie Westafrika: Herausforderungen des Ebola-Virus Indonesien, Indien und Haiti: Die Katastrophen jähren sich

MISEREOR Aktuell Ausgabe 4 2014 · 3 Foto: Nobis/MISEREOR die Hügel der Massengräber am Rand der Hauptstraße der Küstenstadt Vailankanni sind mir von meinen Besuch in Indien 2005,

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nr. 4/2014

titelthemaLeben nach der

Katastrophe

Myanmar: Beschwerlicher Weg in die Demokratie

Westafrika: Herausforderungen des Ebola-Virus

Indonesien, Indien und Haiti: Die Katastrophen jähren sich

MISEREOR aktuell 4/2014

3 Editorial

4 Reportage Indonesien: Wie beim jüngsten Gericht

9 Reportage Indien: Das Leben geht weiter

12 Portrait: Girijas Glück

14 Nachrichten

15 Auf ein Wort: Kolumne des Hauptgeschäftsführers

16 MISEREOR vor Ort: Brücken schlagen

18 Projekt Haiti: Schule der Zukunft

22 Kommentar: Ebola: Herausforderungen einer Katastrophe mit Ansage

24 Interview Myanmar: Den Blick nach vorne nutzen

impressum inhalt

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Herausgeber: Bischöfliches HilfswerkMISEREOR e. V.

Redaktion:Michael Mondry (verantw.)Ralph Allgaier Dr. Kerstin Burmeister

Grafische Gestaltung:Anja Hammers/MISEREORVISUELL, Aachen

Druck und Vertrieb:MVG Medienproduktion und Vertriebsgesellschaft, Aachen

Papier:Revive Pure Natural Matt,100% Recyclingpapier, ausgezeichnet mit demBlauen Engel

Erscheinungsweise:4 x jährlich

Redaktionsschluss:21. 11. 2014

ISSN 0942–2269

G 5256 F

Zuschriften an: MISEREOR aktuellMozartstraße 952064 [email protected]

Titelbild:Karin DesmarowitzKinder im Südindischen Vailankanni feiern das Lichterfest.

Nachhaltig leben wollen die Rückkehrer des Freiwilligen-dienstes

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Tsunami und Erdbeben: Wie sich das Leben wieder normalisiert

titelthemaLeben nach der

Katastrophe

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Katastrophe Ebola: Ein Plädoyer gegen Panik und Stigmatisierung

MISEREOR aktuell 4/2014

Spendenkonto 10 10 10Pax-BankBLZ 370 601 93IBAN DE75 3706 0193 0000 1010 10BIC GENODED1PAX

Wir unterstützendie Mutigen in Haiti,die ihr Land wiederaufbauen wollen.Ihre Spende hilft!www.misereor.de

editorial

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Foto

: Nob

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ISER

EOR

die Hügel der Massengräber am Rand der Hauptstraße der Küstenstadt Vailankanni sind mir von meinen Besuch in Indien 2005, ein Jahr nach der Tsunami-Katastrophe, in Erinnerung ge-blieben. Sie waren ein Zeichen für die zahllosen leidvollen Geschichten der Menschen, die eine Flutwelle biblischen Ausmaßes am zweiten Weih-nachtstag 2004 mitgerissen hatte. Zehn Jahre nach der Katastrophe haben wir in Indonesien und In-dien nachgeschaut und festgestellt: Der Wieder-aufbau war erfolgreich, das Leben ist zurückge-kehrt in die verwüsteten Dörfer und Städte, die Menschen blicken nach vorne, aber die Traumata sind vielfach geblieben.

Auch in Haiti spüren die Menschen fünf Jahre nach der Katastrophe noch immer die Folgen des verheerenden Erdbebens. Die Zukunft des Landes wird ganz entscheidend von der Bildung seiner Kinder abhängen. Die Vorschule für die vierjährige Marie Josianne haben ihre Eltern des-wegen – mit traditionellen Materialien – selber mit aufgebaut. Ein positives Beispiel, was „Schule“ machen kann.

Selbst mit angepackt haben auch die Rückkeh- rerinnen und Rückkehrer aus dem Freiwilligen-dienst von MISEREOR. Sie haben eine sogenann-te „Give-Box“ zusammengezimmert und gesell-schaftliche Trends in der Aachener Geschäftsstel- le umgesetzt, denn „Tauschen ist das neue Kau-fen“. Daneben haben sie sich mit dem Weltge-meinwohl und veganem Kuchen beschäftigt. Was das alles miteinander zu tun hat? Lesen Sie selbst!

Ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein friedliches neues Jahr wünscht

Für die RedaktionMichael Mondry

Liebe Leserinnen und Leser,

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reportage

MISEREOR aktuell 4/2014

G e r i c h tG e r i c h t

Wie beim

jüngsten Wie beim

jüngsten

EineReportagevonRalphAllgaier

FotosvonFlorianKopp

Es ist der Versuch, das Unvorstellbare dar-zustellen. Dazu führt ein schmaler Gang ab-wärts in fast völlige Finsternis. An der Decke lässt ein Spalt einen winzigen Strahl Sonnen-licht hinein. Wassertropfen treffen uns ins Gesicht, ein klagender Gesang lässt die Sze-nerie noch beklemmender wirken. Ansatzwei-se vermag man nun nach zu fühlen, was es für die Menschen in Banda Aceh bedeutet hat, als sie völlig überraschend von der gigantischen Tsunami-Welle erfasst wurden. Als Ende De-zember 2004 allein in Indonesien durch die

Folgen des Seebebens im Indischen Ozean etwa 170.000 Menschen starben, Trümmer, Bäume, Autos, ja ganze Häuser durch die Flu-ten mitgerissen wurden und überall nur noch Zerstörung und Chaos war.

Jener Gang in die feuchte, enge, beängsti-gende Dunkelheit befindet sich im Tsunami-Museum der Stadt Banda Aceh im äußersten Norden des indonesischen Archipels. Ein mächtiges Gebäude voller schockierender Fotos und Erinnerungen an all die Menschen, die den Tsunami nicht überlebt haben. Nicht

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Wie beim

jüngsten In Banda Aceh ist zehn Jahre nach dem Tsunami Normalität eingekehrt.

Das Trauma bleibt.

titelthemaLeben nach der

Katastrophe

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reportage

minder aufsehenerregend ist gleich in der Nähe das riesige Ozeanschiff „Apung“, ein 60 Meter lan-ger und 20 Meter hoher stählerner Koloss, der auch als Kohlekraftwerk diente und den die Flutwelle ins Landesinnere trieb. Dort steht er nun mitten in der Stadt als Mahnmal, auf dem Touristen herumklet-tern und wo man sich fragt, wie der Meeresgigant bloß an diese Stelle gekommen ist.

Doch unbegreiflich ist hier vieles. Eine Ferien-siedlung, gut vier Kilometer vom Strand entfernt, machte der Tsunami dem Erdboden gleich. Häu-ser, Bäume, alles verwüstet. Wenn man Sam, den Besitzer der Anlage, auf das damalige Geschehen anspricht, schießen dem gerade noch smart lä-chelnden 62-Jährigen die Tränen aus den Augen. Sam verlor damals seinen Bruder, seinen Vetter und seine Nichte in den Fluten. Und der Tsunami, ein Seebeben der Stärke 9,1, das vor zehn Jahren in Indien, Sri Lanka, Thailand und Indonesien ins-gesamt 230.000 Menschenleben forderte, 110.000 Menschen verletzte und etwa 1,7 Millionen Küs-tenbewohner obdachlos machte, ist immer noch bedrückend präsent im Gedächtnis von wirklich jedem, den man darauf anspricht. Häuser und In-frastruktur sind größtenteils wieder aufgebaut, die Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte, bleibt. Auch deswegen weisen in einigen Dörfern große Fluchtwegschilder Notrouten in die umlie-genden Berge aus, die Kinder üben in der Schule besonnenes Verhalten im Ernstfall.

Hoffnung auf eine gute Zukunft

Wenn man vor dem Haus von Milawati Ta steht, blickt man linker Hand auf den Turm der großen

Moschee von Banda Aceh, von der nach Hereinbre-chen der Tsunami-Welle nur noch eine kleine Spitze ihres rund zehn Meter hohen Minaretts zu sehen war. Milawati wurde an diesem Sonntagmorgen von der Jahrhundertkatastrophe jäh überrascht, auch wenn ihr Haus nur wenige 100 Meter vom Ozean entfernt liegt. „Ich dachte, der Tag des Jüngsten Gerichts sei gekommen“, berichtet sie. Die Frau, ihr Ehemann und ihre drei Kinder wurden von den Wassermassen mitgerissen. Mit Glück fand die heute 45-Jährige Halt an einer vorbeigeschwemm-ten Matratze, später an einem Stück Holz, und nach langen quälenden Minuten in dem reißenden Was-serstrom, der sich in großem Tempo seinen Weg durch die Straßen der Stadt bahnte, konnte sie sich in ein zweistöckiges Haus retten.

Was nun passierte, wurde für die Frau zu einem Trauma, das sie bis heute nicht wirklich überwun-den hat. Vom Rest ihrer Familie verlor sich jede Spur, es folgten Stunden entsetzlicher Ungewiss-heit. Bis ihre Tochter wieder auftauchte und sie ihren Mann in einer benachbarten Stadt in einem Flüchtlingslager traf. Letzterer war zum Zeitpunkt, als die Welle kam, nicht zu Hause, sondern zum Fischen auf dem Meer. Er hatte sich letztlich am Dach der Moschee festhalten können. Wo ihre beiden Söhne starben, weiß Milawati bis heute nicht. Wochenlang hat sie sie in der näheren und weiteren Umgebung gesucht, überall nach ihnen gefragt. „Wie Bergsteiger sind wir über die Trüm-mer geklettert, haben Schlamm und Gerümpel durchforstet – doch alles war vergeblich.“

In diesen schweren Tagen lernte Milawati War-dah Hafidz kennen, die Koordinatorin der indone-

oben linksBedrückende Erinnerung: Im Tsunami-Museum von Banda Aceh erinnern unzählige Namen an die Opfer des Seebebens.

oben rechtsSie hielt dem Tsunami stand: Die Moschee im Hafenviertel von Banda Aceh.

untenGewaltiges Mahnmal: Dieser Ozeandampfer wurde von den Wasser-massen ins Stadtzentrum von Banda Aceh geschleu-dert.

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reportage

sischen MISEREOR-Partnerorganisation Uplink, die direkt auf viele Tsunami-Betroffene zuging und sie fragte, wie sie ihnen helfen könne. Milawati erinnert sich voller Dankbarkeit an diesen Mo-ment, und wie die Uplink-Leute schnell, planvoll und effizient tätig wurden. Mit ihrer Unterstützung bauten sie und ihre Familie ein neues, 36 Quadrat-meter großes Haus, das auf Stelzen steht, aus Stahlbeton und mit doppelter Wandstärke errich-tet wurde und damit widerstandsfähiger gegen künftige Erdbeben und Flutwellen sein soll. Mit dem Haus kehrte auch die Hoffnung auf eine gute Zukunft zurück, Milawati bekam noch einmal ein Kind, das mittlerweile vier Jahre alt ist; Muriana, ihre Tochter, steht kurz vor der Geburt ihres zwei-ten Kindes und arbeitet als Lehrerin. Das Gebäude wurde mittlerweile erweitert und bietet der Fami-lie ein schönes Zuhause.

Wiederaufbau von 3.500 Häusern

Bis zum Jahr 2007 hat Uplink in Indonesien den Wiederaufbau von 3.500 Häusern finanziert und koordiniert. Juli Kusworo und Andrea Fitrianto sind zwei Mitarbeiter von Uplink, die schon wenige Tage nach dem Tsunami in Banda Aceh eintrafen, um Kontakt zu Betroffenen aufzunehmen, ihre Nöte und Bedürfnisse zu analysieren und rasche Hilfsmaßnahmen einzuleiten. „Es bot sich uns ein unbeschreibliches Durcheinander“, formuliert Juli seine ersten Eindrücke. „Die erste Nacht habe ich im Zelt geschlafen, und als ich am nächsten Mor-gen aufgestanden bin, lagen um mein Zelt herum 17 Leichen. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.“ Tagelang half er mit, Tote zu bergen, sowie Schutt und Trümmer, die sich bis zu zehn Meter aufgetürmt hatten, wegzuräumen. Langsam gelang es ihm, das Vertrauen der Tsunami-Opfer zu gewinnen, ein Gefühl für ihre Bedürfnisse, Nöte und Ängste zu entwickeln. Kompli-ziert wurde die Lage durch den zu dieser Zeit noch schwelenden Konflikt zwischen der militanten Separatistenorganisation Gerakan Aceh Merdeka (GAM) und der indonesischen Regierung. Trotz der Mega-Katastrophe Tsunami wurde es den interna-tionalen Helfern von den Behörden zunächst erschwert, in Gebieten tätig zu werden, die als Hochburgen der Rebellen galten. Die Uplink-Mitarbeiter haben sich darüber meist hinweg-

gesetzt und waren so in manchen Wohngebieten über einen längeren Zeitraum die einzige Hilfsor-ganisation, die trotz der bewaffneten GAM-Prä-senz unbürokratisch tätig wurde.

„Dafür sind wir Uplink bis heute dankbar“, sagt Ridban Husin, den wir in seinem wiederauf-gebauten Haus besuchen. Er traf die Uplink-Leute im Flüchtlingslager, wo sie ihm unbürokratische Hilfe anboten. Sie unterstützten ihn dabei, auf den alten Fundamenten wieder sein Zuhause zu errichten. Ein paar Tage zuvor hatte es in der Nachbarschaft noch Schießereien

obenRückkehr zur Normalität: In dieser Siedlung wurden zahl-reiche Häuser mit Hilfe von MISEREOR wieder aufgebaut.

links Volle Regale: Wirtschaftlich geht es in Banda Aceh trotz mancher Probleme aufwärts.

Rettungsweg: In vielen Orten weisen Schilder Not-Routen für den Fall

eines erneuten See-bebens aus.

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republik indonesien

Indonesien bildet mit 17.508 Inseln den größten Archipel der Welt. Die Landfläche umfasst etwa zwei Millionen Quadratkilometer. Der an Ost-Timor, Malaysia und Papua-Neuguinea grenzende Staat gehört größtenteils zum asiatischen Kontinent. Der Landesteil auf der Insel Neuguinea zählt zu Australien.

Über 250 Millionen Indonesier bilden die viertgrößte Bevölkerung der Erde. Das Durchschnittsalter liegt bei 29,6 Jahren. Fast 90 Pro-zent der Menschen sind Muslime. Landessprache ist Indonesisch, insgesamt werden mehr als 700 Sprachen genutzt.

Besonders dicht besiedelt ist Java, eine der vier Hauptinseln neben Sumatra, Borneo und Sulawesi. Gut 140 Millionen Menschen woh-nen hier auf nur 6,6 Prozent der Staatsfläche; davon etwa 30 Mil-lionen im Großraum um die Hauptstadt Jakarta. Die Insel mit 38 teilweise aktiven Vulkanen gehört zu dem Vulkangürtel, der den gesamten Pazifischen Ozean umgibt, dem Pazifischen Feuerring. Insgesamt verzeichnet Indonesien die stärkste Vulkantätigkeit weltweit, etwa 130 Berge sind derzeit aktiv. Auch gibt es immer wieder Erdbeben im ganzen Land und die ständige Gefahr von Tsu-nami auslösenden Seebeben. Dem Seebeben vor der Insel Sumatra am 26. Dezember 2004 folgte eine zerstörerische Flutwelle, die rund 170.000 Todesopfer forderte.

MISEREOR fördert in Indonesien derzeit 67 Projekte, die Bewilli-gungssumme beträgt gut 11,5 Millionen Euro.

reportage

gegeben, es herrschte ein Klima permanenter Un-sicherheit. Heute sind alle froh, dass sich die Kon-fliktparteien angesichts des Tsunamis zu einem Friedensschluss durchrangen, der 2005 das Ende des seit 1976 laufenden Bürgerkriegs in Banda Aceh besiegelte.

Ridbans Vorgarten ist von einer Reihe Grabstei-nen geprägt. Er verlor seine Frau, drei Kinder und einen Enkel, die er nicht beerdigen konnte, weil ihre Leichen nicht gefunden wurden. So erinnern nur die Steine vor seinem Haus an die Toten. Zwei Kinder und ein Enkel überlebten. Sein Dorf Lam

oben rechtsErinnerung an Frau, Kinder und Enkel: Ridban Husin hat zu ihren Ehren mehrere Grabsteine in seinem Garten aufgestellt.

untenMr. Baharruddin, der Dorfführer von Lam Ten-goh, verlor durch den Tsunami seine ganze Familie. Heute blickt er mit seiner neuen Frau und dem kleinen Sohn wieder nach vorne.

Rukam am Rande von Banda Aceh zählte vor dem Tsunami etwa 250 Einwohner, nur 65 konnten nach dem Seebeben ihr Leben retten. Die meisten Toten waren Frauen und Kinder, denn sie befanden sich überwiegend zu Hause, als der Tsunami kam, wäh-rend die Männer meist außerhalb der eigenen vier Wände einer Arbeit nachgingen. So war es auch bei Ridban, der gerade auf einem Markt Obst und Ge-müse verkaufte, als die große Flutwelle kam, die er noch sah, aber der er auch entkommen konnte. Er verlor sein gesamtes Hab und Gut, Ausweispapie-re, Briefe, Fotos, Erinnerungen. Sein hauseigener Brunnen war versalzen, seine Gemüsefelder nicht mehr nutzbar. „Zwei Monate haben wir gebraucht, um uns einigermaßen von dem Schock zu erholen und wieder handlungsfähig zu werden“, berichtet der 65-Jährige. Uplink half ihm auch, seinen Handel wieder aufzubauen. Langsam kehrte der gewöhn-liche Alltag so wieder zurück.

Für Mr. Baharruddin, den Dorfführer von Lam Tengoh, war das ganz besonders schwierig. Er verlor seine gesamte Familie, blieb als einziger übrig. Das hinterließ Wunden, die vielleicht nie-mals heilen werden. Und doch ist es dann irgend-wie weitergegangen. Heute hat Mr. Baharrudin mit Rozma Wardhani wieder eine Frau und mit Ikram auch einen kleinen Sohn. „Ich schaue nach vorne und will mich nicht zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen.“ Er hat wieder sein Glück gefunden. Das Tsunami-Trauma aber bleibt.

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Es ist ein ganz normaler Wochentag in Vai-lankanni. In dem südostindischen Wallfahrtsort bedeutet das allerdings ein ziemliches Chaos: Tausende Pilger und Touristen strömen durch die Gassen des 10.000-Seelen-Dorfes. Katholiken, Hindus, Protestanten und Muslime drängen sich um die römisch-katholische Marienbasilika „Un-serer Lieben Frau der Gesundheit“, deren Grund-stein im 17. Jahrhundert von den Portugiesen ge-legt wurde. Sie kaufen Nippes und Devotionalien in Billigläden, lassen sich nach Hindu-Tradition die Haare scheren, tummeln sich am Strand, stehen knietief im Golf von Bengalen, fotografieren sich in den Wellen. Junge Männer zeigen ihre muskulösen Oberkörper, Kinder kreischen vor Vergnügen, Müt-ter behalten die Kleinen fest im Blick – man weiß ja nie, was passiert. Straßenhändler bieten Kokos-nusswasser, Mangos, Cashewnüsse oder Handtü-cher feil. Aus den Musikboxen dröhnen Pop-Musik und christliche Lieder. An diesem ganz normalen Wochentag wird schnell klar, wie das alltägliche Chaos vor zehn Jahren zur Hölle werden konnte.

Wie jedes Jahr an Weihnachten besuchten auch am Sonntag, dem 26. Dezember 2004, Scharen von Gläubigen die Morgenmesse. Danach ström-ten sie zum Picknick an den Strand und staunten nicht schlecht, als sich das Wasser merkwürdig weit zurückzog. Niemand wollte sich das Natur-spektakel entgehen lassen. „Das Gedränge war riesig“, erzählt Michael Susai, Sozialarbeiter von DMI (Daughters of Mary Immaculate; Töchter der Maria Immaculata), der lokalen Partnerorganisati-on von MISEREOR. Dann kam die gigantische Welle und riss mindestens 3.500 Menschen in den Tod. Das Dorf Vailankanni wurde zum größten Teil zer-

reportage

Nach dem Gottesdienst besuchen die Menschen den Strand von Vailankanni.

Das Leben geht weiter

EineReportagevonConstanzeBandowskiFotosvonKarinDesmarowitz

AnderindischenKoromandelküsterissderTsunamiam26.Dezember2004

mehrals16.000MenschenindenTod.MISEREORundseinelokalePartner-

organisationhalfendenÜberlebendenbeimAufbaueinerneuenExistenz.

titelthemaLeben nach der

Katastrophe

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reportage

oben linksNur die Basilika von Vailankanni wurde von den Fluten am zweiten Weihnachtstag 2004 verschont.

oben rechtsZur traditionellen indi-schen Begrüßung gehört die Schale mit Wasser und Blüten.

unten linksSteht auf eigenen Beinen: Tamilarasi im Gespräch mit DMI-Schwester Vasanthi.

stört, nur das etwas höher gelegene Gelände der Basilika blieb verschont.

Schnell rückten indische Rettungsteams an, ver-sorgten die traumatisierten Menschen, errichteten Notunterkünfte in Schulen und Verwaltungsgebäu-den, transportierten die Verletzten in die umlie-genden Krankenhäuser und begruben die Toten in Massengräbern. Auch die Schwestern, Mitarbeiter und Freiwilligen von DMI waren schnell zur Stelle, um in den Notunterkünften und bei den Aufräum-arbeiten zu helfen. „Am dritten Tag haben wir mit eigenen Augen gesehen, wie Bulldozer die Leichen zusammenschoben“, sagt Michael Susai. Und er erinnert sich an viele Einzelschicksale, die DMI psy-chologisch betreut hat. Zum Beispiel an den Vater, der seine Familie extra Richtung Wasser getrieben hatte, um zu sehen, was dort vor sich ging. „Er war der einzige von ihnen, der sich auf den Platz der Ba-silika retten konnte und überlebte“, so Susai. „Na-türlich war er völlig verzweifelt.“ Was aus dem Mann geworden ist, weiß der Sozialarbeiter nicht, denn in den Folgemonaten beriet DMI mehr als 40.000 Opfer im Bundesstaat Tamil Nadu. DMI und MISE-REOR unterstützen heute 19 damals gegründete Selbsthilfegruppen.

Wüste der Zerstörung

Im nahe gelegenen Dorf Akkareipet hat Tamilarasi zur Begrüßung eine Schale mit Wasser, Blüten und

Schwimmkerzen vorbereitet. Dieses Ritual gehört ebenso zur Tradition Südindiens wie das Fehlen von Nachnamen. Stumm benetzt die 40-jährige Frau im blaugemusterten Sari die Stirn ihrer Gäste mit etwas Wasser, dann bittet sie sie in ihr Haus, ein einstöckiges Gebäude mit solidem Mauerwerk und Dachterrasse. Ihr Sohn Sathiyaseelan wartet bereits im Wohnzimmer. Er war 13, als ihn der Tsu-nami draußen beim Spielen überraschte. „Ein paar Jungs kamen vom Meer angerannt und schrien und schrien“, erinnert sich der junge Maschinenbauin-genieur, der sich gerade auf einen Job in Singapur vorbereitet. „Ich blickte hoch und sah diese gigan-tische Welle. Ich rannte nach Hause. Meine Mut-ter wusch vor der Tür Wäsche und wir schafften es gerade noch rechtzeitig auf die Terrasse hinauf.“ 50 Nachbarn erlebten mit ihnen den schlimmsten Albtraum ihres Lebens. Als die Wassermassen sich nach einer Stunde wieder zurückgezogen hatten, hinterließen sie eine Wüste der Zerstörung. „Über-all Schlamm und Leichen“, flüstert Tamilarasi. „Die spielenden Kinder in der Nähe – alle tot. Die Hütten der Nachbarn – kaputt. Mein Haus war weit und breit das einzige, das stehen geblieben war.“

Im Erdgeschoss hatte sie vor der Katastrophe einen kleinen Laden geführt, von dem sie sich, ihren Sohn und ihre Patentochter ernährte. Ihr Mann starb bei einem Verkehrsunfall, als Sathi-yaseelan acht Monate alt war. Seitdem kämpft

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reportage

INDIEN

Tamilarasi als alleinerziehende Mutter um die Existenz ihrer kleinen Familie. Das Haus hatte sie 2001 vom mühsam Ersparten gebaut. Drei Jahre später stand sie vor dem Aus. Der Tsunami hatte das Erdgeschoss und damit den größten Teil ihrer Ware unter Wasser gesetzt. Die Familie fand Un-terschlupf in einer Schule. Als Tamilarasi nach zwei Wochen zu Hause nach dem Rechten schau-en wollte, war der Laden aufgebrochen und ge-plündert worden. Und weil das Haus offenstand, hatten sich Soldaten einquartiert, die im Dorf aufräumten. „Dass mich die Leute bestohlen hat-ten, war ein großer Schock“, sagt Tamilarasi. „Über die Soldaten im Haus war ich aber froh, denn sie halfen ja.“ Für einen weiteren Monat kehrte sie in die Notunterkunft zurück und lernte die DMI-Schwestern kennen, bevor sie endgültig nach Hause zog.

Selbsthilfegruppe mit Sparverein

Ein halbes Jahr später gründete Tamilarasi mit 14 weiteren Frauen aus ihrem Dorf eine Selbsthilfe-gruppe mit Sparverein. Moralische und finanzielle Unterstützung erhielten sie von DMI. Von ihrem ersten Kredit ließ Tamilarasi eine alte Reismühle reparieren. Damit startete sie ihr neues Unterneh-men. Die 50.000 Rupien (knapp 650 Euro) hat sie längst abbezahlt. Auch das zweite Darlehen von 35.000 Rupien ist beglichen. Heute ist Tamilarasi stolze Besitzerin von fünf elektrischen Mühlen, mit denen sie einen monatlichen Mindestgewinn von 12.000 Rupien erwirtschaftet, rund 155 Euro. Sie hat ihrem Sohn das Abitur und die Hochschu-le ermöglicht, ihre Patentochter besucht die elfte Klasse einer privaten Oberschule. „Seit 22 Jah-ren bin ich selbständige Unternehmerin“, sagt Tamilarasi mit einem zarten Lächeln, „aber erst durch DMI konnte ich mein Unternehmen auf le-gale Beine stellen.“ 2008 erhielt sie die offizielle Lizenz für ihren Betrieb, seitdem zahlt sie Steuern, Versicherungen und Strom zum Geschäftstarif. „Der ist natürlich teurer als für den privaten Ver-brauch“, sagt sie uns schmunzelnd.

Voller Stolz führt uns die tüchtige Geschäftsfrau in ihren Anbau hinter dem Haus. Über dem Eingang prangt das Firmenschild in Tamil. Sie schaltet das Licht ein, legt den breiten Riemen über die beiden Achsen einer gusseisernen Mühle, füllt einen Sack Reis in den Trichter und wirft den Motor an. Der

Lärm dröhnt in den Ohren, weißer Staub wirbelt auf, Tamilarasi lacht. Sechs bis acht Stunden ver-bringt sie hier täglich, das macht sie glücklich. „Am Anfang musste ich Leute einstellen, die meine Maschinen bedienten. Als Sathiyaseelan mit dem Studium begann, konnte er mir erklären, wie die Geräte funktionieren. Seitdem mache ich alles sel-ber und er hilft mir dabei.“ Nur den Mechaniker für die vierteljährliche Wartung der Maschinen muss sie bezahlen. „So weit wäre ich ohne die Unterstüt-zung von DMI nicht gekommen“, sagt die Klein-unternehmerin. Ihr Sohn blickt zärtlich auf seine Mutter herab und sagt: „Du hast so viel Geld für mich ausgegeben, dass ich mir schnell einen Job suchen werde, damit ich in Zukunft für dich sorgen kann.“ Seine Chancen stehen nicht schlecht, denn Singapur sucht Fachkräfte. Nach ein paar Jahren Geldverdienen will Sathiyaseelan in seine Heimat zurückkehren und eine eigene Familie gründen. Das Leben geht weiter.

Tamilarasi und ihr Sohn Sathiyaseelan präsentie-ren eine ihrer fünf elektri-schen Reismühlen.

Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei MISEREOR in Aachen. Zuvor war er Redakteur für Politik und Nachrichten bei der Aachener Zeitung.

Florian Kopp lebt in Rio de Janeiro und arbeitet als freier Journalist vor allem zu entwicklungspolitischen Themen. Zuvor hat der Diplom-Geograf Erfahrungen als Entwicklungshelfer in Pakistan und Afghanistan gesammelt.

Constanze Bandowski arbeitet als freie Journa-listin in Hamburg mit den Schwerpunkten Entwick-lungszusammenarbeit, Lateinamerika und Soziales.

Karin Desmarowitz lebt und arbeitet als freie Fotografin in Hamburg.

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SiewardreiJahre,alsderTsunamiihreZwillingsschwesterindenTodriss.DerVaterbegannzutrinkenunderhängtesich.IhrBruderstarbeinJahr

späteraneinerInfektion.IhreMutterleidetseitdemunterDepressionenundHerzproblemen.ImMädchenheimvonNagapattinamistGirija(13)glücklich.

SiehatgroßePlänefürihreZukunft.

portrait

Girija strahlt. Das neue Kleid steht der 13-Jäh-rigen ausgezeichnet: Über dem hellen Türkis ihres Salwar Kamiz, des typisch indischen Zweiteilers aus langem Hemd und Pluderhose, leuchtet eine bunte Blumengirlande. Die Goldbordüre funkelt. Ihr pechschwarzes Haar glänzt. Wahrscheinlich hat sie es heute besonders lange gekämmt, denn Diwali, das hinduistische Lichterfest zu Ehren der Göttin Shiva und ihres Sieges über das Böse, wird in Nagapattinam genauso groß gefeiert wie in ganz Indien. Selbst die katholischen DMI-Schwestern, (Daughters of Mary Immaculate; Töchter der Maria Immaculata) haben in ihrem Mädchenheim ein fürstliches Mahl mit Curry, Hühnchen und Fisch

aufgetischt. Girija hat davon allerdings nichts gegessen. Sie war zu Hause bei ihrer Mutter und die hat ihre Goldkette verpfändet, um der Tochter ein neues Kleid kaufen zu können. Um die 2.600 Rupien, rund 34 Euro, wieder anzusparen, muss die 40-jährige Witwe monatelang Fisch verkaufen. Von ihrem kargen Einkommen kann sich die herz-kranke und an Depressionen leidende Mrs. Kavitha kaum selbst ernähren.

„Ich bin froh, wieder im Heim zu sein“, sagt Girija in einem stillen Moment. „Zu Hause sehe ich die ganze Zeit das Elend meiner Mutter. Das macht mich nur traurig. Hier aber habe ich Spaß mit meinen Freundinnen. Wir tanzen und singen und lernen. Die Schwestern haben mir so viel bei-gebracht! Ich spreche Englisch, bin selbstbewusst geworden und kenne mich in Geschlechterfragen aus. Mir geht es hier einfach viel besser.“ Prompt flitzt sie zu Arthi, Joncy und all den anderen. Die Teenager reden und giggeln, sie spielen Fangen und tanzen zur Feier des Tages in ihren schönsten Kleidern vor dem Eingang des Schlaftrakts.

Mrs. Kavitha blickt ihrer Tochter hinterher. Ihre Mundwinkel zucken, die Augen blinzeln. Dann räus-pert sie sich kräftig und sagt: „Meine Tochter ist hier sehr glücklich. Dafür danke ich den Schwestern von Herzen.“ Dann berichtet sie von dem Tag, der ihr Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt hat. Bei den Erinnerungen an den 26. Dezember 2004 überschlagen sich ihre Worte. Ihre Hände wirbeln durch die Luft, während die Worte aus ihrem Mund heraussprudeln: „Es war ein Sonntag, ich stand vor unserem Haus, da kamen ein paar Jungen ange-rannt und schrien: ‚Das Boot! Das Boot!‘ Ich drehte

Girijas Glück

EinPortraitvonConstanzeBandowski·FotosvonKarinDesmarowitz

Glück im Unglück: Am 26. Dezember 2004lag ihr Leben in Trümmern. Jetzt kann Girija Kavitha wieder lachen.

titelthemaLeben nach der

Katastrophe

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portrait

mich um und da kam diese Welle und schmiss ein riesiges Fischerboot auf mich zu. Ich schnappte meine Mädchen und rannte los. Ein Mann nahm mir Vanaja ab, Girijas Zwillingsschwester, und setzte sie auf ein Dach, um einer Frau zu helfen. Ich fiel hin, stieß mir den Kopf. Girija klammerte sich an meinen Hals. Vanaja brüllte ‚Mami‘ und fiel vom Dach. Dann wurde ich bewusstlos.“

„Geh weg und stirb“

Mrs. Kavitha und Girija hatten Glück. Sie über-lebten und kamen ins Krankenhaus. Vanaja wurde einen Tag später zu ihnen in die Notaufnahme ge-bracht. Sie hatte so viel Schlamm und Wasser in der Lunge, dass sie nach drei Tagen starb. Mrs. Ka-vithas Ehemann hatte am Morgen des Tsunami mit den älteren beiden Kindern Verwandte besucht. Als er von der Katastrophe erfuhr, gab er eine Todes-anzeige für seine Frau und die Zwillinge auf. „Als ich mit Girija zu ihm in die Notunterkunft kam, war er total geschockt“, erzählt Mrs. Kavitha. „Er schlug mich und schrie: ‚Geh weg und stirb!‘ Er wollte nur das Entschädigungsgeld versaufen.“ Ein paar Wochen später erhängte er sich. In der Not- unterkunft lernte Mrs. Kavitha die DMI-Schwestern kennen, erhielt psychologische Beratung und Me-dikamente und schickte Girija und ihre sieben Jahre ältere Schwester ins neu gegründete Mäd-chenheim. Ihr Sohn starb ein knappes Jahr später an einer schweren Infektion.

Es ist 18 Uhr und stockduster. Mrs. Kavitha macht sich auf den Heim-weg. Die Schwestern verteilen Feu-erwerkskörper und Wunderkerzen an die 45 Mädchen im Heim. Die zündeln unter großem Gekreische. Girija hält sich zurück. Sie ist so etwas wie eine Mannschaftsführe-rin. Die Schwestern haben sie ins Amt gehoben. „Girija hat große Führungsqualitäten“, sagt Schwes-ter Shiny, die für das Heim verant-wortlich ist. „Girija ist eine hervorra-gende Schülerin“, sagt Oberschwes- ter Vasanthi. „Sie ist wirklich fan-tastisch.“ Am Abend nach den Che-miehausaufgaben verrät die Acht-klässlerin ihren Berufswunsch: „Ich will Bürgermeisterin werden. Dann würde ich den Menschen helfen, vor allem den Kindern und den Armen. Ich würde Alphabetisierungskurse durchführen und allen Kindern die Schule ermöglichen. Kinder müs-sen lernen, sie müssen eigene Ideen entwickeln, wie ich. Ich will etwas aus meinem Leben machen.“ Ob sie es bis zur Bürgermeisterin schafft, wird sich zeigen. Auf jeden Fall werden ihr die Schwestern den Schulabschluss und ein Studium ermöglichen – und das sind die besten Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben.

obenTanzen, Singen und Lernen: Das Selbstbewusstsein der Kinder wird gestärkt.

unten rechts „Mein Tochter ist hier sehr glücklich.“: Girijas Mutter verabschiedet sich von DMI-Schwester Vasanthi.

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nachrichten

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Klimafreundliches Wachstum, geht das? Dazu hatte Bundesumweltminis-terin Barbara Hendricks eine klare Ant-wort: „Unsere Verantwortung ist zu zeigen, dass das geht!“. Auf dem MISE- REOR-Jahresempfang im November dis-kutierte sie mit dem Ökonomen Niko Paech und MISEREOR-Hauptgeschäfts-führer Pirmin Spiegel über die Verant-wortung von Politik und Gesellschaft im Kampf gegen den Klimawandel.Der Empfang war Teil der zweitägigen MISEREOR-Konferenz „Auf dem Weg nach Lima – Mit Neuer Energie für eine Nachhaltige Entwicklung“. Mit Blick auf die UN-Klimakonferenz im peruanischen Lima (COP 20) thematisierten internatio-nale Klima- und Rohstoffexperten sowie Fachleute aus der Entwicklungszusam-menarbeit Alternativen zum herrschen-den Wirtschafts- und Wachstumsmodell und Wege zu einer klimafreundlichen

und gerechten Entwicklung in Nord und Süd. Unter den rund 120 Teilnehmenden waren neben Klaus Töpfer, dem ehema-ligen Umweltminister und Exekutivdirek-tor des „Institute for Advanced Sustaina-bility Studies“, und dem Chefökonomen des Potsdam-Instituts für Klimafolgen-forschung, Ottmar Edenhofer, auch MISEREOR-Partner aus Kolumbien, den Philippinen, Thailand und Kamerun.

Konferenz „Auf dem Weg nach Lima“ Viele internationale und nationale Stars

und jede Menge Weihnachtshits: Modera-torin Carmen Nebel sammelte mehr als 2,4 Millionen Euro Spenden für die Arbeit von MISEREOR und Brot für die Welt. Stars wie Nena, Andy Borg, Andreas Gabalier, Andrea Berg, Deborah Sasson und David Garrett un-terstützten sie dabei. Die Präsidentin von Brot für die Welt, Corne-lia Füllkrug-Weitzel, und MISEREOR-Haupt-geschäftsführer Pirmin Spiegel dankten allen Spenderinnen und Spendern sowie den Mitwirkenden der Sendung. Im Gespräch be-richtete der Arzt Djékadoum Ndilta aus dem Tschad, was es heißt, wenn ein einziges Krankenhaus mehr als 80.000 Menschen medizinisch versorgen muss. Ähnlich wie in den Vorjahren zeigte sich das Unternehmen Phoenix-Reisen wieder sehr großzügig: Morten Hansen, Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff des Reiseveran-stalters, spendete für jedes richtig zu Ende gesungene Lied bei einem Song-Rate-Wett-bewerb 20.000 Euro. Am Schluss hängte er in Absprache mit seinem Chef an die Spen-de von 100.000 Euro noch eine „0“ und er-höhte damit auf eine Million Euro.

ZDF-Weihnachtsgala

Anlässlich des Welternährungstages haben MISEREOR und die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) die Studie „Hunger ernten. Plantagenarbeiter und das Recht auf Nahrung“ veröffentlicht. Die Studie zeigt die katastrophale Situa-tion von Arbeitern auf Plantagen zur weltwei-ten Nahrungsmittel-produktion. Sie wurde von MISEREOR, dem internationalen Dach-verband der NGG, IUF, sowie der Menschen-rechtsorganisation FIAN verfasst.

Die Arbeitsbedingungen auf vielen Planta-gen haben sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere aufgrund eines erheblichen Preisdrucks auf Plantagenkonzerne deut-lich verschlechtert, heißt es in der Studie.

Die Bezahlung existenzsichern-der Löhne sei so in den wich-tigsten Teeanbaugebieten welt-weit schlicht nicht möglich. Eine zentrale Verantwortung liege bei Nahrungsmittelkonzernen und Su-permarktketten mit starker Markt-macht, die die Preise auf das nied-rigste Niveau drücken, wird in der Studie argumentiert. DieStudieisteinsehbarunter:www.misereor.de/hunger-ernten

Studie zur Arbeit auf Plantagen

MISEREOR ist dem Bündnis für nach-haltige Textilien beigetreten, das Entwick-lungshilfeminister Gerd Müller initiiert hat. Ziel der Initiative ist es, soziale und öko-logische Mindeststandards in der Liefer-kette durchzusetzen. Bisher haben sich 29 Firmen und Verbände angeschlossen. Der MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel forderte mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Produktion und Ver-marktung von Textilien. Ein Schwerpunkt der zukünftigen Arbeit im Bündnis solle auf der Erarbeitung von verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten der Unternehmer liegen.

Bündnis für nachhaltige Textilien

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auf ein wort

Weihnachten – Fest der Familie. Mindestens gefühlte tausendmal hat das jeder und jede in den letzten Wochen schon gehört. Krippen mit der Heiligen Familie gehören zur Standardausrüstung vieler Häuser, ja selbst vieler öffentlicher Plätze, Büros und Geschäfte. Die eigenen Erfahrungen mit der Familie sind nicht immer so festlich.

Dabei lässt sich die Geschichte, die an Weih-nachten erzählt wird, leicht ins Heute übertragen: In einem Stall in Bethlehem wird ein Kind geboren. Maria und Josef müssen bald nach der Geburt des Kindes fliehen, da der herrschende König Herodes ihrem Kind nach dem Leben trachtet. Es ist ein besonderes Kind, Jesus genannt, das in solchen Umständen geboren wird. So erzählt es das Mat-thäusevangelium. Es liegt auf der Hand, die Ge-burtsgeschichte Jesu zu den Flüchtlingen in Bezug zu setzen, die aktuell nach Deutschland kommen. Irgendeinen „König“ gibt es an vielen Orten der Erde, der die Menschen fliehen lässt: Menschen aus Syrien und dem Irak, der Ukraine und Tschet-schenien, aus Eritrea und Guinea und anderen Orten der Erde suchen Zuflucht in Deutschland.

Viele Menschen bei uns öffnen anders als im da-maligen Bethlehem ihre Herzen und Türen, um den Ankommenden einen guten Empfang zu geben. In Aufnahmestellen und Notunterkünften melden sich zahlreiche Freiwillige, die Sprachunterricht, Kleidung oder Begleitung bei Behördengängen anbieten. Ich bin positiv erstaunt, wie offen und hilfsbereit die Bevölkerung in Deutschland ist. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit, weil es etwas zeigt: Es gibt sie, die Solidarität mit Menschen, die in Not geraten sind. Es sind Fremde, die kommen und die wir nicht kennen. Ihnen wird geholfen, einfach weil sie in Not sind. Darauf baut auch MISEREOR auf.

Eine Sorge trifft uns alle, sie wird aber an Weihnachten weniger bedacht. Ich meine damit

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nicht die trotz allem auch weiterhin vorhandene Feindseligkeit, die irgendwie „ausländisch“ aus-sehenden Menschen in Deutschland immer noch entgegenschlagen kann. Ich meine eine Frage, die mir Freunde bei uns genauso wie in Brasilien oder Indien stellen: Was wird werden? Wenn fanatisier-te Kämpfer im Namen von Religion internationales Recht brechen, Staaten keinen Schutz bieten und die Bedrohung uns näher kommt? Wenn nicht nur Kriege, sondern auch der weltweite Klimawandel Menschen zur Flucht bis nach Deutschland zwin-gen wird?

Meine erste Antwort ist dann die: Ich habe selber in Brasilien und in Deutschland erlebt, wie berei-chernd es ist, mit Menschen verschiedener Kul-turen zusammenzuleben. Ich weiß, dass das die Anstrengungen aufwiegen kann. Und ich weiß, dass die militärische Bekämpfung von IS keine dauer-hafte Lösung ist. All die anderen Katastrophen und Probleme kommen mir dann ebenso in den Sinn: Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose, HIV/Aids und Ebola, internationaler Drogenhandel, unwür-dige Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie etc.

Doch wie können wir mit solcher Unsicherheit und Ungewissheit leben?

Weihnachten und Unsicherheit, die gehören auch zusammen. Es geht darum zu lernen auszu-halten, was ist. Wir kommen vielleicht weiter, wenn wir davon ausgehen, dass Leben und Unsicherheit keine Widersprüche sind. Für viele in Deutsch-land ist diese Art der Unsicherheit durchaus eine neue Erfahrung. Fragen Sie, wie andere mit Un-sicherheit umgehen, in der Familie, bei Freunden, Kolleginnen. Wie können wir in der Unsicherheit solidarisch miteinander sein? Ich vermute, dass in den momentanen Notunterkünften ganz viele Spezialisten und Spezialistinnen für diese Frage sitzen. In Deutschland und weltweit.

Weihnachten – Leben und UnsicherheitKolumnedesHauptgeschäftsführers

Monsignore Pirmin Spiegel,Hauptgeschäftsführer von MISEREOR

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Es ist ruhig. 25 junge Menschen sitzen in einem Kreis. Die einen mit gerunzelter Stirn, die anderen mit nachdenklichen Gesichtern, alle konzentriert. „Aber mit welchem Recht sollten wir den Ländern im Süden verwehren dürfen, den Lebensstandard zu erreichen, den wir hier im Norden leben?“, fragt Philipp. „Naja, es gibt eben nur einen Planeten Erde. Unser ökologischer Fußabdruck ist einfach zu groß, so kann es nicht weitergehen.“ Eine ty-pische Diskussion an diesem Wochenende. Es geht um Nachhaltigkeit, Post-Wachstums-Gesellschaft und Konsum. Um die Frage: Wie wollen wir leben? In einer Welt, in der die Ressourcen knapp wer-den, der Klimawandel voranschreitet und sich die soziale Schere immer weiter öffnet. Und vor allem: Was hat das alles mit uns zu tun? Mit dem MISEREOR-Freiwilligendienst waren die Teilneh-merinnen und Teilnehmer des Workshops zuvor für zehn Monate bei einer Organisation in Afrika, Asien oder Lateinamerika und haben sich in ver-schiedenen Projekten engagiert. Viele ehemalige Freiwillige engagieren sich aber auch nach ihrer Rückkehr für entwicklungspolitische Themen. Den Workshop haben vier Freiwilligen-Generationen in Eigenregie organisiert – von der Themenauswahl bis hin zum Finanzierungsantrag bei „weltwärts“, dem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst des Entwicklungsministeriums.

Weltgemeinwohl und vegane Kuchen

In der Diskussionsrunde am ersten Nachmittag steht das Thema „Weltgemeinwohl“ im Vorder-grund. „Dabei geht es um ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen weltweit“, so MISEREOR-

Referent Georg Stoll in seinem Impulsvortrag. Das gegenwärtige Entwicklungsmodell, das auf Wachstum basiere und für soziale Differenzen zwischen Süd und Nord, aber auch innerhalb von Gesellschaften sorge, brauche Alternativen. Res-sourcenschonender Umgang mit der Umwelt, faire Löhne, Meinungsfreiheit – all das seien Aspekte, die auf dem Weg zu einer ökologisch nachhal-tigen und sozial gerechten Welt eine zentrale Be-deutung haben. Doch welche Perspektiven haben Menschen im globalen Süden? Wie können wir erreichen, dass es die gleichen Chancen für alle Menschen weltweit gibt, unsere Erde aber nicht weiter ausgebeutet und zerstört wird?

Immer wieder wird deutlich, dass die Rückkehrer stark mit ihren Einsatzländern verbunden sind und Brücken schlagen möchten. Georg Stoll teilt die Statements von zwei indischen Studenten aus. Sie kritisieren, dass der Weg zu einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Welt durch die Indus-triestaaten diktiert wird – und dabei wenig Selbst-

Isomatten,zweiGitarrenundRucksäckestapelnsichinderEingangshallederMISEREOR-Geschäftsstelle.DieRückkehrerdesMISEREOR-FreiwilligendienstessindfüreinenWorkshopüberdasAllerheiligen-WochenendeimHaus.Säge,Hammer,HolzfarbenundAkkuschrauberhabensieimGepäck.DennnebendenThemennachhaltigLeben,FairerHandelundFlüchtlingspolitikwollensieauchkreativwerden.

BRÜCKEN SCHLAGEN

EinBerichtvonAnnapiaDebarry

oben Nicht nur ernste Themen: Eva Pitteroff

untenElif Huber und Jeannette Buxel sind kreativ beim Workshop.

rechtsPhilipp Noack bereitet Holzbalken für die „Give Box“ vor.

BRÜCKEN SCHLAGEN

MISEREOR aktuell 4/2014

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kritik geübt wird. Viele Länder des Südens seien beispielsweise aufgrund von Knappheit viel spar-samer und ökonomischer im Umgang mit Ressour-cen. In Kleingruppen diskutieren die Rückkehrer die Überlegungen der indischen Altersgenossen, ihre Kommentare und Gedanken werden per Mail zurück nach Indien geschickt. Der Versuch des Perspektivwechsels und der „Blick über den Teller-rand“ – für die Rückkehrer ein wichtiges Anliegen.

Als die ersten Mägen knurren, gibt es ein ve-ganes Kuchenbuffet. Einen Workshop-Tag lang wollen sich die Rückkehrer vegan ernähren und haben zuvor entsprechend gebacken. Für viele ist das ein Experiment, doch sie stellen fest: Es schmeckt köstlich.

Tauschen ist das neue Kaufen

Wie fair ist eigentlich Fair Trade? Wie ergeht es Flüchtlingen in Deutschland? Und was genau be-deutet das Modell der Post-Wachstumsökonomie? In Kleingruppen beschäftigen sich die Teilnehmer am zweiten Tag mit diesen Fragen. Durch den Frei-willigendienst, das Studium und persönliche Er-fahrungen gibt es genug Informationen, um sich auszutauschen. Zwei Rückkehrerinnen arbeiten zum Beispiel in Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge und Asylbewerber. In ihrer Gruppe geht es aber nicht nur um individuelle Geschichten, son-dern auch um das Asylrecht in Deutschland. Eine andere Gruppe beschäftigt sich mit alternativen Wirtschaftsmodellen, die nicht auf Wachstum basieren. Doch neben dem Blick auf die Weltwirt-schaft geht es auch immer wieder darum, was man selbst tun kann, um seinen Alltag nachhaltiger zu gestalten. MISEREOR-Referent Wilfried Wunden zeigt in seiner Gruppe, dass es heute neben den klassischen Fair Trade-Produkten Kaffee, Tee oder Schokolade auch noch ganz andere faire Dinge gibt: Steine etwa, die in Steinbrüchen ohne Kin-derarbeit abgebaut werden, oder Grillkohle aus Kokosschalen von den Philippinen.

Am Abend wird das Diskutierte angewandt: Tische werden zusammengeschoben, Hosen, Hüte, Blusen, Pullis und T-Shirts aus den Tiefen der Ruck-säcke gezaubert und Bücher und DVDs auf den Tischen drapiert. Eine Tauschbörse ist eröffnet. „Der Verzicht auf Konsum ist gar nicht so schwer“, sagt Anna und betrachtet sich mit ihrem neu ge-tauschten Pullover im Spiegel. Auch die Bücher

und das Pulp Fiction-Poster haben neue Besitzer gefunden. Eine Stunde später ist der Kleiderberg geschrumpft und alle sind neu eingekleidet. Dann wird es laut im Foyer: Ronja und Marie hämmern, Malte schleift und Tobi sortiert das mitgebrachte Holz. Gemeinsam bauen die Rückkehrer aus den gesammelten Latten, Ästen und Kisten eine bunte „Give Box“. In diese selbstgebauten Boxen kann man schöne Dinge, die man nicht mehr braucht, hineinlegen. Natürlich, kann jeder der vorbeigeht etwas mitnehmen, was ihm gefällt. In vielen Städ-ten in Deutschland werden derartige Schränke schon genutzt – nun auch in der Geschäftsstelle von MISEREOR. Am Ende des Wo-chenendes bleiben viele Fragen offen. Die „Give Box“ al-lerdings bleibt vorerst stehen.

linksNicole Roer in der Diskussion.

rechtsMaleen Riebsamen,

Katharina Koller, Lea Kotzerke, Anna Bartmann,

Annapia Debarry, Lina Horn und Carla Bürger (v.l.n.r.)

bei der Tauschbörse.

Tobias Grummel, Marie-Kathrin Siemer und Ronja Monshausen bauen

die „Give Box“ zusammen.

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Schule

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Steine für den Sockel und die Wände herzubringen und einzuarbeiten“, er-klärt Menol, der Vater der vierjährigen Vorschülerin. Er streicht mit den lang-gliedrigen Fingern immer wieder über die kleine Bruchsteinmauer, die das bunte Gebäude der Vor-schule umgibt. Auf 276 Quadratmetern sind drei Klassen für Kinder von drei bis sechs Jahren und ein Verwaltungsraum entstan-den, seit September findet in der Vorschule der Un-terricht statt. Aus einem Klassenraum tönt das Al-phabet, bunte Zeichnungen und Bänder schwingen an der Veranda im Wind. Die Holzstreben und die Treppe ins Obergeschoss leuchten grell-grün, blau, gelb und orange. Hier und da sind sie, wie auch der Dachsims, mit feinen Zierleisten geschmückt. Ein bunter Farbfleck inmitten der Berglandschaft.

Traditionell haitianische Bauweise

Die „Schule der Zukunft“ in Grand Boulage ist ein Pilotprojekt. Alles an und in der Vorschule wurde innerhalb der Gemeinde, mit Eltern, Lehrern und

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Schule der Zukunft

EineReportagevonRebeccaStruckFotosvonFlorianKopp

Wie durch ein Wunder bleibt die gesamte Fami-lie Kenezo, bleiben die Menschen in Grand Boula-ge, einer Gemeinde in der kargen Berglandschaft 40 Kilometer nordöstlich von Port-au-Prince, an diesem Tag im Januar 2010 unversehrt. Die Schule der Gemeinde ist jedoch zerstört, ihre Mauern bis auf die Grundsteine eingefallen. „Vor Sorge, dass das Beben zurückkehrt, haben wir die ersten Näch-te auf dem Platz vor der Kirche geschlafen“, erzählt Jean Ezila und dreht den goldenen Ehering an ihrer linken Hand nervös hin und her. Am Tag, im Schutz der alten Flammbäume oder in den Ruinen, werden die Kinder der Gemeinde provisorisch unterrichtet. Es fehlt an Platz und Materialien.

Fast fünf Jahre später macht Jean Ezila ihre Tochter Marie Josianne für die Vorschule fertig. Geduldig flicht sie dem Mädchen glänzende Stoff-bänder in das schwarze Haar. Rote Schleifen aus Plastik zieren die sorgsam geflochtenen Zöpfe. Jean Ezila ist stolz auf ihr kleines Schulmädchen, „am liebsten singt sie“, sagt die Mutter, während Marie Josianne von dem hellblauen Plastikstuhl aufspringt und nach ihrem Rucksack greift. Dass sie heute in eine neue Schule gehen kann, ist das Ergebnis eines steinigen Wiederaufbauprozesses.

„Meine Aufgabe war es hauptsächlich, Mate-rialien wie Sisal, Erde für die Spachtelmasse und

Die Familie Kenezo blieb wie durch ein Wunder von den Folgen des Erdbebens verschont.

AlsdieErdezubebenbeginntundihreFüßeaufdemtrockenenBodendesHang-gartenskaumnochHaltfinden,istdiezierlicheJeanEzilaKenezoimsechstenMonatschwanger.„Ichwusstenicht,wasdageradepassiertundhabevorAngstgeschrien.IchhabeimmernuranmeineFamiliegedacht“,sagtdie47-Jährige.DieanderenKinder,geradesinddieletztenausderSchulenachHausegekom-men,rettensichrechtzeitiginsFreie–währenddasschwersteErdbebeninderGeschichteHaitismehrals250.000MenschenunterTrümmernbegräbt.

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republik haiti

Haiti hat mit 27.750 Quadratkilometer etwa die Größe Belgiens. Das Land bedeckt das westliche Drittel der Karibikinsel Hispaniola, auf der östlichen Seite liegt die Dominikanische Republik. In Haiti leben etwa zehn Millionen Menschen, mehr als die Hälfte ist unter 25 Jahre alt. Etwa 80 Prozent der Haitianer sind Katholiken, 15 Prozent Protestanten, fünf Prozent gehören anderen Religionsge-meinschaften an. Weit verbreitet ist auch der Voodoo-Kult. Über die Hälfte der Menschen können weder lesen noch schreiben.

Immer wieder leidet der Inselstaat unter Wirbelstürmen und Erdbe-ben. Zuletzt wütete am 12. Januar 2010 das weltweit verheerendste Erdbeben unserer Zeit. Offiziell verloren 316.000 Menschen ihr Leben, etwa ebenso viele wurden verletzt. Geschätzt 1,85 Millionen Haitianer wurden obdachlos.

Das ärmste Land in Lateinamerika traf das Beben völlig unvorbe-reitet, Bergungsgerät, Katastrophenschutz oder erdbebensichere Gebäude können sich die Menschen nicht leisten. 80 Prozent der Haitianer müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskom-men, die Hälfte der Menschen sogar mit nicht einmal einem US-Dollar. In den Elendsvierteln der Hauptstadt Port-au-Prince drän-gen sich etwa 2,2 Millionen Menschen unter schon vor dem Beben fürchterlichen Bedingungen.

MISEREOR unterstützt in Haiti aktuell 57 Projekte mit insgesamt etwa 12,16 Millionen Euro.

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Schülern, abgestimmt. Wenn möglich, wurde das Baumaterial lokal produziert und unter Anleitung in Eigenverantwortung verarbeitet. Wasser für die Spachtelmasse musste von dem abgelegenen Brunnen Hunderte Meter weit auf den Köpfen transportiert, tausende Steine an den steilen Hän-gen gesucht, in der Hitze zurecht geschlagen und in den Sockel eingefasst werden. Das Holz wurde auf Eseln über die holprigen Serpentinen in den Ort geschafft, zugesägt, zu Rahmenkonstruk-

Seit dem schweren Erdbeben im Januar 2010 hat das Hilfswerk MISEREOR den Wiederauf-bau des Landes mit rund 16 Millionen Euro un-terstützt. Unmittelbar nach dem Beben wurde dafür gesorgt, dass der Unterricht an den teil-weise völlig zerstörten Schulen in Haiti weiter-geführt werden konnte: MISEREOR finanzierte Lehrergehälter, schaffte Lernmaterialien an und renovierte Klassenräume. Grand Boulage ist die erste Schule, die in Eigenregie der Gemeinde

und aus lokalen Materialien hergestellt werden konnte – sie soll in Zukunft als Referenzbau für weitere Schulen dienen. Zudem wurden rund 840 Häuser errichtet bzw. repariert, Handwer-ker ausgebildet, agrarökologische Projekte, Wiederaufforstungsprogramme und die Berufs-bildung von Straßenkindern angestoßen sowie die Bereiche Friedensbildung, Konfliktlösung und Traumabewältigung seitens der Kommis-sion Justice & Paix unterstützt.

Nothilfe für Haiti – 16 Millionen Euro für Wiederaufbau

obenMühsamer Transport: Material wird auf Eseln über die holprigen Serpentinen in den Ort Grand Boulage geschafft.

tionen, Dachbalken oder den feinen Verzierungen verarbeitet. Ein Vorteil dieser traditionell haitia-nischen Bauweise: Lokale Materialien sind fast 30 Prozent günstiger als importiertes Material oder Zement. Zudem werden Gemeindemitglieder wie Menol handwerklich ausgebildet, um auch in Zu-kunft ähnliche Bauten umsetzen zu können. „Wir sind sehr stolz auf das Ergebnis“, sagt er, während sein Blick über die steinerne Fassade des Gebäu-des wandert.

Dabei waren der 48-Jährige, der Ortspfarrer und viele andere Dorfbewohner zunächst skeptisch, als das Bildungsbüro der Diözese Port-au-Prince (BDE) und MISEREOR den Vorschlag machten, die Schu-le auf die traditionelle Weise wiederaufzubauen. „Die Menschen in Haiti haben nach dem Beben mit-erlebt, wie Hilfsorganisationen Tausende Fertig-

Unter dem Stichwort P22302 kann für die Menschen in Haiti

gespendet werden.

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Drei Fragen zum Schulsystem des Landes an Jocelyne Colas Noel, Direktorin der Kommissi-on Justice & Paix in Haiti, die sich für soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und die Rechte der Bevölkerung einsetzt.

Wie ist der Zugang zum Bildungssystem in Haiti?Es gibt nur rund 20 Prozent staatliche Schulen, das macht – mit Ausnahme der Hauptstadt Port-au-Prince – eine öffentliche Schule pro Kom-mune. Der Rest unserer Schulen ist in privaten Händen. Der Zugang zu Bildung ist daher in Haiti ein großes Problem, denn die Privatschulen sind wiederum sehr teuer. Viele Haitianer haben aber kein Geld, diese Schulen zu bezahlen. Sie sind arbeitslos oder leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Hinzu kommt das Problem der Qualität des Unterrichts.

Welche Probleme gibt es hinsichtlich der Unterrichtsqualität?Es fehlt an Fortbildungen für die Lehrer, an Un-terrichtskontrollen, oftmals aber auch einfach am Mittagsessen für die Kinder. Da es sehr wenige öffentliche Schulen gibt, gehen schnell 60 bis 100 Kinder in nur eine Klasse. Zudem stammt die letz-te Bildungsreform aus der Ära Bernard, das war 1979. Seither hat sich nichts geändert, vor allem wird, so finde ich, die Landessprache Kreol noch immer nicht richtig in den französischsprachigen Unterricht integriert. Es ist doch so: Die Kinder reden Kreol im Alltag, sie denken und reflektieren auf Kreol. Es geht darum, dass sie Inhalte verste-hen – und nicht bloß wiederholen. In Deutschland wird der Unterricht doch auch erst einmal in der Muttersprache gehalten. Die Regierung macht je-doch nicht den Anschein, irgendetwas an diesen gravierenden Problemen ändern zu wollen.

Es gibt staatliche Programme, um den Ärmsten Unterricht zu ermöglichen…Ja, eines ist beispielsweise die „Gratisschule“– aber diese Programme stehen unter großer Kri-tik. Es geht dabei um Vorwürfe von Korruption, dass die Lehrer nicht ausreichend bezahlt und erst gar keine Unterrichtsmaterialien ange-schafft werden. Das viele Geld, das der Staat angeblich in diese Programme steckt, kommt bei den ärmsten Kindern Haitis einfach nicht an.

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betonhäuser aufstellten“, erklärt BDE-Mitarbeiter Yves Mozart Réméus, während er auf einer alten Schulbank unter einem großen Flammbaum Platz nimmt. „Natürlich fragen sie sich da, warum sie selbst Steine klopfen, Holz zusägen und Sand verarbeiten sollen.“ Beton ist auf Haiti außerdem noch immer beliebtes Symbol für Fortschritt und gesellschaftlichen Aufstieg.

Mehr als ein Jahr dauern schließlich die Ge-spräche zwischen dem Planungskomitee der Ge-meinde, den zuständigen Architekten und dem BDE. Dass die Schule durch Elemente wie Steinso-ckel, Kreuzverstrebungen aus Holz und ein leichtes Blechdach besser gegen Beben und auch Stürme gewappnet ist, überzeugte schließlich auch Jean Ezila. Sie hat noch immer Angst, das Erdbeben könne zurückkehren nach Grand Boulage, nach Haiti und zu ihrem Haus.

Wieder steht sie in dem Hanggarten zwischen Bohnenpflanzen, Süßkartoffeln und Mais. Seit-dem ihr Ehemann Menol Grüner Star hat und seinen Beruf als Lehrer an der Schule aufgeben musste, versorgt sich die Familie über die Parzel-le, besitzt ein paar Kühe und Hasen. Der steinige und trockene Boden saugt das Wasser auf wie ein Schwamm, in einer Zisterne sammelt die Familie Regen für Obst und Gemüse. „Bleibt der aber in einer Dürrephase aus, müssen wir kämpfen“, sagt Jean Ezila und wischt sich in der brütenden Mit-tagssonne den Schweiß von der Stirn. Dazu komme das Schulgeld für fünf Kinder, für die Uniformen von Marie Josianne und ihren Geschwistern. „Aber wir tun alles dafür, dass unsere Kinder zur Schu-le gehen können, damit ihnen alle Möglichkeiten offen sind. Sie sollen später keine Angst um ihre Zukunft oder ihre Familien haben müssen.“

oben linksAm liebsten singt

Marie Josianne, wenn sie die Vorschule besucht.

obenJocelyne Colas Noel ist

Direktorin der Kommission Justice & Paix in Haiti.

untenDer Zugang zu Bildung

ist teuer. Bei armen Kindern kommt keine

Unterstützung an.

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Zugang zu Bildung ist teuer

22 MISEREOR aktuell 4/2014

kommentar

Vor fast genau einem Jahr begann die Ebola-Katastrophe, die Westafrika in ihrem eisernen Griff hat. Die Weltgesundheitsorga-nisation meldet mehr als 14.000 Betroffene und mehr als 5.000 Tote (Stand 13. Novem-ber 2014). In dem kleinen Dorf Meliandou, nahe der Provinzhauptstadt Guéckédou in Guinea, im Dreiländereck zu Sierra Leone und Liberia, spielte ein zweijähriger Junge am Waldrand. Er fasste, so vermuten die Experten und Virologen rückblickend, einen kranken oder toten Flughund an, rieb sich das Virus in die Augen oder nahm die kontaminierten Finger in den Mund. Keine exotischen Riten, keine ekelerregenden Er-nährungsgewohnheiten oder gar absonder-liche Sitten haben zum Ausbruch geführt,

Ebola: Herausforderungen einer Katastrophe mit Ansage

sondern der Spiel- und Ent-deckungstrieb eines Kindes haben dem Ebola-Virus die Eintrittspforte in den neuen Wirt ‚Mensch‘ geöffnet.

Soziale Umstände und menschliches Verhalten haben das Virus weiter stark gemacht. Familiärer Streit trennte Mutter und Kind vom Vater. Dieser hat überlebt, aber die Mutter, die bereits infiziert war, steckte ihre Eltern, Schwestern und Brü-der an. Die Menschen im Meliandou wur-den aufgeschreckt von den unerklärlichen, dramatischen und plötzlichen Todesfäl-len. Sie ‚flohen‘ in die Provinzhauptstadt

Guéckédou und hatten dort weitere Kontakte, die eine Spur des Todes hinterließen. Die Gesund-heitsdienste vor Ort sahen Patienten mit schwerem Durchfall und dachten an Cholera.

Weil die moderne Me-dizin vor Ort keine Lösung fand, suchten die Betrof-

fen Rat bei traditionellen Heilern. Wieder spielte die besondere Stellung einer weit bekannten Heilerin dem Virus in die Hände und half ihm, die Landesgrenze nach Sierra Leone zu überqueren. Die Heilerin behan-delte viele Ebola-Patienten ohne Erfolg und

EinKommentarvonDr.med.KlemensOchel

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kommentar

starb selbst. Um ihr Respekt und Anerken-nung zu erweisen, berührten viele Trauer-gäste den Leichnam. Über 300 neue Fälle konnten die Forscher von dieser Begräbnis-zeremonie nachverfolgen. Die Trauergäste kamen auch aus Liberia, weil nicht die in der Kolonialzeit gezogenen willkürlichen Grenzen zählten, sondern die Zugehörigkeit zu Familien und Stämmen.

Hauptstädte wurden zu den vermeint-lich letzten Zufluchtsstätten für die schwer kranken Ebola-Patienten, die hofften, dass ihnen Verwandte und Familienangehörige dort weiterhelfen. Man könnte behaup-ten, dass das Ebola-Virus das menschliche Gedränge in den Slums förmlich gesucht hat, um sich unter Menschen wie in einem Schwarm Flughunde auszubreiten.

Nach den Jahren des Bürgerkriegs hegt die Bevölkerung starkes Misstrauen gegen die Regierung und ihre Einrichtungen. Das Trauma der willkürlichen Gewalt des Bürgerkrieges ist noch immer nicht über-wunden. Die Menschen suchten Hilfe in kirchlichen Einrichtungen. Hier wurden sie zwar nach besten Kräften betreut, aber bei

fehlender Möglichkeit der Diagnostik und wegen unzureichenden Infektionsschutz-maßnahmen wurden auch kirchliche wie staatliche Krankenhäuser zu Orten der Ausbreitung. Das medizinische Personal bezahlte einen bitteren Blutzoll. Mehr als 500 Ärzte und Krankenschwestern sind in den Krisenländern an Ebola bereits ver-storben. Das Ausbildungsniveau des Fach-personals ist, bedingt durch die Bürger-kriegszeit, ebenso wie das der Allgemein-bevölkerung weit unterdurchschnittlich. Die Weltgemeinschaft hat Jahr für Jahr von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) feststellen lassen, dass in den Krisenlän-dern nur zehn Prozent der als Mindestzahl festgelegten Fachkräfte arbeiten. Konse-quenz dieses Missstands: Lediglich der Hinweis, es liege in der Verantwortung der jeweiligen Regierungen, dies zu ändern. Heute müssen wir für diese Einstellung bezahlen. Wir müssen erkennen, dass die Regierungen, auch ohne Korruption und mit guter Regierungsführung, nicht in der Lage gewesen wären zu verhindern, dass hochin-fektiöse Krankheiten wie Ebola (und es gibt weitere in der Region) zu einem Problem für die globale Gesundheit werden können.

Zum Zeitpunkt diese Artikels scheint das Virus dem Menschen wieder einen Schritt voraus. Die Weltgemeinschaft hat bekann-terweise viel zu spät mit der Einrichtung von Ebola-Behandlungszentren reagiert. Es ist gut, dass es sie gibt. Ihr Betrieb ist extrem aufwendig und ressourcenintensiv. Aber sie sind nur ein Glied in der Kette der Kontrolle. Aktive Fallsuche, Isolation und Quarantäne und die sichere und würdige Beerdigung von Fällen gehören ebenfalls

dazu. Was aber, wenn heute die Behand-lungszentren dort sind, wo Ebola schon gar nicht mehr grassiert? Wir müssen erkennen, dass Ausbrüche vermehrt in ländlichen Gebieten vorkommen. Damit steigt die Dunkelziffer und wir riskieren, den Virus aus dem Blick zu verlieren. Die Herausfor-derung ist nun, eine breit ange-legte Mobilisierung der gesamt-

EinKommentarvonDr.med.KlemensOchel

en Bevölkerung zu erreichen. Es muss eine tiefgreifende Verhaltensänderung geben. Dazu muss das Vertrauen in die Helfer und das Verständnis für ihre Dienste ge-schaffen und zurückgewonnen werden. In Liberia kommen auf jeden Ebola-Todesfall pro Tag zehn Todesfälle an Tuberkulose, 15 Todesfälle an Durchfall, 20 Malariatote oder über 50 HIV/Aids-Tote. Damit sind wir noch immer bei der Kontrolle und noch lange nicht bei der Beseitigung der Folgen. Diese liegen im zwischenmenschlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Bereich. Die Stimmen, die dazu zu hören sind, sind noch viel zu leise.

Für unsere Medien ist Ebola bereits ‚durch‘, spätestens seit erkennbar wird, dass es in Deutschland keine Epidemie geben wird. Im Alltag reagieren wir bes-tenfalls mit Panik und der Stigmatisie-rung von Menschen – insbesondere wenn sie aus Afrika kommen – statt mit Wissen und Verstand die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Wir wussten vom Bürgerkrieg und seinen Folgen. Wir wussten vom desas-trösen Zustand des Gesundheitssektors in den Krisenländern. Wir kennen die sozial destabilisierende Kraft von Traumata in marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Wir kennen die Ansage. Wann endlich tun wir genug für die globale Gesundheit?

Dr. med. Clemens Ochel arbeitet als Tropenmediziner am Missionsärztlichen Institut in Würzburg. Im Auftrag von MISEREOR hat er in Liberia Kranken-häuser und Gesundheitsstationen besucht, um den Bedarf an Infektionsschutzmaterialien zu klären.

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MISEREOR aktuell 4/201424

interview

Wie würden Sie die aktuelle Lage in Myanmar beschreiben?Noel Naw Lat: Seit den Verhandlungen zwischen den Regierungstruppen und dem bewaffneten Arm der Kachin Independence Organisation (KIO) im April 2013 hat sich die Lage etwas beruhigt. Wir können endlich wieder in unseren Projekten arbeiten, brauchen dazu aber dringend Unter-stützung. Es gibt in 168 Camps noch immer fast 100.000 Binnenflüchtlinge. Viele liegen auf bis zu 2.000 Metern Höhe an der chinesischen Grenze, die Winter dort sind sehr kalt. Wir haben im Camp in Laiza zum Beispiel Hütten gebaut. Zuvor gab es dort nur Gerüste, die mit blauen Plastikplanen bespannt waren. Auch wenn es jetzt wieder leich-

ter geworden ist, die Lager zu verlassen, sind die Minen, die beide Parteien im ganzen Land ausge-legt haben, ein großes Problem. Wir bemühen uns, die Leute darüber aufzuklären, das ist momentan sehr wichtig. Aber im „Niemandsland“, sprich in Gebieten, die wir nicht kontrollieren können, sind Unfälle häufig.

Wie muss man sich das Leben der Flücht- linge in den Camps vorstellen?Noel Naw Lat: Wir versuchen die Kinder, die in den Flüchtlingscamps in den Kontrollbereichen der KIO leben, in staatlichen weiterführenden Schulen in Myitkyina unterzubringen, damit sie einen höheren Abschluss machen können. Viele

Den Blick nach vorne nutzen

Nachfast50JahrenMilitärherrschaftundAbschottungvonderinternatio-nalenGemeinschaftbefindetsichMyanmarineinemÖffnungsprozess.

„FreieundfaireWahlen“,betontdieRegierung,solltenerstmals2010denWegineinneuesdemokratischesSystemebnen.Dochderistbeschwerlich:NochimmerhatdasMilitärgroßenEinfluss,noch

immerkämpfenethnischeMinderheiteninblutigenAuseinandersetzungenfürAu-tonomieundUnabhängigkeit.SoauchimBundesstaatKachin,indemTausendeBin-nenflüchtlingedaraufhoffen,miteinemneuenWaffenstillstandsabkommenvordenWahlenimJanuar2015inihreHeimat-regionenzurückkehrenzukönnen.

PfarrerNoelNawLat,DirektorderMISEREOR-PartnerorganisationKarunaMyanmarSocialServices(KMSS)inMyit-kyinaimBundesstaatKachin,sprichtmitRebeccaStrucküberdieaktuelleLageinMyanmar,dieFlüchtlingscampsunddieRollederKircheimÖffnungsprozess.

Pfarrer Noel Naw Lat, Direktor der MISEREOR-Partnerorganisation KMSS.

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von ihnen beenden die Schule jedoch erst gar nicht – sie sind in eine Art Lethargie verfallen und ich bin sicher, dass der Stress in den Camps und die Gewalt, die sie erfahren oder gesehen haben, einen großen Anteil daran haben. Unsere Kultur ist sehr introvertiert, wir sind eher verschlossen. Das macht das Erkennen von Traumata bei den Flüchtlingen sehr schwer. Es gibt Kinder, die wir Nacht für Nacht suchen müssen, da nachts oftmals die Kämpfe in ihren Heimatregionen begannen. Sie träumen schlecht, schreien, laufen davon. Jugend-liche werden aggressiv im Umgang miteinander, Familienväter beginnen zu trinken und die Frauen finden keine sinnvolle Aufgabe für sich. Das Leben in den Camps kann sehr eintönig sein, laut und be-engt. Eine Familie lebt im Schnitt auf nur etwa elf Quadratmetern.

Was hoffen Sie für die Zukunft Ihres Landes?Noel Naw Lat: Natürlich, dass die Kämpfe aufhö-ren. Was wir aber sehen ist, dass beide Seiten noch immer aufrüsten. Es gibt noch immer kein Abkom-men. Es wird verhandelt, aber beide Seiten – Re-gierung und die ethnischen Gruppen – beharren auf ihren Standpunkten.

2015 stehen jedoch wieder freie, zivile Wahlen an …Noel Naw Lat: Ich befürchte, dass sie wieder ver-schoben werden. Die Regierung spricht immer von ‚freien und fairen‘ Wahlen – aber dazu ist sie über-haupt noch nicht in der Lage. Denn dazu müsste die gesamte Bevölkerung wählen dürfen. Viele ethnische Minderheiten, die noch immer eigene ‚Staaten im Staat‘ haben, regieren wie die Kachin, besitzen und erhalten aber gar keinen Ausweis. Sie können also auch nicht wählen. Andere haben aufgrund der Herkunft wiederum zwei Pässe. Auch wenn die Organisation IFES (International Foun-dation for Electoral Systems) unsere Wahlen seit dem Vorwurf von Ungereimtheiten in 2010 unter-stützt: Es gab bisher erst eine Pilotphase mit etwa 20 Wahlautomaten. Die Regierung hat all diese Probleme noch längst nicht gelöst. Ich glaube auch nicht, dass die Nationale Liga für Demokratie (NDL), die nun wieder als Partei antreten und einen Präsidentschaftskandidaten stellen darf, genug Kapazitäten hat, um ein ganzes Land zu regieren.

Setzen Sie ihre Hoffnungen dennoch in Aung San Suu Kyi, die für die NDL als Abge-ordnete im Parlament sitzt und sich immer wieder für gewaltlose Demokratisierung ein-gesetzt hat?Noel Naw Lat: Sie hat sehr viel für unser Land getan, das steht fest. Aber ihr Ziel ist es, die Verfassung dort zu ändern, wo ihr eine Kan- didatur zur Präsidentschaft verboten wird. Aung San Suu Kyi nutzt die Aufmerksamkeit, die sie international bekommt, aber nicht für Themen wie die Probleme ethnischer Minderheiten in Myanmar, die vielen Flüchtlinge oder den Waf- fenstillstand. Sie ist noch immer ein Vorbild, aber vor allem für ethnische Grup-pen keine Ikone mehr. Der Wandel unseres Landes richtet sich nach außen, an die inter-nationale Gemein-schaft. Im Inneren ist aber noch viel zu tun.

Was heißt das für Ihre Arbeit?Noel Naw Lat: Als ich jung war, habe ich mir oft Fußball-spiele angesehen. Vor mir standen immer Größere, ich konnte nichts sehen. Da waren dann aber kleine Räume zwischen den dicht gedrängten Schultern, durch die ich mich hin-durchgezwängt habe. Genau so müssen wir die-se kleinen Ausschnitte, die einen Blick nach vor- ne ermöglichen, nutzen. Die zivile Bevölkerung stärken und Menschen bilden, ihnen ihre Rech-te aufzeigen, sodass sie später vielleicht einmal selbst Politik mitgestalten können und Forde-rungen stellen. Und: Wir müssen nicht gegen, sondern mit der Regierung Myanmars arbeiten. Wir können mit unserer Arbeit ihr Verständnis für die Menschenrechte und für die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen entscheidend be-einflussen.

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Rebecca Struck hat Medien- wissenschaften und Politi-sche Kommunikation studiert und arbeitet als Volontärin in der Presseabteilung von MISEREOR.

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,mitdieserWeihnachtsausgabeverändernwirdiefürSieseitvielenJahrengewohnteForm von MISEREOR aktuell und gehenneueWege.WirwerdenSieauchab2015weiterhinüberdievielfältigeArbeitvonMISEREORimIn-undAuslandinformieren– natürlich kostenlos. Projekte, Kampa-gnenundpolitischeLobbyarbeit,AktionenvonunserenUnterstützerninDeutschlandundvielesmehrfinden inZukunft ihrenPlatz in zwei Ausgaben des MISEREOR-Magazins„MutzuTaten“proJahr.

Wirfreuenuns,wennSieunsauchweiter-hinunterstützen.

HerzlicheGrüße

Die Redaktion

Der Freiburger Erzbi-schof Stephan Burger ist der neue Vorsitzende der MISEREOR-Kommission innerhalb der Bischofs-konferenz. Er folgt auf Erzbischof Werner This-sen (Hamburg), der diese Aufgabe im März 2014

nach 14 Jahren mit Eintritt in den Ruhe-stand aufgegeben hatte. Der 52-jäh-rige Stephan Burger wurde 1990 zum Priester geweiht. Fünf Jahre war er Vikar in Tauberbischofsheim und Pforzheim, bevor er 1995 Pfarrer der

Gemeinde St. Leon-Rot im Süden des Rhein-Neckar-Kreises wurde. Ste-

phan Burger war zudem am

Kirchengericht des Erzbistums Freiburg tätig, seit September 2007 als dessen Leiter (Offizial). Vor seinem Umzug nach Freiburg lebte er in Vogstburg-Burkheim am Kaiserstuhl – der größten Weinbau-gemeinde in Baden-Württemberg. Im Juni 2014 ernannte Papst Franziskus Ste-phan Burger als Nachfolger von Robert Zollitsch zum Erzbischof von Freiburg.

Gemeinsam mit Bundesminister Gerd Müller ist MISEREOR-Geschäftsführer Mar-tin Bröckelmann-Simon ins nordirakische Erbil gereist, um sich über die Lage vor Ort zu informieren und MISEREOR-Projekte und Partner zu besuchen. Seit Ausbruch des Sy-rien-Konfliktes ist die Zahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern im Nordirak stetig gewachsen, seit dem brutalen Vormarsch der IS-Truppen hat sich die Situation dra-matisch verschärft. Rund 1,8 Millionen Bin-

nenvertriebene sind seither in den Nordirak gekommen, zusätzlich zu den 240.000 sy-rischen Flüchtlingen. „Wo im Februar, als ich zuletzt in Erbil war, noch grüne Parks und Freiflächen waren, reiht sich nun Zelt an Zelt, die Menschen schlafen dicht ge-drängt auf dem Boden, der bei Regen im Schlamm versinkt. Der Winter steht vor der Tür – feste Behausungen und Heizmöglich-keiten werden dringend gebraucht“, so Bröckelmann-Simon.

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kurznachrichten

In eigener Sache

Entwicklungshilfeminister Gerd Müller im Nordirak

Die Schülerinnen und Schüler der ehemaligen Klasse 10d der Aachener Heinrich-Heine-Gesamtschule haben 700 Euro für Flüchtlingsfamilien im Nordirak gespendet. Das Geld war nach Abschluss der Schulzeit noch in der Klassenkas-se übrig. „Von 700 Euro können sieben Familien mit acht Personen drei Monate

Klassenkasse und Kuchenbasar für Nordiraküberleben“, bedankte sich Maria Haar-mann, die zuständige Länderreferentin. MISEREOR unterstützt die Familien mit Decken und Nahrungsmitteln.Auch in Radibor bei Bautzen sammelten Kinder durch die Veranstaltung eines Ku-chenbasars insgesamt 550 Euro für die Flüchtlingsprojekte von MISEREOR.

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Freiburger Erzbischof Stephan Burger neuer MISEREOR-Bischof

Im indonesischen Alltag kochen die Frauen morgens mehrere Gerichte sowie Reis. Dann isst jeder, wann er Hunger hat. Weil die Indonesier das Fleisch vor der Zu-bereitung immer zerkleinern, bilden Löffel und Gabel das klassische Essbesteck. Vie-lerorts essen die Menschen auch mit der rechten Hand.

Die Indonesier sagen, wer keinen Reis gegessen hat, der könne nicht satt sein. Be-

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Wilfried Wunden aus der Personal-abteilung liest:

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Navid Kermani

Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt

Dieses Buch beinhaltet ReportagendesKölnerAutors,WissenschaftlersundPhilosophenNavidKermani,welcheerseit2006in„NZZ“,„DIEZEIT“,„Süddeut-sche“und„taz“veröffentlichthat.EsgibtinDeutschlandderzeitkaumeinenJour-nalisten,derbesserschreibtundkaumeinenMuslim,derdenIslamundseineVielfaltbesseranalysiertalsNavidKer-mani.SeineBeiträgezuGott,demGrund-gesetz,demOrientundNeilYoungsindimmeroriginell.

DieserSammelbandbeginntinKasch-mirundendetaufLampedusa.WasaufdenerstenBlickaussiehtwieeinewildeSammlung,entfaltetsichzueinemGe-samtbildderVölkerundMenschenzwi-schen Neu Delhi und dem Mittelmeer.KermanispersischeWurzelnhelfendabei,diesenKulturraumbesserzubegreifen.

NavidKermanilässtinseinenReporta-genkeinenKonfliktaufdieserAchseausundtrifftaufdierichtigenMenschenandenwichtigenOrten.ErbeschreibtdenAlltagderMenschenundwirftdabeialleexistenziellenFragenauf,diedieseWeltinden„Ausnahmezustand“zwingen.

satay-spieße mit erdnusssoße

Zutaten (für 4 Personen):

FürdieSauce:2 Knoblauchzehen, 1 rote Chilischote, 2 EL Erdnussöl, 50 g gehackte, ungesalzene Erdnüsse, 400 ml ungesüßte Kokosmilch, 3 EL gesalzene Erdnussbutter, Salz, Pfeffer aus der Mühle.

FürdieSpieße:600 g Hähnchenbrustfilet, 2 EL flüssiger Honig, 1 TL Sambal Oelek, je 1 EL Limettensaft und dunkle Sojasauce.

Zubereitung:Knoblauch schälen, Chilischote waschen und entkernen. Beides klein schneiden. Öl in einem Topf erhitzen, darin den Knoblauch glasig werden lassen. Chili und Erdnüsse zugeben, kurz mitschwitzen und mit der Ko-kosmilch auffüllen.Erdnussbutter unterrühren und alles etwa sieben Minuten köcheln lassen (mittlere Hitze). Abschmecken. Die quer in Streifen geschnittenen Hähn-chenfilets auf Spieße stecken.Honig, Sambal Oelek, Limettensaft und Sojasauce verrühren. Die Spieße damit bestreichen, anschließend auf dem Grill rundherum goldbraun bra-ten. Mit der Erdnusssauce servieren.

Sambal und Satay: Klingt und schmeckt gut!

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Verlag C.H. Beck, gebunden, 253 Seiten, 19,95 Euro.

rühmt ist die indonesische Reistafel. An lan-gen Tischen werden zu diesem Festmahl bis zu 40 verschiedene Speisen um die Schüs-seln mit Reis aufgetragen: Fleisch, Fisch, Gemüse, Salate, Saucen und Gewürzpasten (Sambals). Die Vorbereitungen dauern oft mehrere Tage. Jeder an der Tafel bedient sich selbst und probiert alle Köstlichkeiten. Traditionell essen die Indonesier dieses Festessen mit den Fingern.

MISEREOR aktuell 4/2014

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Ihre Spende anMISEREOR erreicht Menschen in Notsicher und nachweis-bar. Mit dem Spenden-siegel bescheinigtdas Deutsche Zentral-institut für sozialeFragen/DZI den spar-samen und verant-wortungsvollen Einsatz aller gespendeten Mittel.

BischöflichesHilfswerkMISEREOR e.V.Mozartstraße 952064 Aachen

www.misereor.de

„DasLebenwirdnachvorngelebt,kannabererstnachhintenverstandenwerden.“

Søren Kierkegaard

Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir ein gesegnetes Weihnachtsfest und friedvolles neues Jahr.